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Full text of "Studien und charakteristiken zur griechischen und römischen sowie zur deutschen literaturgeschichte"

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ARTES      SCIENTIA      VERITAS 


STUDIEN 


UND 


CHARAKTERISTIKEN 


ZUR 


ÖRIECfflSCHEN  UND  RÖMISCHEN 


»      SOWIE  ZUR  DEUTSCHEN 


LITERATURGESCHICHTE. 


V 


W,  S/TEUFFEL. 


LEIPZIG. 

DltUCK  UNI)  VERLAG  VON  B.  O.  TEUBNKR. 

1871. 


r 


Vorwort. 


Die  nachfolgende  Sammlung  urafasst  in  ihrer  bunten 
Manchfaltigkeit  die  Arbeiten  und  Bestrebungen  eines  Men- 
schenalters. Sie  wäre  noch  bunter  ausgefallen  wenn  ihr  Ver- 
fasser Alles  hätte  aufnehmen  mögen  was  er  im  Laufe  von 
mehr  als  drei  Jahrzehnten  hat  drucken  lassen.  Das  lag  aber 
in  Niemandes  Interesse.  Ich  habe  daher  mehrere  Kategorien 
meiner  bisherigen  Arbeiten  von  dieser  Sammlung  ausgeschlos- 
sen. Fürs  Erste  die  zahlreichen  welche  sich  speciell  mit  Horaz 
beschäftigen,  diese  weil  ich  gesonnen  bin  sie  in  anderer  Weise 
zusammenzufassen.  Sodann  eine  Reihe  kleinerer  Abhandlungen 
welche  nicht  unmittelbar  auf  dasjenige  Gebiet  Bezug  haben 
welches  ich  von  Anfang  an  als  meine  Lebensaufgabe  betrachtete, 
die  Literaturgeschichte,  also  namentlich  vielerlei  historische 
und  antiquarische  Beiträge  zu  Pauly's  Real-Encyclopädie*), 


*)  Diese  bestehen  aus  folgenden  römischen  gentes:  Aelii,  Aemilii, 
Annii,  Antistii,  Antonii,  Aquillii,  Asinii,  Atii,  Atilii,  Aufidii,  Aurelii,  Bae- 
bii,  Bassi,  Bruttii  im  ersten  Bande. (zweite  Auflage),  und  in  Bd.  IV— VI: 
lunii,  Licinii  (theilweise),  Ligarii,  Livii,  Lollii,  Lucceii,  Lucretii,  Maplii, 
Maenii,  Marcii,  Marii,  Memmii,  Menenii,  Minucii,  Mucii,  Mummii,  Muna- 
tii,  Octavii,  Pompeii,  Porcii,  Quintii,  Sergii,  Servilii,  Volusii  u.  A.  Fer- 
ner folgende  Kaiser:  lulianus,  lustinianus,  lustinus,  Licinius,  Maioria- 
nus,  Maximinus,  Octavianus,  Tiberius,  Vespasiani,  Vitellii,  Ulpius  Tra- 
ianus.  Einzelne  Personen:  Bathyllus  (Bd.  I  der  zweiten  Auflage), 
Cynthia  (Bd.  IL  S.  1318),  Hermogenes,  Hiero  d.  Aelt.,  Iccius,  Licinus, 
Menodorus,  Narses,  Nomentanus,  Pantolabus,  Paris  (Mime)  u.  A.  So- 
dann aus  den  Antiquitäten  und  der  Sittengeschichte  des  Alter- 
thums:  'Afiisy  Anulus,  Baculum,  BaXXccvriov,  Bibliotheca,  Braccae  (in 
Bd.  I  der  zweiten  Auflage),  Inferi,  Lais,  Lana,  Lectica,  Lectus,  Men- 
dici,  Mensae,  Nuptiae,  Pauperes,  Postwesen,  Preces,  Saltatio  (theilweise) 


0,4?  /8"? 


91 


IV  Vorwort. 

Arbeiten  zur  Gymnasialpädagogik'*')^  sowie  mancherlei  Kri- 
tisch-Exegetisches;  zu  Sophokles'  Philoktet^  Aristophanes' 
Fröschen;  Cicero  (p.  Murena,  Brutus ^  Orator);  Quintilian 
u.  8.  f.,  das  sich  im  Rheinischen  Museum  und  in  Fleck- 
eisen's  Jahrbüchern  zerstreut  findet;  nur  einiges  Wenige; 
das  in  noch  unerledigte  Controversen  eingreift;  habe  ich 
gelegentlich  bei  anderen  Aufsätzen;  mit  literarhistorischem 
Gegenstande;  eingereiht.  Femer  habe  ich  ausgeschieden 
solche  Arbeiten  deren  Hauptinhalt  bereits  in  andere  meiner 
Schriften  übergegangen  ist;  wie  meine  Abhandlungen  über 
Aristophanes'  Wolken ;  die  in  meine  deutsche  Ausgabe  die- 
ser Komödie  (Leipzig,  Teubner;  1867)  verarbeitet  sind;  so- 
wie meine  zahlreichen  Beiträge  literarhistorischen  Inhalts 
zu  Pauly's  Real-EncyclopädiC;  von  welchen  wenigstens  die 
auf  die  römische  Literaturgeschichte  bezüglichen**)  in  meine 
zusammenhängende  Darstellung  derselben  (Leipzig;  Teubner; 
1868  —  1870)  ihrem  wesentlichsten  StoflFe  nach  Aufnahme 
gefunden  haben,  während  die  aus  der  griechischen  Litera- 
turgeschichte***), falls  mir  Leben  und  Gesundheit  bleibt, 
in  ähnlicher  Weise  zur  Verwendung  kommen  werden.  Aus 
demselben  Grunde  habe  ich  ausgeschlossen  meine  Habili- 
tationsschrift t)    und    die    bei    verschiedenen    Gelegenheiten 


Saicidium  u.  A.  Ausserdem  Ithaca^  und  periodisch  zur  Aushülfe  My- 
thologie, wie  Ixion,  lynx,  Menelaus,  Nestor,  Peleus,  Penelope,  Pen- 
thesilea  u.  A. 

*)  Wie  im  Schwäbischen  Merkur  1863,  Nr.  257,  S.  2327  und  sonst; 
Zur  Geschichte  des  humanistischen  Schulwesens  in  Würtemberg,  in  den 
Jahrbüchern  für  Philol.  und  Pädag.  1869,  zweite  Abtheilung,  S.  113—126. 

.  **)  Im  ersten  Bande  (zweite  Auflage)  Afranius,  Alfenus  Varus, 
Annales,  Apicius,  Appuleius,  Asconius,  Asinius  PoUio,  Ateius  Capito, 
Atellanae,  Atticus,  L.  Attius,  Ausonius,  Boethius,  Bucolici,  in  Bd.  II 
—  VI:'  Chorus  (Bd.  II.  S.  1291  f.),  Fabula  (Bd.  III.  S.  1567),  Q.  Horatius 
Flaccus,  Hortensius,  luvenalis,  Livius  Andronicus,  Lucilius,  Lucretius, 
Martialis,  Naevius,  Ovidius,  Persius,  Petronius,  Propertius,  Sallustius, 
Satira,  Tacitus,  Tibullus,  M.  Tullius  Cicero,  Virgilius,  Volkslied. 

***)  Im  ersten  Bande  (zweite  Auflage)  Aeschylus ,  Agatho,  Alcaeus, 
Alcman,  Alexis,  Anacreon,  Antiphanes,  Aristophanes,  Bacchylides,  By- 
zantini,  in  Bd.  III— VI :  Eubulus,  lambographi,  Melici,  Paean,  Pindarus, 
Procopius,  Sappho,  Stesichorus,  Theognis,  Thrasymachus ,  Tyrtaeus, 
Volkslied,  Xenophanes. 

t)  De  luliano  imperatore  christianismi  contemtore  et  osore.    Com- 


Vorwort.  V 

herausgegebenen  Tübinger  Programme  *) ,  mit  einer  ein- 
zigen kleinen  Aitsnahme  (S.  338  ff.);  weil  mir  die  dortige 
Würdigung  Cicero's  noch  immer  in  Lob  und  Tadel  die 
gerechte  Mitte  zu  halten  scheint.  Ebenso  habe  ich  weg- 
gelassen Alles  was  (in  den  Deutschen  Jahrbüchern,  Schweg- 
ler's  Jahrbüchern  der  Gegenwart,  in  der  Zeitschrift  für  Alter- 
thumswissenschaft,  Jahn's  und  Fleckeisen's  Jahrbüchern  für 
Philologie  und  sonst)  in  Form  von  Recensionen  veröffentlicht 
und  so  von  vornherein  für  engere  Zwecke  bestimmt  war,  wie 
ich  auch  sonst  alle  Polemik  welche  irgendwie  einen  persön- 
lichen Anstrich  hatte  beseitigte.  Endlich  Solches  mit  dessen 
Inhalt  ich  nicht  mehr  einverstanden  bin,  wie  den  Aufsatz 
über  die  Todesart  des  Aeschylos  (Rhein.  Mus.  IX.  S.  148  — 
153),  weil  die  betreffenden  Thatsachen  mir  jetzt  von  C.  Gött- 
ling  (in  dem  Programme  De  morte  falnilosa  Aeschyli,  Jena 
1854.  4.  =  Opusc.  academ.  1859,  p.  230 — ^235)  einfacher  und 
befriedigender  gedeutet  scheinen,  und  den  über  die  RoUen- 
vertheilung  in  Sophokles'  Oedipus  auf  Kolonos  (ßhein.  Mus.  IX. 
S.  136 — 138),  weil  mir  die  Richtigkeit  seines  Ergebnisses 
wenigstens  zweifelhaft  geworden  ist. 


meutatio  quam  ad  potestatem  litteras  antiquas  in  acad.  Tubing.  docendi 
rite  impetrandam  .  .  publice  defensurus  est  etc.  Adiectae  sunt  XII 
theses.    Tubingae  1844.   40  pp.   8. 

*)  1.  Caecilius  Statius,  Pacuvius,  Attius,  Afrauius  (als  Probe  einer 
Bearbeitung  der  römischen  Literaturgeschichte).  Programm 
zur  Geburtstagsfeier  des  Königs,  den  27.  Sept.  1868.  Tü- 
bingen, Fues,  1858.   43  S.  4. 

2.  lieber  des  Aeschylos  Promethie  und  Orestie.    Programm  zur 

kön.  Geburtstagsfeier,  den  27.  Sept.  1861.  Tübingen,  Fues, 
1861.    35  S.  4. 

3.  Üeber   Cicero's   Charakter  und  Schriften.     Mit  Verzeichniss 

der  im  Dekanatsjahre  1862  — 1863  von  der  philosophi- 
schen Facultät  ernannten  Doctoren.  Tübingen,  Fues,  1863. 
48  S.  4. 

4.  Ueber   Horaz.     Programm    zur    kön.    Geburtstagsfeier    den 

6.  März  1868.    Tübingen,  Fues,  1868.    38  S.  4. 

5.  üeber  Sallustius  und  Tacitus.    Mit  Verzeichniss  der  im  De- 

kanatsjahre 1867— -1868  von  der  philosoph.  Fac.  ernannten 
Doctoren.    Tübingen,  Fues,  1868.    47  S.  4. 

6.  üeber  die  Uauptprosaiker  der  augusteischen  Zeit.    Mit  Doc- 

torenverzeichniss  vom  J.  1868—1869.  Tübingen,  Fues,  1869. 
39  S.  4. 


VI  Vorwort. 

Dagegen  habe  ich  aufgenommen  eine  Anzahl  literar- 
historischer Arbeiten  die  bisher  in  einer  "Art  von  Versteck 
sich  fanden^  als  Einleitungen  zu  metrischen  oder  prosaischen 
üebersetzungen,  welche  von  den  meisten  Philologen  grund- 
sätzlich ignoriert  werden.  Ich  meinestheils  habe  beiderlei 
Arten  von  Uebersetzen,  besonders  aber  das  metrische,  in 
früheren  Jahren  eifrig  betrieben,  theils  weil  das  künstlerische 
Gestalten  in  der  Muttersprache  für  mich  einen  Reiz  hatte, 
theils  weil  ich  in  dem  Ringen  nach  möglichst  zutreffender 
Wiedergabe  des  fremden  Originals'  und  der  dadurch  herbei- 
geführten Nöthigung  sich  alle  Färbungen  des  Inhalts  und  der 
Form  klar  zu  machen  die  geeignetste  Vorarbeit  für  die 
literarhistorische  Behandlulig  der  betreffenden  Schriftsteller 
erkannte.  Indessen  habe  ich  mich  bei  dem  (theilweisen) 
Wiederabdruck  dieser  Einleitungen  auf  diejenigen  beschränkt 
welche  eingehende  Untersuchungen  oder  eine  detaillierte  Cha- 
rakteristik enthalten,  weggelassen  also  die  Einleitung  zur 
üebersetzung  von  Hypereides'  erhaltenen  Reden  (Griechische 
Prosaiker  345;  Stuttgart,  Metzler,  1865),  zu  der  von  mir  ge- 
meinschaftlich mit  W.  Hertzberg  verfassten  der  Gedichte  des 
CatuU  (Römische  Dichter  73;  Stuttgart,  Metzler  1862),  und 
zur  Umarbeitung  von  C.  F.  Klaiber's  üebersetzung  des  Livius 
(in  den  Classikern  des  Alterthums,  Stuttgart,  Metzler,  1854  ff.), 
sowie  von  Cicero's  Brutus  und  Orator  (ebd.  1859  und  1861), 
und  ohnehin  das  was  ich  zu  G.  Ludwig's  Üebersetzung  der 
horazischen  Oden  (ebd.  1860)  und  W.  E.  Weber's  der  Satiren 
und  Briefe  (ebd.  1859)  beigesteuert  habe. 

Bei  Allem  was  ich  in  diese  Sammlung  aufnahm  und  der 
Art  wie  es  geschah  hat  mich  der  Gedanke  geleitet  dass  von 
dem  Individuum  aufbewahrenswerth  nur  das  sei  was  es  ob- 
jectiv  Richtiges  oder  doch  wenigstens  für  Andere  Anregendes 
zu  Stande  gebracht  hat,  dass  aber  die  Form  in  der  diess, 
unter  dem  Einflüsse  zufälliger  Umstände  oder  persönlicher 
Entwicklung,  ursprünglich  geschah  für  Mit-  und  Nachwelt 
wenig  Interesse  habe.  Ich  habe  daher  niemals  Bedenken 
getragen  eine  Behauptung  die  mir  unrichtig  oder  zweifel- 
haft schien  zu  streichen  oder  abzuändern,  einen  minder  pas- 
senden Ausdruck  durch  einen  geeigneteren  zu  ersetzen,  und 
habe  selten  nöthig  gefunden  die  Verschiedenheit  von  der  ur- 
sprünglichen Fassung  eigens  bemerklich  zu  machen.    Nur  im 


Vorwort.  VII  j 

I 
I 


drittletzten  Aufsatze  dieser  Sammlung  waren  jene  Grundsätze 
nicht  immer  durchführbar.  Sollte  wirklich  Jemand  den  ersten 
authentischen  Text  zu  kennen  wünschen ;  so  ist  ihm  durch 
Angabe  des  Ortes  wo  er  sich  findet  dazu  Gelegenheit  ge- 
boten. Ich  selbst  wünschte  eher  dass  ich  von  jener  Methode 
einige  Male  noch  tiefer  eingreifende  Anwendung  gemacht 
hätte. 


Tübingen,   1.  Juli  1871. 


Wilhelm  Sigmund  Teuffel. 


Inhalt. 


Seito 

I.  Zur  Einleitung  in  Homer 1 

II.  Die  Stellung  der  Frauen  in  der  griechischen  Poesie   ...  45 

III.  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik 76 

IV.  Aristophanes'  Stellung  zu  seiner  Zeit 94 

V.  Zu  Sophokles'  König  Oedipus 114 

VI.  Zu  Piaton.     1.  Zur  Politeia 126 

2.  Zum  Symposion 143 

VII.  Kaiser  Julianus.     1.  Seine  Jugendgeschichte 147 

2.  Echtheit  einiger  Briefe 162 

3.  Seine  Beurteiler 168 

4.  Charakter  und  Stellung  zum  Christen- 

thum 178 

VIII.  Prokopius 191 

IX.  Agathias 237 

X.  Zu  Plautus.    Nr.  1  —  16 265 

XI.  Zu  Terentius.    Nr.  1—6 280 

XII.  Cicero.*    1.  Leben 289 

2.  Charakter  als  Mensch  und  Staatsmann  ....   338 

XIII.  Tibullus  (Leben,  Gedichte,  Kunstart) 344 

XIV.  Zu  Curtius 387 

XV.  Zu  Petronius  . 391 

X!VI.  A.  PersiuB  Flaccus 396 

XVII.  Juvenalis 410 

XVIII.  Tacitus  dialogus 435 

XIX.  M.  Valerius  Probus 442 

XX.  Lucian's  Aovxiog  und  Apulejus'  Metamorph 446 

XXI.  Vespae  iudicium 458 

XXII.  Die  Hauptrichtungen   in   der   heutigen  classischen  Alter- 

thumswissenschaft 460 

XXIII.  Fr.  Hölderlin 473 

XXIV,  A.  Schwegler 503. 


I. 


Zur  Einleitung  in  Homer.*) 


Die  homerischen  VorateUungen  von  den  Göttern,  vom  lieben  * 

und  vom  Tode. 

(Homerische  Theologie  und  Eschatologie.) 

Die  nachstehende  Abhandlung  ist  einer  Vorlesung  entnommen  6 
welche  der  Verfasser  im  Winterhalbjahre  1846/47  zu  Tübingen 
gehalten  hat.  Wer  sich  die  Muhe  nehmen  will  die  folgende  Er- 
örterung mit  den  betreflenden  Abschnitten  in  Nägelsbach's 
homerischer  Theologie  zu  vergleichen,  der  wird  finden  dass  die- 
selbe —  abgesehen  von  der  fast  diametralen  Verschiedenheit  der 
Auffassung  und  Behandlung  —  auch  in  Bezug  auf  die  Stoffsamm- 
lung durchaus  auf  Quellenstudien  beruht,  die  erst  bei  der  Aus- 
arbeitung gelegentlich  aus  Nägelsbach  u.  A.  ergänzt  und  vervoll- 
ständigt wurden.  In  der  zweiten  Hälfte  ist  der  Kürze  halber 
öfters  statt  einzelner  Nachweisungen  geradezu  auf  des  Letzteren 
Schrift  verwiesen  worden,  was  um  so  statthafterschien  weil  hier 
Nägelsbach's  dogmatische  Befangenheit  weniger  als  sonst  seinen 
Blick  zu  trüben  Gelegenheit  gehabt  bat.  Von  der  eigentlichen 
homerischen  Eschatolo^e  hat  der  Verf.  schon  im  Jahr  1844  ^  in 
dem  Artikel /w/*m  in  Pauly's  Beal-Encyclopädie  (Bd.  IV.  S.  154  ff.) 
eine  Darstellung  gegeben;  da  indessen  die  nachfolgende  von  der 
ersteren  in  bedeutenden  Punkten  —  hoffentlich  nicht  zu  ihrem 
Nachtheile  -—  abweicht,  so  konnte  in  jenem  Umstände  kein  Grund 
gegen  den  Abdruck  auch  dieses  Theils  gefunden  werden.  Um 
übrigens  der  Zusammenstellung  der  Theologie  und  Eschatologie 


*)  Einladungsschrift  des  Stuttgarter  Gymnasiums  zum  königlichen 
Geburtsfeste  den  27.  September  1848.    Stuttgart  1848.  34  S.  4. 

Teuffol,  Stadien.  1 


2  Zur  Einleitung  in  Homer. 

den  Anschein  von  VVillkurlichkeit  welchen  sie  etwa  haben  könnte 
zu  benehmen  oder  zu  mindern  und  zugleich  diesen  einzelnen 
Gegenständen  ihre  Stellung  in  der  Gesammtaufgabe  einer  homer- 
ischen Einleitung  anzuweisen,  theilt  der  Verfasser  eine  lieber- 
sieht  des  Planes  mit  welchen  er  der  genannten  Vorlesung  zu 
Grund  gelegt  hatte. 

I.  Stoff  und  Inhalt  der  homerischen  Gesänge. 

A.  Im  Allgemeinen:  die  Welt  und  Weltanschauung  derselben 
(das  heroische  Zeitalter). 

1.  Ihre  Welt. 

a)  Die  Erde.     Kenntniss  derselben.     Homerische  Geo- 
graphie, Physik  u.  s.  w. 

b)  Die  Menschen. 

aa)  Der  Einzelne  als  solcher,  in  den  verschiedenen 
Momenten  seines  Seins  und  seiner  Erscheinung. 
Homerische  Anthropologie,  bes.  Psychologie, 
bb)  Der  Einzelne   im  Verhältniss    zu  andern  Ein- 
zelnen. 

a)  Freundschaft. 

ß)  Die  Familie,  ökonomisch  und  ethisch. 
y)  Die  Gesellschaft.     Sitte  und  Gesittung. 
d)  Der  Staat.    König,  Adel,  Volk. 
6  c)  Die  Götter, 

aa)  Begriff  und  Unterscheidungsmerkmale: 

a)  negative  und  qualitative:  Unsterblichkeit; 
ß)  positive,  schwankend  zwischen  dem  qualita- 
tiven und  dem  quantitativen  Charakter: 
aa)  in  Bezug  auf  ihre  äussere  Erscheinung; 
ßß)  ihr  Verhältniss  zu  Raum  und  Zeit; 
yy)  ihre  Erkenntniss; 
^  dd)  ihre  Macht;  Wunder; 

€6)  ihre  Seligkeit; 
SS)  ihre  sittliche  Vollkommenheit, 
bb)  Ihre  Offenbarung  in  der  Menschenwelt. 
cc)  Ihr  Verhältniss  zu  einander  und  zum  Schicksal. 

2.  Die  Weltanschauung  der  homerischen  Ge- 
sänge. Das  oberste  Princip  der  Welt.  Gegammt- 
anschauung  vom  Leben  und  vom  Tode. 

B.  Im  Besondern:   Die  Sagen  vom  troischen  Krieg  und  von 
Odysseus. 


Homerisclie  Theplogie.  3 

II.  Form  der  homerischen  Gesänge. 

1.  Als  schriftstellerisches  Erzeugniss.  Tradition 
iiber  die  Person  des  Dichters  und  Kritik  derselben.  Lite- 
rarische Geschichte  der  Gesänge.  Entstehung,  Anordnung 
und  Zusammenhang  derselben  theils  für  sich  theils  im 
Verhältniss  zu  einander. 

2.  Als  nationales  Werk  nach  Entstehung  und  Wir- 
kung (relativer,  historischer  Werth). 

3.  Als  (episches)  Kunstwerk  (absolute,  universale,  ästhe- 
tische Bedeutung),  nachgewiesen  in  Parallele  mit  den 
einzelnen  Künsten: 

a)  Architektonik:  Composition,  Anlage  im  Einzelnen,  Ein- 
theilung. 

b)  Plastik:  Figuren  und  Charaktere. 

c)  Malerei:  Bilder,  Vergleichungen ,  Beschreibungen. 

d)  Musik:  Rhythmus  und  Metrum. 

e)  Sprache:  Entwicklungsstufe  und  Eigenthümlichkeit  der 
homerischen  Sprache. 


1.   Die  homerischen  Götter. 

Die  homerische  Vorstellung  von  den  Göttern  bietet  ein  ausser- 
ordentlich anziehendes  Schauspiel  dar:  allenthalben  ein  lebendiges, 
schmerzliches  Gefühl  von  den  Schranken  der  Endlichkeit  und 
ein  Trieb  in  der  Vorstellung  Gottes  sie  als  nicht  vorhanden  zu 
setzen,  überall  ein  Drang  der  Phantasie  die  Flügel  auszubreiten 
zum  kühnen  Flug  ins  Unendliche,  ein  Streben  von  der  mensch- 
lichen Weise  loszukommen,  den  Boden  des  Natürlichen  zu  ver- 
lassen, etwas  qualitativ  Verschiedenes  in  Gott  zu  setzen;  neben 
diesem  transcendenten  Trieb  aber  andererseits  ein  nicht  minder 
stark  ausgeprägter  Realismus,  ein  fest  und  klar  auf  das  Seiende 
gerichteter  Sinn,  eine  gewisse  Kühle  und  Masshaltigkeit  der  An- 
schauung. So  unübersehbar  reich,  so  unübertrefflich  schön  breitet 
die  Sinnenwelt  sich  aus  vor  dem  Auge,  und  so  herrlich  wandelt 
die  edle  Menschengestalt  dahin  über  die  schöne  Erde,  so  viel 
ist  sie,  so  viel  vermag  sie,  dass  der  Sinn  vollständig  sich  be- 
friedigt fühlt  in  dem  was  da  ist,  keinen  Trieb  hat  über  es  hin- 
auszugehen, sondern  nur  etwa  es  noch  zu  vergrössern,  zu  ver- 
schönern,  zu  bereichern,   Alles  sich   noch  schöner,   noch  vor- 

1* 


4  Zur  Einleitung  in  Ilomcr. 

trefflicher  zu  denken.  Wenn  diese  beiden  entgegengesetzten 
Sinnesweisen  mit  einander  in  Berührung  gesetzt  wurden,  so  musste 
sich  ein  Kampf  entspinnen^  ein  Element  musste  das  andere  in^ 
seiner  eigentlichen  Qualität  zu  beschränken  und  zu  modificieren 
suchen;  der  abenteuerlich  zu  den  Wolken  aufstrebenden  Phan- 
tasie musste  sich  der  realistische  Verstand  wie  Blei  an  die  Fusse 
hängen,  und  umgekehrt  musste  der  besonnen  auf  das  Seiende 
gerichtete  Sinn  durch  das  Ziehen  und  Stossen  der  Phantasie  alle 
Augenblicke  aus  seinem  ruhigen  Gange,  seinem  geraden  ebenen 
Geleise  zu  Sprüngen  und  Abwegen  verführt  werden.  Und  wirklich 
sind  diese  beiden  Gegensätze,  welche  wir  kurz  als  Natur  und 
Wunder,  als  occidentalische  und  orientalische  Anschauungsweise 
bezeichnen  können,  in  der  homerischen  Vorstellung  von  den 
Göttern  zusammengekuppelt;  in  ihr  ist  das  schöngebaute  Boss 
mit  dem  stolzen  Nacken  und  dem  festen  sichern  Tritte  zu  Einem 
Gespanne  vereinigt  mit  dem  etwas  struppigen  und  ungebärdigen 
Flügelrosse.  Der  Boden  welchem  das  homerische  Epos  entstammt 
ist;  der  Boden  loniens,  brachte  das  so  mit  sich:  hier  trafen 
Orient  und  Occident  zusammen  und  drückten  freundlich  sich 
die  Hand;  die  eigentliche  Grundlage  und  der  eigentliche  Herrscher 
blieb  zwar  immer  der  Occident,  aber  dieser  verband  und  ver- 
schwägerte sich  vielfach  mit  dem  Oriente^  und  unangehalten 
zogen  zu  dem  weitgeöfTneten  Thore  orientalische  Ideen  und  An- 
schauungen aus  und  ein.  Welches  dabei  das  Verhältniss  des  Alters 
zwischen  beiden  war,  ob  das  phantastische  Element  ein  zurück- 
gebliebener Best  der  ursprünglichen  orientalischen  Vorstellung 
ist  oder  ein  zu  der  ursprünglich  rein  occidentalischen  Anschauung 
hinzugekommener  Zusatz ^  lassen  wir,  als  zu' tief  in  das  Dunkel 
der  frühesten  Völkergeschichte  führend  ^  ununtersucht  und  be- 
gnügen uns  mit  der  Thatsache  dass  bei  Homer  das  occidentalische 
Element  jedenfalls  das  Uebergewicht  hat.  Aber  von  einer  eigent- 
lichen Durchdringung  beider  kann  keine  Bede  sein,  es  ist  viel- 
mehr ein  ewiger  Wechsel  zwischen  beiden  Principien,  ein  fort- 
8  währendes  Ueberspringen  von  dem  einen  zum  andern,  das  aber 
so  leicht  und  rasch  vor  sich  geht  dass  der  Wechsel  gar  nicht 
zum  Bewusstsein  kommt,  ein  beständiges  Schwanken  und  Schaukeln 
zwischen  Himmel  und  Erde.  Einen  festen  Lehrbegrifi'  wie  man 
ihn,  vielleicht  mit  demselben  Unrechte,  den  neutestamentlichen 
Schriften  zumutet,  darf  man  bei  Homer  nicht  suchen;  die  ver- 
schiedenen  Ingredienzien  liegen  noch    gährend  in  einander,    es 


Homerische  Theolosrie. 


ö' 


hat  sich  noch  Nichts  abgeklärt,  noch  kein  fester  Niederschlag 
gebildet,  der  Process  der  Bildung  einer  klaren  Vorstellung  ist 
noth  in  voller  Arbeit.  Er  hat  geendigt  mit  dem  vollständigen 
Siege  des  realistischen,  occidentalischen  Elementes,  der  Aus- 
stossung  des  träumerisch  Phantastischen ,  .des  abenteuerlich  Wunder- 
haften; bei  Homer  aber  sind  beide  noch  neben  einander,  und 
darum  kann  die  homerische  Vorstellung  von  den  Göttern  der 
Eeflexion  keinen  Augenblick  Stand  halten,  sie  bietet  ihr  tausend 
ßlösen,  sie  wimmelt  von  Inconsequenzen  und  Widersprüchen,  die 
aber  das  Bewusstsein  entweder  gar  nicht  entdeckt  oder  unbe- 
kümmert sich  darüber  hinwegsetzt. 

Das  einzige  ganz  feste  Merkmal  wodurch  sich  der  Gott  vom 
Menschen  absolut  und  qualitativ  unterscheidet,  was  den  Begriff 
des  Gottes  wesentlich  constituiert,  den  Gott  zum  Gotte  macht,  ist 
dass  er  von  dem  Schmerz  des  Todes  befreit,  dass  sein  Sein  und 
sein  Sosein  nicht  dem  Wechsel  und  der  Vergänglichkeit  unterworfen 
ist,  dass  er  ewig  Gott  und  ewig  er  selbst  bleibt.  ^Ad'ävatoL  und 
d-sol  sind  Wechselbegriffe,  nur  dass  die  Götter  unsterblich  nicht 
so  sind  wie  Tithonos,  sondern  zugleich  des  Vorzuges  ewiger 
Jugend  sich  erfreuen:  sie  sind  nicht  blos  oi;ro^  ^OQiSvfioc  (II. 
XXn,  13),  alev  eövrsg  (z.  B.  II.  I,  290),  deiyevhai  (II.  VI, 
527),  sondern  auch  dy^gaoi  (II.  VIII,  539.  XVH,  444.  Od.  V, 
136.  218).  Diese  Eigenschaft  hat  ihre  Quelle  und  ihre  fort- 
M'ährende  Nahrung  darin  dass  sie  statt  menschlicher  Speise  regel- 
mässig und  ausschliesslich  Nektar  und  Ambrosia  gemessen.  In 
Folge  dessen  haben  sie  nicht  Blut,  wie  die  Menschen,  sondern 
Ichor  in  ihren  Adern  (II.  V,  339  ff.);  und  da  eben  im  Blute  das 
Lebensprincip  des  einzelnen  Menschen  liegt,  so  ist  hiemit  gleich 
das  Leben  der  Götter  auf  eine  ganz  andere  Grundlage  gestellt. 
EinmaUger  Genuss  der  Ambrosia  bewirkt  nur  bei  dem  Götter- 
kinde Apollon  augenblickliche  Vergöttlichung  (hymn.  in  Ap.  127), 
nicht  aber  bei  Achilleus,  dem  seine  Mutter  zu  vorübergehender 
Stärkung  Nektar  und  Ambrosia  einträufelt  als  er  Nahrung  zu 
sich  zu  nehmen  sich  weigert  (II.  XIX,  352  ff.).  Aber  durch  fort- 
gesetzten Genuss  derselben  könnte  Odysseus  sein  sterbliches  Blut 
in  göttliches  verwandeln  und  selber  ein  Unsterblicher  werden 
(Od.  V,  135  f.  196  —  199.  209.  vgl.  258),  wenn  er  es  nicht 
vorzöge  in  seine  Heimat  zu  Weib  und  Kind  zurijckzukehren. 
Denn  Nektar  und  Ambrosia  geniessen  heisst  in  seiner  Grund- 
bedeutung  nichts  Anderes  als:    Unsterblichkeit  zu  sich   nehmen 


6  Zur  Einleitung  in  Homer. 

{vri  und  Tttav;  dv  und  ßQOtog),  eine  ganz  ähnliche  Verwand- 
lung eines  abslracten  Begriffes  in  einen  concreten  realen  Gegen- 
stand wie  wenn  es  von  Aphrodite  heisst  sie  wasche  sich  mit 
Schönheit  (Od.  XVIIl,  193  f.)  und  habe  in  ihrem  Köcher  die 
Liebe,  das  Verlangen  und  die  schmeichelnde  Beredung  (U.  XIV, 
216  f.).  Woher  die  Ambrosia  kommt  wird  in  der  Ilias  nicht  ge- 
sagt; jeder  Gott  hat  deren,  wie  es  scheint,  zu  seinem  Bedarfe 
bereit  (so  Simoeis,  II.  V,  777;  Thetis,  IL  XIX,  352  ff.);  in  der 
Odyssee  aber  (XII,  63)  findet  sich  die  Angabe  dass  Tauben  (Symbole 
der  Schnelligkeit)  sie  dem  Zeus  aus  dem  Westen  ^  wo  alles  Köst- 
liche zu  Hause  ist,  daherbringen.  Ambrosia  bekommen  auch  die 
Pferde  der  Götter  zu  fressen  (II.  V,  777)  und  w^erden  dadurch 
unsterblich,  wie  überhaupt  alles  Eigentbum  der  Götter,  bis  auf 
ihre  Kleider  und  Salböle  herab,  ambrosisch  ist,  d.  h.  die  Un- 
9  wandelbarkeit  der  Götter  theilt.  Damit  haben  wir  aber  erst  eine 
negative  Bestimmung  über  das  Wesen  ^ottes;  zu  den  positiven 
Bestimmungen  nun  übergehend  betreten  wir  einen  Boden  voll 
Unebenheiten,  der  kaum  irgendwo  festen  Fuss  zu  fassen  gestattet. 
In  ihrer  äusseren  Erscheinung  haben  die  Götter  einerseits  die 
menschliche  Gestalt  und  andererseits  haben  sie  sie  auch  nicht. 
Wenn  sie  sich  den  Menschen  unverwandelt  zeigen  so  machen  sie 
zwar  den  Eindruck  ausgezeichneter  Persönlichkeiten,  z.  B.  durch 
Grösse  und  Schönheit,  wie  auf  dem  Schilde  des  Achilleus  Ares 
und  Athene  xaXto  zal  ^eyäXca,  cSate  d'eci  tcsq  an  der  Spitze 
von  Heeren  standen  welche  mcoXCtpveg  waren  (IL  XVIII,  518  f.), 
jedoch  nicht  als  Menschen  Göttern  gegenüber,  sondern  als  Xaol 
den  aQXOvteg  gegenüber.  Aber  ein  auffallender  Unterschied  zwi- 
schen den  Göttergestalten  und  den  menschlichen  ist  in  der  Begel 
nicht,  weder  an  ihnen  selbst  noch  in  den  Bildern  von  ihnen. 
Wie  Athene  in  unverwandelter  Gestalt  sich  auf  den  Wagen  des 
Diomedes  setzt  hat  nicht  nur  dieser  noch  Baum  genug  neben  ihr, 
sondern  der  Wagen  kann  auch  Beide  tragen,  die  Pferde  Beide 
ziehen,  und  nur  dass  zwei  Heidenleiber  auf  ihm  sitzen  macht 
den  Wagen  krachen;  dstv^v  yaQ  aysv  d'sov  avÖQa  r'  aQiötov 
(IL  V,  838  f.).  Ausgezeichnet  ist  sie  nur  durch  ihre  grossen 
(yXavxcSTCLg)  strahlenden  Augen  {dsivtd  Se  ot  oöae  fpccav^ev, 
IL  I,  200).  So  erkennt  auch  Aineias  den  Apollon  erst  wie  er  ihm 
ins  Gesicht  sieht  [iadvra  IScivy  IL  XVII^  334),  und  Ajas  erkennt 
den  Poseidon  auch  in  der  Gestalt  des  Kalchas  am  leichten  schweben- 
den Gange:   aQiyvfoxoi  81  %^boC  tcsq  (IL  XHI,  71  f.);  denn  etwas 


Homerische  Theologie.  7 

Besonderes  haben  sie  immer  bei  aller  Aehnlichkeit  mit  dem 
Menseben.  Neben  dieser  Vorstellung  nur  relativer,  quantitativer 
Unterscheidung  läuft  aber  die  andere  von  einem  absoluten  Unter- 
schiede her.  Denn  wenn  Poseidon  (11.  XIV,  148)  und  Ares  (IL  V, 
860)  schreien  wie  10000  Menschen,*)  wenn  Ares  im  Falle  einen 
Flächenraum  von  sieben  Morgen  bedeckt  (II.  XXI,  407),  bei  Zeus 
Lockenschütteln  der  Olymp  (II.  1, 530),  unter  Hera's  und  des  Hypnos 
Tritten  der  Wald  (II.  XIV,  285)  zittert ,  so  sind  dabei  Grössenverhält- 
nisse  vorausgesetzt  welche  die  menschlichen  um  so  Vieles  übersteigen 
dass  sie  geradezu  als  übermenschliche  bezeichnet  werden  müssen. 
Dazu  kommt  noch  dass  die  Götter  die  Gabe  beliebiger  Verwandlung 
besitzen ;  nicht  nur  können  sie  willkürlich  die  Gestalt  irgend  eines 
Menschen  annehmen  und  entweder  dessen  Rolle  oder  in  seiner 
Gestalt  ihre  eigene  Rolle  durchfuhren,  wie  zahllose  Beispiele  be- 
Meisen, sondern  auch  in  Thiergestalten  und  sogar  in  leblose 
Dinge  können  sie  sich  verwandeln.  So  spricht  Poseidon  in  Gestalt 
des  Kalchas  den  beiden  Ajas  Mut  ein  und  enteilt  dann  in  Gestalt 
eines  Habichts  (11.  XIII,  45 — 65);  so  kommt  Athene  II.  IV,  75 
als  ein  fallender  Stern,  XIX,  350  f.  als  ein  Raubvogel,  und  ver- 
schwindet Od.  III,  371  ff.  als  Adler,  Od.  I,  320  als  oQvi^g;  so  sitzen 
IL  VII,  59  Apollon  und  Athene  in  Geiergestalt  auf  einer  Buche, 
um,  selbst  ungesehen,  Hektor's  und  Ajas*  Zweikampf  zuzuschauen ; 
Od.  XXII,  240  sieht  Athene  der  Ermordung  der  Freier  in  Gestalt 
einer  Schwalbe  zu,  und  II.  XIV,  289  ff.  verbirgt  sich  Hypnos 
vor  Zeus  als  Vogel  in  dem  Gezweig  einer  Tanne.  So  wunder- 
haft aber  diese  Kraft  der  Verwandlung  ist,  so  wenig  sie  zu  der 
Menschenähnlichkeit  des  Götterleibes  stimmt,  so  sehr  sie  einen 
qualitativen  Unterschied  vorauszusetzen  scheint,  so  kam  doch 
dieser  Widerspruch  dem  Dichter  nicht  zum  Bewusstsein ,  vielleicht 
weil  für  ihn  selbst  jene  Verwandlungen  nur  eine  durchsichtige 
Form  der  Darstellung  waren.  Denn  wenn  es  z.  B.  heisst:  Athene  lo 
erschien  in  der  Gestalt  des  Laodokos  dem  Pandaros  und  beredete 
ihn  zum  Schusse  gegen  Menelaos,  so  ist  diess  leicht  dahin  zu 
übersetzen :  Laodokos  gab  dem  Pandaros  den  Rath  zu  schiessen ; 
oder  wenn  es  11.  IV,  75  ff.  heisst:  Athene  erschien  in  Gestalt 
eines  Sternschnuppen'  (oder  Kometen?)^  den  dann  die  Leute  für 
ein  bedeutsames  Zeichen  ansahen,  so  ist  der  Zusammenhang  zwischen 


♦)  II.  V,   744  gehört  nicht  hieher;  es  heisBt:   figuris  militum  cenium 
ormtani^  vgl.  II.  XIV,  181.  G.  Hermann  Opusc.  IV.  p.  287.  291. 


8  Zur  Einleitimg  in  Homer. 

Athene  und  dem  Stern  ein  sehr  lockerer,  die  Beziehung  von 
diesem  auf  jene  willkürlich  oder  diess  besagend  dass  damit  die 
Wirkung  der  zufälligen  Erscheinung' auf  die  Menschen  als  etwas 
Planmässiges  gesetzt  wird.  Vielleicht  aber  ist  der  Maugel  von 
Bewusstsein  über  die  Unvereinbarkeit  der  Verwandlungskraft  mit 
der  Menschlichkeit  der  Erscheinung  nur  dieselbe  Naivität  welche 
die  Aussagen  von  der  Menschenähnlichkeit  der  Götterleiber  neben 
die  von  ihrer  gigantischen  übermenschlichen  Grosse  unvermittelt 
hinstellt,  ihren  Leib  also  gleichsam  in  Einem  Athem  als  menschlich 
und  als  übermenschlich  bezeichnet.  Dasselbe  Schwanken  zwischen 
natürlicher  und  wunderhafter  Betrachtungsweise  zeigt  sich  in 
dem  Verhalten  der  Götter  zu  Raum  und  Zeit.  Die  Götter  sind 
einerseits  Personen ,  d.  h.  durch  einen  Leib  begrenzt;  daher  sind 
sie  durch  die  Schranken  von  Raum  und  Zeit  gebunden;  anderer- 
seits sind  sie  doch  Götter,  und  jene  Schranken  sollten  daher 
bei  ihnen  eigentlich  wegfallen,  sie  sollten  sich  mit  unbedingter 
Freiheit  bewegen.  Die  Vermittlung  zwischen  beiden  Forderungen 
ist  dadurch  erstrebt  dass  den  Göttern  erstens  Sinne  zugeschrieben 
werden  welche  von  den  menschlichen  zwar  nicht  qualitativ  ver- 
schieden,  aber  quantitativ  unendlich  gesteigert  sind,  zweitens 
ihnen  eine  Schnelligkeit  der  Bewegung  beigemessen  wird  wodurch 
alle  Entfernungen  für  sie  auf  ein  Geringes  herabgesetzt  werden. 
Was  das  Erste  betrifft  so  ist  das  Ohr  der  Götter  so  scharf  dass 
sie  lautes  Gebet  von  jeder  Stelle  aus  hören  (II.  XVI,  515),  und 
auch  was  nicht  unmittelbar  an  sie  gerichtet  wird,  wie  z.  B. 
Thetis  den  Klageruf  des  Achilleus  um  den  gefallenen  Patroklos 
(II.  XVIII,  35.  Anderes  s.  IL  VIII,  198.  Od.  IV.  505) ;  ebenso  vermag 
das  Auge  der  Götter  über  alle  Fernen  wegzublicken;  so  sieht 
Zeus  vom  Ida  herab  den  Poseidon  ins  Meer  tauchen  (IL  XV,  222  f.)^ 
Poseidon  sieht  von  den  südöstlichen  Solynierbergen  ans  den 
Odysseus  im  Nordwesten  auf  seinem  Flosse  dahersteuern  (Od.  V, 
283  f.),  und  Hesiod  "E.  x,  'H:  267  sagt  es  geradeheraus:  itdvra 
iSmv  ^Log  6q)d'aXfids  xal  Tcdvxa  voi]<Sag.  Aber  auch  diese 
Schärfe  der  Sinne  hat  ihre  Grenze.  Bei  Zephyros  schmausend 
hören  die  Winde  nichts  von  der  Anrufung  des  Achilleus  und 
kommen  erst  auf  Iris*  Bestellung  (IL  XXIII,  199);  das  von  Hephaistos 
übar  sein  Ehebett  gebreitete  Fangnetz  ist  so  fein  dass  Ares  es  nicht 
sieht  und  richtig  in  die  Falle  geht  (Od.  VIII,  280  f.);  und  Helios, 
der  sonst  Tcdvt^  itpoQu  xal  Tcavt*  eTcaxoveCy  erfährt  erst  durch 
die  Nymphe  Lampelie  dass  Odysseus'  Gefährten  ihm  seine  Rinder 


Homerische  Theologie.  9 

geschlactilet  haben  (Od.  XII,  374).  Was  das  Zweite  betrifft,  die 
Schnelligkeit  der  Bewegung,  wodurch  sie  so  rasch  wie  der  Gedanke 
(IL  XV,  79  ff.)  über  die  höchsten  Gipfel  hinfliegen  (IL  XIV,  225  ff.), 
so  ist  diese  ein  Ersatz  dafür  dass  Wirkung  aus  der  Ferne,  als 
an  sich  unmöglich,  auch  den  Göttern  versagt  ist.  Wenn  die  Götter 
auf  den  Verlauf  des  Kampfes  Einfluss  üben  wollen,  so  begeben 
sie  sich  auf  das  Schlachtfeld  selbst;  wenn  sie  die  Menschen  kennen 
lernen  wollen,  so  durchwandern  sie  in  menschlicher  Gestalt  die 
Städte  (Od.  XVII,  485  ff.).  Ein  Anfang  von  wunderbarer  Wirkung 
aus  der  Ferne  findet  sich  nur  bei  Zeus:  ohne  persönlich  zu- 
gegen zu  sein  richtet  er  den  schwergetroffenen  Hektor  durch 
seinen  v6og  auf  (IL  XV,  242.  vgl.  Od.  XXIV,  164) ;  ebenso  reisst 
er  dem  auf  Hektor  zielenden  Teukros  die  Bogensehne  entzwei 
(IL  XV,  463  f.)  und  gibt  dem  schiffbrüchigen  Odysseus  zur  ii 
Rettung  den  Mast  in  die  Hand  (Od.  XIV,  310  ff.).  —  Wie  dem 
Körper  so  unterscheiden  sich  die  Götter  auch  dem  Geiste  nach 
ursprünglich  nur  quantitativ  von  dem  Menschen.  Ihr  Wissen 
ist  keine  Allwissenheit,  sondern  auf  den  —  freilich  ausgedehnten 
—  Kreis  des  in  ihre  Sinne  Fallenden  beschränkt.  Here  über- 
listet den  Zeus  (IL  XIV.),  sucht  aber  vergebens  Zeus'  Plane  zu 
erspähen  (IL  I,  540  ff.) ;  Zeus  weiss  nicht  dass  Poseidon  heimlich 
den-Achaiern  beisteht  (IL  XIII,  357),  nicht  dass  Iris  heimlich 
von  Here  an  Achilleus.  gesandt  ist  (IL  XVIII,  185  f.  404);  Poseidon 
hat  keine  Kunde  davon  dass  Odysseus  seinen  Sohn  Polyphenios 
geblendet  hat,  noch  von  dem  in  seiner  Abwesenheit  gefassten 
Beschlüsse  der  Gölter,  den  Odysseus  heimzulassen  (Od.  V,  286), 
und  Kalypso  verspricht  dem  Hermes  Alles,  ohne  zu  ahnen  dass 
er  ihr  den  Odysseus  abfordern  will  (Od.  V,  87 — 90);  ebenso- 
wenig hat  Ares  eine  Ahnung  von  dem  Tode  seines  Sohnes  As- 
kalaphos  (IL  XHI,  523  ff.  vgl.  XIV,  110).  Daneben  steht  aber 
die  Vorstellung:  d'sol  3d  xs  Ttdvta  üöaacv  (Od.  IV,  379.  468), 
gegründet  namentlich  darauf  dass  die  Götter  das  Loos  des  Menschen 
vorauswissen,  dass  sie  Kenntniss  haben  von  den  Beschlüssen  des 
Schicksals,  welchd  Kenntniss  man  sich  je  nach  der  Vorstellung 
vom  Schicksal  auf  verschiedene  Weise  real  vermittelt  denken 
kann.  So  hat  Zeus  dem  Aigisthos  sein  Schicksal  warnend  vor- 
ausverkündet (Od.  I,  37),  u.  A.  (Od.  V,  288.  345.  XI,  249. 
XIII,  306  u.  A.).  Daher  sagen  auch 'die  Menschen  von  künftigen 
Dingen:  Zsvg  yccQ  Ttov  röye  ol8s  xal  a^dvatoi  %'BoI  akkoi. 
So  gewahren  wir   auch  hier  den  Trieb  ein  ideales  Dasein  sich 


10  Zur  Einleitung  in  Homer. 

zu  denken,  für  welches  die  Schranke  der  Zeit  nicht  voriianden 
wäre,  und  im  Kampre  mit  diesem  Triebe  das  verständige  Be- 
wusstsein  von  der  Unenifernbarkeit  dieser  Scliranke,  von  ihrer 
Nothwendigkeit  theils  an  sich  theils  im  Zusammenhang  mit  der 
auch  in  Gott  gesetzten  menschlichen  Natur.  Derselbe  Streit  zwischen 
einem  idealen  Gottesbegriffe  und  der  natürlichen  Unßhigkeit  oder 
Abneigung  von  den  Bedingungen  der  Menschlichkeit  loszukommen 
wiederholt  sich  bei  den  Vorstellungen  über  die  Macht  der  Götter» 
ihre  Fähigkeit  ihrem  Willen  Dasein  zu  geben.  Die  Odyssee  spricht 
wiederholt  und  mit  dürren  Worten  die  Ueberzeugung  aus  dass 
d^sol  ndvta  dvvavtav  (Od.  iV,  237.  X,  306.  XiV,  445),  dass 
also  der  Mensch  in  aller  Noth,  auch  der  äussersten,  auf  Hülfe 
und  Rettung  hoffen  dürfe  (Od.  IV,  753) ;  denn  ^Bla  »Bog  y  iHXmv 
xal  tfiXöd^Bv  ävdga  öacSöai  (Od.  HI,  231).  Die  Uias  bewahrt 
auch  hier  ihre  nüchternere  realistische  Anschauung,  ihre  feste 
Diesseitigkeit,  und  spricht  ebenso  deutlich  aus  dass  zwischen  Gott 
und  Mensch  nur  ein  quantitativer  Unterschied  obwaltet:  IX,  497  f. : 
ötQsatol  ÖS  xs  xal  d'Bol  avtol  x&vnsQ  xal  iiei^ov  ägetiQ 
rifirj  re  ßirj  ts  (als  deine,  Achilleus),  vgl.  TCoXif  vpi^SQoi  slöt 
von  den  Göttern  (ib.  XX,  368);  sie  sieht  überall  Schranken  der 
göttlichen  Macht:  so  kann  das  Schloss  das  Hephaistos  an  Hera's 
Thüre  gemacht  kein  anderer  Gott  öffnen  (II.  XIV,  168);  ein  Schlacht- 
feld überall  zu  betreten  vermöchten  selbst  Ares  und  Athene  nicht 
(IL  XX,  358  f.),  und  Alhenes  Schild  kann  auch  Zeus'  Donner- 
keil nicht  durchdringen  (11.  XXi,  401);  Hades'  Helm  macht  auch 
für  Götter  unsichtbar  (II.  V,  845).  Eine  so  unbeschränkte  Fähig- 
keit Wunder  zu  thun  wie  sie  die  christliche  Vorstellung  Gott 
zuschreibt  flndet  sich  daher  in  der  homerischen  Vorstellung 
entfernt  nicht,  ja  die  Vorstellung  von  Wundern  ist  eigentlich 
gar  nicht  vorhanden.  Denn  einmal  ist  die  Natur  an  allen  Ecken 
und  Enden  hypostasiert  und  damit  mit  einem  Willen  begabt  der 
sich  so  oder  anders  bestimmen  und  auf  den  auch  Einfluss  geübt 
werden  kann;  die  absolute  Festigkeit  der  Naturgesetze  ist  mit 
jener  Anschauung  gebrochen.  Die  Sonne  wandelt  unaufhaltsam 
12  und  unveränderlich  die  Bahn  welche  ewige  in  ihr  selbst  liegende 
Gesetze  ihr  vorschreiben;  aber  Helios  kann  wohl  einmal  aus  be- 
sonderer Gefälligkeit  oder  auf  Befehl  eines  höher  stehenden  Gottes 
später  sich  auf  den  Weg  machen  oder  früher  heimkehren,  was 
Beides  geschieht  (Od.  XXIIl,  243  f.  345.  II.  XVIII,  239  f.).  Der 
strenge  Begriff  des  Wunders  setzt  durchaus  einen  Gegensatz  zur 


Homerische  Theologie.  11 

Natur  voraus,  und  dieser  ist  bei  Homer  schlechthin  nicht  vor- 
handen. Auch  wo  die  Götter  Ausserordentliches  thun,  wunderhaft 
handeln,  wird  diess  nur  von  der  Seite  betrachtet  dass  die  Götter 
eben  mächtig  seien  und  weit  mehr  vermögen  als  der  Mensch  ^  nicht 
aber  dass  es  etwas  der  widerstrebenden  Natur  Abgerungenes  sei. 
Vielmehr  ist  das  Chrarakteristische  des  Thuns  der  Götter  gerade 
diess  dass  sie  Qsta  (IL  XllI,  90.  XV,  356.  XX,  444.  Od.  X, 
573) ,  ^^tdiaig  (Od.  XIV.  348.  357.  XVI,  198.  211,  XXIII.  185), 
gleichsam  spielend,  auch  das  den  Menschen  ausserordentlich  und 
schwierig  Scheinende  vollbringen,  und  wenn  Hera  II.  IV,  26  sagt 
sie  habe  für  die  Acbaier  Muhe  und  Schweiss  nicht  gescheut,  so 
ist  damit  nur  der  Eifer  den  sie  aufgewendet  habe  bezeichnet. 
Es  ist  in  der  homerischen  Zeit  noch  gar  kein  klares  Bewusstsein 
der  Naturgesetze,  die  Grenze  zwischen  dem  Möglichen  und  dem 
Unmöglichen  ist  noch  nicht  scharf  und  fest  gezogen,  und  darum 
ist  der  Begriff  des  Wunders  noch  gar  nicht  vorhanden ;  es  wundert 
sich  Niemand  auch  über  das  Unerwartete,  Ausserordentliche  (vgl. 
11.  XV,  355  ff.  XIX,  407),  eben  weil  der  Kreis  des  Möglichen 
für  das  Bewusstsein  kein  abgeschlossener  ist.  Dabei  zeigt  sich 
aber  doch  ein  gewisser  natürlicher  Tact  wirksam:  nur  kleine 
Gefälligkeiten,  Nachgiebigkeiten  werden  von  der  Natur  erwartet, 
das  absolut  Unmögliche,  in  sich  selbst  Widersprechende  wird  ihr 
nicht  zugemutet.  An  Wiedererweckung  eines  wirklich  Todten 
z.  B.  ist  bei  Homer  kein  Gedanke,  wohl  aber  wird  der  von  Ajas 
mit  einem  Feldstein  schwer  auf  die  Brust  get|foffene  und  halb- 
todt  umgesunkene  Hektor  durch  göttliche  Hülfe  gestärkt  und 
wieder  aufgerichtet,  oder  der  Leichnam  des  Patroklos  un,d  Hektor 
vor  Verwesung  und  Entstellung  wunderbar  behütet  (vgl.  z.  B. 
IL  XXIV,  414.  422);  mit  Einem  Worte:  die  Wunder  bei  Homer 
sind  keine  solche  welche  den  natürlichen  Sinn  ins  Gesicht  schlagen, 
sie  sind  nur  eine  ausserordentliche  Spannung  des  Natürlichen, 
eine  Erweiterung  des  Möglichen,  nicht  aber  etwas  der  Natur 
Entgegengesetztes,  zur  Bewährung  der  angeblichen  Herrschaft  des 
Geistes  über  die  Natur  Ersonnenes,  sie  sind  nicht  principiell, 
tendenziös  und  absichtlich,  sondern  gleichsam  natürliche  Aus- 
flüsse der  besonderen  Macht  der  Götter,  und  sie  lassen  noch  einen 
Rest  von  Möglichkeit  sie  sich  vorstellig  zu  machen. 

Endlich  kehrt  dasselbe  Schwanken  zwischen  idealistischer  und 
realistischer  Auffassung  wieder  in  den  Vorstellungen  über  die  Selig- 
keit der  Götter  und  über  ihre  sittliche  Vollkommenheit, 


12  Zur  Einleitung  in  Homer. 

Die  GöUer  siud  im  Allgemeinen  selig,  ^xaQegj  (eta  ^movrsgj 
(1.  h.  sie  sind  erhaben  ober  irdische  Noth  und  Sorge  und  Schmerz 
und  erfreuen  sich  des  Vollgenusses  alles  dessen  was  das  Leben 
schön  und  angenehm  macht.  Aber  diese  Glückseligkeit  ist  keine 
unbeschränkte,  ausnahmslose.  Die  Verschiedenheit  ihrer  Macht 
und  ihrer  Neigungen  ist  eine  Quelle  vielfacher  Qual  für  die  unsterb- 
lichen Gölter.  Zeus  droht  den  übrigen  Göttern  mit  Schlägen 
(II.  VIII,  12)  und  mit  dem  Blitze  (ib.  418.  455.  vgl.  XV,  117  f.) 
und  schleudert  in  seinem  Zorne  sie  im  Saal  herum  (IL  XIV,  256  Ef.), 
den  Hephaistos  wirft  er  den  Olymp  hinab  (II.  I,  586),  und  seine 
Gattin  Hera  hat  er  gar  einmal  zwischen  Himmel  und  Erde  auf* 
gehängt,  zwei  Ambose  an  ihren  Füssen  (U.  XV,  18  ff.).  Athene 
ist  so  barbarisch  die  Aphrodite  auf  die  Brust  zu  schlagen  dass 
sie  umfallt  (II.  XXI,  424  f.),  und  Hera  hält  mit  der  einen  Hand 
die  Artemis  fest,  mit  der  andern  schlägt  sie  ihr  die  eigenen  Pfeile 
13  um  die  Obren  (II.  XXI,  488  ff.).  Athene  hetzt  auch  den  Diomedes 
gegen  Aphrodite  und  Ares  dass  er  Beide  verwundet  (IL  V,  131  f. 
348  ff.  827  ff.) ,  und  Dione  weiss  ihre  Tochter  nicht  anders  zu 
trösten  als  damit  dass  auch  schon  andere  Götter  von  Sterblichen  zu 
leiden  gehabt  haben  (IL  V,  381—402) ;  so  ist  Dionysos  angstvoll  vor 
Lykurgos  geflohen  (IL  VI,  134  (f.);  dem  Laomedon  haben  Poseidon 
und  Apollon  ein  Jahr  lang  gefrohnt,  und  als  sie  ihren  Lohn  for- 
derten so  drohte  er  ihnen  mit  Misshandlung  (IL  XXI,  443  ff.); 
Otos  und  Ephialtes  bedrohen  den  Himmel  (Od.  XI,  313  f.),  und 
vor  dem  hunderlhändigen  Riesen  Briareos  fürchten  sich  auch  die 
Götter  (IL  1,  406).  Dauernder  ist  der  Schmerz  welchen  Thetis 
um  ihres  Sohnes  willen  empfindet,  dessen  frühen  Tod  sie  bestimmt 
vorauskennt  und  vorausbeweint,  schon  zu  einer  Zeit  da  er  den 
höchsten  Gipfel  des  Glanzes  und  Ruhmes  zu  ersteigen  eben  im 
Begriff  ist  (IL  XVHI,  52  ff.  430  ff.  vgl.  IL  I,  413  ff.  XXIV,  85. 
93  f).  —  Denselben  Beschränkungen  wie  die  Seligkeit  der  Götter 
ist  auch  ihre  sittliche  Vollkommenheit  unterworfen.  Im 
Allgemeinen  wollen  sie  das  Gute  und  nur  das  Gute;  sie  hassen 
und  strafen  die  Ungerechtigkeit  (IL  XVI,  386  ff.),  sie  zürnen  dem 
Achilleus  dass  er  den  Leichnam  Heklors  in  wilder  Leidenschaft 
misshandelt  (IL  XXIV,  113  ff.),  und  in  der  Odyssee,  die  auch  hier 
wieder  ihre  idealistischere  Haltung  bewährt^  ist  es  geradezu  aus- 
gesprochen dass  die  Götter  Unrecht  nicht  lieben,  äXXä  dixrjv 
rlovöL  xal  cc[0i(ia  Igy'  dvd'Qcinfov  (Od.  XIV,  83  ff.)  und,  unter 
den  Menschen  umherwandelnd,  die  Gewaltthätigen  und  die  Fried* 


Homerische  Theologie.  13 

liebenden  kennen  zu  lernen  bemüht  sind  (Od.  XVII,  484  iT.);  ja 
Laertes  erkennt  darin  dass  die  Freier  enclUcb  für  ihren  Uebcr- 
mul  gezüchtigt  worden  sind  einen  Beweis  dafür  dass  es  noch 
Götter  gibt  (Od.  XXIV,  351  f.)*  Aber  das  Recht,  zu  dessen  Hütern 
sie  das  mensciiliche  ßewusstsein  bestellt  hat,  denkt  sich  dieses 
auch  manchmal  von  ihnen  selbst  nicht  streng  genug  beachtet, 
gerade  wie  ein  menschlicher  Richter  zwar  streng  und  gerecht 
richten,  aber  dabei  doch  selbst  manchmal  das  Gesetz  verletzen 
kann.  Auch  die  Götter  üben  manchmal  die  vßQig  die  sie  an  den 
Menschen  hassen  und  bestrafen.  Die  vßQig  ist  es  was  das  ßewusst- 
sein dieser  Zeit  am  strengsten  verdammt,  sie  ist  das  Böse  und 
die  Sünde  im  Sinne  dieses  Zeitalters.  Wir  ersehen  daraus  was 
desselben  wesentlichstes  Interesse  war  und  was  es  am  meisten 
fürchtete;  es  war  eine  Zeit  wo  die  Ordnung  kaum  erst  der  rohen 
Gewalt  den  Boden  abgerungen  hatte  und  selbst  noch  auf  schwachen 
Füssen  stand  und  leicht  zu  erschüttern  war,  wo  das  Recht  des 
Stärkeren  zwar  noch  im  Bewusstsein  haftete,  aber  eingedämmt 
war,  so  dass  es  nur  noch  nach  aussen  Ueberschwemmungen  ver- 
anlassen konnte,  im  Innern  des  Landes  selbst  aber  nur  friedliche 
befruchtende  Bäche  rannen.  Die  Verletzung  des.  Rechtes  Befreun- 
deter und  zur  Erwartung  von  Schutz  oder  Freundschaft  Berech- 
tigter, die  Ueberschreitung  der  Jedem  in  seiner  Sphäre  gesetzten 
Schranken,  —  das  ist  die  vßQcg,  der. für  die  damalige  Zeit  ge- 
fährlichste und  daher  verpönteste  Fehler.  Nur  sofern  die  Götter 
in  diesen  verfallen  Verstössen  sie  gegen  das  sittliche  Bewusstsein 
der  Zeit,  deren  Begriffe  wir  uns  hier  schlechterdings  zum  Mass- 
stabe nehmen  müssen.  Dass  diess  unterlassen  ist  macht  den 
Grundfehler  von  Nägelsbach's  betreflender  Erörterung*)  aus;  er 
stellt  da  ein  langes  Sündenregister  der  homerischen  Götter  auf, 
ohne  den  Begriffen  der  homerischen  Zeit  gehörig  Rechnung  zu 
tragen,  sondern  was  unsern  geläuterten  und  befestigten  sittlichen 
Begriffen  zuwiderläuft,  das  hätten,  als  unsittlich,  die  homerischen 
Götter  nicht  thun  sollen.  Da  aber  ja  diese  Götter  nur  Projectionen 
des  Bewusstseins  sind ,  so  ist  für  sie  unsittlich  nur  was  den  sitt- 
lichen  Begriffen    der  Zeit   die   sie   geschaffen   hat   widerstreitet. 


•)  Homerische  Theologie  I,  16—18  (d.  h.  Erster  Abschnitt,  §.  16—18) 
=B  I,  12 — 14  der  zweiten  Anflage.  In  derselben  Weise  sind  alle  folgenden 
Verweisungen  auf  dieses  Werk  zu  verstehen,  so  dass  dieselben,  wo  eine 
Abweichung  nicht  ausdrücklich  bemerkt  ist,  sowohl  auf  die  erste  (Nürn- 
berg 1840)  als  auf  die  zweite  (Nürnberg  1861)  Auflage  Anwendang  finden. 


14  Zur  Einleitung  in  Homer. 

14  Daher  sind  aus  dem  Sündenregister  vor  Allem  zu  streichen  die 
zahlreichen  galanten  Abenteuer,  zu  Deutsch  Ehebrüche,  der  homer- 
ischen Götter  (vgl  II.  XiV,  313.  Od.  VHI,  266  ff.  XI,  238  f. 
261.  268.  306).  So  wenig  als  es  dem  homerischen  Menschen 
verübelt  wird  wenn  er  neben  seiner  rechtmässigen  Gattin  noch 
eine  Anzahl  nakkaxidsg  hat,  falls  er  darüber  nur  nicht  jene 
vernachlässigt,  ebensowenig  braucht  der  Gott  seinen  zärtlichen 
Neigungen  ein  ängstliches  Ziel  zu  setzen.  Zweitens  zieht  diese 
Zeit  den  Kreis  des  Begriffes  Kriegslist  sehr  weit.  Nicht  nur  wird 
an  Odysseus  seine  Verschlagenheit  und  Klugheit,  die  sich  ge- 
legentlich auch  in  keckem  Lügen  und  Aufschneiden  bewährt  (bes. 
Od.  XIV.),  allezeit  nur  gepriesen  und  bewundert,  sondern  es  wird 
auch  der  mütterliche  Grossvater  desselben,  Autolykos,  in  allem 
Ernste  darum  gerühmt  dass  er  sich  vor  allen  Menschen  durch 
seine  Kunst  schlauen  Lügens  und  Betrügens  ausgezeichnet  habe 
{ävd'QciTCOvg  ixsxaöto  xXsjetoöiivy  ^'  oqxo}  r£,  Od.  XIX ,  395  f.), 
was  ausdrücklich  als  eine  Gottesgabe,  als  ein  Geschenk  des  Hermes 
für  den  treuen  Dienst  den  er  ihm  bewiesen,  bezeichnet  wird 
(v.  396 — 398.).  Dieser  Anschauung  gemäss  sind  denn  auch  die 
Fälle  im  Thun  der  Götter  zu  beurteilen.  II.  II,  8  ff",  sendet  Zeus 
dem  Agamemnon  absichtlich  einen  falschen,  trügerischen  Traum; 
II.  IV,  64  ff*,  willigt  Zeus  in  den  Vorschlag  der  Hera  dass  Athene 
den  Pandaros  zum  Vertragsbruch  und  Meineid  verführe;  IL  V, 
563  f.  ermutigt  Ares  den  Menelaos,  nur  um  ihn  dem  Aineias 
preiszugeben;  IL  XXII,  226  ff.  nimmt  Athene  die  Gestalt  von 
Hektor's  Bruder  Deiphobos  an  um  ihn  dem  sicheren  Verderben 
durch  Achilleus'  Arm  entgegenzuföhren;  ApoUon  schlägt  dem  Dio- 
medes  die  Peitsche  aus  der  Hand  damit  er  im  Rennen  nicht  die 
von  ihm  selbst  aufgezogenen  Rosse  überhole  (IL  XXIII,  383  f. 
vgl.  II,  766),  und  Athene  stellt  dem  Ajas  ein  Bein  damit  ihr 
Liebling  Odysseus  im  Vl^ettlauf  siege  (IL  XXIII,  774).  Das  sind 
nun  alles  freilich  Dinge  die  uns  nicht  sehr  gotteswürdig  vor- 
kommen; das  homerische  Bewusstsein  aber  sieht  darin  nur  einen 
Sieg  des  grösseren  Verstandes,  der  höheren  List.  Dass  Pandaros 
so  thöricht  ist  zu  glauben  er  erwerbe  sich  ein  Verdienst  wenn 
er  vertragswidrig  auf  Menelaos  schiesse,  dass  Agamemnon  so  blind- 
lings in  die  ihm  gestellte  Falle  geht,  durch  ein  Traumgesicht 
ohne  Weiteres  sich  bestimmen  lässt,  das  ist  ihre  Sache,  die 
Götter  haben  auf  sie  keinen  Zwang  geübt,  ihre  Freiheit  nicht 
beeinträchtigt,  es  trifft  sie  daher  auch  keine  Verantwortung.   Drit- 


Homerische  Theologie.  16 

tens  die  Händel  welche  die  Götter  unter  einander  haben  gehören 
für  das  homerische  Bewusstsein  ebenso  wenig  zu  den  sittlichen 
Unvollkommenheiten  der  Gölter;  der  Kampf  wird  vielmehr  nur 
als  eine  Art  der  Belhätigung  einer  tüchtigen  Persönlichkeit  be- 
trachtet, und  Poseidon  sagt  II.  XXI,  437  f.  es  wäre  doch  eine 
Schande  wenn  sie  zum  Olympos  heimkehrten  ohne  gekämpft  zu 
haben ;  vgl.  v.  389  f.  Dagegen  scheint  ein  Anfang  der  so  schwer 
verpönten  vßQig  zu  liegen  in  dem  Neide  welchen  die  Götter 
theils  unter  einander  theils  gegen  manches  Menschliche  empfinden 
und  welcher  eine  Velleität  gegen  dieses  aufzutreten  in  sich  schliesst. 
Die  verliebte  Kalypso  beschwert  sich  darüber  dass  die  Götter 
gleich  neidisch  und  eifersüchtig  werden  wenn  eine  Göttin  sich 
einen  sterblichen  Mann  beigeselle,  während  sie  selbst  die  Gemein- 
schaft sterblicher  Weiber  keineswegs  verschmähen  (Od.  V,  118  ff,); 
Zeus  will  dem  Hektor  neben  Achilfs  Röstung  nicht  auch  noch 
dessen  Gespann  gönnen  (11.  XVH,  450);  Poseidon  ist  neidisch  auf 
die  von  den  Achajern  erbaute  Mauer,  die  sein  Werk  vergessen 
macht  (IL  VII,  446  !f.),  und  auf  das  Glück  der  Phäaken  zur  See 
(Od.  VIH,  565  fr.);  Apollon  gönnt  dem  Menelaos  die  Rüstung  des 
Euphorbos  nicht  (II.  XVII,  71  IT.),  und  Bellerophon  wird  um  seines 
auffallenden  Glückes  willen  von  den  Göttern  verfolgt  (II.  VI, 
191  —  205).  Aber  dieser  Neid  der  Götter  gestaltet  auch  die  15 
entgegengesetzte  Auffassung:  in  ausserordentlichem  Glücke  liegt 
für  den  Menschen  eine  Versuchung  zur  vßQcg,  und  indem  die 
Götter  jenem  entgegentreten  ersticken  sie  diese  schon  im  Keime, 
und  erfüllen  damit  ihre  Aufgabe  der  vßQig  unter  den  Menschen 
zu  steuern.  Recht  und  Gerechtigkeit  zu  fördern.  Wirklicher  und 
unzweifelhafter  vßgig  machen  sich  die  Götter  selbst  nur  dadurch 
schuldig  dass  sie  manchmal  im  persönlichen  ^athos ,  in  der  Leiden- 
schaft, zu  weit  gehen  und  ungerecht  werden.  So  Hera«  Athene 
und  Poseidon  in  ihrem  Grimme  gegen  die  Troer.  Jene  Beiden 
zürnen  wegen  des  Urteils  des  Paris  (II.  XXIV,  28  ff.),  dieser  wegen 
Laomedons  Treulosigkeit  (II.  XXI,  442  ff.)  dem  ganz  unschuldigen 
(vgl.  II.  IV,  31  ff.)  Volke  der  Troer,  und  zwar  in  dem  Grade 
dass  Hera  den  Priamos  und  seine  Kinder  roh  auffressen  könnte 
(II.  IV,  34  f.)  und  den  Fall  Trojas  durch  Preisgebung  der  drei 
ihr  liebsten  Städte  zu  erkaufen  bereit  ist  (II.  IV,  51  ff.) ,  Athene 
durch  kein  Flehen  und  ppfer  der  Troer  sich  erweichen  lässt  (II. 
VI,  286  ff.),  und  Poseidon  nicht  ruhen  will  bis  TgtSsg  vtcb^ 
(piakot  änokixivtav  jtQoxvv  xaxcig,  övv  Jtatcl  xal  alSotyg  uko- 


16  Zur  Einleitang  in  Homer. 

XOiaiv  (U.  XXI,  459  f.).  Kommt  auch  die  hierin  liegende  Un- 
gerechtigkeit dem  Dichter  nicht  recht  zum  Bewusstsein,  da  er 
für  seine  Landsleute,  die  Acbaier«  Partei  nimmt,  so  bricht  doch 
hie  und  da  eine  Ahnung  davon  durch,  wie  IL  IV,  31  ff.  in  Zeus' 
unwilliger  Frage  an  Hera,  was  ihr  denn  die  Troer  zu  Leid  ge- 
than  haben,  dass  sie  sie  mit  so  grimmigem  Hasse  verfolge?  Ebenso 
kommt  Odysseus'  ganzes  Unglück  auf  der  Heimfahrt  allein  daher 
dass  Poseidon  für  die  Blendung  seines  Sohnes  Polyphemos  uner- 
sättliche Rache  an  ihm  nimmt  (Od.  I,  19  f.  V,  377  ff.):  und 
Artemis  verwüstet  das  Land  des  Aitoliers  Oineus  durch  einen  Eber 
aus  EmpGndlichkeit  darüber  dass  er  sie  zu  einem  Opfermahle 
nicht  eingeladen  hat  (11.  IX,  533  ff.).  Zwar  ist  es  möglich  die 
Götter  zu  versöhnen,  sie  sind  azQETttol  (II.  IX,  497),  wie  Apoi- 
Ion  II.  I  beweist,  aber  es  hält  diess  schwer:  ov  ydg  r'  al^a 
d'ecSv  XQEiCBtav  voog  aihv  iövtfov  (Od.  III,  147).  So  zeigen 
sich  die  Götter  durch  ihre  Leidenschaftlichkeit  selbst  wieder  als 
schlechte  Hüter  des  Rechtes,  der  äixri^  avvo^iCri^  der  d'efiiörsg 
u.  s.  w.,  die  Consequenz  davon  dass  sie  Personen  sind  kommt  in 
Conflict  mit  ihrer  Stellung  als  Götter,  übt  nachlheiligen  Einfluss 
auf  ihr  Verhältniss  zur  Menschenwelt. 

In  Bezug  auf  diesen  Punkt  muss  vor  Allem  bevorwortet 
werden  dass  zur  Menschheit  als  solcher  die  Götter  ein  positives 
Verhältniss  nicht  haben;  ihr  Verhältniss  ist  wesentlich  persön- 
licher Art  und  beruht  auf  persönlichen  Motiven:  die  Götter  haben 
ihre  Lieblinge  unter  den  Menschen,  Andere  werden  von  ihnen 
gehasst,  zu  der  grossen  Masse  haben  sie  gar  kein  Verhältniss, 
denn  es  fehlt  hier  an  jedem  Anknüpfungspunkt.  Die  Götter 
lieben  den  der  ihnen  fleissig  opfert;  der  Arme  aber  liat  wenig 
oder  Nichts  zu  opfern,  und  so  ist  zwischen  ihm  und  den  Göttern 
kein  Band,  diese  haben  keine  Ursache  sich  für  ihn  zu  inter- 
essieren; er  leistet  ihnen  Nichts,  und  sie  haben  darum  keinen 
Grund  zu  einer  Gegenleistung,  zur  Verleihung  von  Glück,  zur 
Beschützung  in  Gefahren;  es  fällt  ihm  von  der  göttlichen  Wirk- 
samkeit als  Antheil  nur  so  viel  zu  als  von  den  Göttern,  indem 
sie  ihre  allgemeine  Macht  und  ihre  besondere  Individualität  und 
Wirkungsweise  bethätigen ,  gleichsam  unwillkürlich  ausströmt. 
Auch  für  den  Armen  leuchtet  Helios,  auch  ihm  kommt  es  zu  Gute 
dass  Zeus  über  Recht  und  Gerechtigkeit  wacht;  aber  ausser  diesem 
ihn  treffenden  Bruchtheile  von  der  allgemeinen  Thäligkeit  der 
Götter  hat  er  sich  keiner  Huld  zu  erfreuen,  und  so  ist  sein  Un- 


Homerische  Theologie.  17 

gluck  als  ein  bleibendes  gesetzt:  er  bleibt  arm  weil  er  zu  arm 
ist  um  sich  Reichthum  von  den  Göttern  zu  erkaufen,  und  im 
einzelnen  Falle  ist  sein  Leos  von  dem  abhängig  was  die  Götter  16 
über  das  Ganze  dem  er  angehört,  sein  Land  und  Volk,  beschliessen 
und  verhängen.  Es  werden  nämlich  von  der  homerischen  Vor- 
stellung die  menschlichen  Schicksale  im  Grossen  und  Ganzen  wie 
im  Kleinen  und  Einzelnen  in  Gott  gesetzt,  auf  die  Götter  im  All- 
gemeinen und  Zeus  insbesondere  als  Urheber  davon  zurückgeführt. 
Dem  Bewusstsein  drängte  sich  mit  unabweisiichem  Ungestümm 
die  Frage  nach  dem  Warum,  nach  dem  Grunde  des  Verlaufes 
der  Dinge  auf,  und  da  es  die  Unabhängigkeit  desselben  vom 
Willen  des  Ich  erkannte,  ohne  jedoch  die  natürlichen  Zusammen- 
hänge zu  begreifen,  die  festgeschlossene  Kette  von  Ursachen  und 
Wirkungen  zu  überblicken,  so  kam  es  auf  die  Antwort:  die 
Dinge  sind  so  und  gehen  so  weil  die  Götter  sie  so  gewollt  und 
gesetzt  haben.  Der  troische  Krieg  z.  B.  ist  in  seinem  Entstehen, 
seinem  Verlaufe  und  Ende  durch  die  ßovkal  der  Götter  bestimmt: 
nur  den  Willen  und  Beschluss  der  Götter  erfüllte  Helena  als  sie 
den  Krieg  veranlasste  (daher  sind  die  d'eol  atxioi^  II.  III,  164, 
wo  aber  des  subjectivlerende  fto^  zu  beachten  ist;  vgl.  Od.  VIII, 
82),  erfüllte  Achilleus  als  er  durch  sein  Grollen  mit  Agamemnon 
das  Unglück  der  Achaier  herbeiführte  [diog  tf'  ixsXsCexo  ßovXrj^ 
II.  I,  5  vgl.  XIX,  270  fr.),  und  nur  ihre  Werkzeuge,  die  Voll- 
strecker ihres  Beschlusses  sind  die  Achaier  indem  sie  Ilion  zer- 
stören (Od.  VIII,  579.  vgl.  IL  I,  18.  VIII,  287  ff.  u.  A.).  Warum 
nun  aber  die  Götter  diess  gerade  so  und  nicht  anders  gewollt 
haben  ist  eine  Frage  welche  für  das  homerische  Bewusstsein  gar 
nicht  entsteht;  denn  die  Götter  sind  frei,  sie  handeln  mit  Will- 
kür, nach  reinem  Belieben,  wo  es  vergeblich  ist  nach  Gründen 
zu  fragen:  stat  pro  ratione  voluntas,  Planmässigkeit  ist  hiebei 
ausgeschlossen;  die  Götter  regieren  als  Despoten,  nach  desullori- 
sehen  Launen,  nach  persönlichen  Beweggründen,  nach  Gunst 
und  Abneigung,  nach  dem  Bedürfniss  und  der  Eingebung  des 
Augenblicks  (Nägelsbach  I,  29  und  30).  Und  ganz  dasselbe  gilt 
auch  von  ihrem  Walten  im  Leben  des  einzelnen  Menschen.  Das 
Sein  des  Menschen  nach  allen  seinen  Seiten  hin  ist  gesetzt  und 
bestimmt  durch  die  Götter  (Nägelsbach  I,  33  und  34);  sein  Ge- 
schick ist  im  Einzelnsten  von  ihrem  Willen  abhängig,  sie  lenken 
und  leiten  ihn  auf  allen  Wegen  und  Stegen,  von  ihnen  kommt 
Glück  und  Unglück,  Leben  und  Tod;  sie  verleihen  nicht  nur  das 

Teuf  fei,  Studien.  2 


18  Zur  Einleitnnf]^  in  Homer. 

Vollbringen,  sondern  auch  das  Wollen  ist  iiire  Gabe,  sie  lenken 
Verstand  und  Willen  des  Menschen  zum  Guten  oder  zum  Bösen, 
sie  erleuchten  sein  Auge  oder  bethören  seinen  Sinn  —  ganz  nach 
ihrem  Belieben.*)     Ueber  alles  dieses  hat  Nagelsbach  I,  35 — 46 
ausreichende   Nach  Weisungen    gegeben,    und    wir   begnügen    uns 
daher   auf  einige   wenige  Punkte  aufmerksam  zu  machen.     Fürs 
Erste  ist  bei  solchen  stark  theistisch  gefärbten  Aussagen  nicht  zu 
vergessen  dass  sie  nicht  allezeit  wörtlich  zu  nehmen  sind,  nicht 
immer  einen  realen  Causalneius   behaupten,  sondern  ebenso  oft 
nur  als  religiöse  Ausdrucksweise  zu  betrachten  sind.     Die  Mutter 
deren  Sohn  sich   selbst  den  Tod   gegeben   kann   bei  vollkommen 
klarem   Bewusstsein   hierüber  dennoch   sagen:   Gott  hat  plötzlich 
meinen  Sohn  mir  entrissen ;  sie  will  damit  das  Thun  ihres  Sohnes 
nicht  als  ein  unfreies,  durch  göttliche  Nöthigung  bestimmtes  dar- 
stellen, nicht  Gott  als   den   Urheber  des  Vorganges  bezeichnen, 
sondern  sie  folgt  nur  einem  naturlichen  Instincte  indem  sie  statt 
17  des  rauben,  stechenden  geraden  Ausdruckes  den  mild  verdecken- 
den und  sanft  tröstenden  religiösen  wählt.     So  darf  man   wohl 
auch  bei  Homer  die  Stellen  wo  alles  menschliche  Sein  und  Thun 
auf  göttliche  Causalität  zurückgeführt  wird  mehr  nur  als  Ausdruck 
religiöser  Stimmung    und  Anschauungsweise    denn   als  Aussagen 
einer    festen    dogmatischen  Ueberzeugung    auffassen.      Denn    die 
absolute  Unfreiheit  des  menschlichen  Willens,  welche  in  letzterem 
Falle  mitausgesagt  wäre,  stände  in  zu  schroffem   Widerspruche 
mit  der  ganzen  sonstigen  Anschauung  Homers.     Nur  in  die  Lucken 
des  Freiheitsbewusstseins  tritt  das  Abhängigkeitsgefühl   ein,   nur 
das  was  ohne  Mitwirken  seines  Willens  erfolgt  ist,  wie  sein  Wer- 
den, betrachtet  der  Mensch  als  von  Gott  gesetzt,  nur  wo  er  sich 
nicht  bewusst  ist  mit  klarer  Besinnung  und  nach  festem  Beschlüsse 
gehandelt  zu  haben  nennt  er  sich  durch  Gott  bestimmt,  und  nur 
in  diesen  Fällen  kann  an  eine  reale  Beziehung  auf  Gott  gedacht 
werden;   alles  Weitere  wäre  eine  unnatürliche  Verleugnung  des 
Selbstbewusstseins  und  Freiheitsgefühls,  wie  sie  wohl  bei  herunter- 


*)  Im  Allgemeinen  mnss  der  erste  Schritt  vom  Menschen  ausgehen, 
er  muss  handeln,  der  Qott  dann  gibt  oder  versagt  den  Erfolg.  Das 
Handeln  ist  die  Anfrage  ob  eine  gewisse  Wirkung  im  Willen  der  Götter 
liege.  Am  Gelingen  sieht  man  dass  ein  Gott  geholfen  hat,  d.  h.  dass 
die  Umstände,  welche  neben  der  Anstrengung  der  zweite  Factor  des 
Erfolgs  sind,  günstig  warßn.  So  ist  Achill  sowohl  tapfer  als  ein  Lieb- 
ling der  Götter,  d.  h.  er  hat  ebenso  viel  Glück  als  Mut. 


Homerische  Theologie.  •  19 

gekommenen  Individuen,  Völkern  und  Zeiten  möglich  ist,  nicht 
aber  in  diesem  durch  und  durch  gesunden  heroischen  Zeitalter. 
Dabei  ist  es  aber  zweitens  doch  bemerkenswerth  dass  die  das 
Abhängigkeitsbewusstsein  am  schroffsten  und  abstractesten  aus- 
sprechenden Stollen  vorzugsweise  der  Odyssee  angehören.  So 
Od.  IV,  236  f.:  d'sog  akkoxs  aXXp  Zavg  dyad'öv  ts  xaxov  tb 
duSot*  dvvaxai  yccQ  anavta;  Od.  VI,  188  f.:  Z^g  avrog  viyiai 
oXßov  'OkvfLTtiog  dvd'Qci7tot0LV ,  i^d'Xotg  i^dh  xaxotöLV,  oTtcjg 
i^iXtlOiv^  Bxdazip\  Od.  XIV,  444  f.:  d'sog  dh  ro  iihv  SciiSBi,  ro 
S^  hdösv  5  ottL  xav  S  dufL^  ad'sXy  •  Svvatai  yccQ  äytavtcc.  In 
diesen  Stellen  ist  zugleich  besonders  deutlich  die  Grundlosigkeit, 
die  absolute  Willkurlichkeit  des  göttlichen  Thuns  ausgesprochen. 
Indessen  so  ganz  spröd  und  unzugänglich  und  in  sich  selbst  ge- 
schlossen ist  der  göttliche  Wille  doch  nicht  dass  nicht  auch  auf 
ihn  gewirkt,  ein  Einfluss  auf  ihn  geübt  werden  könnte.  Es  ge- 
schieht diess  vornehmlich  durch  Opfer.  Der  Mensch  bedarf  der 
Götter  (Od.  III,  48),  ihrer  Huld,  ihrer  Hülfe;  er  muss  daher 
etwas  thun  um  diese  zu  gewinnen  und  ihrer  sich  zu  versichern. 
Da  liegt  denn  am  nächsten  die  Darbringung  von  Geschenken, 
Ehrengaben,  ydQara;  diess  sind  die  Opfer.  Diese  haben  einmal 
die  ideale  Bedeutung  dass  der  Mensch  damit  die  Ueberlegenheit 
der  Götter,  seine  Abhängigkeit  von  ihnen  anerkennt,  und  darum 
gilt  der  grössere  oder  geringere  Eifer  im  Darbringen  von  Opfern, 
Libationen  u.  s.  w.  als  Massstab  der  Frömmigkeit  des  Menschen, 
seiner  Ehrfurcht  vor  den  Göttern  (Od.  XIV,  421.  XIX,  364  ff.); 
sodann  sind  sie  auch  nach  ihrer  materialen  Seite  etwas  den 
Göttern  Angenehmes^  etwas  das  sie  für  den  Darbringenden 
freundlich  stimmt.  So  hat  Athene  Wohlgefallen  an  dem  statt- 
lichem Stier  mit  vergoldeten  Hörnern  welchen  Nestor  ihr  dar- 
bringt (Od.  HI,  437  f.  vgl.  XVI,  184),  und  Od.  VUI.  509  heisst 
daher  ein  ayak^a  d'acSv  d'aXxtTjQtov,  Zeus  liebt  die  Troer 
weil  sie  ihm  fleissig  und  reichlich  opfern  (IL  IV,  44 — 49); 
dasselbe  ist  der  Grund  warum  er  den  Odysseus  nicht  fallen  iässt 
(Od.  I,  65  —  67),  und  weil  Hektor  nie  der  Olympier  vergessen 
hat  bei  seinen  Mahlen,  „darum  dachten  sie  seiner  sogar  in  des 
TodesVerhängniss"(ll.  XXIV,  425ff,).  Vgl.  Nägelsbach  V,  3.  Will 
man  durch  das  Opfer  den  Gott  für  Gewährung  eines  bestimmten 
Anliegens  gewinnen,  so  spricht  man  dieses  dabei  aus  durch  ein 
lautes  Gebet.  Alles  Gebet  bei  Homer  ist  erstens  laut  (sonst 
könnten  die  Götter  es  nicht  hören),  und  Ajas,  der  die  Achaier 

2* 


20  Zur  Einleitung  in  Homer. 

ersucht  seinen  Kampf  mit  Hektor  dadurch  zu  unterstutzen  dass 
sie  zu  Zeus  um  Sieg  flehen  öty^  k<p*  viisicov,  Iva  [ifj  TgiSig 
ys  jtvd'CDvrai  (und  es  durch  ihr  Gebet  neutralisieren  oder  zu 
18  überbieten  suchen],  meint  damit  einmal  nur  ein  relativ  leises 
Beten,  sodann  verbessert  er  sich  sogleich:  i^h  xal  d[i(padiriv, 
67tsl  ovtiva  deidc^sv  e^Ttrig  (II.  VII,  194  — 196).  Zweitens  ist 
das  Gebet  bei  Homer  immer  verbunden  mit  einem  Opfer  oder 
einem  Gelübde,  die  Bitte  mit  einer  Leistung,  einem  Geschenke 
oder  dem  Versprechen  eines  solchen.  Man  hat  kein  Recht  auf 
die  Erhör ung  der  Götter,  man  hat  auch  keinen  Grund  zu  glau- 
ben dass  sie  aus  eigenem  Antriebe  sich  unserer  annehmen  werden ; 
man  schaut  sich  daher  ein  gewisses  Recht  darauf,  indem  man 
sich  selbst  einer  Sache  (wenn  auch  nicht  von  Werth)  entäussert 
und  den  Göttern  sie  darbringt.  Dieses  Recht  ist  zwar  kein  ob- 
jectives  und  festes:  der  Gott  kann  trotz  des  Opfers  und  der  Bitte 
auf  seinem  Entschlüsse  dem  Menschen  Unglück  zu  senden  be- 
harren (Nägelsbach  V,  15  und  VI,  29).  Aber  im  Allgeoleinen 
hält  der  Mensch  doch  den  Golt  für  verpflichtet  seine  Leistung 
durch  eine  Gegenleistung  zu  erwidern;  er  beruft  sich  in  seiner 
Bitte  auf  das  was  er  dem  Gölte  schon  gethan  {xXvd'i  (lev  —  et 
Ttots  etc.  vgl.  Nägelsbach  V,  12) ,  ja  er  kann  sogar  dazu  kommen 
den  unhörsamen  Gott  zu  schelten,  besonders  den  Zevg  Ttatrig: 
Zsv  TcdrsQf  oikig  öeto  &€c5v  oXocatagog  SXXog  (II.  III,  365. 
Od.  XX,  2010".  vgl.  II.  H,  112  fl".  IX,  17.  XH,  164.  XIÜ,  631  ff. 
Nägelsbach  V,  18),  wiewohl  im  Allgemeinen  die  Stimmung  des 
Menseben  dem  Walten  der  Götter  gegenüber  eine  —  freilich 
manchmal  trübe  und  murrende  —  Resignation  ist,  s.  Nägelsbach 
V,  16  und  19.  Will  sich  der  Mensch  nicht  fügen,  lehnt  er  sich 
auf  gegen  die  von  den  Göttern  gesetzte  Ordnung,  baut  er  trotzig 
auf  seine  eigene  Kraft,  so  überzeugen  ihn  die  Götter  von  seiner 
Abhängigkeit  und  Unmacht  ihnen  gegenüber  dadurch  dass  sie  ihn 
zu  nichte  machen,  wie  den  Ajas  Od.  IV,  502  fl*.  Drittens  bilden 
den  Inhalt  des  Gebetes  bei  Homer  (wie  überall  ursprünglich,  vgl. 
das  deutsche  Wort  „Gebet"  von  bitten)  überwiegend  Wünsche 
und  Bitten,  und  zwar  um  etwas  ganz  bestimmtes  Einzelnes,  nie 
um  ein  allgemeines  Gut,  eine  Eigenschaft,  Tugend  u.  dgl.  Denn 
eine  Eigenschaft  ist  nicht  etwas  das  man  in  die  fertige  Persön- 
lichkeit nur  so  nachschieben  kann;  nur  einem  Kinde  kann  man 
eine  Eigenschaft  erbitten,  wie  Hektor  II.  VI,  476  fl".  seinem 
Astyanax   Heldenhaftigkeit,   darum  weil  das  Kind  eine  noch   un- 


Homerische  Theologie.  21 

fertige  Persönlichkeit  ist  und  daher  noch  so  oder  anders  bestimmt 
werden  kann.  Dass  z.  B.  ein  Feigling  die  Götter  um  Verleihung 
von  Tapferkeit  anruft  ist  etwas  so  Krankhaftes,  Unnaturliches, 
in  sich  Widersprechendes*)  dass  vielmehr  das  Vorkommen  einer 
solchen  Bitte  bei  Homer  auffallend  wäre;  aber  hier  findet  sich 
nur  das  Natürliche  und  Gesunde  dass  ein  Tapferer  betet:  Zeus 
verleihe  heute,  verleihe  gegen  diesen  Feind  meinem  Arme  Sieg 
und  Segen.  Endlich  viertens  wird  beim  Gebete  vorausgesetzt  dass 
der  Mensch  mit  reinem  Gewissen  vor  den  Gott  tritt;  ist  er  sich 
einer  Schuld  bewusst,  so  muss  diese  gesühnt  sein  ehe  er  sich 
eine  Gunst  erbitten  kann.  Daher  sagt  Eumaios  Od.  XIV,  406: 
wenn  er  den  Gast  erschlüge  könnte  er  nicht  mit  freiem  Herzen 
{7CQ6q>Qav)  zu  Zeus  beten,  und  auf  dieselbe  Forderung  bezieht 
sich  auch  die  symbolische  Handlung  des  Händewaschens  vor  dem 
Beten  (Ih  VI,  266  ff.  vgl.  Nägelsbach  V,  14).  Ob  dann  aber  ein 
Gott  auch  einem  ganz  ordnungsmässigen  Gebete  Folge  geben  will 
ist,  wie  gesagt,  ganz  in  seiner  Willkür;  nur  willfahrt  der  Gott 
am  ehesten  der  Bitte  desjenigen  der  auch  seinerseits  dem  Willen  19 
der  Götter  immer  bereitwillig  Folge  geleistet  hat:  og  xs  d-eotg 
imitai^tai  indka  r  exXvov  avxov^  II.  I,  218.  Dieser  direc- 
ten  und  bestimmenden  Einwirkung  der  Götter  auf  die  Menschen- 
welt geht  eine  indirecte  und  nur  anzeigende  Wirksamkeit  zur 
Seite,  die  Aeusserung  und  Kundgebung  der  göttlichen  Entschlüsse 
mittelst  der  CTJ^iata  und  rdgara.  Es  liegt  der  natürlichen  An- 
schauungsweise nahe,  in  solchen  Erscheinungen  welche  die  Rich- 
tung vom  Himmel  zur  Erde  haben,  wie  im  Donner  und  Blitze, 
im  Regenbogen,  im  Adlcrfluge,  Mittheilungen,  Botschaften  der 
da  oben  wohnenden  Götter  an  die  Menschen  zu  erblicken,  zumal 
in  Augenblicken  gespannter  Entscheidung,  wo  sich  der  Mensch 
auch  die  Götter  aufmerksam  und  theilnehmend  denken  muss. 
Solche  Zeichen  sind  entweder  einfacher  Art,  so  dass  ihr  Eintreten 
nur  durch  die  Zeit  in  die  es  fällt  (z.  B.  nach  einem  Gebete,  in 
einem    kritischen   Momente,    bei   einer    feierlichen    Gelegenheit) 


*)  Entweder  ist  er  wirklich  feig,  dann  fühlt  er  sich  von  der  Tapfer- 
keit ausgeschlossen,  hat  keine  Qemeinschaft  mit  ihr,  fürchtet  sich  vor 
dem  Tapfersein ,  betet  daher  nicht  daram;  oder  er  ist  es  nicht  wirklich, 
so  betet  er  eben  so  wenig  darum,  sondern  greift  zum  Schwert,  und 
brancht  auch  nicht  erst  sich  die  Tapferkeit  zu  wünschen  wenn  er  sie 
schon  hat. 


22  Zur  £iBloitung  in  Ilomcr. 

Bedeutsamkeit   erhält  und  aus  der  Erscheinung  selbst  und   der 
Richtung  die  sie  nimmt  (üb  der  Vogel  rechts  oder  links  von  dem 
Betheiligten  erscheint)  nur  etwas  Allgemeines«  ein  Ja  oder  Nein, 
eine  Warnung   und   Drohung    oder    eine  Ermutigung   und  Ver- 
heissung  entnommen  werden  kann,  und  in  diesen  Fällen  hat  der 
Betheiligte  das  Verständniss  des  Zeichens  selbst,  ohne  Vermitte- 
lung  künstlicher  Deutung.     Oder  aber  ist  die  Erscheinung  eine 
aus   mehreren   Momenten   zusammengesetzte,    ein   Verlauf,    eine 
Handlung,  welche  das  von  den  Göttern  Beschlossene  und  künftig 
Eintretende  vorbildlich  ausdrückt,  gleichsam  mimisch  es  vormacht, 
wie  z.  B.  jene  neun  Sperlinge  auffressende  Schlange  (II.  II,  301 
—  330)   u.  A.  (Nägelsbach  IV,  20).     Hier*ist  nun  der  Deutung 
ein  weiter  Spielraum   geöffnet;   sie   kann    als   das  Vorbildliche, 
Weissagende  entweder   die  Ilaupthandlung   (dort  das  Auffressen) 
oder  einen  Nebenumstand   (die  Zahl  neun  z.  B.)   auffassen  und 
auslegen;    und   eben  ^ wegen    der  Willkurlichkeit    der  Auslegung 
bildet  sich   eine  gewisse  Methode  und  Praxis   der  Deutung,    in 
deren  Besitz  die  ^ävreig  sind.     Aber  diese   Willkürlichkeit  ist 
zugleich  auch  die  Ursache  warum    die  Erscheinung   selbst   und 
ihre  Deutung  für  die  Ueberzeugung  des  dabei  Betheiligten  durch- 
aus nichts  Zwingendes  hat;  er  kann  bezweifeln    ob  die  Erschei- 
nung überhaupt  etwas  zu  bedeuten  hat  und  nicht  vielmehr  eine 
rein  zufällige  ist  (Nägelsbach  IV,  23),   sodann  ob  dieselbe  ge- 
rade nur  diejenige  Deutung  zulässt  welche  ihr  der  ^ävrtg  gibt 
und    nicht   vielmehr   die    entgegengesetzte    (Nägelsbach   IV,   24). 
Daher  ßndet  die  Mantik  in   der  heroischen  Zeit  keineswegs  all- 
gemeine Anerkennung ;  wem  ihre  Aussagen  unwahrscheinlich  oder 
unerwünscht  sind,  der  kann  sie  ohne  Weiteres  ablehnen  (U.  XII, 
237  ff.    XXIV,  221.    Od.  I,  415  f.    II,  177—186),  und  Heklor 
spricht   bei    einer  solchen   Gelegenheit   das    goldene  Wort   aus: 
elg  olavog  aQiiStog  dfivveiSd'ai  xsqI  ndxQrig  (II.  XII,  243).    So 
schenkt  Heklor  auch  der  Weissagung  des  sterbenden  Patroklos  kei- 
nen Glauben  (II.  XVI,  859  ff.),  hält  also  auch  nichts  auf  Ahnungen 
(s.  Nägelsbach  IV,  30);  Träume   hält    selbst  Penelope  nicht  für 
zuverlässige  Boten  (Od.  XIX,  560 f.),  und  das  Trugliche  derselben 
muss  Agamemnon  schmerzlich  erfahren   (II.  II,   vgl.  Nägelsbach 
IV,  26 — 28);  die  Orakel  spielen  noch  keine  Rolle  in  dieser  Zeit 
(Nägelsbach  IV,  34),    vollends  nicht   in   der  Ilias,  und  was  die 
^dvtstg  ohne  rdgata,  in  Folge   besonderer  Einsicht  oder  gött- 
licher Mittheilung,    über   das  was    geschehen  solle    oder   werde 


Homerische  Theologie.  23 

aussagen  kann,  je  nach  der  Persönlichkeit  des  fidvns  und  dessen 
dem  er  weissagt,  geglaubt  oder  verworfen  werden  und  hat  inso- 
fern kein  günstiges  Vorurteil  für  sich  weil  der  [lavTig  aus  seiner 
Gabe  Profession  macht,  sie  als  ein  Gewerbe,  vielleicht  sogar  als 
Erwerbszweig,  betreibt  (Od.  XVII,  383  f.  vgl.  II,  177  —  186,  wo 
gegen  Halilherses  die  Beschuldigung  der  Bestechlichkeit  aus- 
gesprochen wird),  s.  Nägelsbach  IV,  31 — 33.  So  bleibt  als  ein-  20 
zige  zuverlässige  Erkenntnissquelle  des  Willens  der  Götter  und 
ihrer  Einwirkung  auf  die  Menschenwelt  ihr  wirkliches  Thun ,  ihre 
Werke,  die  Schicksale  der  Menschen  und  das  eigene  unmittelbare 
Erscheinen  und  Auftreten  der  Götter,  welches  in  der  vom  Dich- 
ter geschilderten  Zeit  ausserordentlich  häufig  und  fast  regelmässig 
vorkommt,  in  der  Zeit  aber  in  welcher  der  Dichter  spricht  be- 
reits vollständig  erloschen  ist  (Nägelsbach  IV,  6).  Zeus  allein 
erscheint  bei  Homer  niemals  in  eigner  Person  unter  den  Men- 
schen; er  ist  zu  gross  für  die  kleinen  menschlichen  Verhältnisse, 
und  seine  Stellung  ist  erhaben  über  den  Streit  der  Parteien  unter 
Göttern  und  Menschen  (vgl.  Nägelsbach  IV,  7).  Diese  Ausnahms- 
stellung des  Zeus  führt  uns  auf  unsern  letzten  Punkt: 

Das  Verhältniss  der  Götter  zu  einander  (und  weiter- 
hin zum  Schicksal).  Hiebei  können  wir  uns  aber  auf  das  Ein- 
zelne, insbesondere  eine  Charakteristik  der  homerischen  Götter- 
individuen, unmöglich  einlassen,  da  sich  hierüber  ohne  Entwick- 
lung eines  ganzen  mythologischen  Systems  in  befriedigender  Weise 
schlechterdings  nicht  sprechen  lässt.  Für  unseren  Zweck  genügt 
es  einige  Hauptpunkte  hervorzuheben.  Erstens  hat  die  im  he- 
roischen Zeitalter  herrschende  Götterdynastie  einen  überwiegend 
ethischen  Charakter.  Vor  ihr  war  eine  Periode  der  Herrschaft 
vernunftloser  Naturkraft^  reiner  Naturgottheiten,  wie  Okeanos, 
Uranos,  Gaia,  Titanen.  In  siegreichem  Kampfe  mit  ihnen  hat 
sich  die  jetzige  olympische  Dynastie  emporgerungen ,  hat  sie  ge- 
stürzt und  sie  der  Nacht  der  Vergangenheit  und  Vergessenheit 
überantwortet.  Zwar  sind  damit  begreiflich  nicht  alle  Naturgott- 
heiten beseitigt,  denn  die  Natur  selbst  ist  ja  geblieben;  aber  sie 
sind  in  ein  untergeordnetes  Verhältniss  zu  den  herrschenden  ethi- 
schen Gottheiten^  zu  Zeus,  Hera,  Athene  und  Apollon,  gesetzt 
und  nur  die  äusseren  Verhältnisse  des  menschlichen  Lebens  wer- 
den durch  sie  bedingt,  aber  nicht  einmal  ausschliesslich,  indem 
auch  in  ihre  Sphäre  Zeus  eingreift,  sei  es  sofern  jene  äusseren 
Verhältnisse  häufig  in  innigstem  Zusammenhang  mit  den  inneren 


24  Zur  Einleitung  in  Homer. 

stehen  oder  dass  darin  ein  Rest  der  ursprünglichen  Naturbedeutung 
des  Zeus  zu  erkennen  ist.  Zeigt  sich  schon  in  diesem  Verhält- 
niss  der  Olympier  zu  ihren  Vorgängern  die  Analogie  mit  dem 
homerischen  Staate,  der  auch  noch  jung  ist,  in  welchem  ebenso 
Recht  und  Ordnung  erst  vor  Kurzem  den  Sieg  davon  getragen 
haben  über  die  rohe  Gewalt,  so  tritt  diese  Aehnlichkeit  noch 
deutlicher  hervor  zweitens  in  der  inneren  Gliederung  der  ho- 
merischen Götterwelt.  Wie  im  menschlichen  Staate  drei  Paktoren 
zu  unterscheiden  sind:  der  ßaöiXsvgy  die  ßovXi]  der  Geronten, 
und  die  dyoQa  des  Xaos,  ganz  ebenso  auch  in  dessen  Gegen  bilde, 
dem  olympischen  Staate.  Der  ßaöilevg  ist  Zeus;  er  ist  jtokij 
(pdQtatog  der  Götter  (IL  I,  581),  alle  andern  an  Macht  und 
Stärke  so  weit  überragend  dass  er  für  sich  allein  es  mit  sämmt- 
lichen  Göttern  aufnehmen  kann  und  um  ihr  Murren  und  ihre  Unzu- 
friedenheit sich  nicht  kümmert  (H.  Vlli,  18  ff.  450  ff.  I,  566  f.  580. 
589.  XI,  78  ff.  XV,  107.  Od.  V,  103  f.);  seine  überlegene  Macht 
zwingt  ihnen  Gehorsam  ab  (wie  den  Menschen  die  der  Götter), 
s.  Od.  V,  138,  und  wenn  er  vorübergeht  erheben  sich  sämml- 
liche  Götter  ehrerbietig  von  ihren  Sitzen  (II.  I,  533  ff.).  Aber 
neben  ihm  sind  auch  die  übrigen  Götter  berechtigt,  wiewohl  in 
ungleichem  Grade.  Zur  ßovXi^y  dem  berathenden  Ausschusse, 
gehören  nur  die  eigentlichen  d'SoVOXvfimot,  die  Olymposbewohner, 
21  nämlich  ausser  Poseidon:  Apollon,  Ares,  Hephaistos,  Hermes,  Hera, 
Athene,  Artemis,  Aphrodite.  Für  ihre  Versammlung  gebraucht  erst 
Hesiod  Theog.  802  den  Ausdruck  ßovlij,  bei  Homer  heisst  sie 
d^äxog  (Od.  V,  3.  vgl,  11.  VHI,  439).  was  Od.  II.  26  als  Correlat 
von  dyoQi^  gebraucht  ist.  Davon  unterscheidet  sich  die  Versamm- 
lung sämmllicher  Götter,  auch  der  Flussgotlheiten ,  Nymphen  u.  A. 
11.  XX,  4  ff.  vgl.  Vlii,  2,  welche  dyoQTj  heisst.  Ihre  Stellung 
zum  ßa0Usvg  gleicht  sowohl  II.  VIII  als  XX  mehr  der  des  Xaog 
als  der  der  ysQovreg  im  menschlichen  Staate,  weil  Zeus  über 
die  anderen  Götter  weit  mehr  hervorragt  als  der  König  über 
seinen  Adel.  Die  Gölter  werden  hier  berufen  nur  um  die  Befehle 
ihres  Herrschers  zu  vernehmen;  dagegen  die  Odyssee  zeigt  auch 
hier,  wie  im  menschlichen  Staate,  ihre  mehr  aristokratische  als 
absolutistische  Haltung,  Indem  Od.  I,  26  ff.  in  der  Götterversamm- 
lung auch  andere  Götter  als  Zeus  (Athene)  das  Wort  nehmen. 
Gebunden  ist  aber  Zeus  keinesfalls  an  den  Ausspruch  seiner  ßovXrj; 
er  kann  ihrer  einstimmigen  Ansicht  zuwiderhandeln  und  sie  müs- 
sen sich  auf  Protestationen   beschränken,   was  der  Sinn  ist  des 


Homerische  Theologie.  25 

häufigen:  lQd\  draQ  ov  xou  Ttdvteg  iütaivsonsv  d'eol  akXoi. 
Auch  eine  Art  von  Gliederung  in  Stände  oder  Berufsarten  ist 
unter  den  Göttern ;  denn  ein  jeder  hat  einen  festen  Bezirk  seiner 
Thätigkeit,  über  den  er  nicht  hinausgreifen,  in  welchen  aber 
wohl  Zeus  eingreifen  kann.  Drittens  ist  der  Kreis  der  Götter 
bei  Homer  noch  keineswegs  fest  abgeschlossen ,  vielmehr  hat  der- 
selbe eine  Tendenz  sich  einerseits  quantitativ  zu  erweitern  und 
andererseits  qualitativ  zu  verengern.  Will  man  die  homerische 
Vorstellung  von  den  Göltern  in  eine  der  gewöhnlichen  Kategorien 
einreihen,  so  muss  man  sie  als  Polytheismus  bezeichnen,  denn 
wir  begegnen  hier  einer  Vielheit  von  Götterindividuen ;  der  Mög- 
lichkeit nach  aber  ist  die  homerische  Anschauungsweise  vielmehr 
Pantheismus  oder  Pandämonismus.  Denn  die  götterbildende  Thälig- 
keit  ist  noch  nicht  erloschen,  es  wachsen  noch  immer  neue  Götter 
nach ,  an  allen  Enden  tauchen  sie  auf,  zum  Zeichen  dass  in  Allem 
die  Möglichkeit  des  Gottwerdens  liegt,  dass  allenthalben  gleichsam 
Götter  schlummern  und  es  nur  eines  Lautes,  einer  leisen  Be- 
rührung bedarf' um  sie  zu  wecken.  V^eil  die  Reflexion,  wenn 
sie  in  einer  Reihe  einzelner  in  sich  manchfaltiger  Erscheinungen 
ein  Allgemeines,  z.  ß.  ein  gemeinsames  Gesetz  oder  Kraft  er- 
kannte, dieses  Allgemeine  unmittelbar  als  einen  Gott  bezeichnete 
der  jenes  Einzelne  entweder  schaffe  oder  selbst  der  Geist  des- 
selben sei,  —  so  kam  zu  den  schon  vorhandenen,  als  Personen 
und  plastische  Gestalten  ausgebildeten  Göttern  noch  eine  Reihe 
göttlicher  Wesen  von  abstracter  Bedeutung,  wie  Deimos,  Phobos, 
Kydoimos,  Alke,  Enyo,  Eris  u.  s.  w.  (Nitzsch  z.  Odyssee  I.  S. 
XIII — XV.  Nägelsbach  II,  14),  welche  man  als  von  der  Wirkungs- 
weise der  Götter  abgelöst  und  zu  eigenen  persönlichen  Götter- 
wesen ausgebildet  betrachten  kann,  während  die  ursprunglichen 
aus  dem  Volksglauben  herübergenommenen  Götter  keine  Personi- 
(icationen  von  Kräften,  sondern  Personen,  feste  gediegene  Ge- 
stalten sind.  Neben  diesem  Trieb  zu  immer  weiterer  Entfaltung 
des  zu  Grunde  liegenden  pantheistischen  Princips  sehen  wir  aber 
eine  entgegengesetzte  Tendenz  wirksam,  eine  Neigung  die  festen 
Göttergestalten  zu  verflüchtigen,  sie  zu  Momenten  (im  Begrifl'e) 
des  höchsten  Gottes  herabzusetzen ,  also  einen  concentrierenden, 
monotheistischen  Trieb,  eine  Centripetalkraft.  Die  Wirksamkeit 
der  verschiedenen  Götter  wird  nämlich  vielfach  als  Ausfluss  von 
der  des  Zeus,  als  in  seinem  Auftrag  und  Namen  erfolgend  dar- 
gestellt (s.  Nägelsbach  II ,  24  g.  E.),  die  Strahlen  göttlicher  Kraft 


26  Zur  Eiuleitung  in  Homer. 

werden  also  gleichsam  in  Einem  Brennpunkte  gesammelt,  auf  einen 
Mittelpunkt  zurückbezogen ;  und  ebenso  zeigt  sich  in  dem  thätigeu 
22  Eingreifen  welches  dem  z/to^  voog  zugeschrieben  wird  ein  Stre- 
ben nach  Verflüchtigung,  Vergeistigung  der  plastischen  Götter- 
gestalten. Und  sollte  man  auch  hierin  mehr  den  monotheistischen 
Trieb  des  Mythendeuters  als  den  des  Mythenbildners  sehen  wollen, 
so  ist  jedenfalls  ein-  solcher  zu  erkennen  in  der  wesentlichen  Um- 
gestaltung welche  das  Verhältniss  der  Götter  zum  Schick- 
sal noch  innerhalb  des  Kreises  der  homerischen  Vorstellungen 
erlitt.  Dass  sich  bei  Homer  eine  Vorstellung  findet  wonach  das 
Verhältniss  ein  dualistisches  ist,  der  Wille  der  Hoira  neben 
dem  des  Zeus  in  der  Welt  gebietet,  ist  nicht  zu  verkennen.  Wem 
vom  Schicksal  der  Tod  zugedacht  ist,  von  dem  können  ihn  auch 
die  Götter  nicht  abwenden,  auch  wenn  sie  es  wünschten,  —  ist 
Od.  Hl,  236 — 238  geradezu  ausgesprochen.  Die  Götter  ergeben 
sich  daher  in  den  Schicksalsschluss  als  in  etwas  Festes  (vgl.  11. 
XX,  127  f.)  und  begnügen  sich  damit  im  einzelnen  Falle  den 
Willen  des  Schicksals  zu  erforschen  (wie  Zeus  *thut  durch  die 
Wage,  U.  VHI,  69  ff.  XXH,  209  ff.)  und  demselben  zur  Ver- 
wirklichung zu  verhelfen,  indem  sie  das  von  ihm  Verfügte  theils 
selbst  vollstrecken  (II.  XV,  613  f.,  welche  Stelle  kritisch  angefochten 
ist;  XX,  300  ff.  Od.  V,  41  f.  II.  XVI,  849.  XVIU,  119  vgl.  Nägels- 
bach III,  9)  theils  wenigstens  verhindern  dass  der  Mensch  durch 
ausserordentliche  Anstrengung  seiner  Kräfte,  durch  einen  ener- 
gischen Anlauf  sich  darüber  hinwegsetze,  etwas  vxsq^oqov  thue 
(IL  XVI.  698-700.  707  u.  A.  bei  Nägelsbach  HI,  11).  Aber 
nicht  selten  lassen  sie  es  auch  geschehen  dass  der  Mensch  dem 
Schicksal  Trotz  bietet,  dass  er  durch  seine  Anstrengung  etwas  er- 
zwingt was  das  Schicksal  nicht  gewollt,  von  dem  es  vielleicht 
sogar  das  Gegentheil  gewollt  hat  (II.  XVI,  780.  vgl.  Od.  I,  33  f.), 
und  diese  ihre  Zulassung  ist  der  schlagendste  Beweis  dass  sie  ein 
eigentliches  Interesse  den  Willen  des  Schicksals  erfüllt  zu  sehen 
nicht  haben;  der  Wille  des  Schicksals  und  der  der  Götter  ist  nicht 
eins,  es  ist  kein  wesentlicher  Zusammenhang  zwischen  beiden, 
sonst  würden  die  Götter  einstehen  für  das  leblose  und  darum 
wehrlose  Schicksal  und  würden  jede  Verletzung  ferne  von  ihm 
halten.  Diese  Vorstellung,  wonach  die  Moira  eine  Macht  ist  neben 
und  über  den  Göttern,  hat  in  der  nachhomerischen  Zeit  fort- 
gewuchert und  ist  namentlich  von  den  Historikern,  Herodot  an 
ihrer  Spitze  (s.  1,  91:  xtjv  7t€JtQ&iiivriv  iiotQccv  dSvvarä  iöuv 


Homerische  Theologie.  27 

aTeofpvyseiv  xtd  d's^^  vgl.  III,  43),  zum  Mittelpunkte  ihres  Prag- 
inatismus,  zum  bestimmenden  Principe  der  Ereignisse  und  ihres 
Ineinandergreifens  gemacht  worden.  Aber  so  gross  ist  die  Un- 
sicherheit der  homerischen  Weit  über  diese  Frage  dass  zugleich 
auch  die  entgegengesetzten  Ansichten,  von  der  Erhabenheit  des 
Zeus  über  die  Moira  und  der  Identität  des  Willens  der  Moira 
und  der  Götter,  bei  Homer  aufs  Unzweideutigste  ausgesprochen 
sind.  Dass  Zeus  höher  steht  als  die  Moira,  dass  er  ihren  Be- 
schlössen entgegentreten,  deren  Ausfuhrung  verhindern  kann  ist 
um  so  natürlicher  da  ja  auch  den  Menschen  durch  besondere 
Anstrengung  es  möglich  ist  jene  Beschlüsse  zu  vereiteln,  und  so 
sehen  wir  II.  XVI,  433—443  (vgl.  XXII,  174  —  181)  den  Zeus 
unschlüssig  ob  er  seinen  Sarpedon  der  Moira,  die  ihm  den  Tod 
zugedacht,  überlassen  oder  ob  er  ihn  aus  der  Gefahr  erretten 
solle.  Ist  hier  noch  ein  Unterschied  zwischen  dem  Willen  des 
Zeus  und  dem  der  Moira,  wie  auch  in  den  Stellen  wo  sie  beide 
indifferent  neben  einander  gestellt  werden ,  wie  II.  XIX,  87:  nicht 
ich  bin  schuldig,  dXXä  Zsvs  xccl  MotQa  xccl  iJ6Qog>otTis  ^EQLVvvg, 
vgl.  ib.  V.  410:  äXXd  ^eög  ta  [idyag  xal  Motga  XQaraiijy  — 
so  ist  derselbe  andererseits  in  zahlreichen  Stellen  vollständig  auf- 
gehoben ,  indem  ganz  dasselbe  was  von  der  Moira  gesagt  war  auch 
auf  die  Götter  bezogen  wird  und  die  Ausdrücke:  die  Moira  hat  es 
gethan  und:  die  Götter  oder  Zeus  haben  es  gethan,  ganz  als 
Wechselbegriffe  behandelt  werden.*)  So  wechselt  die  Bezeichnung 
als  Schicksalsspruch  {^6q0i(iov)  mit  der  als  Götterspruch  (von  23 
der  Rückkehr  des  Odysseus  Od.  IX,  532:  et  ol  [lotQ*  iatl,  und 
X,  473:  sC  tot  d'B6(pat6v  iötv,  II.  VIII,  477:  äg  yäg  %'i6(pai6v 
i0ti  vom  Fallen  Hektors  durch  Achilleus,  welches  sonst  oft  auf 
das  Schicks.al  zurückgeführt  wird);  das  Ueberschreiten  der  ur- 
sprünglich gezogenen  Grenze  wird  sowohl  durch  vndQfiogov  als 
durch  'ÖTciQ  d'eov  bezeichnet  (IL  XVII,  327  wchg  d'söv;  ib.  321 
v^sQ  dibg  alöav;  Od.  I,  33  f.  stehen  e§  i^fiiatv  und  vjteg- 
fiOQOv  als  Gegensatz,  so  dass  dieses  =»  ovx  il^  inidaiv,  tdiv 
d'SfSv ,  oder  jenes  =  ix  r^g  l^^^QVS)}  vvie  der  (lotga  und  ahfa 
ein  ixiv^öav  des  Loose&  zugeschrieben  wird,  so  den  Göttern  und 
insbesondere  dem  Zeus  ein  imxXdd'etv  desselben;  s.  die  Stellen 


*)  Vom  Standpunkte  des  Menschen  ans  ist  der  Unterschied  auch  in 
der  That  nnr  ein  formeller.  Die  Abhängigkeit  des  menschlichen  Seins 
kann  entweder  unbestimmt  als  Menschenloos  oder  concreter,  persönlicher 
und  religiöser  als  Wille  und  Schickung  der  Götter  bezeichnet  werden. 


28  Zur  Einleitung  in  Uomer. 

bei  Nägelsbacb  III,  5,  besonders  II.  XXIV,  209  f.:  Motga  XQataiij 
yeivofiBvtfi  iTcivvfiB  kiva,  vgl.  mit  II.  X,  70  f.:  afiniv  Zsvg  ini 
yHVoiidvoiöirV  lei  xaxonjta  und  Od.  IV,  207  f.:  KgovCmv 
olßov  imxkdöij  —  ysivoiiivp;  dieselbe  Besümmung  und  die- 
selbe Tbatsacbe  wird  abwecbseind  auf  die  Motga  und  auf  ^log 
votifia  zurückgerührt,  wie  Achilleus'  Tod  II.  XXIII,  80  (fiorpa) 
vgl.  mit  XVII,  409  (^log  iieydXoio  vornuc);  Patroklos  nennt  als 
Urheber  seines  Todes  II.  XVI,  845  Zeus  und  ApoUon,  und  gleich 
darauf  v.  849  die  Moira  und  Apollon;  den  Hektor  bestimmt 
II.  XXII,  5  die  Moira  dem  Achilleus  Stand  zu  hallen,  und  ?.  297 
sagt  er  selbst:  i}  iidka  dij  iie  d'sol  d'dvazovds  xäks60av; 
ja  11.  XXI,  82 -—-84  ist  Beides  nur  als  verschiedene  Ausdrucks- 
weise  desselben  Gedankens  nebeneinander  gestellt:  reyg  iv  x^Q- 
ölv  'sd'TiXB  Motg*  ükoii  und  Zsvg  iii  6ov  avtvg  idcoxB.  Kann 
hienach  die  Identität  des  Willens  von  Zevg,  der  d'Bol  und  der 
Moira  nicht  zweifelhaft  sein,  so  ist  nur  noch  die  Vorstellung 
übrig  wonach  die  ^otQa  dem  Zeus  und  den  dfol  geradezu  in  die 
Hand  gegeben,  ihnen  vollständig  untergeordnet,  als  Ausfluss  ihres 
Vi^esens  und  Willens  aufgefasst  wird.  Diess  liegt  in  den  Aus- 
drücken ^iog  alöa  (Od.  IX,  52),  äaiiiovog  alaa  (Od.  XI,  61), 
MolQu  d'Bov  (Od.  XI,  292),  Molqcc  d'säv  (Od.  III,  269.  XXII, 
413),  und  diese  Vorstellung,  dass  die  Motga  etwas  ist  worüber 
die  Götter  und  Zeus  insbesondere  zu  verfügen  haben,  ein  Stoff 
den  sie  nach  Belieben  verwenden  ^und  vertheilcn,  ist  bildlich 
ausgeführt  am  Schlüsse  der  Uias,  XXIV,  527  ff.,  wonach  Glück 
und  Unglück  in  zwei  Fässern  [Ttid'OL)  im  Palaste  des  Zeus  liegt, 
woraus  er  nach  seinem  Belieben  den  Sterblichen  spendet.*) 

Genau  betrachtet  haben  wir  somit  über  das  Verhältniss  zwischen 
den  Göttern  und  der  Moira  bei  Homer  vier  verschiedene  Vor- 
stellungen: 1)  die  Moira  und  Zeus  sind  getrennte  Begriffe  und 
Willen,  und  jene  ist  erhaben  über  diese,  Zeus  ist  der  Erforscher 
und  Vollzieher  der  Moira;  2)  Moira  und  Zeus  .sind  getrennt  und 
stehen  theils  indifferent  neben  einander,  theils  trifft  ihr  Wille 
zusammen,  theils  aber  geht  er  auch  auseinander,  wobei  Zeus^ 
als  der  Lebendige,  sich  als  der  Mächtigere  erweist;  3)  Zeus  und 
Moira  und '^fol  sind  identisch,  sind  Wechselbegriffe;  4)  die  Moira 

*)  Ein  Stück  welches  übrigens  die  Redaction  der  Ilias  nicht  ge- 
schickt gerade  an  dieser  Stelle  eingefügt  hat,  da  es  mit  dem  in  v.  525  f. 
angekündigten  Thema  in  Widerspruch  steht  und  den  v.  553  sehr  un- 
passend allzuweit  von  v.  522  entfernt. 


Homerische  Theologie.  29 

ist  ein  Moment  des  Wesens  und  Willens  des  Zeus  und  der  d'sol^ 
oder  ein  Stoff  den  sie  bearbeiten,  also  in  völliger  Unterordnung. 
Doch  lassen  sich  diese  vier  Vorstellungen  auf  zwei  zurückführen, 
die  man  nur  wieder  auf  zweierlei  Weise  bestimmen  kann;  ent- 
weder: 1)  Zeus  und  Moira  sind  getrennt  beziehungsweise  ent- 
gegengesetzt/ 2)  sie  sind  identisch;  oder:  1)  die  Moira  steht 
über  Zeus,  2)  Zeus  steht  über  der  Moira.  In  Bezug  auf  das  24 
zeitliche  Verhältniss  dieser  sich  zu  einander  ausschliessend  ver- 
haltenden Vorstellungen  ist  es  bemerkenswerth  dass  diejenigen 
Stellen  welche  die  Moira  dem  Zeus  unterordnen  überwiegend 
der  Odyssee  und  dem  letzten,  spätesten  Theile  der  Ilias  angehören. 
Auch  Anderes  kommt  hinzu  um  diese  Vorstellung  als  die  spätere 
erscheinen  zu  lassen.  Die  Bezeichnung  des  Schicksals  als  Götter- 
spruch, als  %'s6q)axov^  führt  auf  das  Vorhandensein  von  Anstalten 
durch  welche  die  Mittheilung  des  Götterwillens  an  die  Menschen 
vermittelt  wird,  d.  h.  von  Orakeln,  und  diese  führen  einerseits 
in  die  nachhomerische  Zeit,  wo  ihre  Wirksamkeit  erst  recht  be- 
ginnt, andererseits  waren  j»ie  die  Stützen  einer  gewissen  mono- 
theistischen Betrachtungsweise;  denn  je  concentrierter  der  welt- 
regierende Wille  ist,  um  so  fester  steht  er,  um  so  sicherer  lässt 
er  sich  also  fassen  und  vorherbestimmen.  Dieselbe  monotheistische 
Tendenz  zeigt  sich  aber  auch  in  dem  Schwanken  der  Vorstellungen 
über  das  Schicksal;  es  ist  die  Tendenz  auf  Einigung  und  Unter- 
werfung des  Willens  der  Moira  unter  den  des  Zeus,  also  Einen 
Willen  herrschen  zu  machen,  die  ihm  widerstrebende  dunkle 
grundlose  Macht  ebenso  zu  brechen  wie  die  rohen  Naturmächte 
der  Titanen  und  Giganten,  auf  dass  allein  nur  herrsche  Licht 
und  Bewusstsein  und  Freiheit.  Noch  näher  zeigt  sich  die  mono- 
theistische Richtung  in  der  sichtbaren  Neigung  die  Mitwirkung 
der  übrigen  Götter  an  der  Feststellung  des  Geschickes,  also  an 
der  Weltregierung,  bei  Seite  zu  schieben  und  Alles  dem  einen 
höchsten  Gotte,  dem  Zeus,  zuzuwenden.  An  diese  Richtung  der 
homerischen  Vorstellungsweise  haben  dann  später  die  griechischen 
Tragiker,  besonders  Aischylos,  angeknüpft  und  dieselbe  weiter 
gebildet,  und  wie  sehr  sie  von  dem  Hauptherde  der  hellenischen 
Religionsvorstellung  und  des  hellenischen  Cultus,  von  Delphi,  aus 
genährt  wurde  beweist  die  Nachricht  des  Pausanias  dass  im  del- 
phischen Tempel  anstatt  der  dritten  Moira  das  Bild  des  Zeus 
MotQaydtTjg  stand  und  ihnen  gegenüber  das  des  Apollon  als  des 
Verkünders  der  göttlichen  Beschlüsse. 


30  Zur  Einleitung  in  Homer. 


2.  Die    homerische    Gesammtanschauung    vom    Leben 

und  vom  Tode. 

Für  die  homeriscjie  Anschauung  ist  die  Welt  wie  sie  ist  im 
Ganzen  und  Allgemeinen  gut,  das  Sittliche  ist  in  ihr  verwirklicht, 
die  sittliche  Weltordnung  ist  nicht  etwas  das  als  Ideal  über  ihr 
steht  und  nur  etwa  am  Ende  ihres  Entwicklungslaufes  real  wird, 
sondern  sie  ist  bereits  real  und  objectiviert  in  den  bestehenden 
Verhältnissen  des  Lebens.  Das  Wirkliche  ist  bei  Homer  das  Ver- 
nünftige und  damit  zugleich  das  Sittliche;  denn  die  Sphären  des 
Sittlichen  und  des  Vernunftigen  oder  Wahren  sind  bei  Homer 
identisch  und  fallen  zusammen ;  das  Gute,  Sittlicheist  das  Rechte, 
Zweckmässige  und  Verständige;  der  Verständige  thut  als  solcher 
unmittelbar  auch  das  Gute  (Od.  HI,  328  von  Menelaos:  il^svöog 
d'  ovK  igisiy  (läXa  yag  Tcexwiidvog  iötlv  u.  A.  bei  Nägels- 
bach VI,  2.  kmn,*),  und  das  unrecht  Handeln  beruht  auf  einer 
Verflnsterung  der  Erkenntniss,  gewirkt  entweder  durch  des 
25  Menschen  eigensüchtigen  Trieb  oder  durch  unbegreifliche  unfass- 
bare  Ursachen,  welche  als  axri  bezeichnet  werden.  Weil  aber 
das  Wirkliche  als  solches  das  Vernünftige  und  Sittliche,  also  eine 
objective,  Anerkennung  fordernde  Macht  ist,  so  besteht  das  un- 
vernünftig oder  unsittlich  Handeln  darin  dass  das  Wirkliche 
verletzt,  die  bestehenden  Verhältnisse  und  Einrichtungen,  welche 
als  Verwirklichung  des  Rechts  und  der  Sittlichkeit  d-ifiiörag 
heissen,  missachtet  und  angegriffen  werden,  dass  der  individuelle 
Wille  mit  dem  in  den  bestehenden  Rechtsverhältnissen  ausge- 
sprochenen objectiven  Willen  in  Gegensatz  tritt.  Verletzung  der 
Pflichten  gegen  die  Eltern,  der  Rücksichten  gegen  Todte,  Beugung 
des  Rechts  durch  ungerechte  Richter,  Verletzung  des  Gastrechts, 
der  ehlichen  Treue,  der  Elgenthumsrechte  (wie  bei  den  Freiern), 
das  sind  die  Frevel  welche  für  das  homerische  Bewusstsein  Strafe 
verdienen  und  Strafe  finden;  denn  jene  Mächte  sind  nicht  todte 
und  wehrlose,  sondern  sie  sind  lebendig,  theils  in  den  Göttern, 
theils  im  Gesammtbewusstseln  des  Volkes,  thells  In  dem  Be- 
wusstsein jedes  Einzelnen;  und  hieraus  ergeben  sich  denn  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Antrieben  zum  Guten,  von  Abhaltungs- 
gründen vom  Unrechten  und  von  Bestrafungen  für  das  verübte 
Unrecht,  welche  zusammengefasst  sind  Od.  H,  6411.:  V6ii€00ij- 
^rjfcs  xal  avtol,  aXkovg  d^  aläiö^xs  JtBQixtiovag  ävd'Qdjcovg 


Homerische  Ethik.  _  31 

.  .  d'eäv  d'  VTCoSeLcaxs  ft^i/tv,  nämlich  1)  die  Götter,  2)  das 
Gesammtgewissen,  3)  das  individuelle  Gewissen.  Die  Götter 
sind  es  welche  die  bestehende  Ordnung  theils  geschaffen  haben 
theils  fortwahrend  beschirmen  und  für  ihren  Bestand  Gewähr 
leisten ;  sie  sind  es  daher  auch  welche  ordnungsmässiges  Handeln 
begünstigen  und  dazu  antreiben  (Nägelsbach  VI,  16),  dem  Un- 
recht zürnen  und  es  bestrafen  (s.  Nägelsbach  VI ,  21  u.  22) ;  und 
die  Rücksicht  auf  die  fi^i/ig  ^eävy  auf  %Bäv  osctg^  das  ästaat 
^sovg  und  aldstöd^at  d'sovg  ist  desswegen  ein  Hauptgrund  zur 
Unterlassung  des  Unrechts  (Nägelsbach  VI,  13);  wer  die  bestehen- 
den sittlichen  Verhältnisse  heilig  achtet,  in  ihren  Schranken  sich 
hält  und  ihnen  Genüge  thut,  der  erfüllt  ebendamit  den  Willen 
der  Götter;  der  Gerechte  ist  somit  hier,  wie  auf  alttestament- 
liebem  Standpunkte,  zugleich  der  Fromme  (vgl.  Nägelsbach  V,  23). 
Für  das  Bestehen  der  sittlichen  Ordnung  ist  aber  zweitens  auch 
das  Volk  selbst  interessiert;  es  sieht  in  derselben  den  realen 
Ausdruck  iseines  sittlichen  Bewusstseins,  das  objectivierte  Gesammt- 
gewissen,  es  ehrt  in  ihr  einen  Damm  gegen  Willkür  und  Gewalt- 
that,  und  wer  daher  einbricht  in  jene  Ordnung,  der  verstösst 
gegen  das  Volksbewusstsein,  den  trifft  der  Zorn  der  Menschen, 
die  vs(i€0ig  «g  ävd^QWTtiDv  (Od.  H,  136.  vgl.  11.  VI,  351.  Nägels- 
bach Vi,  14  u.  17),  und  die  Rucksicht  auf  diese  hält  Manchen 
ab  vom  Unrecht  (II.  IX,  460  f.  640  f.  XVII,  91—95.  Od.  II, 
136.  101.  XVI,  75.  XIX,  527),  wie  andererseits  die  Aussicht 
auf  die  Achtung  der  Mitmenschen  ein  Antrieb  ist  zum  Recht- 
handeln  (11.  IX,;  257  f.).  Endlich  drittens  wird  der  Wille  und 
das  Handeln  auf  das  Gute  gerichtet  durch  das  in  jedem  Einzelnen 
wirksame  Gewissen;  und  dieses  ist  theils  Bewusslsein  von  einer 
gewissen  Idealität  des  Ich,  wonach  das  Unrechtthun  eine  Verletzung 
der  Selbstachtung  ist,  was  sich  ausspricht  in  dem  häufigen  vefiaöä- 
a^ai  ^[i^,  V€(ie0i^£0d'ai  iv  d'vfi^,  al0%vvB0^aiy  cißsO^ai  etc. 
etwas  zu  thun  (s.  Nägelsbach  VI,  15),  theils  Bewusstsein  von  der 
Absolutheit  der  sittlichen  Verhältnisse  «und  der  Unbedingtheit  der 
aus  ihnen  hervorgehenden  Aufgaben,  der  aus  ihnen  abgeleiteten 
Verpflichtungen.  So  ist  es  eine  XQBiGi  ävocyxairi  welche  die  Troer 
antreibt  zu  kämpfen  jcqo  r>  %aCd(QV  xal  xqo  yvvaixfSv  (11.  VIII, 
56  f.) ;  Odysseus  begibt  sich  in  Gefahr  um  seine  Genossen  zu 
retten:  XQarsQ'^  de  fiOL  STtXst*  avdyxi]  (Od.  X,  273),  und  die 
Beschwörungsformeln  ytQog  x  ak6%ov  xal  naxQog  (Od.  XI,  67 
vgl.  Xni,  324.     II.  XXII,  338),  iCQog  £xa(Q(Dv  (Od.  XV,  262) 


32  Zur  Einleitung  in  Homer. 

^*  ruhen  gleicbfalls  auf  der  Voraussetzung  der  in  diesen  Verhältnissen 
liegenden  sittlichen  Nötliigung  (vgl.  Nägelsbach  VI/  16).     Aber 
neben  diesen  negativen  und  positiven  Antrieben  zum  Guten  sind 
im  Menschen  auch  Mächte  thätig  welche  ihn  auf  die  entgegen- 
gesetzte Seite  zu  locken  suchen.    Des  Menschen  Herz  ist  —  je 
nach  seinem  äusseren  Ergehen  —   ein  trotzig  und  ein  verzagt 
Ding:  statt  die  Gaben  der  Götter  in  stiller  Ergebung  (oiyg)  hin- 
zunehmen gebärdet  es  sich  kleinmütig  im  Unglück,   übermutig 
im  Glücke  (Od.  XVHI,  130—142);  im  übersprudelnden  Gefühle 
seiner  Kraft  durchbricht  das  Ich  die  ihm  gezogenen  Dämme  und 
vergreift  sich   rücksichtslos   an  heiligen  unverletzlichen  Einrich- 
tungen.    Das  ist  die  vßQig  (mit  vnhg  zusammenhängend),  das 
Ueberschreiten  des  Masses  und  der  Grenze,  hervorgegangen  aus 
ayrivogCri  [ayav  ivrjQ)^   einem  &vii6g   dyfjvcsQ,    vitBQfpCakog, 
welchen  der  gute  Wille  nicht  mehr  bemeistern  [l!6%BiVy  U.  IX, 
255  f.)  kann ,  sondern  selbst  von  ihm  fortgerissen  wird  [BtHsiv, 
imöTtiöd'aL ,  s.   Od.  XVII,  431:  vßQsv  stiiavteg,  imöieoiisvoL 
(isveV  6fpä,  vgl.  XIII,  143.    XVHI,  139).    Das  Unrecht  entsteht 
also  dadurch  dass  das  Ich  aus  UeberfuUe  von  Kraft  und  Selbst- 
gefühl von  den  objectiven  sittlichen  Mächten  sich  losreisst  und 
sich  selbst  Centralität  beilegt,   dass  der  innen  gährende   Drang 
die  schlaffen  Hüter  überwältigt  und  in  fessellosem  Ungestümme 
die  Schranken   niederreisst   welche   göttliches  und   menschliches 
Gesetz  ihm  gezogen  haben,   dass  der  individuelle  Wille  dem  ob- 
jectiven, absoluten  sich  entgegcnslemmt.    Ein  solcher  Kampf  ist 
seiner  Natur  nach  ein  vergeblicher  und  thörichter  und  nur  aus 
der  Verblendung  zu  erklären  mit  der  das  Ich  seine  eigenen  Kräfte 
überschätzt.     Aber  es  gibt  auch  Fälle  wo  dieselbe  Trübung  der 
Erkenntniss  dieselbe  Wirkung  hat,  ohne  doch  aus  derselben  Quelle 
zu  stammen,  wo  eine  thörichte  Verletzung  sittlicher  Verhältnisse 
vorliegt  ohne  dass  dieselbe  doch  aus  überspanntem  Selbstgefühle 
abzuleiten  wäre.     Solche  Fälle  haben  für  das  homerische  Bewusst- 
sein  etwas  Unbegreifliches«  wobei  das  Wissen  und  Verstehen  auf- 
hört und  das  Glauben  anlangt,   d.  h.  sie  werden  auf  die  Götter 
als  ihre  Urheber  zurückgeführt;  die  Götter  verhängen  über  den 
Menschen  Bethörung  {fpQsvag  i^ekiödtci,  ßkd^tSLV,  okkvvai  etc. 
s.  Nägelsbach  I,  45;  atriv  ätSovai,  Od.  IV,  261  f. ;  atriviv  (pgeal 
xi^Bvai,   Od.  XV,  233  f.;  q>QBalv  iiißdXXBLV,  II.  XIX,  88;  ary 
iväBBiv,  II.  II,  111.  u.  A.,  s.  Nägelsbach  VI,  3),  dass  er  in  der 
Blindheit   nach   dem    Unrechten    greift.      Iliedurch    ist   die  Zu- 


Homerische  Ethik  und  Eschatologie.  33 

rechnungsfähigkeU  des  Subjectes  aufgehoben,  und  Agamemnon 
z.  B.  lehnt  daher  II.  XIX,  86  ff.  alle  Verantwortlichkeit  von  sich  ab: 
iy€o  d'  ot};e  attiög  slfic,  aXXä  Zsvg  xai  MotQa  etc.,  und  auch 
sonst  schieben  die  Menschen  häuOg  die  Schuld  auf  die  Götter 
(s.  die  Beispiele  bei  Nägelsbach  VI,  19);  d.  h.  auf  das  Unglück, 
auf  Umstände  welche  ausser  dem  Bereich  ihres  Willens  und 
ihrer  Berechnung  lagen.  Aber  das  ist  nur  ein  Theil  der  Fälle; 
ebenso  oft  sucht  der  Mensch  die  Schuld  in  sich  selbst  und  klagt 
in  bitterem  Schmerze  sich  selbst  an.  So  besonders  Helena,  II. 
III,  173.  180.  404.  VI,  345  ff.  Od.  IV,  145.  260;  Agamemnon, 
II.  IX,  116:  d<xacl(ii]v ,  ovd*  avrog  dvalvoiiai,  u.  A.  bei  Nägels- 
bach VI,  20.  Und  eben  dieses  Schuldgefühl  ist  es  auch  was  das 
Bedürfniss  nach  einer  Sühnung  der  Schuld  hervorruft,  und  hiezu 
dienten  wieder  Opfer  und  Gebete  (Nägelsbach  VI,  24  —  29);  denn 
mit  der  sittlichen  Ordnung  dachte  man  sich  die  Vertreter  und 
Beschützer  derselben,  die  Götter,  verletzt,  und  ihr  Zorn  sollte 
durch  die  Darbringung  von  Opfern  beschwichtigt  werden. 

Darin  dass  dem  homerischen  Bewusstsein  das  Rechte  und  Gute 
als  das  Wirkliche   erscheint  erreicht  die  Diesseitigkeit  dieser  An- 
schauungsweise  ihren    Gipfel.      Wenn    aber   die    sittliche   Welt- 
ordnung ihr  Dasein  und  ihre  vollständige  Erfüllung  im  wirklichen 
Leben   hat,    so  führt  kein   ethisches  Postulat   auf   die  Annahme  27 
einer  Fortsetzung  des  individuellen  Lebens  auch  nach  dem  Tode, 
und  ebensowenig  ist  eine  solche  Annahme  individuelles  Bedürfniss. 
Denn  das  Bewusstsein  hat  seine  volle  Befriedigung  in  dem  Leben 
auf  der  Erde;  hier  fühlt   es  sich  heimisch,   und  im  Besitz  und 
Genuss  der  Güter  der  Erde  erblickt  es  sein  höchstes  Glück.  Am 
bestimmtesten  und  naivsten  ist  diess  ausgesprochen  Od.  IX,  5 — 11, 
wo  Odysseus  ausführt  was  er  sich  unter  einem  wahrhaft  seligen 
Leben  vorstelle,   nämlich   einen  Zustand   der  Wohlhabenheit  der 
erlaube  recht  oft  sich  in  zahlreicher  Gesellschaft  des  Mahles  und 
Sängers  zu  freuen;  und  die   Phäaken,   deren  Leben    ihr  König 
Od.  VIII,  248  selbst  so  schildert:     aid  *'  ^(itv  daCg  ts  fpilri 
xld'aglg   ts  %oqoC  re^  nennt  der   Dichter   wiederholt  fiäxaQsg. 
Vgl.  Nägelsbach  VII,  1.     Wo  die  Anspräche  so  bescheiden  sind, 
wo  die  Wünsche  des  Herzens  so  nahe  an  der  Erde  hinfliegen, 
da  ist  Zufriedenheit  und  Glück   leicht  gewonnen  und  leicht  fest- 
gehalten;   bei  einer  so    einfachen    und   heitern    Auffassung    des 
Lebens  gelangt   man    leicht    zu    der   Ueberzeugung :    es   ist   ein 
Gluck  ein  Mensch  zu  sein  und  zu  leben.   Zwar  wirft  auch  Schmerz 

Ten  ff  Ol,  Studien.  3 


34  Zur  Einleitung  in  Homer. 

und  Unglück  seinen  düsteren  Schatten  herein  in  dieses  sonnige 
Dasein;  aber  der  homerische  Mensch  ist  nicht  so  unbescheiden 
von  den  Göttern  reines  Glück  zu  verlangen ,  er  weiss  dass  er  als 
Mensch  dem  Gesetze  der  Endlichkeit  unterworfen  ist,  und  dass 
das  Sein  und  Leben  an  sich  schon  eine  so  dankenswerthe  Gabe 
ist  dass  alles  was  noch  von  Glück  und  Freude  hinzukommt  eine 
ausserordentliche  und  unverdiente  Wohlthat  ist.  Zwar  wird  alier 
Schmerz  von  diesen  ~  warmblütigen ,  durch  und  durch  gesunden, 
von  aller  Empflndelei  entfernten  (Nägelsbach  VIT,  5)  Naturen  mit 
doppelter  Lebhaftigkeit  empfunden  (Nägelsbach  VII,  6  u.  7);  aber 
je  heller  und  starker  die  Flamme  emporlodert,  um  so  früher 
sinkt  sie  auch  wieder  zusammen  und  erlischt;  hat  sich  der  Schmerz 
in  einem  tobenden  Gewitter  entladen,  so  steht  der  Himmel  des 
Bewusstseins  bald  wieder  unumwölkt,  in  heiterem  Glänze  lachend 
da.  Ist  ja  doch  der  Mensch ,  seiner  Beschränktheit  sich  bewusst, 
auf  viel  Leid  gefasst  {(Sg  yccg  ixsxkciöavto  ^eol  ä£LXot0L  ßQO- 
xoZCi  i&£iv  axvvfiivovg,  II.  XXIV,  525  f.)  und  kann  viel  er- 
tragen: rkfjtov  yäg  Molgai  dvfiov  ^iCav  ävd'QcinoL0vv ,  II. 
XXIV,  49.  vgl.  Nägcisbach  VII,  8.  Eines  nur  kana  das  Bewussi- 
sein  nicht  verwinden,  Ein  Schmerz  umdüstert  immer  von  Neuem 
die  Seele:  der  Schmerz  über  die  kurze  Dauer  des  menschlichen 
Glückes,  das  Grauen  vor  der  Nacht  des  Todes.  Des  Menschen 
Leben  währt  nur  eine  Spanne  Zeit:  avd'gajtoi  (iivvvd'däiOL  ta- 
Xid'ovatVy  Od.  XIX,  328.  Dem  Laube  gleichen  sie,  das  der 
Frühling  erzeugt,  der  Herbst  verstreut,  II.  VI,  145  ff.  XXI,  464—466. 
Und  am  Ende  dieser  kurzen  Freude  steht  der  schaurige  Feind 
alles  Lebens,  steht  der  Tod.  Ihm,. dem  Freudenmörder,  gegen- 
über empfindet  der  homerische  Mensch  einen  natürlichen  Hass 
und  Abscheu.  Eben  weil  das  Leben  ein  absolutes  Glück  ist, 
darum  ist  die  Negation  desselben,  der  Tod,  ein  absolutes  Unglück. 
Alles  Schöne  ist  auf  der  Erde  und  durch  sie  bedingt,  der  Mensch 
kann  daher  im  Tode  nur  absolut  verlieren.  Unter  allen  Göttern 
ist  darum  Hades  den  Menschen  der  verhassteste  (II.  IX ,  .159), 
und  etwas  oder  Jemand  hassen  wie  den  Tod  bezeichnet  den  höch- 
sten möglichen  Grad  des  Hasses  (II.  HI,  454.  IX,  312.  Od.  XIV, 
156);  der  ^ävatog  heisst  xaxog  (II.  III,  173.  XVI,  47),  und 
vor  der  Wohnung  des  Hades  graut  selbst  den  Göttern  (II.  XX, 
65).  Von  diesem  grössten  der  Uebel  befreit  zu  sein  wird  so  hoch 
angeschlagen  dass  dieses  eine  Merkmal  hinreicht  um  eine  tiefe 
Kluft  zu  breiten   zwischen   dem  Gotte   und   dem  Menschen,   und 


Homerische  Eschatologie.  35 

dass  es  hierauf  vornehmlich  beruht  wenn  den  (läxaQsg  d'eol  die 
Menschen  als  Ssikol  (z.  B.  II.  XXIV,  525)  gegenübergestellt  wer- 
den und  Zeus  sagen  kann:  ov  (ihv  yccQ  ti  tcov  i0tvv  oftvQci-  28 
tSQOv  ävÖQog  TCavtGiv  o00a  te  yalav  stci  nveUi  ts  xal  egnsi 
(11.  XVII,  446  f.).  Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes,  sein  Ver- 
lust mit  Nichts  zu  ersetzen  [ov  yäg  ifioi  i^vx^S  ivxd^iov,  sagt 
Achilleus  II.  IX,  401),  und  auch  ein  Held  wie  Achilleus  hat  daher 
Augenblicke  wo  er  in  der  Wahl  zwischen  einem  kurzen  aber 
ruhmreichen  und  einem  langen  aber  unbesungenen  Leben  schwan- 
kend wird  (U.  IX,  410  ff.).  In  der  Regel  aber  gibt  der  homerische 
Mensch,  bei  aller  seiner  Liebe  zum  Leben  und  trotz  seines 
Grauens  vor  dem  Tode,  dennoch  in  allen  Fällen  wo  das  Leben 
in  CoUision  kommt  mit  etwas  Idealem,  wie  der  Liebe  zum  Vater- 
lande, zu  Weib  und  Kind,  der  Ehre,  unbedingt  diesem  letzteren 
Interesse  den  Vorzug  und  begibt  sich  für  dasselbe  freudig  in 
Gefahr  und  Tod,  s.  Nägelsbach  VII,  14-  Dagegen  sind  es  nur 
vereinzelte  und  vorübergehende  Stimmungen  in  welchen  der  Mensch, 
von  einem  Schmerze  überwältigt,  sich  den  Tod  wünscht  als  das 
Ende  seines  Leides.  So  verlangt  den  Menelaos  im  heftigsten 
Schmerze  über  Agamemnons  trauriges  Ende  selbst  auch  nach  dem 
Tode  (Od.  IV,  539  f.);  Odysseus,  ohne  Aussicht  auf  Heimkehr  auf 
der  Insel  der  Kalypso  festgehalten,  Q'aveeiv  [(isigstai,  (Od.  I,  59. 
vgl.  X,  497  f.),  und  im  Angesichte  seines  Heimatlandes  durch 
seiner  Gefährten  unvorsichtige  Entfesslung  der  Winde  des  Aiolos 
weit  in  die  See  zurückgetrieben  geht  er  mit  sich  zu  Rathe  ob  er 
sich  nicht  ins  Meer  stürzen  solle  (Od.  X,  50);  bei  Patroklos' 
Leiche  sehnt  Achilleus  sich  nach  dem  Tode  (II.  XVUI,  98  ff.), 
und  Antilochos  fürchtet  er  möchte  selbst  Hand  an  sich  legen 
(ib.  34) ;  aber  derselbe  Achilleus  ist  es  auch  den  die  Odyssee  (XI, 
488  ff.)  den  berühmten  Ausspruch  tbun  lässt  dass  er  lieber  Tag- 
löhner  wäre  bei  dem  Niedrigsten  und  Aermsten  der  Menschen  auf 
der  Erde  als  König  aller  Todten.  Um  solche  Aeusserungen  voll- 
ständig zu  begreifen  müssen  wir  uns  die  Vorstellungen  der  homer- 
ischen Welt  über  den  Zustand  nachdem  Tode  im  Zusammen- 
hange vergegenwärtigen.  Aber  auch  hier  wieder  stossen  wir  auf 
dieselbe  Schwierigkeit  die  uns  bei  den  Vorstellungen  über  das  Wesen 
der  Götter  und  über  ihr  Verhältniss  zum  Schicksal  begegnet  ist: 
in  allen  diesen  ausserhalb  des  Kreises  der  unmittelbaren  Wahr- 
nehmung liegenden  Punkten  ist  der  Willkür  der  Vorstellung  und 
Imagination  der  weiteste  Spielraum  gelassen,    neben   der  einen 


3*  I 


3^>  Ziir  Einloitniipf  in  Homer. 

Anschauung  findet  sich  —  nur  etwa  in  anderen  Kreisen  desselben 
Voll^es  —  die  entgegengesetzte,  oder  diese  drängt  sich  im  Laufe 
der  Zeit  neben  jener  ein  und  verdrängt  sie  wohl  auch;   das  Ge- 
dicht aber,   das  weder  Einer  Zeit  noch  Einem  Volkskreise   seine 
jetzige  Gestalt  verdankt,   zeigt  uns  diese  verschiedenen  und  zum 
Theil  sich  ausschliessenden  VorstcHungsweisen  unvermittelt  neben 
einander,  und  die  Aufgabe  der  Kritik  ist  es  nun,  das  Zusammen- 
gehörige zu  vereinigen,  das  Widerstreitende  auszuscheiden,   aber 
zugleich  auch   das    positive  Vcrhältniss    des    einen    zum    andern 
nachzuweisen,    von    dieser   zu  jener  Vorstellung  gleichsam   eine 
Brücke  zu  schlagen.     Machen   wir   hievon   die  Anwendung    auf 
unsere  specielle  Frage,    so  sehen  wir  einerseits  wie  innerhalb 
des  Vorstellungskreises  der  homerischen  Gedichte  der  Glaube  an 
die  Forldauer  der  Persönlichkeit  von  einem  schwachen  unschein- 
baren Gräschen  zu  einem  wenn  auch  noch  schlanken  und  schüch- 
ternen,  so  doch  keime  vollen   Bäumchen  emporwächst,   anderer- 
seits wie  der  natürlichen  Anschauungsweise  vom  Schauplatze  der 
Unterwelt  sich  eine  kunstliche,  gelehrte  —  wenn  gleich  nur  mit 
kurzem  Erfolge  —  an  die  Seite  drängt.    Was  das  Erste  betrifft, 
so  ist  bei  Homer  das  was  die  Persönlichkeit  ausmacht  der  Leib, 
und   daher  lieisst  auch  noch  der  Leichnam  z.  B.  des  Patroklos 
oder  des  Ilektor:  Patroklos  und  Hektor   (II.  XXIII,  21.  45.  182. 
vgl.  XXIV,  227).     Dagegen  ist  es  nur  ungenauer  Ausdruck  wenn 
die  ipvxrj  mit  dem  Namen   der  Person  bezeichnet  und   es    dar- 
29  gestellt  wird   als  ob  die  ganze  Person  zum  Hades  gienge,  wie 
z.  B.  II.  XXH,  482  f.:  vvv  8h  av  ^ihv  (Hektor)  Uidcco  dofiovg  — 
€QX£ccl;  XXIII,  244:  bIcoxbv  avrög  "Jiät  xevd^co^ca.   Vom  Leibe 
aber  sieht  der  Mensch  dass  er  verwest,  dass  er  verbrannt  wird; 
er  kann  daher  nicht  zweifeln  dass  mit  dem  Tode  die  Persönlich- 
keit untergeht  und  kann  sich  die  Fortdauer  von  dieser  nur  so 
denken  dass  durch  besondere  Gnade  der  Götter  der  ganze  Mensch 
mit  seinem  Leibe  dem  Loose  des  Todes  entzogen  wird ,  wie  Mene- 
laos,  als  Zeus'  Eidam,  lebendigen  Leibs  in  das  elysische  Gefilde 
im  Westen  entruckt  wird,  wo  der  blondgelockte  freundliche  Rha- 
damanthys  herrscht  und  alle  Noth  des  Menschenlebens  ein  Ende 
hat  (Od.  IV,  561— 569).   Zugleich  aber  zeigt  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung auch  diess  dass  nach   dem  Tode  etwas  nicht  mehr  da 
ist  was  während  des  Lebens  eine  so  grosse  Rolle  spielte  und  das 
Triebrad   des  ganzen  Organismus  zu    sein   schien:    es   ist  diess 
das  Athmen,   der  Hauch,   das  Leben,   die  t^XV»  ^'»^   "^^n  sich 


Homerische  Eschatologie.  37 

als  etwas  im  Leibe  Wohnendes,  von  ihm  Eingeschlossenes  dachte. 
Diese  t^xv  ^^^  ^^  wenig  materiell,  zu  sehr  luftariig  als  dass 
man  sie  verwunden  und  tödten  könnte;  und  doch  ist  sie  nicht 
mehr  da,  also  —  muss  sie  aus  dem  Leibe  entwichen  sein,  ent- 
weder durch  den  Mund  (IL  IX,  409),  wofür  das  Aushauchen 
Sterbender  zu  sprechen  schien,  oder  durch  die  Wunde  (II.  XIV, 
518.  vgl.  XVI,  505),  durch  welche  ihr  gleichsam  ein  Ausgang, 
eine  Thure,  geöffnet  wird.  Also  nur  nicht  mehr  im  Leibe  ist 
die  ^vxrj  vom  Tode  des  Leibes  an,  ausserhalb  desselben  kann 
sie  aber  um  so  eher  fortbestehen  weil  sie  ja  auch  zu  Lebzeiten 
des  Leibes  mit  diesem  keineswegs  so  innig  verbunden  ist  dass 
ihr  Schicksal  schlechthin  von  dem  seinigen  bedingt  und  abhängig 
v>äre.  An  diesen  Strohhalm  nun  hängt  sich  das  Bewusstsein  um 
sich  vor  dem  gefürchteten  Gedanken  der  völligen  Vernichtung 
zu  retten ;  es  setzt  das  Mögliche  als  wirklich ,  es  scheidet  strenge 
zwischen  dem  Ergehen  des  Leibes  im  Tode  und  dem  der  tl^vxrj, 
es  überlässt  jenen  dem  augenfälligen  Untergang,  glaubt  aber  von 
dieser  dass  sie  fortbestehe  auch  nachdem  die  Gemeinschaft  mit 
jenem  für  immer  (IL  IX,  408)  aufgehoben  ist.  Diese  Unter- 
scheidung ist  am  schärfsten  ausgesprochen  in  solchen  Stellen  wo 
die  zu  Aides  gegangene  ^v^i)  entgegengesetzt  wird  dem  der  Ver- 
nichtung anheimgefallenen  wahren  Ich,  dem  avrog,  z.  B.  IL  I, 
3  f.  V,  654.  XVI,  855  ff.  XXIII,  65  f.  vgl.  Od.  X,  560.  XI,  601  f. 
Getrennt  vom  Leibe  ist  aber  die  fvx'^  unwesenhaft  und  leer; 
denn  alles  eigentlich  Seelische,  die  fpgiveg^  TtgaSCri^  ijtoQ, 
6til%'og,  wohl  auch  der  d'Vfiog,  voog  und  (isvog,  hat  eine  so- 
matische Grundlage,  mit  deren  Untergang  es  selbst  aufliört. 
OgivBg  werden  daher  IL  XXIII,  104  den  Gestorbenen  ausdrück- 
lich abgesprochen ,  und  dass  Tiresias  auch  noch  im  Hades  q)QSvsg 
und  voog  hat  wird  Od.  X,  493 — 495  ausdrucklich  als  Ausnahme 
bezeichnet,  bestätigt  also  die  Regel.  Mit  dem  Körper  fehlt  aber 
den  Todten  so  gut  als  Alles;  seitdem  das  Feuer  ihr  Fleisch  und 
Bein  verzehrt  hat  (Od.  XI,  219  f.)  haben  sie  weder  an  sich  eine 
Consistenz  noch  sind  sie  fassbar  (IL  XXIII,  99  f.  Od.  XI,  206— 
208);  sie  sind  Mose  etSioXa  (Od  .XI,  476  u.  sonst),  axial  (Od.  X, 
495  u.  A.),  aitBvqvtt  xägr^va  (Od.  XI,  29.  49  u.  A.) ,  Traumbildern 
(Od.  XI,  222)  oder  dem  Rauche  (IL  XXIII,  100)  vergleichbar; 
sie  sind  ohne  Bewusstsein  und  Erinnerung,  axtJQioi  (IL  XI,  392), 
dq)QadB6g  (Od.  XI,  476),  so  dass  den  Odysseus  seine  eigene 
Mutter   nicht  kennt    (vgl.   Od.  XI,   153);    ihre  Existenz    ist  ein 


38  Zur  Einleitung  in  Homer. 

dumpfes  träumerisches  Dahinleben.  Aber  diese  Vorstellung  von 
der  Unkörperlichkeit  und  Bewusstlosigkeit  der  Gestorbenen  wird 
nicht  mit  rechtem  Ernste  vollzogen  und  ohne  Consequenz  durch- 
geführt. Was  die  Unkörperlichkeit  betrifll,  so  zeigt  sich  auch 
hier  wieder  dass  för  das  homerische  Bewusstsein  eine  starke  quan- 
30  titative  Unterscheidung  die  Stelle  einer  qualitativen  vertritt:  ein 
Minimum  von  Körperlichkeit  ist  hier  Unkörperlichkeit.  Die  In- 
consequenz  dass  die  Todten  trotz  ihrer  Unkörperlichkeit  (Schatten- 
haftigkeit)  doch  Stimme  haben  glaubt  man  dadurch  verdeckt  oder 
gar  beseitigt  dass  man  ihnen  nur  eine  ganz  schwache  Stimme 
zuschreibt»  ein  klangloses  Summen  und  Zischen,  ein  rgC^aiv 
{II.  XXIII,  101.  Od.  XXIV,  5.  vgl.  Claudian.  in  Rufin.  l,  126  f. 
tenuis  Stridor),  eine  xAayy^  oloväv  tSg  (Od.  XI,  605),  eine 
fjxr}  (Od.  XI,  633).  Weiter  kann  diese  unleiblichen  Wesen 
Odysseus  mit  dem  Schwerte  schrecken  (Od.  XI,  48  fT.  88  ff.), 
unterscheidet  und  erkennt  die  einzelnen  Schatten  (z.  B.  seine 
Mutter),  Od.  XI,  83  ff.,  ja  Achilleus  zeichnet  sich  noch  jetzt 
aldog  TS  dSfiag  ts  vor  allen  seinen  Landsleuten  aus  (Od.  XI, 
469  f.)  und  spielt  eine  grosse  Rolle  unter  den  Todten  (ib.  485), 
was  doch  das  Vorhafidensein  körperlicher  Umrisse  voraussetzt. 
Auch  das  ist  eine  Inconsequenz  dass  die  Schatten  Blut  trinken 
können,  was  denn  auf  sie  ungefähr  dieselbe  Wirkung  bat  wie 
der  Genuss  von  Nektar  auf  die  Menschen^  dass  sie  nämlich 
vorübergehend  belebt  werden,  auf  einen  Augenblick  zu  Körper- 
lichkeit (Persönlichkeit)  und  damit  auch  zu  Bewusstsein  gelangen. 
Ebensowenig  streng  wie  die  Unkörperlichkeit  wird  auch  die  Be- 
wusstlosigkeit der  blosen  ifv^i^  festgehalten.  Es  werden  ihr  viel- 
mehr an  mehreren  Stellen  Erinnerung  und  Empfindungen  zuge- 
schrieben. So  heisst  es  II.  XIII,  415  f.  von  Asios  er  werde  eine 
Freude  haben  dass  auch  sein  Mörder  erschlagen  sei  und  ihm  nach- 
folge; Patroklos'  Seele  flieht  aus  den  Gliedern  und  geht  zum  Hades 
ov  TCotfLov  yo6(X)0a,  hjtovö'  aögof^ta  xal  '^ßrjv  (II.  XVI,  855  ff. 
XXII,  361  ff.);  Achilleus  bittet  den  Patroklos  nicht  zu  zürnen, 
ai^xs  Ttv^rjUL  aiv  "Ai86g  tcbq  idv,  dass  er  den  Hektor  sich  habe 
abkaufen  lassen  (II.  XXIV,  592  f.),  und  gelobt  auch  noch  in  der 
Behausung  des  Hades  seines  Freundes  zu  gedenken  (II.  XXII, 
390);  Aias  grollt  dem  Odysseus  auch  nach  dem  Tode  noch  (Od. 
XI,  553  f.)  und  bleibt  (nachdem  er  ihn  in  Folge  des  Bluttrinkens 
erkannt)  zürnend  und  trotzig  in  der  Ferne  stehen  (ib.  543  f.) 
und  würdigt  ihn  auf  seine  Anrede  keiner  Antwort  (ib.  563).   ,Nur 


Homerische  Eschatologie.  39 

Scherz  ist  es  aber  wenn  Polydamas  meint  der  von  ihm  getroffene 
Achaier  werde,  gestutzt  auf  die  Lanze  die  ihn  getödtet,  in  die 
Wohnung  des  Aides  hinabgehn  (IL  XIV,  456  f.).  Sogar  eine  ge- 
steigerte ISrkenntniss  zeigen  die  Seelen  des  unbeerdigt  gebliebenen 
Elpenor  (Od.  XI,  69  f.)  und  des  gleichfalls  noch  nicht  beerdigten 
Patroklos  (IL  XXIIi,  80  f.),  indem  sie  jener  dem  Odysseus,  dieser 
dem  Achilleus  ihr  liünfti'ges  Schicksal  voraussagen.  Diese  Incon- 
sequenzen  alle  zeigen  aber  wie  mächtig  der  Hang  ist  von  der 
Persönlichkeit  mehr  zu  retten  als  ein  bloses  Schattenbild ;  es  darf 
uns  daher  nicht  überraschen  in  der  zweiten,  späteren  Nekyia 
(Od.  XXIV)  das  was  in  der  ersten  (Od.  XI)  Inconsequenz  und 
Ausnahme  war  nunmehr  als  die  Regel  zu  finden:  dort  werden 
die  Freier  von  Hermes  Psychopompos  in  die  Unterwelt  geleitet 
und  unterhalten  sich  in  derselben  über  die  Vorgänge  während 
ihres  Lebens  (v.  15  —  204),  sind  also  in  vollkommenem  Besitze 
von  Bewusstsein,  Gedächtniss  und  Sprache,  was  in  der  ersten 
Nekyia  nur  in  Folge  von  Bluttrinken  auf  Augenblicke  zurück- 
gekehrt war.  Von  dieser  zweiten  Vorstellung  aus  war  nur  ein 
kleiner  Schritt  zu  der  weiteren,  welche  das  Leben  durch  den 
Tod  eigentlich  gar  nicht  unterbrechen  lässt,  gleichsam  nur  eine 
Wohnungsveränderung  zugibt  und  nicht  bios  das  Sein  der  Per- 
sönlichkeit sondern  auch  die  Art  ihrer  Bethätigung  und  Aeusserung, 
ihre  V^irksamkeit  rettet.  Diess  ist  der  Fall  in  dem  ganz  späten, 
vielleicht  erst  zur  Zeit  des  Peisistratos  eingeschobenen  und  in 
jeder  Beziehung  ungeschickten  Abschnitt  Od.  XI,  568  ff. ,  wonach 
Minos  seine  Richterthätigkeit  unter  den  (processierenden)  Todten 
noch  fortsetzt,"  Orion  noch  die  eherne  Keule  schwingt  und  über 
Berge  jagt  u.  s.  w.  Hieher  gehört  dann  auch  die  ideelle  Nachwir- 
kung des  Lebens  auf  der  Erde  welche  durch  das  Vorkommen  von  31 
Strafen  in  der  Unterwelt  bezeichnet  ist.  In  der  ursprünglichen 
homerischen  Vorstellung  ist  unter  den  Todten  kein  Unterschied, 
alle  sind  gleich  schattenhaft.  Gute  und  Böse;  auch  im  Leben  ist 
unter  den  Menschen  noch  kein  durchgreifender  sittlicher  Unter- 
schied,  es  gibt  keine  habituell  Guten  oder  Bösen  ^  überhaupt 
keine  Gute  und  Böse,  sondern  nur  Frevler,  und  zu  freveln  kann 
jedem  Menschen  gleich  sehr  begegnen,  dem  ausgezeichnetsten 
sogar  am  leichtesten.  Diese  sittliche  Gleichheit  bringt  es  mit 
sich  dass  die  Menschen  auch  nur  Ein  Loos  trifft,  nämlich  der 
Tod;  mit  diesem  ist  alle  UnvoUkommenheit  der  menschlichen 
Natur  hinreichend  abgebüsst,  das  Sterbenmüssen  an  sich  ist  so 


40  Zur  Einleitung  in  Homer. 

traurig  da>s  es  einer  weiteren  Strafe  gar  nicht  mehr  bedarr,  ja 
eine  solche  ungerecht  i^äre,  auch  \\enn  sie  möglich  sein  würde; 
was  doch  hei  der  Weseulosigkeit  der  Geslorhenen  uichl  der  FaU 
ibl.  Damit  eine  Strafe  empfunden  werden  konnte  müssle  der 
(ieslorbene  mit  Bewusstsein  ausgestattet  werden,  und  dieses  wäre 
keine  Strafe,  sondern  eine  Belohnung,  wie  das  Beispiel  des  Tei- 
resias  zeigt.  Eine  Bestrafung  h\  der  Unterwelt  für  das  im  Leben 
verübte  Unrecht  hat  sonach  keinen  Kaum  im  homerischen  Vor- 
steliuiigskrcise,  und  der  Abschnitt  wo  die  Strafen  des  Tantalos, 
Tityos  und  Sisyphos  erzählt  sind  (Od.  XI,  576—600)  stellt  sich 
somit  von  selbst  ausserhalb  desselben  und  gehört  einer  späteren 
Stufe  des  sittlichen  Bewusstseins  an.  Jedoch  von  einer  allge- 
meinen und  conscquenten  Vergeltung  ist  auch  hier  uoch  keine 
Spur;  nur  einige  wenige  ausgezeichnete  Frevler  werden  ausnahms- 
weise hier  bestraft,  solche  deren  schrankenlose  Gier  auch  das 
Höchste  und  Heiligste  anzufassen  sich  nicht  gescheut  hat  (Tityos], 
deren  Genusssucht  auch  durch  die  reichste  Fülle  des  Gewährten 
nicht  befriedigt  worden  ist  (Tantalos),  deren  Klugheit  und  Betrieb- 
samkeit durch  ihre  gierige  Unermüdlichkeil  ihnen  selbst  zur  Pein 
ausgeschlagen  hat  (Sisyphos) ,  also  lauter  Bilder  der  vßQcg  welche 
über  die  Schranken  der  Menschlichkeit  hinausstrebt  und  welche 
durch  ihre  eigene  Masslosigkeit  homöopathisch  und  symbolisch  ge- 
straft wird;  s.  Nitzsch  zur  Odyss.  Tbl.  HL  S.  332  f.  Dass  aber 
diese  ganze  Scene  den  homerischen  Vorstellungen  total  widerspricht 
werden  wir  finden  wenn  wir 

Zweitens  die  homerischen  Vorstellungen  über  die  Loca- 
lilät  des  Todtenreichs  in  Betracht  ziehen.  Die  naturliche  und 
nächstliegende  Vorstellung  hierüber  ist  dass  die  Gestorbenen  im 
Innern  der  Erde  sich  befinden;  denn  in  die  Erde  rinnt  das  Blut 
des  Verwundeten,  in  die  Erde  legt  man  den  Leib  des  Begrabenen, 
die  Äsche  des  Verbrannten ,  und  in  der  Tiefe  sucht  der  natürliche 
Inslinct  das  Schauerliche,  Düstere  und  Geheimnissvolle.  Diese 
natürliche  Vorstellungsweise  ist  denn  auch  die  der  Ilias.  Diese 
gibt  als  Aufenthaltsort  der  tlfvxccl  der  Gestorbenen  einfach  und 
allgemein  das  Innere  der  Erde  an;  yatay  dv(i£vav  (11.  VI,  19), 
Xd'öva  dv^svav  (II.  VI,  411),  vTto  yalav  slvai  (II.  XVIII,  333), 
V7c6  KBvd'SiSi  yalrig  (II.  XXII,  482),  xata  %^ovbg  (II.  XXIII, 
100),  vTtivsQd's  (IL  III,  278)  etc.  wird  daher  von  den  Todten 
gesagt;  hier  ist  die  Behausung  des  Aides  und  der  Persephone 
(z.  B.  IL  XXII,  482),  zu  welcher  man  hinabgeht  (IL  VI,  284. 


Homerische  Eßchatologie.  41 

XIV,  457.  XX,  294.  XXII,  425  u.  A.),  und  Aides  heisst  daher 
Zevg  xataxd'ovLog  (II.  IX,  457),  evegoiCiv  ävccö0(ov  (11.  XV, 
188),  äval^  iveQCJV,  der  bei  einer  Erderschullerung  fürchtet  seine 
Wohnungen  {olxia)  möchten  den  Blicken  der  Götter  und  Menschen 
biosgestellt  werden  (II.  XX,  61  ff.).  Vgl.  Vöicker  homerische  Geo- 
graphie §.  72.  S.  140  f.  Von  diesem  Aufenthaltsorte  unter  der 
Oberfläche  der  Erde  sagt  uns  die  liias  nur  im  Allgemeinen  dass 
es  olxia  0fi£QdaXi\  evQcisvta  seien,  td  xb  CtvyiovOi  d^soi 
TtBQ  (II.  XX,  65),  wo  i6q>og  rjsQosLg  (IL  XXI,  56)  herrscht,  daher 
auch  das  Ganze  "EQeßog  heisst  (IL  VIII,  368.  IX,  572.  XVI,  327);  32 
auch  kennt  die  Ilias  im  Todtenlande  nur  Einen  Fluss,  die  Styx^ 
bei  der  die  Götter  schwören  (IL  VIII,  369.  XIV,  271  ff.  XV, 
37  f.).  Vom  Wohnorte  der  gestorbenen  Menschen  wird  unter- 
schieden das  Gefängniss  der  besiegten  Götter,  der  Tartaros,  „so  weit 
unter  dem  Ais  wie  über  der  Erd'  ist  der  Himmel",  IL  VIII, 
13—16.  478-481.  XIV,  204.  vgL  Vöicker  S.  156— 159.  Diese 
unbestimmte  populäre  Vorstellung  Anden  wir  bedeutend  erweitert 
und  mit  Gelehrsamkeit  ausgeführt  in  den  älteren  Stücken  der 
Odyssee.  In  dieser  selbst  sind  nämlich  wiederum  zweierlei  Vor- 
stellungen zu  unterscheiden,  die  der  alten  (oder  echten)  und 
die  der  späteren  (oder  interpolierten)  Theile,  zu  welchen  letzteren 
Od.  XI,  225—332.  568—626  mit  Sicherheit  zu  rechnen  sind. 
Die  Darstellungen  der  alten  Theile  lassen  sich  mit  den  Angaben, 
der  Ilias  vereinigen  und  als  Ausmalung  derselben  auffassen;  die 
späteren,  neueren  Theile  beruhen  auf  einer  wesentlich  ver- 
schiedenen Grundanschauung.  Wenn  in  der  lUas  das  Todtenland 
nur  überhaupt  als  finster  bezeichnet  wird,  so  wird  diess  in  den 
älteren  Stücken  der  Odyssee  dahin  specificiert  dass  hier  keine 
Sonne  scheine,  die  Strahlen  derselben  hieher  nicht  dringen  (Od. 
XI,  93.  223.  XII,  382.  vgl.  XI,  498.  619) ;  wenn  in  der  Ilias 
das  Todtenreich  nur  allgemein  unter  die  Erde  gesetzt  wird  und 
die  ifvxccl  von  jedem  beliebigen  Punkte  aus  unmittelbar  in  das- 
selbe gelangen,  so  treffen  wir  in  den  echten  Theilen  der  Odyssee 
eine  ausgebildete  Vorstellung  über  einen  Haupteingang  in  jenes 
Reich.  Dieser  Eingang  ist  erstens  im  Westen;  denn  hier  wo  die 
Sonne  untergeht  denkt  man  sich  das  Reich  der  Nacht  und  Finster- 
niss,  des  Todes.  Zweitens  ist  er  jenseits  des  die  Erde  von  Süd 
nach  Nord  rings  umströmenden  Okeanos;  denn  Odysseus  muss, 
um  zu  ihm  zu  gelangen ,  Sc*  'Slxsävoio  tcsqSv  (Od.  X,  508)  und 
stellt  sich  beim  Opfern  so  auf  dass  er  dem  Erebos  den  Rücken, 


42  Zur  Einleitung  in  Homer. 

dem  Okeanos  aber  das  Gesicht  zuwendet  (ib.  528  f.),  der  Okeanos 
ist  also  östlich  von  ihm  (s.  Völcker  S.  144.  Nitzsch  III.  S.  154  f. 
172  f.).  Wie  aber  der  Eingang  selbst  zu  denken  sei,  ob  als 
Schlund,  Kluft  u.  dergl. ,  darüber  findet  sich  in  der  Odyssee  keine 
Angabe;  nur  so  viel  ist  gewiss  dass  Odysseus,  nachdem  er  am 
Hain  der  Persephone  gelandet,  nic&t  in  der  Unterwelt  selbst  sich 
beflndet  (wie* Völcker  meint),  sondern  erst  am  Eingange  derselben. 
Denn  wäre  er  bereits  im  Todtenreiche,  so  dürfte  er  nur  zu- 
schreiten, nur  die  Augen  aufmachen,  um  Alles  zu  sehen,  so 
könnte  er  den  Teiresias,  seine  Mutter,  den  Achilleus  u.  s.  w.  selbst 
aufsuchen,  so  hätte  er  nicht  nöthig  eine  Grube  zu  graben  und 
die  Todten  zu  sich  herauf  zu  eitleren;  sein  ganzes  Verfahren 
beweist  dass  er  ausserhalb  des  Todtenreiches,  an  dessen  Eingang 
steht.  Diess  ist  ausdrücklich  ausgesprochen  XI,  150,  wo  die 
i^XV  ^^^  Teiresias  von  Odysseus  weg  aßrj  d6(iov  "AtSog  eCecs 
(sie,  und  somit  auch  Odysseus,  war  also  zuvor  nicht  darin).  Dass 
es  wiederholt  heisst  er  habe  sich  im  Hause  des  Aides  befunden 
(Od.  X,  512.  564.  XI,  475.  XII,  21)  kann  hiebei  nicht  irre 
machen;  es  ist  nur  ein  allgemeiner,  ungenauer  Ausdruck,  denn 
den  Aides  bekommt  er  ja  doch  nicht  zu  sehen.  Vielmehr  kommen 
die  Schatten  zu  ihm  herauf:  vjrig  'EQißsvg  (XI,  37.  vgl.  564), 
wiewohl  er  selbst  schon  in  einer  gewissen  Tiefe,  am  Anfange, 
Eingange  der  Unterwelt,  sich  befindet,  daher  ihm  ein  xatskd'inBv 
(XI,  475),  ein  SQXsiJd^av  vnb  t^otpov  (v.  57.  155)  zugeschrieben 
wird.  In  diesen  Vorstellungskreis  gehört  auch  der  Schluss  der 
Uias,  wo  die  ^t^%i)  desPatroklos  einerseits  in  die  Erde  verschwindet 
{Ttatä  x^ovog  rfixB  xajtvog  &xbt  oter Qcyvta,  11.  XXIII,  100  f.), 
andererseits  über  den  Strom,  den  Okeanos,  muss  um  in  das 
Todtenreich  zu  gelangen  (ib.  73);  der  Wohnort  der  Todten  ist 
somit  auch  hier  unter  der  Erde,  und  der  förmliche  Eingang 
33  jenseits  des  Okeanos.  Dagegen  in  den  unechten  Bestandtheilen 
der  ersten  Nekyia  (Od.  XI)  ist  das  Todtenreich  ein  Gebiet  auf 
der  Oberfläche,  ein  Land  mit  Seen  (v.  583),  Bergen  (v.  574. 596  f.), 
Bäumen  (v.  588),  Wind  und  Wolken  (v.  592),  während  in  den 
echten  nur  die  Asphodeloswiese  genannt  wird,  über  welche  die 
Schatten  hinschreiten  und  welche  wohl  gleichfalls  unterirdisch  zu 
denken  ist  (Od.  XI,  538.  vgl.  573.  XXIV,  14.  Nitzsch  III.  S. 
296  f.).  In  letzteren  sieht  Odysseus  nur  was  zu  ihm  herankommt,  in 
den  unechten  aber  überblickt  er  ohne  Weiteres  die  ganze  Unterwelt 
oder  ist  vom  Einen  zum  Andern  gehend  gedacht,   von  Minos  zu 


/ 


Homerische  Eschatologie.  43 

".  w.,  während  er  in  den  früheren  Stöcken  sich 

•vegt.  Auch,  damit  kommt  jene  Vorstellung 

''•h  der  Todlen  ßnster,  von  keiner  Sonne 

-^nte  Odysseus  nicht  so  den  ganzen 

'nr  Fall  war  wenn  dasselbe  auf 

oontrastiert  aber  wiederum 

jier  auf  dem  Wege   zum 

.iien  Felsen,   am  Sonnenthor, 

.Kommen  und    endlich    an   ihrem 

als  dem  Wohnplatz  der  il)v%aiy   an- 

i4),   was  dann  v.  204  identificiert  wird 

o  X6vd'€0t  yalriQ,   Diese  Vorstellung  erweist 

(.e  dadurch  dass  einmal  der  Okeanos  zu  einer 

ichl   einmal    entfernten)  Station   herabgesetzt   ist, 

.1  die  hinzugekommene  Allegorie  vom  äi^fiog  ^OvbIqchv. 

.urch  ist  die  Stelle  bemerkenswerth  dass  keine  Rucksicht 

genommen  ist   dass    die  Leiber   der  Freier   noch    nicht 

idigt  sind  (v.  186),  was  auch  Od.  Xl,  398  f.  405  f.   XXIV, 

i09  vorkommt,  während  Patroklos'  '^vxr^  nicht  über  den  Okeanos 

kann  bis  sein  Ldb  bestattet  ist  (U.  XXIII,  71  —  74)  und  Elpenor's 

^VCT  vvenigslens  am  Eingange  der  Unterwelt  sich  umhertreibt, 

noch  Körperlichkeit  an  sich  hat  und  daher  den  Odysseus  flehentlich 

um  Bestattung  bittet  (Od.  XI,  51  IT.).  "A^tkavtog,   ad'ccjttog  zu 

sterben  ist  ein  Unglück  (vgl.  Od.  XI,  54.  72);  es  ziemt  sich  die 

Todten  zu  beweinen  und  zum  Zeichen  der  Trauer  das  Haar  zu 

scheeren  (Od.  IV,  197  f.);   sonst  sind  sie  freilich  bald  aus  dem 

Gedächtniss  der  Menschen  verschwunden.  (II.  XXII,  389), 

Ausser  dieser  Ausbildung  welche  die  Vorstellungen  vom  Schau- 
platze des  Todtenreiches  in  ihr  gefunden  haben  ist  der  Odyssee 
auch  noch  diess  eigenthümlich  dass  in  ihr  Anfänge  der  späteren 
Sitte  der  Todtenopfer  und  Todtencitation  vorhanden  sind.  Das 
Ritual  der  Todtenopfer  ist  Od.  X  u.  XI  im  Wesentlichen  schon 
ganz  so  wie  es  später  gebräuchlich  war:  Darbringen  dunkel- 
farbiger, unfruchtbarer  Thiere,  Spenden  von  Honigtrank;  Wein 
u.  s.  w.  Diess  macht  die  Stelle  verdächtig ;  denn  ein  solches  Ritual 
erklärt  sich  nur  aus  der  Vorstellung  dass  die  Todten  Mächte  seien 
welche  auf  das  Menschenleben  Einfiluss  üben,  deren  Gunst  man 
sich  daher  erwerben  müsse.  Nun  hat  aber  diese  Vorstellung  im 
homerischen  Gedankenkreise  gar  keinen  Raum,  denn  hier  sind 
die  Todten  nicht  divi  manes,  sondern  unglückliche,    wesenlose 


44  Zur  Einleitung  in  Homer. 

Schatten.  Auch  Odysseus  will  ihnen  nicht  eine  Huldigung  dar- 
bringen, sondern  sie  sind  ihm  nur  Mittel  um  etwas  über  sein 
Schicksal  zu  erfahren  und  dienen  ihm  zur  Befriedigung  seiner 
Neugierde.  Um  so  auffallender  ist  es  dass  ihm  ein  rituelles  Ver- 
fahren zugeschrieben  wird  das  auf  ganz  anderen  Voraussetzungen 
beruht,  dass  das  einmalige,  für  einen  bestimmten  persönlichen  Zweck 
unternommene  Opfer  gerade  eben  so  ausgeführt  wird  wie  das 
spätere  regelmässige,  als  Suhnungsmiltci  dargebrachte.  Auch  die 
Todtencitalion  der  Odyssee  weicht  in  wesentlichen  Punkten 
von  der  späteren  Nekromantie  und  Psychagogie  ab.  Die  Ver- 
di Stellung  w)n  der  Möglichkeit  der  Wiederkehr  Gestorbener  ist  bei 
ilomer  noch  nicht  vorhanden;  sie  wird  ausdrücklich  verneint 
iL  IX^  408,  und  implicite  liegt  dieselbe  Verneinung  darin  dass 
Odysseus  um  die  Todten  zu  befragen  zu  ihnen  selbst  sich 
begeben  muss;  er  kann  sie  nicht  zu  sich  her  eitleren.  Die 
Erscheinung  des  Patroklos  ist  gleichfalls  nur  eine  Bestätigung 
jener  Unmöglichkeit;  denn  einmal  ist  er  noch  gar  nicht  in  der 
Unterwelt,  sodann  kommt  die  tl^vx'^  nicht  in  Folge  einer  magischen 
Beschwörung,  einer  Vorladung,  sondern  sie  drängt  sich  vielmehr 
von  selbst  auf.  Andererseits  liegt  aber  doch  in  Odysseus  Befragen 
der  Todten  ein  —  wenn  auch  schüchterner  —  Anfang  von  Psychago- 
gie, und  das  Local  hat  vielleicht  eben  darum  so  viel  Unbestimmtes, 
die  Scene  so  viel  Undeutliches,  weil  die  ganze  Stelle  zwischen 
zwei  entgegengesetzten  Anschauungen  schwankt,  zwischen  den 
zwei  Arten  von  Todtenbefragung :  dadurch  dass  man  sich  zu 
ihnen  in  die  Unterwelt  begibt  und  dadurch  dass  man  sie  mittelst 
Opfern  u.  s.  w.  auf  die  Oberwelt  citiert.  Und  so  könnte  es  der  Fall 
sein  dass  auch  die  älteren  Abschnitte  der  ersten  Nekyia  einer 
verhältnissmässig  späten  Zeit  angehörten,  wobei  dann  wieder 
zweierlei  möglich  wäre,  dass  nämlich  die  übrige  Odyssee  diese 
Entstehungszeit  theilte,  oder  dass  jene  Abschnitte  jünger  wären 
als  diese. 


II. 

Die  Stellung  der  Frauen  in  der  griechischen  Poesie.*) 


Die  Stellung  der  Frauen  In  der  griechischen  Poesie  bietet 
der  Betrachtung  eine  doppelte  Seite  dar.  Einmal  nämlich  haben 
wir  zu  erörtern  in  welchem  Masse  und  in  welcher  Weise  Ange- 
hörige des  weiblichen  Geschlechts  selbstthätig  auf  dem  Gebiete 
der  Poesie  aufgetreten  sind;  sodann  darzulegen  wie  weit  und  in 
welcher  Art  die  Dichtkunst  das  weibliche  Geschlecht  im  Ganzen 
und  einzelne  Mitglieder  desselben  zu  ihrem  Gegenstande  gemacht 
hat.  Es  wurden  beim  zweiten  Punkte  'dreierlei  Arten  zu  unter- 
scheiden sein:  rein  sachliche  Darstellungen,  Lobpreisungen  und 
endlich  Angriffe,  scherzhafte  wie  ernst  gemeinte.  ladessen  wer- 
den wir  diese  Eintheilung  der  folgenden  Ausfuhrung  nicht  zu 
Grunde  legen.  Die  durchgängige  Aneinanderreihung  des  Gleich- 
artigen würde  ermüden,  innerlich  Zusammengehöriges  müsste  aus- 
einander gerissen  werden,  wir  kämen  oft  in  Verlegenheit  ob  wir 
einen  Darsteller  nicht  vielmehr  zu  den  Angreifern  oder  auch  zu 
den  Lobpreisern  zu  rechnen  haben,  und  endlich  würden  wir  auf 
diesein  Wege  nicht  zu  sittengeschichtlichen  Ergebnissen  gelangen. 


*)  Vortrag,  gehalten  1853  vor  einer  gemischten  Versammlnng.  In- 
zwischen ist  das  gleiche  oder  ein  ähnliches  Thema  auch  von  Anderen 
behandelt  worden.  Vgl.  E.  v.  Lasaulx,  zur  Geschichte  der  Ehe  bei  den 
Griechen,  München  1852,  108  S.  4.  J.  A.  Mähly,  die  Frauen  des  grie- 
chischen Alterthums,  Basel  1853.  36  S.  L.  Wiese,  über  die  Stellung 
der  Frauen  im  Alterthum  und  in  der  christlichen  Zeit,  Berlin  1854. 
32  S.  Köchly ,  Acad.  Reden  u.  s.  w.  I.  1859.  S.  153  ff.  Von  diesen  Schriften 
wurde  bei  der  ursprünglichen  Ausarbeitung  des  Nachstehenden  keine 
benützt,  und  auch  bei  der  Durchsicht  zum  Zwecke  der  Veröffentlichung 
[im  Morgenblatt  1855,  S.  1158  ff.]  der  Gebrauch  derselben  mit  Absicht 
vermieclen,  da  bei  der  Verschiedenheit  des  Plans  und  der  Gesichtspunkte 
davon  mehr  Verwirrung  als  Nutzen  zu  erwarten  war. 


46  Die  Fraacn  in  der  griechlBchen  Poesie. 

Wir  ziehen  es  daher  vor  das  Einzelne  in  derjenigen  Ordnung 
aufzuführen  in  welcher  es  der  Zeit  nach  auf  einander  folgt,  um 
so  mehr  als  wir  dadurch  zugleich  eine  ?ollkommen  passende  Sach- 
ordnung gewinnen. 

Die  griechische  Literaturgeschichte  hat  nämlich  die  wunder- 
bare, in  ihrer  Art  einzig  dastehende  Eigenthömlichkeit  dass  nie 
mehrere  Dichtarten  neben  einander  bestehen  und  betrieben  wer- 
den ,  sondern  immer  eine  die  andere  an  einer  ganz  fest  bestimm- 
baren Zeitgrenze  ablöst,  wie  eine  neue  Generation  die  alte;  eine 
Eigenthümlichkeit  die  erst  mit  dem  griechischen  Geiste  selbst 
erlosch.  So  ist  die  älteste  Zeit  der  Griechen  vom  Epos  beherrscht; 
auf  den  Schultern  des  Epos  erhebt  sich  dann  beim  ionischen 
Stamme  die  Elegie  und  deren  Kehrseite,  die  lambik,  etwas  später 
bei  den  Doriern  die  chorische  Lyrik,  bei  den  Aeoliern  die  rein 
subjective,  individuelle  Lyrik.  Erst  nach  den  Perserkriegen  er- 
steigt die  griechische  Poesie  ihren  höchsten  Gipfel  mit  der  atti- 
schen Tragödie  und  Komödie. 

Was  diese  verschiedenen  Gattungen  und  Zeiten  in  Bezug  auf 
unsern  Gegenstand  bieten  will  ich  nun  in  der  durch  die  Fülle 
des  Stoffs  gebotenen  Kürze  vorüber  führen. 

Schon  im  homerischen  Epos  finden  wir  das  weibliche 
Geschlecht  auf  einer  hohen  Stufe  innerer  Ausbildung  und  daher 
auch  äusserlicher  Werthschätzung.     Wie   die  Helden,  besonders 
der  Ilias,  an  gesunder  Kraft,  Ehrlichkeit  und  Rohheit,  sowie  an 
Sucht  nach  Abenteuern  lebhaft  an  die  Ritter  in  der  besten  Zeit 
des  Mittelalters  erinnern,   so  gleichen  einander   beide  auch   in 
ihrer  Verehrung  der  Frauen.    Zwar  ist  sie  in  der  homerischen 
Zeit  frei  von  dem  schwärmerischen,  phantastischen  Anstriche  des 
Mittelalters,   aber  an  Wärme  und  Zartheit  der  Empfindung  steht 
der   griechische   Ritler    seinem   germanischen  und   romanischen 
Geistesverwandten  nur  wenig  nach.     Um  die  schöne  Helena  wieder 
nach  Hellas  zurück  zu  bringen  und  ihren  Entführer  zu  züchtigen, 
haben  sich  ja  alle  die  Schaaren  von  Rittern ,  Reisigen  und  Knap- 
pen aus  allen  Enden  von  Griechenland  auf  den  Weg  gemacht, 
und  erdulden  um  dieses  Zweckes  willen  die  Mühsale  eines  zehn- 
jährigen Wechsel  vollen  Kampfes.  Und  nicht  minder  ihre  Feinde,  die 
Troer:  warum  machen  sie  nicht  aller  ihrer  Bedrängniss  kurzweg  ein 
Ende,   indem  sie  Helenas  Zurückgabe  und  die  Auslieferung  des 
Paris  erzwingen?    Die  Macht' der  Schönheit  hat  auch  sie  besiegt, 
für  sie  stürzen  sie  sich  freudig  in  Kampf  und  Tod.     Flüstern  doch 


Homerisches  Epos.  47 

selbst  die  greisen  Räthe  des  Priamos,  als  sie  Helena  erbliclien, 
einander  zu: 

'S  ist  doch  nicht  zu  verdenken  dem  Danaervolk  nnd  den  Troern 
Dass  sie  um  solch  ein  Weib  so 'lange  sich  schlagen  und  plagen! 
Einer  Unsterblichen  gleicht  sie  fürwahr  an  entzückender  Schönheit!*) 

Zwar  fügen  sie  in  ilirer  greisenhaften  Erhabenheit  über  solche 
romantische  Gefühle  alsbald  hinzu: 

Trotzdem  schiffe  sie  nur,  so  reizend  sie  ist,  in  die  Heimat, 
Statt  dass  hier  sie  für  uns  und  unsere  Kinder  ein  Fluch  wird! 

Aber  der  edle  Priamos,  der  selbst  am  meisten  vom  Kriege  zu 
leiden  und  zu  fürchten  hat,  denkt  anders.     Er  ruft  ihr  entgegen: 

Komm,  lieb  Töchterchen,  näher  und  setze  dich  gegen  mir  über; 
Nichts  hast  du  mir  verschuldet:  die  Schuld  lieg^  nur  an  den  Göttern, 
Deren  Geschick  mich  bestürmt  mit  dem  traurigen  Krieg  der  Achaier. 

Dasselbe  Motiv  wiederholt  sich  bei  dem  eigentlichen  Ausgangs- 
punkte der  liias.  Ilion  kann  nicht  erobert  werden  weil  Achilleus, 
aus  Groll  gegen  Agamemnon,  seine  Mitwirkung  am  Kampfe  den 
Griechen  vorenthält.  Die  Ursache  dieses  Grolls  aber  ist  dass 
Agamemnon  ihm  seinen  Beuteantheil ,  die  schönwangige,  rosige 
Tochter  des  Briseus,  gewaltsam  entrissen  hat;  und  er  beharrt  auf 
seinem  Grolle,  trotzdem  dass  man  ihm  zum  Ersatz  für  die  Eine 
Geliebte  sieben  auserlesene  Sklavinnen  anbietot  (Uias  IX,  636  ff.). 
Diess  zum  Beweise  des  Werthes  welchen  man  den  Frauen 
beimisst,  der  Wärme  womit  man  hier  an  ihnen  hängt.  Aber  sie 
verdienen  dieselbe  auch  durch  ihre  Reinheit  als  Jungfrauen,  durch 
ihre  Treue  als  Gattinnen.  Von  Jungfrauen  bietet  die  Odyssee  ein 
Bild  von  unübertrefflicher  Lieblichkeit  in  Nausikaa.  Der  Gedanke 
an  die  nahe  Hochzeit,  an  der  sie  selbst  in  glänzenden  Gewän- 
dern erscheinen  und  die  Theilnehmer  damit  ausstatten  müsse, 
treibt  sie  vor  Tagesanbruch  vom  Lager.  Sie  bittet  sich  vom 
Vater  ein  Gespann  aus,  um  mit  ihren  Mägden  am  Ufer  des  Meeres 
Wäsche  zu  halten,  und  verbirgt  dabei  mit  züchtiger  Verschämt- 
heit ihren  eigentlichen  Beweggrund  hinter  ihrer  Besorgtheit  für 
Vater  und  Brüder.  Nachdem  die  Gewänder  gewaschen  sind 
werden  sie  zum  Trocknen  am  Strande  ausgebreitet,  und  die  Ge- 
sellschaft vertreibt  sich  inzwischen  die  Zeit  mit  Gesang  und  Ball- 
spiel. Nausikaa  nimmt  muntern  Antheil  am  fröhlichen  Treiben, 
aber  weit  ragt  sie  an  Wuchs  und  edler  Haltung  hervor  über  die 


♦)  Ilias  III,  156  flf. 


' 


4H  Die  Franon  in  dor  griecliischen  Poesie. 

Schaar  ihrer  Dienerinnen,  so  weit  wie  Artemis  über  ihre  Nym- 
phen. Als  nun  der  Ball,  statt  von  der  Dienerin  auFgefangen  zu 
werden,  ins  Meer  fliegt,  da  schreien  die  Mädchen  wie  aus  einem 
Munde  laut  auF.  Davon  erwacht  Odysseus,  der  im  Slrandgebusrli 
lodesmöde  von  den  überslandenen  Gefahren  schlummert,  und 
gellt  den  menschlichen  Stimmen  nach,  trotz  seines  verwilderten 
Aussehens  und  seiner  sehr  mangelhaften  Bekleidung.  Bei  seinem 
Anblicke  stäuben  die  Dienerinnen  auseinander,  wie  Hirsche  vor  dem 
Löwen;  nur  des  Alkinoos  Tochter  bleibt  ruhig  stehen;  denn  von 
Furcht  Ist  sie  frei  und  das  Gemeine  kennt  sie  nicht,  es  findet 
in  ihrem  Innern  keinen  Anknüpfungspunkt,  und  arglos  und  oflen 
kann  sie  daher  dem  fremden  Manne  Ins  Gesicht  schauen,  in 
dem  sie  augenblicklich  einen  •Unglücklichen  ahnt,  der  ihrer  Ilülfe 
bedürfe. 

Noch  reicher  sind  die  homerischen  Gedichte  an  Beispielen 
edler,  treuer  Frauen.  Bekannt  ist  aus  der  Ilias  Andromache, 
welche  an  ihren  Gemahl  die  bekannten  rührend  einfachen  und 
doch  so  tiefen  und  schonen  Worte  richtet: 

Hektor,  du  bist  Vater  mir  jetzt  und  yerehrete  Mutter, 
Bist  mir  Bruder  zugleich  und  mein  blühender  Lagergenosse  I 
—  Würd*  ich  deiner  beraubt,  so  wäre  mir  besser  zu  sterben.*) 

Und  aus  der  Odyssee  brauche  ich  Penelope  nur  zu  nennen.**) 
Aber  auch  Helena  bereut  bitter  den  Leichtsinn  womit  sie  den 
Gemahl  verlassen ,  nennt  sich  ein  verworfenes ,  schändliches  Weib, 
wünscht  dass  sie  nie  geboren  wäre  (Ilias  VI,  344  (f.),  und  ruft  ein 
ander  Mal  (Ilias  III,  173  ff.)  aus: 

Hätt'  ich  doch  lieber  dem  Tod  mich  geweiht  als  dass  ich  mit  Paris 
Hieber  zog  und  die  Freunde  verliess  und  die  bräutliche  Kammer, 
Auch  mein  einziges  Kind  und  die  holden  Gespielinnen  alle! 
Ach,  nicht  also  geschah^s;  drum  muss  ich  in  Thränen  rergehen. 

Und  Arete,  die  Mutter  der  Nausikaa,  übt  sogar  auf  die  öiTent- 
lichen  Angelegenheiten  Einfluss  aus.  Ihre  Tochter  sagt  von  ihr 
(Odyss.  VII,  66  ff.): 

—  Alkinoos  nahm  sie  zum  Weibe, 
Und  er  erweist  ihr  Ehre  wie  Keine  auf  Erden  geehrt  wird 
Unter  den  Frauen  die  walten  im  Haus,  nachstehend  dem  Manne. 
Also  ward  sie  von  Herzen  geehrt  und  wird  es  noch  immer, 
Wie  von  den  eigenen  Kindern,  so  auch  von  Alkinoos  selber, 

*)  Ilias  VI ,  429  f.  410. 
**)  Ueber  diese  vgl.  besonders  Lasaulx  a.  a.  O.  S.  17  f.  mit  Anm.  35. 


Homerisches  und  Hesiodisches  Epos.  49 

Und  von  dem  Volk,  das  sie  anschaut  als  \^äre  sie  Göttin 
Und  sie  mit  Worten  hegrüsset  so  oft  in  der  Stadt  sie  umhergeht. 
Denn  nicht  fehlt  es  fürwahr  ihr  selber  an  wackerem  Sinne: 
Männern  sogar,   wenn  sie  freundlich  gesiunt  ist,  löst  sie  den  Hader. 
Drum,  ist  sie  dir  im  Herzen  geneigt  und  freundlich  gewogen. 
Dann  darfst  Hoffnung  du  hegen  die  Heimat  wieder  zu  schauen. 

Ueberhaupt  hat  die  homerische  Frau  ihrem  Manne  gegenüber 
zwar  eine  nalurgemäss  untergeordnete,  aber  keineswegs  eine 
unwürdige  und  unselbständige  Stellung.  Warm  schildert  nament- 
lich Oüysseus  das  Glück  einer  einträchtigen  Ehe,  indem  er  zu 
Nausikaa  dankend  sagt  (Odyssee  VI,  180  ff.): 

Mögen  die  Götter  dir  schenken  wonach  dein  Herz  dir  hegehret, 
Einen  Gemahl  und  ein  Haus,  und  dazu  herzinnige  Eintracht 
Mögen  sie  spenden;  denn  nichts  Werthvolleres  gibt  es  und  Bessres 
Als  wenn  einigen  Sinnes  und  Herzens  im  Hause  zusammen 
Wohnet  der  Mann  und  die  Frau,  für  die  Feinde  zum  grossen  Verdrusse, 
Aber  zur  Freude  den  Freunden;  am  meisten  geniessen  sie^s  selber. 

Einen  starken  Abstieb  von  der  idealen  Herrlichkeit  der  Welt 
des  homeriscben  Epos  bildet  die  derbe  Wirklichkeit  des  hesio- 
discben.  Vertritt  jenes  den  Standpunkt  und  die  AufTassungs- 
weise  des  Ritters,  so  dieses  den  des  Bauern.  Materielle  An- 
gelegenheiten und  Sorgen  bilden  hier  den  Mittelpunkt  des  Ge- 
dankenkreises ,  und  eine  handfeste  Rechtschaffenbeit ,  daneben  aber 
auch  etwas  selbstsüchtig  Pfiffiges,  ein  allgemeines  Misstrauen 
gegen  Andere,  insbesondere  gegen  alle  Erfindungen  der  Cultur 
und  Alles  was  von  den  „Herren"  ausgeht,  etwas  Herbes  und 
Bissiges  spricht  aus  dem  ganzen  Gedichte.  Bei  einem  Bauern 
wäre  es  thöricht  ritterliche  Gefühle  suchen  zu  wollen;  man  muss 
es  daher  ganz  natürlich  finden  dass  bei  Hesiod  das  weibliche 
Geschleckt  übel  wegkommt.  Alles  was  über  den  allerdringendsten 
Bedarf  hinausgebt,  alles  was  in  das  Gebiet  des  Schönen  hinüber- 
spielt,  ist  ihm  vom  Uebel  und  ein  Greuel  in  seinen  Augen;  er 
sieht  daher  in  dem  Schönbeitstriebe  des  weiblichen  Geschlechts, 
der  in  keinem  Verhältnisse  ganz  auszutilgen  ist,  nichts  als  Ver- 
schwendung, lauter  Verderben  für  den  Mann  und  seine  Habe, 
und  bat  diess  durch  den  Mythus  ausgedrückt  dass  Zeus  das  Weib 
(Pandora),  mit  allen  Gaben  der  Anmut  und  Verführung  ausge- 
stattet, den  Menschen  zur  Strafe  auf  die  Erde  gesandt  habe.  *) 
Diese  seine  Denkweise  erreicht  ihren  Gipfelpunkt  in  dem  Ralhe 


♦)  Werke  und  Tage  57  ff.  Vgl.  Theogonie  v.  570  ff. 
Teuf  fei,  Studien.  4 


50  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Vom  putzsüchtigen  Weib  nicht  lasse  den  Sinn  dir  berücken, 
Welches  dich    kosend  bestrickt,    nach   dem   Gelde  dir  spähend  mit 

Habgier. 
Wer  auf  Weiber  vertraut,  der  trauet  dem  hellen  Betrüge.*} 

Um  SO  mehr  aber  ist  er  entzückt  von  einem  braven,  d.  h.  spar- 
samen Weibe. 

Grösseres  Glück  für  den  Mann  gibts  nicht  denn  ein  wackeres  Weib  ist, 

sagt  er**),  sezt  aber  dann  gleich  hinzu: 

Aber  ein  grösseres  Unheil  nicht  denn  ein  schlechtes,  Visiten 
Nur  nachjagendes;  die  brennt  nieder  dem  fleissigsten  Manne 
Ohne  ein  Feuer  das  Haus  und  macht  ihm  bitter  das  Alter. 

Die  grosse  Kluft  welche  in  dieser  Beziehung  zwischen  Homer  und 
Hesiod  liegt  hat  ihren  Grund  nicht  nur  in  der  Verschiedenheit 
der  Stämme  und  Gegenden  welchen  diese  beiden  Dichter  ange- 
hören, sondern  namentlich  auch  darin  dass  zwischen  beide  hinein 
der  Untergang  der  Herde  hellenischer  Ritterlichkeit  fallt,  das 
Erlöschen  der  alten  Adelsgeschlechler,  die  Beseitigung  der  kleinen 
Höfe.  Keine  der  Staatsformen  welche  an  die  Stelle  der  patri- 
archalisch monarchischen  traten  erwies  sich  in  demselben  Masse 
der  Anerkennung  des  weiblichen  Geschlechts  günstig,  nicht  die 
Tyrannis,  die  mit  ihrem  Princip  der  Rechtlosigkeit  und  Gewalt 
auch  die  Familie  berührte,  noch  die  Demokratie,  die  dem  Burger, 
indem  sie  ihn  in  den  Strudel  politischer  Thätigkeit  hiiieinstürzte, 
weder  Zeit  noch  Stimmung  liess  dem  zarteren  Geschlechte  zu 
huldigen. 

Weniger  als  man  es  nach  dem  heutigen  Begriffe  von  Elegie 
erwarten  würde  beschäftigen  sich  gleich  die  elegischen  Dich- 
ter der  Griechen  mit  dein  weiblichen  Geschlechte.  Die  Elegie 
ist  eben  bei  den  Griechen  nicht  das  weinerliche,  süssliche  Ding 
das  man  jezt  darunter  versteht,  sondern  eine  kräftige,  markige 
Gestalt.  Bald  rollt  sie  zürnend  über  den  Häuptern  des  erschlaff- 
ten Volks  dahin,  bald  reisst  sie,  unwiderstehlich  wie  ein  Berg- 
strom, es  fort  zu  einem  vorgesteckten  Ziele.  Sie  ist  die  Trägerin 
der  Gedanken  von  Männern  die  mit  Herz  und  Leben  inmitten 
ihres  Volkes  stehen,  mit  ihrer  Einsicht,  ihrer  Bildung  und  ihrem 
Willen  aber  über  dasselbe  hervorragen  und  ihre  höhere  Begabung 
dazu  verwenden  ihr  Volk  für  einen  grossen,  edeln  Zweck  zu 
begeistern,  bestehe  dieser  nun  in   heldenmütigem  Kampfe  und 

*)  Werke  nnd  Tage  373  ff. 
**)  Werke  und  Tage  v.  702  ff.  Vgl.  Theog.  690  —  612. 


Elegie.   Mimnermos,  51 

freudigem  Tode  für  das  Vaterland  oder  in  hingebendem  Verzichten 
auf  die  eigenen  Interessen  zum  Besten  derGesammtheit.  Die  Elegie 
ist  die  Spraclie  in  welcher  der  höher  Gebildete  zum  Volke  redet; 
sie  steht  in  der  Mitte  zwischen  der  Herrscliaft  des  Epos  und 
dem  Aufkommen  einer  schriftmässigen  Prosa;  sie  ist  zwar  noch 
Poesie,  aber  ihr  Inhalt  ist.  die  Gegenwart,  und  sie  verfolgt  in 
dieser  einen  bestimmten  praktischen  Zweck;  nur  dass  dieser  ein 
grosser  idealer  ist,  denn  nicht  für  kleine  Anliegen  seiner  Person 
ölTnet  der  Seher  seinen  gottgeweihten  Mund. 

So  ist  denn  die  griechische  Elegie  von  Anfang  an  ausschliess- 
lich ethisch  und  politisch,  mit  den  grossen  Interessen  des  Vater- 
landes so  vollauf  beschäftigt  dass  daneben  die  Angelegenheiten 
des  Privatlebens  keinen  Raum  finden.  Der  einzige  unter  den 
älteren  Elegikern  der  davon  eine  Ausnahme  macht  ist  Mimnermos; 
aber  gleich  dessen  jüngerer  Zeitgenosse  Selon  hat  um  so  reiner 
und  reicher  den  ursprünglichen  Charakter  dieser  Dichtart  durch- 
geführt. Mimnermos  dagegen  war  der  Erste  der  die  Elegie 
verwendete  zur  Darstellung  von  Zuständen  und  Empfindungen 
des  Privatlebens,  insbesondere  der  Liebe.  Diess  hatte  seinen 
Grund  in  den  besonderen  Verhältnissen  des  Dichters  und  seines 
Volkes.  Mimnermos  gehörte  zum  Volksstamme  der  lonier,  die, 
durch  nordische  Eindringlinge  aus  ihrer  Heimat  in  Griechenland 
vertrieben,  gen  Osten  gewandert  waren  und  an  der  Rüste  von 
Kleinasien  sich  ein  neues  Vaterland  gegründet  hatten.  Durch 
die  Ueppigkeit  des  Bodens  und  durch  ausgedehnten  Handel  schnell 
reich  geworden,  versanken  sie  in  Weichlichkeit  und  wurden  so 
eine  Beute  ihrer  kriegerischen  Nachbarn,  der  Lyder  (unter  Krösus 
und  dessen  Vorgänger).  In  diese  Zeit  der  Knechtung  seines 
Volkes  fällt  nun  das  Leben  des  Mimnermos,  und  er  kann  selbst 
dazu  dienen  uns  diese  Knechtung  zu  erklären.  Während  nämlich 
die  früheren  Elegiker  die  Noth  des  Vaterlandes  in  bekümmertem 
Herzen  getragen  und  an  ihrem  Theile  dazu  mitgewirkt  hatten 
derselben,  wo  es  möglich  wäre,  ein  Ende  zu  machen,  lässt 
Mimnermos  das  sich  entfernt  nicht  anfechten.  Er  findet  nicht 
dass  der  Himmel  seitdem  weniger  blau  sei,  er  nimmt  die  Dinge 
wie  sie  einmal  sind,  und  sucht  sich  innerhalb  derselben  möglichst 
behaglich  und  vergnüglich  einzurichten.  Mimnermos  ist  ein  treues 
Abbild  der  sittlichen  Erschlaffung  welche  den  Untergang  von 
loniens  Unabhängigkeit  herbeigeführt  hatte,  der  einseitigen  Aus- 
bildung   des    hellenischen    Schönheitsgefühls.      Er   kennt    nichts 


52  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Höheres  als  die  Schönheit  .und  deren  Genuss,  die  Liebe.      Er 
ruft  aus: 

Was  war'  Leben  und  Lust,  wenn  die  goldene  Kypria  fehlte? 

Todtsein  möcht^  ich,  wofern  nimmer  mir  wäre  vergönnt 
Heimlicher  Liebesgenuss  und  Umarmung  und  süsse  Geschenke. 

Es  Stört  ihn  daher  nicht  dass  sein  Volk  unterjocht  ist;  im  Gegen- 
theil,  nicht  mehr  in  Anspruch  genommen  durch  öffentliche  An- 
gelegenheiten, kann  er  sich  jezt  jim.  so  ungetheilter  hingeben  an 
das  was  für  ihn  das  Höchste  ist.  Desto  mehr  aber  beengt  ihn 
der  Gedanke  dass  das  alles  so  kurz  dauert,  dass  das  traurige 
Alter  und  die  grausige  Hand  des  Todes  diesem  schönen  Traume 
unfehlbar  ein  baldiges  Ende  macht.  Dieser  Gedanke  wirft  einen 
trüben  Schatten  hinein  iii  das  freudenreiche  Dasein,  es  verküm- 
mert und  vergällt  dem  Dichter  schon  jezt,  noch  ehe  das  Ge- 
fürchtete eingetreten  ist^  allen  Genuss,  es  hindert  ihn  an  voller, 
ruckhaltsloser  Hingabe  an  das  was  die  Gegenwart  Schönes  bietet 
So  sagt  er  in  einem  Bruchstücke: 

Alsbald  rinnet  den  Körper  hinab  unsäglicher  Schweiss  mir , 

Und  nur  zitternden  Leibs  kann  die  Gespielen  ich  sehn 
Blühend  und  Heblich  und  schön.     0  dass  es  doch  länger  so  bliebe! 

Doch  nur  wenige  Zeit  dauert  sie,  gleichwie  ein  Traum, 
Diese  gepriesene  Jugend,  und  jählings  hänget  das  Alter 

Ueber  dem  Haupt  ihr  da,  lästig  und  hässlich  zu  schaun, 
Allen  verhasst  und  verachtet;  es  macht  unkenntlich  den  Menschen, 

Legt  sich  um  Augen  und  Qeist,  machet  sie  trübe  und  blind. 

Dieses  Gewinsel  über  die  Kürze  der  Jugend,  dieses  Grauen  vor 
dem  Alter  bildet  überhaupt  den  stehenden  Inhalt  von  Mimncrmos' 
Gedichten,  so  weit  wir  sie  noch  haben.  Es  wird  berichtet  dass 
diese  vorherrschende  Richtung  seiner  Gedanken  ihren  Grund 
gehabt  habe  in  persönlichen  Erfahrungen  des  Dichters,  sofern 
er  nämlich  aus  der  Gunst  seiner  Geliebten ,  der  Flötenspielerin 
Nanno,  durch  jüngere  Nebenbuhler  verdrängt  worden  sei.  Mag 
diess  richtig  sein  oder  nicht,  jedenfalls  werden  wir  in  diesen 
Aengsten,  diesem  Albdrücken,  eine  wohlverdiente  Strafe  für  den 
Leichtsinn  und  die  Gesinnungslosigkeit  erkennen  womit  der  Dich- 
ter in  schwerer  Zeit  kein  ander  Heil  wusste  als  in  rückhaltslosester 
Hingabe  an  die  Sinnlichkeit. 

Kein  Dichter  seines  Volks  folgte  ihm  auf  dieser  Bahn;  wohl 
aber  kam  er,  nach  dem  Untergange  des  eigentlichen  griechischen 
Wesens  und  Lebens,  in  Alexandria  wieder  zu  Ehren.  Unter 
den  kunstliebenden  Ptolcmäern  sammelte  sich  dort  ein  Kreis  von 


_,j 


Alexandrinische  Elegie.    Idyll.  53 

Männern  welche  insbesondere   die   bequeme  und    doch   elegante 
und  anmutige  elegische  Dichtungsart  wieder  aus  dem  Schlummer 
erweckten.     Hofdichter  wie  sie  waren,   und  Dichter  eines  Hofes 
der  für  sein  Dasein  in   diesem  Lande  kein  anderes  Recht  hatte 
als  das  des  Schwertes,  entbehrten  sie  der  Stoffe  aus  dem  öffent- 
Heben  Leben  der  Gegenwart,   durch  welche  die  Dichtungen  der 
alten    Elegiker   so   reichhaltig    und    werthvoll    geworden    waren. 
Dieser  Epigonen  Welt   waren  dagegen  die  Bucher,  der  Hof  und 
Ihre    kleinen   persönlichen  Erlebnisse.      Diese   drei  Gegenstände 
bilden  denn   den  Inhalt  wie  aller  ihrer  Gedichte  so  namentlich 
auch  ihrer  Elegien,  die  Elemente  welche  nur  in  verschiedener 
Mischung  bei  ihnen  immer  wiederkehren.     Auch  wo  sie  sich  selbst 
zum  Gegenstande  machen,   eigene  Gefühle  darzustellen  scheinen, 
ist    es    hauptsächlich    das   Gedächtniss ,    die    Gelehrsamkeit,    die 
Bücher,    was  aus  ihnen  redet.      So   wenn   sie   die  Reize  einer 
wirklichen  oder  geträumten  Schönen  zu  schildern  sich  anschicken 
plündern  sie  zu  diesem  Behufe  die  ganze  Mythologie,  und   eben 
so   wenig    können  sie    irgend  welche  Verwicklung  des    Lebens, 
z.   B.  der  Liebe,  und  die  Stimmung  welche  sie  erregt,  in  der 
naturgemässen  Weise  darstellen :  Leben  und  Gelehrsamkeit  fliessen 
bei  ihnen   fortwährend  in  einander  über,  oder  vielmehr  die  Ge- 
lehrsamkeit überflutet  und  erstickt  das  Leben.    Ein  abschrecken- 
des  Beispiel   dieser  Art   ist    uns   durch    CatuUus   erhalten,    der 
das  elegische  Gedicht  des  Alexandriners  Kallimachos    „auf  das 
Haar  der  Königin  Berenike"  frei  übersezt  hat,  bei  welchem  Ge- 
dichte schon   die  Wahl   des  Stoffs  bezeichnend   genug   ist.     Je 
weiter  man  sich  aber  selbst  von  der  Natur  entfernte,  um  so  leb- 
hafter  wurde  das  Gefühl  für  das  was  eigentlich  das  Natürliche 
wäre,  und  der  Trieb  dasselbe,    wenigstens  in  so  weit  als  die 
eigenen  Kräfte  es  gestatteten,  durch  die  Mittel  der  poetischen  Dar- 
stellung ins  Leben  ^u  rufen:   das  Idyll  ist  ein  Erzeugniss  der 
alexandrinischen  Zeit.     Freilich  brachte  es  selbst  der  bedeutendste 
Idyllendichter,  Theokritos  aus  Syrakus,    nur  zu  blassen   Ge- 
stalten, ohne  Blut  und  Leben,    und  lieferte  den  schlagendsten 
Beweis   davon    wie   tief   die   Verschrobenheit   in   diesem  Kreise 
wurzelte,  indem  sie  selbst  da  wo  sie  eigens  darauf  ausgiengen 
natürlich  zu-  sein   vielmehr  nur  eine  neue  Species  der  Unnatur 
zu  Tage  förderten.     Indessen  würden  wir  dem  Theokrit  Unrecht 
thun  wenn  wir  nicht  auch  hinzufügten  dass  er  da  wo  er  sich 
von  seiner  Manier  emancipiert,  wo  er  einen  Griff  in  das  wirk- 


54  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

liehe  Leben  hinein  thut,  eine  Meisterschaft  bekundet,  die  es  nur 
um  so  tiefer  beklagen  lässt  dass  er  sonst  dem  Trugbilde  einer 
unwahren  Idealität  nachgestrebt  hat.  Diese  Meislerschaft  verräth 
besonders  Theokrits  berühmtestes  Idyll  „die  Weiber  am  Adonis- 
fest.''  Um  bei  der  öffentlichen  Feier  des  lezteren  zuzuschauen, 
holt  eine  Frau  die  andere  ab  und  begibt  sich  mit  ihr  auf  die 
Strasse,  wo  dann  der  Festzug  an  ihnen  vorüber  geht  und  durch 
ihre  Exclamationen  und  zungenfertigen  Beschreibungen  auch  uns 
vor  die  Augen  tritt ,  endlich  im  Königspalaste  das  Festlied  mit 
angehört  wird.  Die  Festfeier  ist  der  eigentliche  Zweck  und 
Mittelpunkt  des  Gedichts,  aber  die  Vorbereitungen  zur  Theil- 
nahme  daran  und  das  Verhalten  der  Frauen  auf  der  Strasse  selbst 
sind  mit  solcher  Liebe  ausgeführt  dass  hiedurch  der  grössere 
Theil  des  Raums  und  des  Interesses  in  Anspruch  genommen 
wird.  Da  ist  mit  köstlicher  Anschaulichkeit  und  wahrhaft  dra- 
matischer Lebendigkeit  ein  grosses  Stück  Frauenart  biosgelegt. 
Die  Abholende  trifft  ihre  Freundin*  noch  über  der  Toilette,  sie 
plaudern  gemütlich  und  räsonnieren  gelegentlich  über  ihre 
Männer,  bis  es  ihnen  auf  einmal  einfällt  dass  sie  ja  eigentlich 
Eile  haben,  und  nun  die  bei  der  Toilette  behülfliche  Dienerin 
angefahren  wird,  dass  sie  vor  Bestürzung  erst  recht  Alles  ver- 
kehrt macht.  Das  Kleid  ist  endlich  glücklich  angezogen;  die 
Freundin  bewundert  es  und  fragt  nach  dem  Preise;  auch  der 
übrige  Putz  wird  rasch  angelegt,  das  unbequeme  Kind,  das  sich 
von  der  Mutter  nicht  trennen  will,  mit  Entschiedenheit  abge- 
schüttelt: „Ich  kann  dich  nicht  mitnehmen,  mein  Kind.  Huhu! 
die  Pferde  beissen!  Weine  so  viel  du  willst:  zum  Krüppel  darfst 
du  mir  nicht  werden.  Gehen  wir!  Phrygia,  unterhalte  den 
Kleinen,  rufe  den  Hund  herein  uud  schliesse  die  Hausthüre  zu.'' 
So  sind  sie  denn  auf  der  Strasse  und  wundern  sich  über  die 
Menge  Menschen  und  die  gute  Ordnung  die  trotzdem  herrscht. 
Da  geräth  die  eine  der  Frauen  durch  die  Pferde  des  Zugs  in 
Angst  und  ruft  ihrer  Freundin  zu:  „Liebste  Gorgo,  was  wird 
aus  uns?  Des  Königs  Schlachtrosse!  Lieber  Mann,  tritt  mich 
nicht!  Der  Goldfuchs  bäumt  sich!  Ach,  seht  wie  wild  er  ist! 
Gott  Lob  und  Dank  dass  ich  mein  Kleines,  zu  Hause  gelassen 
habe!**  Gorgo  beruhigt  sie:  „Fasse  dich,  Praxinoa,  sie  sind 
ihres  Wegs  gegangen  und  jezt  weit  von  uns  weg.*'  Praxinoa 
fasst  sich  auch  und  versichert  dass  Pferde  und  Schlangen  ihr 
von  jeher  das  Aergste  gewesen  seien.     Sie  drängen  sich  in  den 


Theokritos.   lambik.  55 

Palast  hinein ,  und  Praxinoas  neues  Kleid  kommt  dabei  in  Lebens- 
gefahr, doch  haben  sie  sich  auch  der  Galanterie  eines  Mannes 
im  Publikum  zu  erfreuen ;  einen  andern,  der  sich  über  ihr  stören- 
des Geplauder  beklagt  und  über  ihren  Dialekt  sich  lustig  macht, 
trumpfen  sie  gehörig  ab.  „Seht  doch,  woher  ist  denn  der  Mensch? 
Was  geht  es  dich  an  wenn  wir  schwatzen?  Willst  du  den  Ge- 
bieter spielen,  so  kaufe  dir  jemand;  wir  sind  Syrakusaner." 
Erst  der  Beginn  des  Gesangs  bringt  sie  zum  Schweigen.  „Es 
wird  gewiss  schön  werden,"  bemerkt  Gorgo,  „schon  räuspert 
sich  die  Sängerin.^'  Durch  seine  ganze  Haltung  und  viele  kleine 
Züge  erweist  sich  dieses  Idyll  vielmehr  als  ein  satirisches  Sitten- 
gemälde ,  und  liefert  dadurch  einen  neuen  Beweis  von  der  nahen 
Verwandtschaft  dieser  beiden  Diclitgattungen. 

Noch  grösser  und  augenfälliger  ist  die  Verwandtschaft  mit 
der  Satire  bei  derjenigen  Dichtart  welche  fast  gleichzeitig  neben 
der  Elegie  entstand,  der  lambik.  Eben  so  sehr  wie  die  Elegie 
wurzelt  auch  die  lambik  in  der  Gegenwart;  aber  es  sind  andere 
Gebiete  der  Gegenwart  welche  beide  behandeln,  und  beider  Ver- 
halten zu  ihr  ist  ein  verschiedenes.  Während  die  Elegie  an  das 
Grosse  und  Allgemeine  sich  macht,  sucht  die  lambik  sich  ge- 
flissentlich  das  Kleine  und  Persönliche  aus,  und  während  die 
Elegie  von  dem  idealisch  aufgefassten  Allgemeinen  ausgeht  und 
dieses  dem  Einzelnen  als  Spiegel  vorhält,  als  Ziel  und  Zweck 
hinstellt,  ist  dagegen  die  lambik  die  kecke  Kritik  welche  der 
Einzelne  übt,  wie  an  allen  Einzelnen  die  ihm  zu  nahe  kommen, 
so  auch  am  Allgemeinen  selbst,  wenn  es  sich  auf  unangenehme 
Weise  geltend  machen  will.  Während  daher  die  eigentlichen 
Elegiker  grösslentheils  Männer  von  hoher  Stellung  im  Staate  waren, 
sind  dagegen  die  lambographen  Männer  welche  bei  glänzender 
geistiger  Begabung  und  dem  lebhaftesten  Bewustsein  davon  dennoch, 
theils  in  Folge  unglücklicher  Verhältnisse,  theils  durch  eigene 
Verschuldung,  es  zu  keiner  öffentlichen  Anerkennung  und  Gel- 
tung zu  bringen  vermochten,  daher  mit  der  ganzen  Gesellschaft 
zerfallen  sind  und  nun  eine  grausame  Freude  daran  finden  überall 
Schwächen  aufzudecken  und  Täuschungen  zu  zerstören.  Dadurch 
erhielt  bei  den  Griechen  „lambos"  allmählich  die  Bedeutung 
von  Scbmähgedicht  und  machte  sich  gefürchtet  bei  Freund  und 
Feind.  Doch  bestand  die  Gattung  nicht  lange,  indem  der  Geist 
derselben  in  der  Komödie  bald  einen  reicheren  und  vollkomme- 
neren Schauplatz   für  seine  Entfaltung   gewann   und   für   seine 


56  Die  Frauen  in  der  griechifichen  Poesie. 

persönlicheren  Zwecke  an  der  immer  mehr  zum  Epigramm  sich 
zusanimenziehenden  und  zuspitzenden  Elegie  ein  ganz  ausreichen- 
des und  sogar  bequemeres  Werkzeug  erlangte.  Es  sind  daher 
hauptsächlich  nur  drei  Namen  an  \velche  sich  die  Geschichte  der 
lambik  kettet,  Archilochos,  Simonides  und  Hipponax;  alle  drei 
aber  haben  sich  in  ihren  Gedichten  mehr  oder  weniger  mit  dem 
weiblichen  Geschlechte  zu  schaffen  gemacht. 

Weitaus  der  bedeutendste  unter  diesen  ist  der  älteste,  Archi- 
lochos,  ein  künstlerisches  Genie  ersten  Ranges,  ?on  übersprudeln- 
der Schöpferkraft,  einem  Reichthum  der  Begabung  und  einer 
Lebendigkeit  und  Unruhe  dass  es  ihn  gegen  jede  Schranke  hin- 
trieb, um  sie  zu  überspringen  oder  zu  zertrümmern.  Er  hat 
durch  seine  Genialität  die  griechische  Poesie ,  welche  nahe  daran 
war  der  Einförmigkeit  zu  verfallen  und  in  Conventionellen  For- 
men zu  erstarren,  neu  in  Gang  gebracht,  hat  ihr  dieThüre  ge- 
öffnet, dass  ein  frischer  Lebensodem  herein  drang  und  der  Strom 
der  Poesie  sich  reich  und  voll  über  alle  Fluren  ergiessen  konnte. 
Aber  freilich  ist  es  ihm  in  der.Masslosigkeit  und  dem  Ueber- 
mute  der  Jugend  begegnet  dass  er  auch  über  solche  Schranken 
hinweg  sezte  welche  nicht  von  gestern  sind  und  nicht  von  der 
Willkür  oder  der  Beschränktheit  gezogen,  hinter  denen  vielmehr 
dem  verwegenen  Springer  ein  Abgrund  entgegengähnt;  und  er 
hat  diess,  erbittert  durch  persönliches  Missgeschick,  namentlich 
dem  weiblichen  Geschlechte  gegenüber  gethan.  Archilochos  liebte 
Neobule,  die  Tochter  eines  Lykambes,  mit  der  ganzen  Glut  sei- 
nes leidenschaftlichen  Wesens,  und  der  Vater  sagte  ihm  ihre 
Hand  zu,  nahm  aber  später  —  aus  uns  unbekannten  Gründen 
—  sein  Versprechen  wieder  zurück.  Diess  versezte  den  heiss- 
blutigen  Dichter  in  solche  Wut  dass  er  gegen  Lykambes  und 
dessen  ganzes  Haus  die  giftigsten  Geschosse  richtete  und  mit 
grimmiger  Rücksichtslosigkeit  in  jedes  Geheimniss  des  Lebens 
und  der  Liebe  hinunter  leuchtete.  Nichts  Gutes  lässt  er  jezt 
weder  am  Vater  noch  an  seiner  einstigen  Braut;  er  will  jezt, 
wo  er  sie  nicht  bekommt,  zu  der  Einsicht  gelangt,  sein  dass 
mit  ihr  das  baare  Unglück  in  sein  Haus  gezogen  wäre,  und  ent- 
schuldigt gleichsam  seine  frühere  Liebe  mit  ihrer  Koketterie: 

Der  Myrte  Blüte  trag  sie  in  der  Hand, 

Der  Kose  dafVge  Blume,  und  ihr  dunkles« Haar 

Floss  reich  hinab  auf  Hals  und  Schulter;  selbst  ein  Qreis 

Er  war'  in  Lieb^  entbrannt. 


Archilochos.    Simonides  Amorg.  57 

So  unbarmherzig,  so  vernichtend  waren  seine  Angriffe  dass  in 
späterer  Zeit  die  Sage  entstand^  Lykambes  habe  sich  in  Folge 
derselben  sammt  seinen  Töchtern  erhängt.  Archilochos  sezte  nach 
dem  Scheitern  seines  Versuchs  sich  einen  festen  Herd  zu  gründen 
nur  um  so  mehr  sein  ruheloses,  unstetes  Wanderleben  fort,  auf 
dem  er  das  Samenkorn  der  Poesie  in  ganz  Hellas  umherstreute. 
Indessen  sind  von  den  Gedichten  des  Archilochos  nur  Trümmer  auf 
uns  gekommen,  da  dieselben,  nachdem  sie  ungefähr  ein  Jahrtausend 
lang  allgemein  gelesen  worden  waren ,  wegen  gewisser  allzu  greller 
Zeichnungen  unter  den  byzantinischen  Kaisern  systematisch  ver- 
nichtet wurden;  Trümmer  freilich  die  auch  noch  in  ihrer  kläg- 
lichen Zerstücklung  erkennen  lassen  dass  das  Alterthum  Grund 
hatte  wenn  es  den  Archilochos  zu  den  leuchtendsten  Gestirnen  an 
dem  wahrlich  an  Glanz  nicht  armen  Himmel  der  hellenischen 
Poesie  zählte. 

Während  aber  so  das  Geistvolle  untergegangen  ist,  hat  von 
dem  zweiten  der  genannten  lambiker,  von  Simonides  aus  Amor- 
gos,  ein  ziemlich  untergeordnetes  Erzeugniss  das  Dasein  zu  erhalten 
gewusst.  Es  ist  dessen  Schmähgedicht  auf  die  Weiber.  Das 
Gedicht  hat  die  Einkleidung  dass  die  Frauen  je  nach  einer  her- 
vortretenden Eigenschaft  in  Art^n  abgetheilt  und  diese  Arten 
je  von  einem  entsprechenden  Thiere  abgeleitet  werden.  So  stamme 
die  gefallsüchtige  von  einem  Pferde  ab,  die  träge  von  einer 
Eselin,  die  fleissige  von  einer  Biene,  die  hässliche  von  einer 
Aeffin,  und  mit  welchem  Thiere  er  in  seiner  Plumpheit  vollends 
diejenige  in  genealogischen  Zusammenhang  gebracht  hat  welche 
auf  Ordnung  und  Reinlichkeit  nicht  streng  hält  wage  ich  gar 
nicht  zu  sagen.  So  wenig  dieser  Grundgedanke  Anspruch  hat 
auf  Feinheit,  Tiefe  oder  Geistreichigkeit,  so  scheint  doch  sein 
Urheber  davon  sehr  befriedigt  gewesen  zu  sein;  , wenigstens  ver- 
folgt er  ihn  mehr  als  hundert  Verse  hindurch  mit  schrecklicher 
Ausdauer.     Einige  Proben  daraus: 

Die  eine  stammt  vom  Meer;  die  hat  ein  Doppelherz: 

Den  einen  Tag,  da  ist  sie  heiter  nnd  vergnügt, 

Dass  jeder  Fremde   der  sie  sieht  im  Hause,  spricht: 

„Es  gibt  doch  in  der  ganzen  weiten  Welt  fürwahr 

Kein  bessres  nnd  kein  schön'res  Weib  als  diese  ist!'* 

Nicht  aaszuhalten  ist  sie  schon  am  Tag  darauf,  | 

Nicht  anzusehen,  anzurühren;  denn  sie  ist 

Unfreundlich,  widerwärtig  gegen  Jedermann.  ...  i 


58  Die  Frauen  in  der  griecliischen  Poesie. 

Vom  mähnenreichen  Bosse  stammt  die  andre  ab, 

Die  Sklayendienste  und  die  harte  Arbeit  flieht. 

Die  rührt  euch  keine  Mühle  an,  nimmt  nicht  das  Sieb 

Zur  Hand  und  kehrt  den  Staub  euch  nicht  zum  Haus  hinaus*; 

Vom  Herde  bleibt  sie  fem,  wo  man  nur  russig  wird. 

Zweimal  des  Tags,  auch  dreimal,  wascht  sie  sich  den  Leib 

Vom  Schmutze  rein  und  salbet  sich  mit  duftigem  .Oel. 

Auch  trägt  sie  allezeit  den  reichen  Lockenschmuck 

Kunstreich  geflochten  und  mit  Blumen  hübsch  durchwirkt. 

Ein  schöner  Anblick  ist  ein  solches  Weib  gewiss 

Für  Andere,  ihrem  Mann  jedoch  ein  bitterer  Kelch, 

Wofern  er  nicht  ein  Herrscher  ist,  auf  Thronen  sizt, 

Und  an  dergleichen  eben  seine  Freude  hat. 

Die  andre  von  der  Biene:  glücklich  ist  der  Mann 

Dem  sie  zu  Theil  wird;  ihr  nur  darf  der  Spott  nicht  nahn. 

Die  Habe  dehnt  und  mehret  sich  durch  sie. 

Geliebt  und  liebend  wird  sie  mit  dem  Gatten  grau, 

Umschaart  von  schönen  und  gepriesenen  Sprösslingen, 

Und  unter  allen  Weibern  ist  sie  hochgeehrt, 

Von  allen  Göttern  und  von  Menschen  hochgeliebt. 

Nicht  gerne  sizt  die  Reine  in  der  Weiber  Kreis, 

Wenn  sie  zusammen  schwatzen  über  Tanz  und  Putz. 

Nur  diese  eine  Art  lässt  der  Dichter  gelten;  im  Ganzen  aber  ist 
sein  Urteil: 

Das  Schlimmste  was  heryorgieng  aus  der  Hand  des  Zeus 
Ist  doch  das  Weib,  und  scheint  es  einmal  etwas  nütz. 
So  folgt  dem  scheinbar  Glücklichen  das  grösste  Leid; 
Denn  nimmer  bleibt  in  ungetrübter  Heiterkeit 
Den  ganzen  .Tag  hindurch  wer  an  ein  Weib  sich  hängt. 
Denn  wo  ein  Weib  ist  kann  man  kaum  den  alten  Freund, 
Der  uns  besucht,  willkommen  heissen  in  dem  Haus. 
Und  immer  die  Frau  die  besonders  gut  erscheint, 
Die  eben  ist  von  allen  noch  die  schädlichste. 

An  dieser  Schilderung  ist  Lob  wie  Tadel  gleich  bezeichnend 
Tür  den  Standpunkt  des  Redenden.  Es  ist  der  der  selbstgewis- 
sesten Spiessbürgerlichkeit,  welche  schon  darum  gegen  das  weib- 
liche Geschlecht  eingenommen  ist  weil  sie  durch  dasselbe  von 
Zeit  zu  Zeit  aus  ihrer  stagnierenden  „Ruhe"  herausgeruttelt 
wird,  und  welche  vollends  ganz  ausser  sich  kommt  wenn  sie  um 
der  Frau  willen  in  die  Tasche  greifen  muss.  Diese  Spiessbärger- 
lichkeit  schüttet  hier  ihren  Aerger  aus  in  der  Form  von  gewiss 
sehr  oberflächlichen  Beobachtungen,  die  ohne  einen  Anflug  von 
Geist,  Humor  oder  Leidenschaft  in  massivster  Weise  vorgetragen 


Simouides  Am.   Hipponax.  59 

sind ,  nichts  desto  weniger  aber  oder  eben  desswegen  bei  der 
Masse  Anklang  gefunden  haben  und  lange  im  Umlauf  blieben. 

An  Geist  nun  zwar  fehlt  es  durchaus  nicht  dem  dritten 
unter  den  bedeutenderen  lambographen,  dem  Hipponax^  von 
welchem  der  berüchtigte  Ausspruch  herrührt  dass  das  Weib  nur 
zweimal  in  seinem  Leben  liebenswürdig  sei: 

„Am  Tag  der  Hochzeit  und  an  seinem  Sterbtage/* 

Wir  werden  dieses  giftige  Wort  vollkommen  begreifen  und, sogar 
verzeihen,  wenn  wir  uns  vergegenwärtigen  dass  Hipponax  häss- 
lich  war,  eine  zwar  nervigte,  aber  verkrüppelte  Gestalt  mit 
einer  abscheulichen  Fratze  von  einem  Gesicht.  Dadurch  war  er 
im  Lande  der  schönen  Form  von  vornherein  gebrandmarkt,  aus- 
gestossen,  zum  Kriege  gegen  alles  Wohlgebildete  und  Schöne 
verurteilt;  und  wenn  er  in  seiner  Erbitterung  auch  der  Götter 
und  der  eigenen  Eltern  nicht  schonte,  weil  sie  sich  *um  ihn  so 
schlecht  verdient  gemacht,  so  werden  wir  nicht  erwarten  dass 
er  mit  dem  weiblichen  Geschlechte  glimpflicher  verfahren  sei, 
und  durch  jenen  Ausspruch  uns  eher  an  die  wegwerfende  Aeusse- 
rung  des  Fuchses  über  die  hochhängenden  Trauben  erinnert 
fühlen.  Wenn  ihm  von  einem  schlechten  Gewährsmann  die  Verse 
zugeschrieben  werden: 

Die  beste  Ehe  ist  für  einen  weisen  Mann 

Ins  Hans  zu  nehmen  eine  tugendsame  Frau; 

Denn  diese  Mitgift  einzig  hilft  dem  Hanse  auf; 

Und  wer  auf  Sparsamkeit  bei  Wahl  des  Weibes  sieht, 

Der  hat  statt  einer  Herrin  eine  Mitarbeiterin, 

Voll  Lieb'  und  Treue  für  die  ganze  Lebenszeit,  — 

SO  springt  sogleich  in  die  Augen  dass  sie  nicht  von  Hipponax 
herrühren  können,  sondern  vielmehr  von  seinem  Collegen,  dem 
ehrenfesten  Burger  Simonides. 

Haben  wir  bisher  mit  der  Elegie  und  (ambik  uns  auf  dem 
Boden  des  ionischen  Stammes  bewegt,  so  führt  uns  dagegen  die 
Lyrik  zu  den  beiden  andern  Hauptstämmen  der  Hellenen,  den 
Doriern  und  Aeoliern,  und  zwar  gehört  die  Dichtung  für  Chöre 
(die  chorische  Melik)  dem  dorischen  Stamme,  die  für  den  Einzel- 
gesang dem  äolischen  an.  Wenn  man  nun  an  diese  Dichtgattung 
mit.  der  Erwartung  herantreten  würde  hier  eine  besonders  er- 
giebige Ausbeute  für  unsern  Gegenstand  zu  finden,  so  würde 
man  sich  zum  Theil  getauscht  finden;  nicht  nur  weil  die  Zeit 
auf  diesem  Gebiete  unbarmherziger  als  sonstwo  gehaust  und  uns 


60  Die  Fraaen  in  der  griechischen  Poesie. 

nur  Haufen  von  Trümmern  übrig  gelassen  hat,  als  Zeugen  der 
Tergangenen  Pracbt,  sondern  auch  weil  die  Lyrik  selbst  von  An- 
fang an  sich  nur  in  beschränktem  Masse  mit  dem  weiblichen 
Gescblechte  befasst  hat.  Bei  der  chorischen  Lyrik  liegt  diess 
in  der  Natur  der  Sache:  diese  hatte  einen  kirchlichen  Zweck, 
sie  war  ein  Bestandtheil  des  Gottesdienstes  und  behielt  dieser 
ihrer  Bestimmung  gemäss  immer  einen  ernsten,  strengen  und 
würdevollen  Charakter.  Es  machte  in  dieser  Beziehung  keinen 
wesentlichen  Unterschied  ob  ein  Lied  bestimmt  war  von  einem 
Chore  Männer  oder  Mädchen  vorgetragen  zu  werden ;  nur  einzelne 
Dichter,  welche  sich  zu  der  Weise  der  subjectiven  Lyrik  hinneigen, 
hielten  die  Lieder  für  Jungfrauen  -  Chöre  (Parthenien)  in  etwas 
weniger  strengem  Tone.  So  namentlich  Alk  man,  der  einem 
solchen  Jungfrauenchor  den  naiven  Wunsch  in  den  Mund  legt : 

„Himmlidcher  Vater,  o  schenke  mir  den  zum  Gemahle!'* 

Verwandten  Inhalts  war  auch  das  Lied  des  Stesichoros,  Kalyke 
betitelt  und  gleichfalls  von  Jungfrauen  gesungen.  Es  schilderte 
die  unglückliche  Liebe  der  Kalyke  zu  Euathlos,  wie  Kalyke  züch- 
tig zu  Aphrodite  flehte  dass  Euathlos  sie  zur  Frau  nehme  und, 
von  ihm  verschmäht,  sich  vom  leukadischen  Felsen  hinabstürzte; 
eben  so  desselben  Dichters  Lied  auf  das  Liebespaar  Rhadina  und 
Leontichos,  das  von  dem  Tyrannen  Korinths  getödtet  wurde,  wie 
Stesichoros  überhaupt  unter  den  Dichtern  der  Liebe  genannt  wird. 
Zu  diesen  gehört  in  gewissem  Sinn  auch  Ibykos  aus  Rhegium, 
von  dem  z.  B.  ein  Lied  begann: 

Eros   blicket  mich   wieder   mit  schmachtenden  Augen  ans  dunkelen 

Wimpern  hervor  an, 
Und  lockt  mich  mit  allerlei  Künsten  hinein  in  der  Kypris  unendliche 

Netze. 
Schon  bebt  vor  dem  Nahenden  mir  das  Gemüt, 
So  wie  ein  siegegekröntes,  im  Joche  gealtertes  Ross  auch 
Ungern  in  den  Wettstreit  geht  mit  dem  raschen  Gespann. 

Wie  Ibykos  haben  auch  Anakreon  und  Pindaros  sich  vor- 
zugsweise mit  dem  Preise  männlicher  Schönheit  befasst,  wozu 
dem  Letzteren  die  Verherrlichung  der  Sieger  in  den  öfTentlichen 
Wettkämpfen  gelegentlich  Anlass  bot.  Von  Pindars  jüngerem 
Zeitgenossen,  Simon i des  von  Keos,  aber  besitzen  wir  noch 
ein  Lied  worin  die  Mutterliebe  in  unnachahmlich  schöner  Weise 
sich  ausspricht.  Er  lässt  nämlich  Danae,  die  mit  ihrem  neu- 
geborenen Söhnchen  Perseus  von  ihrem  Vater  Akrisios  in  einen 


Melik.    Alkman.    Ibykos.    Simonides  K.    Alkaios.  61 

Kasten  geworfen  und  dem  Meere  preisgegeben  worden  ist,  als 
die  Wogen  an  ihren  Behälter  heranschlagen,  mit  feuchten  Wangen 
den  Arm  schlingen  um  ihr  schlummerndes  Kind  und  sprechen: 
,,0  Kind;  wie  leide  ich  Pein!  Und  du  schlummerst  ruhigen 
Sinnes  und  schläfst  in  der  unfreundlichen  ehernen  Behausung, 
hingestreckt  in  schwarzer  Nacht!  Dass  dein  Haar,  von  den 
Wellen  gestreift,  erstarrt,  kümmert  dich  nicht,  nicht  das  Sausen 
der  Winde  unter  deiner  Purpurdecke,  holdes  Antlitz!  Wäre  dir 
schrecklich  das  Schreckliche,  würdest  du  hören  auf  meine  Worte. 
So  schlummere  denn,  süsser  Kleiner;  es  schlummere  auch  das 
Meer  und  schlummere  das  unermessliche  Leid.  Abhülfe  erscheine, 
Vater  Zeus,  von  dir!  Dass  kühnen  Worts  ich  flehe  verzeihe 
mir  um  des  Kindes  willen!" 

Unter  den  Dichtern  für  den  Einzelgesang,  den  subjectiv 
lyrischen,  wie  sie  bei  den  Aeoliern  erstanden,  ist  Alkaios  zu 
lief  verflochten  in  die  politischen  Geschicke  seiner  Heimat  Lesbos 
und  zu  sehr*  Mann  der  Partei  als  dass  er  oft  die  Sammlung  und 
den  Frieden  in  sich  gefunden  hätte  seine  Leier  der  Liebe  zu 
widmen.  Neben  den  religiösen  und  den  politischen  Stoffen  nehmen 
bei  ihm  die  Freuden  der  Freundschaft  und  Geselligkeit  den  aus- 
gedehntesten Raum  ein ;  für  die  Liebe  scheint  nur  ein  bescheidenes 
Plätzchen  übrig  geblieben  zu  sein.  So  lässt  er  ein  liebekrankes 
Mädchen  seufzen: 

„O  ich  Arme,  der  von  Allem  was  es  Schlimmstes  |;ibt  zu  Theil  ward!'* 

und  einen  Nachtschwärmer  vor  ^  einer  geschlossenen  Thüre  sehr 
beweglich  bitten: 

„O  nimm  mich  Schwärmer  auf,  o  nimm  mich  auf,  ich  bitte,  bitte  dich!" 

Und  an  seine  Landsmännin  und  Kunstgenossin  Sappho  richtet 
er  die  verlegene  Liebeserklärung:  „Veilchengelockte,  keusche, 
süsslächelnde  Sappho,  ich  möchte  ein  Wort  dir  sagen,  aber  Scheu 
verbietet  mh^'s,"  worauf  die  Dichterin  erwiderte: 

Wenn  du  nach  Gutem  trügst  und  nach  Schönem  Lust, 
Und  nicht  was  Schlimmes  hätte  die  Zunge  vor, 
Nicht  würde  Scheu  das  Aug*  umfangen, 
Sondern  du  sprächest  heraus  was  Recht  ist. 

Damit  sind  wir  bereits  der  glänzendsten  Erscheinung  nahe  getreten 
welche  das  Altcrthum  hinsichtlich  der  thätigen  Theilnahme  des 
weiblichen  Geschlechts  an  der  Poesie  aufzuweisen  hat,  der  Dichterin 
Sappho. 


62  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Bei-  dem  äolischen  Stamme  hatte  das  weibliche  Geschlecht 
eine  weit  freiere  Stellung  als  bei  dem  ionischen.;  nur  bei  jenem 
konnte  daher  in  so  grossartigem  Massstabe  geschehen  was  in 
Athen  völlig  undenkbar  war  und  bei  den  Doriern  wenigstens,  in 
beschränkterem  Masse  statt  fand,  dass  ein  Weib  als  Dichterin 
auftrat.  Aber  diese  Verschiedenheit  der  Sitten  hatte  zugleich 
die  Folge  dass  Sappho's  Sein  und  Thun  ausserhalb  ihres  Stam- 
mes verkannt,  missdeutet  und  verhöhnt  wurde,  insbesondere  in 
Athen.  Und  da  Athen  in  der  Literatur  immer  mehr  tonangebend 
wurde ,  und  spätere  Pedanten  das  was  zu  Athen  über  Sappho  als 
mehr  oder  weniger  boshafter  Witz  erdichtet  und  behauptet 
worden  war  für  baare  Münze  nahmen ,  so  geschah  es  dasä  Sappbo's 
Bild  uns  in  ganz  verzerrter  Gestalt  überliefert  wurde,  bis  im 
Jahr  1816  ein  deutscher  Gelehrter  (F.  G.  Weicker)  die  Zuthaten 
des  Mutwillens  von  dem  eigentlichen  Bilde  abschied  und  dieses 
in  seiner  ursprünglichen  Beinheit  wiederherstellte,  so  dnss  jezt 
keine  Kluft  mehr  ist  zwischen  der  Weise  ihres  Lebiens  und  der 
ihres  Dichtens. 

Sappho  macht  nach  den  Ueberresten  ihrer  Gedichte  den 
Eindruck  reicher  und  .tiefer  Weiblichkeit.  Das  Weib  ist  seiner 
ganzen  Natur  nach  auf  das  enge,  aber  inhaltsreiche  Gebiet  des 
Privatlebens  angewiesen;  die  Beziehungen  von  Person  zu  Person 
sind  ihre  Welt,,  das  schmale,  aber  tiefe  und  reissende  Wasser 
der  persönlichen  Gefühle  ist  es  worauf  ihr  Nachen  sicher  und 
anmutig  dahinfährt,  das  weite  Meer  mit  seinen  Gefahren,  seinem 
Gewinne  und  seinem  Buhme  dem  schwerer  gezimmerten  Schiffe 
des  Mannes  überlassend.  So  findet  sich  auch  bei  Sappho  keine 
Spur  von  den  politischen  Leidenschaften  wovon  Alkaios'  Lieder 
getränkt  sind.  Ihre  Leidenschaft  ist  die  Liebe;  der  Frühling  des 
weiblichen  Herzens,  der  Gipfelpunkt  seines  Seins  und  Wesens  ist 
der  Mittelpunkt  ihrer  ganzen  Dichtung.  Sappho  ist  durchaus 
Dichterin  der  Liebe,  und  Alles  was  wir  gegen  einen  Mann  sagen 
müssten  der  mit  derselben  Ausschliesslichkeit  dieses  eine  Gebiet 
der  Empfindung  anbauen  würde  spricht  für  die  volle  Berechtigung 
des  Weibes  zur  Wahl  gerade  dieses  Stoffes.  Aber  sie  ist  ein  hel- 
lenisches und  insbesondere  ein  lesbisches  Weib,  und  nicht  nur 
Zartheit  und  Wärme  dürfen  wir  daher  bei  ihr  suchen,  sondern 
auch  Glut  und  Leidenschaft.  Die  Eigenschaft  der  Zartheit  prägt 
sich  namentlich  darin  aus  dass  Sappho  für  das  stille  Weben  der 
leblosen  Natur,  besonders  der  Pflanzenwelt,  ein  Verständniss  und 


Melik.   Sappho.  63 

ein  Mitgefühl  hat  wie  es  sich  in  dieser  Innigkeit  innerhalb  des 
ganzen  Alterthums  nicht  wieder  findet  Aber  von  Sentimentali- 
tät, von  Hineinlegen  unendlicher  Gefühle  in  die  harmlose  Natur, 
oder  von  zerfliessendem  Schmachten  ist  bei  ihr  keine  Spur,  auf 
diesem  Gebiete  so  wenig  als  in  der  Liebe.  Vielmehr  gibt  sie 
mit  treuherziger  Offenheit  dem  ganzen  Ungestüm  ihres  heissen 
Herzens  Worte,  so  dass  man  schon  im  Alterthum  gesagt  hat, 
ihre  Lieder  steigen  wie  Flammen  aus  der  Glut  ihres  Herzens 
empor.  So  schildert  sie  den  überwältigenden  Eindruck  welchen 
der  Anblick  der  Schönheit  auf  sie  macht  mit  folgenden  Worten: 

Mir  bewegt  diess  vrogend  das  Herz  im  Busen; 
Denn  erscheinst  vor  Augen  mir  du,  so  stockt  gleich 

Jeglicher  Laut  mir. 
Ja  gelähmt  erstarret  die  Zung'  und  leises 
Feuer  rinnt  dann  über  die  Haut  mir  plötzlich; 
Nacht  umhüllet  mir  das  Gesicht,  und  gellend 

Klingen  die  Ohren; 
Kalter  Schweiss  entträufelt  der  Stirn,  und  Zittern 
Fasst  mich  ganz,  und  falber  denn  Qras  erblass*  ich, 
Und  nur  wenig  ferne  der  Nacht  des  Todes 

Schein'  ich,  Geliebter.») 

In  einem  andern  Gedichte  betet  sie,  von  unglücklicher  Liebe 
gequält ,  zu  Aphrodite  um  Hülfe ,  wie  einst ,  wo  sie  auf  ihr  Gebet 
erschienen  sei: 

Fragtest  lächelnd  dann  mit  dem  Himmelsantlitz, 
Was  geschehn  mir  wäre,  warum  ich  flehend 

Her  dich  beriefe? 
Was  ich  meinem  feuerberauschten  Herzen 
Allermeist  ersehnete?    „Wen  nur  wieder 
Soll  ich  herzumstrickend  dir  fahn?    O  wer  denn 

Kränkt  dich,  o  Sappho?'' 
„Flieht  er  dich,  bald  soll  er  von  selber^ folgen ; 
Schlägt  er  Gaben  aus,  —  o  er  soll  sie  geben; 
Liebt  er  nicht,  —  bald  soll  er  dich  lieben,  ob  auch 

Du  es  verschmähtest/' 
Komm*  zu  mir  auch  jezt  und  erlös*  aus  bangen 
Sorgen  mich,  und  welche  Gewährung  immer 
Mir  das  Herz  verlanget,  gewähr*,  und  selber 

Leihe  mir  Beistand!*) 

Die  Gewaltsamkeit  ihrer  Gefühle  bezeichnet  sie  selbst  am  besten, 
wenn  sie  einmal  sagt: 


^■)  Nach  F.  W.  Richter*s  Uebersetzung. 


64  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Eros  qnält  mich  von  Neuem  mit  Allgewalt, 
Mit  süsshitterem  Zanher,  der  Wüterich; 
Atthis,  aher  o  du  bist  im  Herzen  mir 
Fremd  und  kalt,  zu  Andromeda  flatterst  du. 

So  tritt  Sappho  als  Ideal  lesbischer  Weiblichkeit  würdig  ihrem 
ritterlichen  Landsmann  Alkaios  zur  Seite.  Allgemein  erkannte 
man  im  Alterthum  an  dass  sie  unerreicht  dastehe  unter  den  Frauen, 
und  Solon,  der  hochbetagt  einst  seinen  Neffen  ein  Lied  von  ihr 
vortragen  hörte,  bat  es  sich  aus,  weil  er  nicht  sterben  möchte 
ohne  es  gelernt  zu  haben. 

Neben  ihr  können  die  andern  Frauen  ans  dorischem  und 
dorisch  -  äolischem  Stamme  welche  als  Dichterinnen  genannt  werden 
kaum  in  Betracht  kommen.  Es  sind  Damophila  aus  Böotien, 
Erinna  von  Tenos,  die  Spartanerinnen  Kleitagora  und  Myia,  Telesllla 
aus  Argos,  Praxilla  aus  Sikyon,  die  Böoterinnen  Myrtis  und 
Korinna,  und  die  Lokrerinnen  Theano  und  Nossis.  Verhnltniss- 
mässig  am  bedeutendsten  scheinen  unter  diesen  gewesen  zu  sein 
Erinna,  die  aber  schon  in  ihrem  neunzehnten  Jahre  den  Tod 
fand,  und  Korinna,  welche  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Aus- 
bildung Pindars  gewesen  sein  und  in  dichterischen  Weltkämpfen 
mehrere  Haie  den  Sieg  über  ihn  davon  getragen  haben  soll. 
Von  ihrem  feinen  Urteile  zeugt  eine  Bemerkung  die  sie  in 
Bezug  auf  ein  etwas  überladenes  Lied  dieses  ihres  jüngeren 
Landsmannes  machte:  man  säe  mit  der  Hand  ivnd  nicht  mit  dem 
ganzen  Sacke. 

In  Athen  ist  nie  eine  Dichterin  erstanden,  wohl  aber  hat 
das  eigenste  und  vollendetste  Erzeugniss  des  attischen  Geistes, 
das  Drama  der  Athener,  der  Natur  der  Sache  nach  das  weib- 
liche Geschlecht  häufig  genug  in  seinen  Kreis  gezogen,  nach  allen 
Seiten  hin  dargestellt  und  zum  Theil  in  ganz  entgegengesezter 
Weise  aufgefasst  und  beurteilt. 

Schon  unter  den  drei  grossen  Tragikern  ist  in  dieser 
Beziehung  ein  bemerkenswerther  Unterschied. 

Aeschylos  sieht  vermöge  des  ganzen  grossartigen,  heroi- 
schen Zuschnitts  seiner  Poesie  in  dem  weiblichen  Geschlechte 
vorzugsweise  das  schwache  Geschlecht,  weichem  Schweigen,  Be- 
scheidenheit und  Zurückhaltung  gezieme."^)  Er  liebt  es  daher 
seinen   starken    männlichen    Charakteren   einen  weiblichen  Chor 


•)  Sieben  gegen  Theben  200  f.  230  ff. 


Erinna  u.  A.    Aeschylos.  65 

zur  Seite  zu  stellen,  hauptsächlich  um  das  Mannhafte  in  jenen 
um  so  wirksamer  hervortreten  zu  lassen.  So  in  den  Sieben 
gegen  Theben,  so  im  Prometheus.  Dort  stellt  die  Angst  des 
aus  thebanischen  Jungfrauen  bestehenden  Chors  die  Grösse  der 
Gefahr  in  der  belagerten  Stadt,  aber  zugleich  auch  den  uner- 
schütterlichen Heldensinn  des  Eteokles  in  desto  hellere  Beleuch- 
tung; hier  —  im  Prometheus  —  dient  die  schmiegsame  Nach- 
giebigkeit, furchtsame  Berechnung  und  oberflächliche  Denkweise 
der  Töchter  des  Okeanos,  welche  den  Chor  bilden,  dazu,  durch 
den  Gegensatz  die  geistige  Ueberlegenheit,  den  Stolz  und  die 
eherne  Unbeugsamkeit  des  Prometheus  zu  heben.  Indessen  nicht 
bloss  Scheu  vor  allem  schroffen  Auftreten  und  Neugierde  sind 
die  Eigenschaften  durch  welche  Aeschylos  im  Prometheus  den 
Chor  als  einen  weiblichen  zeichnet,  sondern  ebenso  die  Tugend 
der  Treue,  des  wandellosen  Ausharrens  auch  im  Unglück,  legt 
er  ihm  bei.  Auf  die  Ermahnung  des  Hermes,  den  Prometheus 
jezt  zu  verlassen,  damit  sie  nicht  mit  ihm  zu  leiden  haben,  ant- 
wortet der  Chor: 

Was  forderst  da  mich  zu  der  Schlechtheit  auf? 
Treu  theiP  ich  mit  ihm  sein  hartes  Geschick; 
Denn  ich  hasse  Verrath,  hah*  stets  ihn  gehasst, 

Und  es  gibt  kein  Qift 
Das  mehr  als  diess  ieh  verabscheut.*) 

Und  dass  auch  die  weibliche  Natur,  bei  aller  ihrer  durchschnitt- 
lichen Schwäche,  dennoch,  wenn  es  einer  gemütlichen  Pflicht 
oder  einer  Leidenschaft  gilt,  gleichfalls  einer  Steigerung  sogar 
ins  Heldenhafte  fähig  sei  ist  niemand  weniger  verborgen  geblieben 
als  dem  Aeschylos.  Ein  solcher  Charakter  ist  in  den  Sieben 
gegen  Theben  seine  Antigone.  Eben  war  sie  noch  ganz  auf- 
gelöst in  Schmerz  um  die  beiden  Brüder,  die  in  unseligem  Zwei- 
kampf gegenseitig  einander  erschlagen  haben;  als  aber  nun 
der  Befehl  verkündigt  wird  den  einen  von  beiden  als  Vater- 
landsverräther unbestattet  liegen  zu  lassen  und  so  noch  im 
Tode  zu  beschimpfen,  da  richtet  sie  sich  mitten  aus  dem 
tiefsten  Gram  heraus  stolz  empor  und  gibt  die  feste  Erklärung: 
wenn  niemand  ihn  bestattet,  so  werde  ich  es  thun  (v.  1026  ff.). 
Ist  es  bei  Antigone  ein  edler  Beweggrund  der  sie  über  die 
sonstigen  Schranken  ihres  Geschlechtes  hinaus  führt,  so  hat  der 


♦)  Prometheus  v.  1066  ff. 
Teuf  fei,  Studien. 


66  Die  Frauen  in  der  griecliiBchen  Poesie. 

Dichter  in  seiner  Klytämnestra  (im  Agamemnon)  ein  Weib 
gezeichnet  das,  durch  eine  unerlaubte  Leidenschaft  auf  die  Bahn 
des  Verbrechens  gestossen,  nun  auch  an  Gefährlichkeit,  an  un- 
versöhnlichem Grimm  und  Bösartigkeit  alle  Männer  weit  hinter 
sich  lässt.  In  Klytämnestra  vereinigt  sich  Falschheit  und  Grau- 
samkeit zu  einem  grauenhaften  Bunde.  Mit  gleissender  Freund- 
lichkeit lockt  sie  den  arglos  aus  dem  Kriege  heimkehrenden 
edlen  Gatten  ins  Verderben,  und  als  sie  ihn  gemordet,  mit 
eigener  Hand  gemordet,  beschreibt  sie  mit  schauerlicher  Offen- 
heit und  höllischem  Hohngelächter  ihre  verruchte  ThaU  Die 
Rollen  der  Geschlechter  sind  hier  gewechselt:  ihr  Buhle  Aigisthos 
ist  in  diesem  Stucke  das  Weib,  Klytämnestra  die  eigentliche  Hel- 
din, überlegen  an  Geist,  und  auch  vor  dem  Fürchterlichsten 
nicht  zurückbebend.  Auch  als  der  Tag  der  Vergeltung  gekommen, 
ist  sie  es  welche  keinen  Augenblick  die  Gegenwart  des  Geistes 
verliert  und  sich,  wiewohl  vergebens,  zu  thätlichem  Widerstände 
anschickt  Trotz  dem  dass  die  Verhältnisse  ihres  Bildes  über 
das  Menschliche  hinaus  gehen,  sind  doch  die  einzelnen  Züge  mit 
wahrer  Feinheit  gezeichnet,  und  auch  jene  Uebertreibung  in  den 
Dimensionen  ist  wohl  von  der  künstlerischen  Absicht  geleitet  dem 
Acte  der  Rache,  den  der  eigene  Sohn  an  diesem  furchtbaren  Wesen 
vollzieht,  von  seiner  Grassheit  zu  benehmen.  Ausserdem  ist  bei 
den  alten  Dramatikern  in  der  Zeichnung  weiblicher  Charaktere 
eine  gewisse  Härte  und  Herbigkeit  die  natürliche  Folge  davon 
dass  es  nicht  nur  Männer  waren  welche  dieselben  schilderten, 
und  Männer  diejenigen  für  weiche  sie  geschildert  wurden,  sondern 
Männer  auch  die  welche  auf  der  Bühne  sie  darstellten. 

Jene  Herbigkeit  findet  sich  bis  auf  einen  gewissen.  Grad  sogar 
noch  bei  Sophokles,  obwohl  dieser  mehr  als  irgend  ein  anderer 
griechischer  Dichter  das  weibliche  Wesen  zu  würdigen  und  zu 
schildern  verstanden  hat.  Der  glänzendste  Beweis  davon  ist  das 
Schwesterpaar  Antigone  und  Ismene  (in  der  Tragödie  Antigene). 
Antigene  ist  das  Heldenweib,  das  mit  männlicher  Entschlossen- 
heit die  Gemütswärme  und  hingebende  Begeisterung  des  Weibes 
ps^rt,  vermöge  der  sie  .für  das  worein  sie  ihr  Gemüt  gelegt 
mit  l'Yeuden  das  höchste  Opfer  bringt,  aber  zugleich  auch  so 
einseilig  ist  dass  sie  alles  was  nicht  ihre  Begeisterung  theilt  oder 
gar  ihr  in  den  Weg  tritt  verachtet  und  hassl;  daher  ihr  heraus- 
fordernder Trotz  gegen  Kreon,  ihre  wehthuende  Härte  gegen 
Ismene.     Stellt  Antigone  die  energische    Seite  des  Gemüts  dar 


Aeschylos.    Sophokles.  67 

die  zündende,  so  dagegen  Ismen e  die  erwärmende,  elegische. 
Sie  achtet  das  Mögliche  und  Erlaubte  als  die  Schranke  ihres 
Wollens  und  Thuns,  innerhalb  welcher  sie  den  ganzen  Reich- 
thum  |ihres  tiefen  Gemüts  entfaltet;  sanft  und  schüchtern  bebt 
sie  zurück  vor  der  vermessenen  That,  und  selbst  die  kränkende 
Härte  der  Antigone  vermag  sie  weder  über  die  Grenze  der 
Weiblichkeit  hinüber  zu  locken,  noch  irre  zu  machen  in  ihrer 
Liebe  und  Verehrung  für  die  Schwester.  Ganz  Sanftmut  und 
Milde  vor  der  entscheidenden  That,  wird  sie  durch  die  Gefahr 
der  Antigone  aufgeschreckt;  nicht  mit  entflammt,  so  lange  es 
einer  Idee  galt,  findet  sie  jezt,  wo  ein  theures  Leben  bedroht 
ist,  auch  in  sich  Heldenmut;  kühn,  aber  nicht  trotzig,  tritt  auch 
sie  jezt  vor  Kreon  und  will  von  ihm  den  Tod  als  Mitschuldige; 
denn  In  den  echt  weiblichen  Leistungen  des  Duldens,  der  Auf- 
opferung und  Hingebung,  darin  ist  auch  sie  Heldin;  und  von  der 
Schwester  abermals  —  jezt  durch  schnöde  Zurückweisung  — 
schmerzlich  verwundet,  -sezt  sie  nichts  destoweniger  alles  in  Be- 
wegung was  sie  als  Weib  für  Antigone  thun  kann,  das  Mittel 
der  Ueberredung  und  Fürbitte.  Ismene  ist  eine  Gestalt  die  unsere 
Liebe  noch  viel  ungetheilter  in  Anspruch  nimmt  als  Antigone 
unsere  Bewunderung;  sie  ist  überhaupt  die  vollendetste,  reinste 
Darstellung  echter  Weiblichkeit  die  wir  aus  dem  Alterthum  besitzen. 
Dieses  Geschwisterpaar  scheint  auch  eine  Lieblingsschöpfung  des 
Dichters  selbst  gewesen  zu  sein;  denn  nicht  nur  kehren  sie  im 
Oedipus  auf  Kolonos  wieder  —  wiewohl  dort  einfach  als  treue 
Töchter  ihres  unglücklichen  blinden  Vaters  —  sondern  der  Dich- 
ter hat  auch  In  der  Elektra  den  Versuch  gemacht  denselben 
Gegensatz  noch  einmal,  aber  jetzt  von  einer  andern  Seite  her, 
darzustellen ,  freilich  ohne  die  Vollkommenheit  des  ersten  Wurfes 
wieder  zu  erreichen. 

Auch  Elektra  ist  die  Heldenjungfrau,  welche  durch  das 
sie  beseelende  Pathos  sich  über  die  Grenzen  ihres  Alters  und 
ihres  Geschlechts  hinaus  treiben  lässt;  aber  dieses  Palhos  ist  nicht, 
wie  bei  Antigone,  das  edle  und  weibliche  der  Bruderliebe,  son- 
dern es  ist  das  wilde,  grausige  der  Rache.  Und  indem  nun  hier 
diesem  blutdürstigen  Drange  dieselbe  Glut  und  dieselbe  Unwider- 
stehlichkeit beigelegt  wird  wie  dort  dem  Drange  der  Liebe,  so 
wird  Elektra  statt  zu  einer  grossartigen,  vielmehr  zu  einer 
schauerlichen  Erscheinung,  von  der  sich  unser  Blick  mit  Ent« 
setzen  abkehrt.     Andererseits  ist  der  Charakter  ihrer  Schwester 

5* 


68  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Chrysothemis  weit  entfernt  von  der  Zartheit  die  uns  an  der 
Zeichnung  der  Ismene  so  wohlthuend  ist.  Was  bei  Ismene  Tact 
und  Gefühl,  das  ist  bei  Chrysothemis  verständige  Reflexion;  sie 
unterwirft  sich  ohne  Widerstand  dem  Stärkeren,  nicht  aus  in- 
stinktiver Schwäclie  und  Schüchternheit,  sondern  aus  Grundsatz 
und.  ruhiger  Ueberlegung,  aus  Einsicht  in  die  obwaltenden  Um- 
stände. In  dieser  selbstbewussten  Nüchternheit  des  Verstandes 
spöttelt  sie  über  die  Schwester,  als  eine  Närrin,  und  lässt  sich  von 
ihr  weder  erbittern  noch  begeistern  ^  immer  bleibt  sie  ruhig, 
kalt  und  bedächtig. 

Von  untergeordneten  weiblichen  Charakteren  ist  zu  nennen 
Tekmessa  im  Aias,  die  mysische  Königstochter,  von  Aias  zur 
Sklavin  und  Gattin  gemacht ,  voll  rührender  Liebe  und  Anhänglich- 
keit für  ihren  Herrn  und  inniger  Mutterliebe;  aus  den  Trachi- 
nerinnen  Deianeira ,  die  gutmütige,  aber  beschränkte  Gattin 
des  Herakles;  aus  dem  König  Oedipus  die  leichtsinnige  und  herz- 
lose Gattin  des  Haupthelden,  lokaste;  endlich  aus  der  Eiektra 
die  sophistische  Verbrecherin  Klytämnestra.  Ueberhaupt  ist  unter 
den  auf  uns  gekommenen  sieben  Stücken  des  Sophokles  der  Philok- 
tet  das  einzige  welches  keinen  Frauencharakter  enthält;  in  allen 
andern  finden  sich  deren  sogar  jedesmal  mehrere.  Diese  Vorliebe, 
wie  die  Meisterschaft  in  der  Zeichnung  dieser  Charaktere ,  welche 
Sophokles  mit  Goethe  gemein  hat,  erklärt  sich  daraus  dass  er 
selbst,  wie  der  deutsche  Dichter,  ein  weiblich  weicher,  receptiver 
Charakter  war,  von  Natur  und  Schicksal  um  die  Wette  mit  ihren 
Gaben  beschenkt  und  daher  auch  mehr  als  Andere  in  der  Lage 
sich  Kenntniss  des  weiblichen  Herzens  zu  verschafTen. 

In  diesen  Beziehungen  allen  ist  das  Gegentheil  von  Sophokles 
sein  jüngerer  Nebenbuhler  Euripides."^)  Zwar  fehlte  es  auch 
ihm  keineswegs  an  genauer  Kenntniss  und  tiefem  Verständniss 
des  weiblichen  Wesens;  wie  überhaupt  seine  Stärke  besonders 
in  der  Zergliederung  und  Darstellung  von  Vorgängen  in  der 
menschlichen  Seele  besteht,  namentlich  in  der  Zeichnung  von 
Leidenschaften ;  so  hat  er  diese  Fertigkeit  besonders  auch  in 
seinen  Frauencharakteren  bewährt.  Seine  Phädra,  seine  Medea 
sind  Meisterstücke  in  der  Seelenmalerei,  und  wo  es  darauf  ankam 
eine   hingebende   treue  Gattin   zu   schildern,    wie  Alkestis   und 


*)  Vergl.  über  diesen  die   Zasammenstellungen  von  Lasaulx  a.  a. 
O.  I.  S.  62—60. 


Sophokles.    Euripides.  69 

Andromache,  oder  eine  edie,  reine  und  doch  dabei  starke  Jung- 
frau, wie  Iphigenia,  Polyxena  und  Makaria,  da  hat  der  Dichter 
die  ganze  Kunst  seines  Pinsels  aufgeboten  und  wirklich  auch 
vollendete  Bilder  geliefert,  auf  welche  näher  einzugehen  ich  mich 
aber  darum  enthalte  weil  sich  in  Bezug  auf  die  euripideischen 
Stücke  nicht  in  demselben  Masse  wie  bei  den  sophokleischen 
genauere  Bekanntschaft  auch  in  weiteren  Kreisen  voraussetzen 
lasst.  Indessen  was  den  Euripides  bei  seinen  weiblichen  Charakteren 
leitet  ist  nur  ein  allgemeines  psychologisches  Interesse;  dass  er 
sie  mit  wirklicher  Liebe  studiert  und  entworfen  hätte  tritt  nirgends 
hervor ,  wohl  aber  finden  sich  Anzeichen  genug  dass  der  Dichter 
gegen  das  Geschlecht  im  Ganzen  mit  Vorurteilen  und  übler  Laune 
erfüllt  ist.  Euripides  war  im  Alterthum  berühmt  als  Weiberfeind; 
eine  eigene  Komödie  des  Aristophanes  behandelt  diesen  Gegen- 
stand. Hier  beschliessen  die  Weiber  in  einer  Versammlung  an 
dem  Dichter  Rache  zu  nehmen  für  die  fortwährenden  Anschwär- 
zungen  ihres  Geschlechts: 

Verlästert  er  uns  nicht  so  oft  zusammen 

Sich  finden  Chor,  Schauspieler  und  Zuschauer, 

Nennji  schwazhaft  uns,  und  falsch,  worthrüchig,  treulos, 

Verdorben  durch  und  durch,  die  Pein  der  Männer? 

Und  die  Tragödien  des  Euripides  zeigen  in  genügendem  Masse 
dass  es  dieser  Anklage  an  Grund  nicht  fehlte.  So  lasst  er  einmal 
Hedea  sagen  (v.  412): 

Wir  Weiber  sind  von  Natur  zum  Guten  ungeschickt. 
In  allem  Schlimmen  aber  ganz  erfinderisch; 

anderswo  (Phon.  198): 

Die  Weiber  sind  von  Natur  ein  tadelsüchtig  Ding; 

oder  (Sthenob.  6): 

In  Nichts  wird  einem  Weibe  traun  wer  weise  ist. 

Der  berühmteste  Erguss  seines  Weiberhasses  aber  ist  im  Hippolytos, 
wo  er  den  Titelhelden  die  Worte  herauspoltern  lasst  (v.  611  if.): 

O  Zeus,  was  hast  du  dieses  hinterlistige  Leid, 

Das  Fraungeschlecht,  zur  Welt  gesandt  ans  Sonnenlicht? 

Denn  wenn  du  erhalten  wolltest  der  Sterblichen  Geschlecht, 

Nicht  durch  die  Weiber  musstest  du  bewirken  diess. 

In  deine  Tempel  sollten  dir  die  Sterblichen 

Erz  oder  Eisen  weihen  oder  schweres  Gold, 

Und  dafür  Kinder  kaufen,  jeder  nach  dem  Werth 

Bestimmter  Schätzung,  aber  in  den  Wohnungen 


70  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Vom  Frauenvolke  ledig,  unbehelligt  sein. 
So  aber  wird  schon  wenn  man  diese  Plage  sich 
Heimführen  will  des  Hauses  Wohlstand  schwer  verlezt. 
Und  dass  das  Weib  ein  grosses  Uebel,  zeiget  diess: 
Der  Vater,  der  sie  zengV  und  auferzog,  er  gibt 
Ihr  eine  Mitgift  noch,  um  ihrer  los  zu  sein. 
Der  aber  freut  sich  der  das  Unkraut  nimmt  und  legt 
Dem  schlimmen  Wesen  schöne  Kleider  an  und  puzt, 
Bildsäulen  gleich,  es  durch  Geschmeide  stolz  heraus, 
Der  Armg,  der  des  Hauses  Wohlstand  untergräbt! 
Dann  muss  er  drein  sich  fügen,  braver  Schwägerschaft 
Zu  Lieb  die  Pein  im  Haus  zu  lassen,  oder  auch 
Des  braven  Weibes  wegen  schlimme  Vetterschaft 
Zu  tragen,  seinen  Schmerz  dadurch  bewältigend. 
Am  besten  fährt  noch  wem  ein  ganz  einfältig  Ding 
Von  einem  Weib,  ein  blosses  Nichts,  im  Zimmer  sizt. 
Gescheidte  hass  ich;  weile  nie  in  meinem  Haus 
Ein  Weib  das  klüger  wär^  als  Frauen  ziemlich  ist! 
Weit  mehr  erzeugt  die  Leidenschaft  in  klugen  Fraun 
Nichtswürdigkeit;  dagegen  eine  Alberne 
Beschüzt  vor  Thorheit  eben  ihr  beschränkter  Sinn. 

Bei  dieser  Tirade  muss  man  zwar  io  Abzug  bringen  dass  nach 
dem  Plane  des  Stacks  Hippolytos  einseitig  ungerecht  und  ver- 
letzend sein  muss,  damit  Phädra  ein  gewisses  Recht  erhalte  ihre 
Liebe  zu  ihm  in  Hass  und  Rachgier  zu  verwandeln;  nichtsdesto- 
weniger zeigt  die  ganze  Art  und  der  Umfang  dieser  Ausführung, 
so  wie  die  Vergleichung  mit  vielen  andern  gelegentlichen  Aeus- 
serungen  in  demselben  Sinne,  dass  der  Dichter  diesen  Gegenstand 
wirklich  con  amore  behandelt  hat.  Diese  Erscheinung  erklärt  sich 
uns  zunächst  aus  einer  Verstimmung  gegen  das  ganze  Geschlecht, 
herbeigeführt  durch  unangenehme  persönliche  Erfahrungen.  Euri- 
pides  war  ein  Bücherwurm  und  ernsten,  verschlossenen  Wesens, 
daher  für  eine  oberflächliche  Frau ,  wie  sie  damals  in  Athen  alle 
waren,  wenig  anziehend,  und  in  Folge  dessen  in  der  Ehe  unglück- 
lich. Von  seiner  ersten  Frau  trennte  er  sich  wegen  ihrer  Untreue, 
und  als  er  sich  dann  wieder  verheiratete  gieng  es  ihm  nicht  viel 
besser.  Dieses  Geschick  aber  lässt  des  Dichters  Abneigung  gegen 
das  ganze  weibliche  Geschlecht  nicht  nur  als  individuell  ver- 
zeihlich erscheinen,  sondern  es  zeigt  auch  deren  theilweise  Be- 
rechtigung: die  Frauen  des  damaligen  Athen  lieferten  ihren  Ver- 
ächtern selber  den  Stoff  zu  ihrer  Anklage.  Dabei  aber  fiel  freilich 
der  grösste  Theil  der  Schuld  auf  das  Geschlecht  der  Männer. 
Von  Kindheit  an  zurückgesetzt,  in  ihrer  Erziehung  verwahrlost, 


Euripides    Aristophanes.  71 

vom  Manne  nicht  viel  höher  geachtet  als  eine  Sklavin,  woher 
hätten  sie  den  innern  Halt  haben  sollen  um  dem  sie  umwogenden 
Zerfall  der  Sittlichkeit  NViderstand  zu  leisten?  Ihre  Fehler  und 
Sünden  sind  nur  ein  Symptom  der  allgemeinen  Verderbniss,  welche 
nicht  durch  sie,  die  willenlosen,  unterdrückten,  herbeigeführt 
war,  sondern  ausschliesslich  durch  die  Männer«  und  erst  von 
diesen  aus  auch  auf  sie  übergieng.  Alle  Vorwürfe  welche  die 
Männer  dieser  Zeit  ihnen  machen  fallen  daher  in  ihrem  letzten 
Grunde  auf  diese  selbst  zurück ,  zwar  nicht  immer  auf  den  Ein- 
zelnen, aber  doch  auf  sein  Geschlecht,  und  nicht  auf  die  lebende 
Generation  allein,  sondern  auch  auf  die  vorausgegangenen. 

Durch  diese  Erwägung  haben  wir  einen  Standpunkt  gewonnen 
auf  welchem  die  Schmähungen  mit  welchen  insbesondere  die 
Dichter  der  attischen  Komödie  das  weibliche  Geschlecht  über- 
schütteten für  uns  ihren  Stachel  verloren  haben  und  uns  zu 
Zeugnissen  geworden  sind  von  der  sittlichen  Versunkenheit  der 
ganzen  Zeit,  zu  Beweisen  dass  die  Männer  noch  sittenloser 
waren.  Indessen  wird  der  Leser  nach  näheren  Mittheilungen  über 
diese  Schmähungen  nicht  verlangen  wenn  ich  sage  dass  einen 
der  Anklagepunkte  —  und  noch  nicht  einmal  den  allerschlimmsten 
—  die  Trunkliebe  der  Frauen  ausmacht.  Nur  Zweierlei  will  ich 
hervorheben.  Einmal  dass  es  auch  bei  diesen  Dichtern  weder  an 
Vertheidigungen  der  Frauen  fehlt,  noch  an  der  Anerkennung  der 
Thatsache  dass  diese  immer  noch  entschieden  besser  sind  als 
die  Männer  dieser  Zeit.  So  lässt  Aristophanes  eine  Frau  sprechen:*) 

Zwar    schimpfen    sie    all    auf   das    FraueDgeschlecht   und    setzen    es 

schmählich  herunter. 
Wir  seien,  so  lügt  man,  der  Fluch  der  Welt,   und  der  Urquell  alles 

Verderbens; 
Wir  gebären  nur  Hass ,  Zank ,  Kummer  und  Noth  und  Empörung  und 

Krieg.  —  Nun,  wohlan  denn: 
Wenn  ein  Fluch  wir  sind,  warum  freit  ihr  uns  denn?  warum,   wenn 

wir  wirklich  ein  Fluch  sind? 
Was  verbietet   ihr  uns   auf  die   Strasse  zu   gehn,   ja  nur   aus  dem 

Fenster  zu  gucken? 
Was  bemüht  ihr  euch  denn  mit  so  ängstlichem  Fleiss  zu  hüten  den 

Fluch  und  zu  halten? 
Kaum  gucken  einmal  wir  zum  Fenster  heraus,  will  Jeder  den  Fluch 

sich  betrachten, 
Und  zieht  man  verschämt  sich  ein  bischen  zurück,  da  gafifen  sie  nur 

noch  verrückter, 

*)  Tbesm.  800  flf.  nach  L.  Seeger's  Uebersetzung. 


72  Die  Frauen  in  der  griechischen  Poesie. 

Ob  der  Fluch  nicht  wieder  am  Fenster  erscheint!  —  Und  was  sehn 

wir  aus  Allem?  —  Wir  seien 

Viel  besser  denn  ihr!     Und  wir  können's  sogleich  euch  unter  die  Nase 

beweisen. 

Was  denn  dadurch  bewerkstelligt  wird  dass  eine  Reihe  von 
lebenden  Personen  beiderlei  Geschlechts  einander  gegenüber- 
gestellt und  mit  einander  verglichen  wird.  —  In  einem  andern 
Stücke  lässt  der  Dichter ,  weil  die  Männer  durch  ihre  Thorheiten 
den  Staat  in  Krieg  und  Verderben  gestürzt  haben,  und  mit  allen 
ihren  Versuchen  herauszugelangen  sich  nur  immer  tiefer  darein 
verwickein ,  nun  endlich  die  Frauen  die  Sache  zur  Hand  nehmen : 

Wir  ertrugen  es  stets  in  der  vorigen  Zeit  und  im  Jammer  des  Krieges 

geduldig, 
Sittsamer  Natur,  wie  wir  Frauen  nun  sind,  wie  immer  ihr  Männer  es 

triebet. 
Nicht  durften  wir  mucksen,  so  hieltet  ihr  uns!     Und  gewiss   nicht 

wart  ihr  zu  loben. 
Wir  bemerkten  es  wohl  und  besorgten  Gefahr,  und  da  kam  denn, 

wenn  wir  zu  Hause 
Still  Sassen,  zu  Ohren  uns  oft  wie  verkehrt  ihr  die  wichtigsten  Dinge 

behandelt. 
Da  fragten  wir  wohl  euch,  im  Herzen  betrübt  tief  innen,  doch  lächehi- 

den  Mundes: 
Was  habt  ihr  im  Rathe  des  Volks  heut  früh  nun  wegen  des  Friedens 

beschlossen? 
„Was  kümmert  das  dich?    Ich  rathe  dir,  schweig!**  gab  brummend 

der  Mann  mir  zur  Antwort. 
Nicht  lange  y  so  hörten  wir  wieder,  ihr  habt  noch  verkehrtere  Dinge 

beschlossen. 
Und  so  fragten  wir  wieder:    Nein,   sage  mir.  Mann,  was  macht  ihr 

für  dumme  Beschlüsse? 
Da  sah  er  mich  an  von  der  Seit*  und   begann:    „Wenn  du  nicht 

bleibst  ruhig  beim  Webstuhl, 
Dann  setz*  ich  zurecht  dir  den  störrigen  Kopf;  denn  der  Krieg  ist 

Sache  der  Männer!** 

Doch  trifift  er  uns  Fraun  nicht  weit  mehr   noch?     Sind  wir    nicht 

Mütter  der  Krieger? 
Und  während  wir  sollten  des  Lebens  uns  freun  und  die  Tage   der 

Jugend  gemessen, 
Da  werden  zu  Wittwen  vom  Krieg  wir  gemacht.    Und  wären  nur  wir 

so  verlassen! 
Doch  die  Jungfern  zu  sehn  die  im  Kämmerlein  still  hinaltern,  das 

schmerzt  mich  noch  bittrer. 
Wenn  der  Mann  auch  kommt  als  Graukopf  heim,  —  er  erkiest  sich 

ein  blühendes  Mädchen; 


Alte  und  neue  attische  Komödie.  73 

Doch  des  Weibes  Loos  ist  ein  flüchtiger  Lenz,  und  verpasst  sie  die 

Tage  der  Blüte, 

Kein  Mann  mehr  will  sie  zur  Ehe;  sie  sizt  und  legt  sich  auf  Träum' 

und  Orakel.*) 

Das  Zweite  worauf  ich  in  Bezug  auf  die  attische  Komödie 
aurmerksam  machen  wollte  ist  dass  auch  auf  diesem  Gebiete /wie 
auf  dem  der  Lyrik  ^  die  Bedeutung  der  Frauen  für  die  Literatur 
in  umgekehrtem  Verhäitniss  zu  der  des  öffentlichen  bebens  zu- 
nimmt. Wie  das  Liebesgedicht  eine  Sumpfpflanze  ist  und  nur  da 
zu  üppigem  Wüchse  gedeiht  wo  das  geistige  Leben  erstorben 
ist,  in  einer  verkommenen,  mattherzigen  Zeit,  welche  die  Energie 
des  WoUens  und  die  Fähigkeit  des  Handelns  eingebüsst  hat,  so 
nehmen  umgekehrt  auch  die  Anfeindungen  des  weiblichen  Ge- 
schlechts in  dem  Masse  an  Häufigkeit  und  Bitterkeit  zu  als  das 
öfl'entliche  Leben  aufhört  für  den  Dichter  ein  Gegenstand  der 
freien  Besprechung  und  Kritik  zu  sein.  Diess  lässt  sich  schon 
innerhalb  der  Dichterlaufbahn  des  Aristophanes  verfolgen.  Während 
er  in  einem  seiner  früheren  Stücke  sich  noch  zum  Ruhme  an- 
rechnet dass  er  Weiber  nicht  zur  Zielscheibe  seiner  Komödie 
mache  (Frieden  751),  fmden  wir  in  seinen  späteren  Stücken 
diesen  Stoff  in  grösster  Ausdehnung  ausgebeutet,  ja  er  bildet  all- 
mählich neben  der  Literatur  den  Hauptgegenstand  derselben.  Und 
je  trüber  sich  fortwährend  die  politischen  Verhältnisse  von  Hellas 
gestalteten,  desto  ausschliesslicher  zog  sich  die  Komödie  auf  das 
Privatleben  zurück,  bis  dieser  Kreis  in  der  sogenannten  neuen 
attischen  Komödie,  der  Mutter  unseres  bürgerlichen  Schauspiels, 
mit  Bewusstsein  zur  eigentlichen  und  einzigen  Aufgabe  für  den 
komischen  Dichter  gewählt  wurde. 

Liebesintriken  treten  nun  hier  in  den  Vordergrund,  abef 
in  einer  sehr  eigenthümlichen  Gestalt.  Im  Zusammenhang  mit 
Verhältnissen  die  zu  den  tiefsten  Schäden  des  hellenischen  Lebens 
gehören,  standen  einander  namentlich  in  Athen  zwei  Klassen  von 
Frauen  gegenüber:  die  sittsamen,  aber  wenig  gebildeten  und  fast 
in  orientalischer  Abgeschlossenheit  gehaltenen  freigeborenen  Töchter 
und  Frauen,  und  andererseits  die  in  allen  Künsten  unterrichteten, 
oft  geistreichen ,  gewöhnlich  reizenden ,  immer  aber  leichtfertigen 
freigelassenen  Mädchen.  Dass  man  nur  die  zweite  Klasse  lieben 
und  nur  die  erste  heiraten  könne  wurde  nun  ein  so  fest  stehen- 
der Satz  dass  auf  ihm  der   grösste  Theil  der  Verwicklungen  in 

^)  Lysistr.  486  ff.  565  ff.  nach  L.  Seeger^s  Uehersetzung. 


74  Die  Frauen  in  d^r  griechischen  Poesie. 

jener  neuen  attischen  Komödie  beruhte.  Liebe  und  Ehe  stehen 
hier  ganz  regelmassig  im  Verhältniss  des  Gegensatzes:  die  Liebe 
ist  hier  eine  Schwäche,  eine  Leidenschall,  wie  jede  andere,  und 
ihre  Ueberwindung  Pflicht  und  Gewinn,  die  Ehe  dagegen  ein 
Vertrag  bei  dem  man,  wie  bei  jedem  andern,  möglichst  auf  seinen 
Vortheil  denken  muss.  Bei  dieser  Sachlage  und  bei  der  ganzen 
Blasiertheit  dieser  Zeit  kann  es  uns  nicht  verwundern  dass  in  der- 
selben  Aeusserungen  der  Geringschätzung  und  Abneigung  gegen 
das  weibliche  Geschieht  ganz  stehend  sind;  zugleich  aber  werden 
wir  darin  nur  eine  Bestätigung  des  Satzes  finden,  den  wir  über- 
haupt als  das  Schlussergebniss  dieser  Darlegung  betrachten  dürfen, 
des  Satzes,  dass  der  Grad  der  Achtung  in  welcher  die  Frauen 
stehen  zwar  nicht  immer  bei  den  Einzelnen  —  denn  hier  wirken 
mancherlei  Zufälligkeiten  mit  —  aber  doch  im  Ganzen  einer 
Zeit  den  Hassstab  ihrer  Sittlichkeit  bildet.  Und  diess  einmal  sofern 
die  Achtung  vor  ihnen  auf  ihrer  eigenen  Achtbarkeit  beruht; 
denn  vermöge  ihrer  grösseren  Bestimmbarkeit  durch  die  öffentliche 
Meinung  sind  die  Frauen  ein  treuerer  Spiegel  dessen  was  in 
einer  Zeit  als  erlaubt  gilt,  und  durch  ihre  feinere  Besaitung  über- 
haupt den  Einwirkungen  des  in  der  Luft  liegenden  Geistes  mehr 
ausgesetzt  als  der  Mann,  der  sich  aus  sich  selbst  heraus  be- 
stimmt, und  nöthigenfalls  auch  im  Gegensatze  und  Kampfe  mit 
seiner  Zeit  und  Umgebung.  Anderntheils  bemisst  sich  die  Sittlich- 
keit einer  Zeit  nach  dem  Verhältniss  der  beiden  Geschlechter 
auch  in  sofern  als  in  der  Frau  der  Mann  sich  selbst  achtet,  und 
dadurch  dass  er  das  Wesen  und  die  Bestimmung  der  Frau  6del 
auffasst  seine  eigene  Richtung  auf  das  Edele  bethätigt.  Schon 
.darum  bildet  das  Germanenthum ,  das  in  der  Anerkennung  der 
sittlichen  Gleichberechtigung  beider  Geschlechter  mit  dem  Christen- 
thum  zusammentraf,  gegenüber  vom  Hellenismus  einen  Fortschritt 
in  der  Weltgeschichte. 


III. 

Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik.*) 


Wenn  wir  es  unternehmen  antike  und  moderne  Lyrik  nach 
einigen  Seiten  hin  unter  einander  zu  vergleichen,  so  müssen  wir 
uns  vor  Allem  klar  machen  was  wir  unter  beiden  verstehen.  Bei 
der  modernen  Lyrik  macht  diess  wenig  Schwierigkeit,  weil  der 
Begriff  des  Modernen  so  eng  und  der  Begriff  der  Lyrik  so  weit 
ist.  Die  moderne  Literatur  überhaupt  ist  bekanntlich  von  ziem- 
lich jungem  Datum.  Noch  lange  über  die  Mitte  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  hinaus  sehen  wir  in  unserer  Literatur  ein  unsicheres 
Uerumtasten  nach  Formen  und  Stoffen.  Klopstock  war  der  Erste 
der  in  grösserem  Massstabe  das  Gebiet  der  personlichen  Gefühle, 
insbesondere  der  Liebe,  für  die  Poesie  zu  erobern  suchte,  und 
seine  Versuche  waren  noch  sehr  schüchtern  und  ungelenk.  Herz- 
hafter griff  Wieland  zu,  aber  er  vergriff  sich  auch.  Erst  mit 
Goethe  und  Schiller  beginnt  eigentlich  die  moderne  Literatur, 
nachdem  Lessing  ihnen  durch  Wegschaffung  des  alten  Wustes 
und  Klärung  der  Atmosphäre  energisch  vorgearbeitet  hatte.  Auf 
ihren  Schultern  erhoben  sich  die  Romantiker,  aus  den  Literaturen 
aller  Zeiten  und  Völker  neue  Ideen  und  neue  Formen  emsig  zu- 
sammentragend. Dann  weckte  die  Noth  des  Vaterlandes  in  be- 
geisterten Männern  patriotische  Lieder.  Seitdem  sind  die  Bahnen 
fest  vorgezeichnet  und  geebnet  auf  denen  die  Poesie  der  Gegen- 
wart dahinschreitet;  kaum  eine  Richtung  lässt  sich  einschlagen 
die  nicht  schon  ihre  Vorgänger  und  ihr  Vorbild  hätte,  und  man 
sieht  wie  es  oft  verzweifelte  Anstrengungen  kostet  um  neu  zu 
sein  oder  auch  nur  zu  scheinen.     So  eng  sie  aber  zeitlich  be- 

*)  Vortrag,  gehalten  im  Saale  des  Königsbaues  za  Stuttgart,  den 
10.  Biärz  1866,  abgedruckt  in  der  deutschen  Vierte Ijahrsschrift  1866, 
Nr.  CXV,  S.  269—281. 


76  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik, 

grenzt  ist,  die  moderne  Lyrik,  so  weit  ist  ihr  Umfang.  Wir 
heissen  heutzutage  Lyrik  alle  persönlich  gefärbte,  alle  subjective 
Poesie ,  und  diese  wird  in  der  neuern  Literatur  immer  mehr  die 
Universalgattung,  in  deren  weiten  Räumen  alle  Stoffe  und  alle 
Formen ,  ja  beinahe  auch  alle  andern  Gattungen ,  bequeme  Unter- 
kunft ßnden.     Die  moderneu  Lyriker 

Singen  von  allem  Süssen  was  Menschenbrust  durchbebt, 
Sie  singen  von  allem  Hohen  was  Menschenherz  erhebt; 

ihr  Stoff  ist  die  ganze  Welt,  Vergangenheit  und  Gegenwart,  die 
grossen  Vorgänge  der  Geschichte  wie  das  stille  Wehen  der  un- 
belebten Natur,  die  Freuden  und  Schmerzen  der  Menschenbrust 
und  das  Ringen  des  Menschengeistes  nach  Licht  und  Wahrheit. 
Und  die  Manchfaltigkeit  der  Formen  ist  fast  unabsehbar,  wenig- 
stens in  der  deutschen  Literatur;  denn  bei  dem  Reichthum  und 
der  Biegsamkeit  unserer  Sprache  gibt  es  kaum  eine  Form  aus 
irgend  welcher  Zeit  oder  irgend  welchem  Volke  welche  der  Nach- 
bildung unerreichbar  wäre.  Aber  auch  in  die  andern  Gattungen 
hinein  treibt  die  Lyrik  ihre  Wurzeln;  nicht  nur  dass  sie  dem 
Epos  seine  ansprechendsten  Stoffe  entnimmt,  um  sie  zu  Balladen 
und  Romanzen  zu  verwenden :  auch  mit  dem  Drama  wagt  sie  sich 
zu  messen;  oder  ist  nicht  Goethe's  Zauberlehrling  z.  B.  ein 
Drama  im  Kleinen?  Ganz  anders  verhält  es  sich  In  beiden  Be- 
ziehungen mit  der  antiken  Lyrik.  Wenn  die  Flüssigkeit  der 
modernen  Lyrik  fast  an  Verschwommenheit  streift,  so  hat  dagegen 
die  antike  nach  allen  Seiten  hin  feste  Grenzen,  zwar  nicht  so 
.starre  dass  sie  nicht  durch  geniale  Dichter  ausgeweitet  werden 
könnten,  aber  fest  genug  um  dem  einzelnen  Dichter  wie  einen 
sichern  Halt  zu  gewähren  so  andererseits  den  Gesichtskreis  ein 
wenig  einzuengen.  Schon  in  der  zeitlichen  Existenz  der  gesamm- 
ten  Lyrik  wie  ihrer  einzelnen  Arten  tritt  diese  feste  Begrenzung 
zu  Tage.  Es  ist  eine  Eigenthumlichkeit  der  hellenischen  Poesie 
—  und  an  diese  muss  vorzugsweise  gedacht  werden,  wenn  von 
antiker  Poesie  die  Rede  ist,  da  das  was  die  Römer  Originales 
geleistet  haben  wenig  ins  Gewicht  fällt  —  dass  ihre  Entwicklung 
mit  der  ganzen  Stetigkeit  und  Regelmässigkeit  eines  Naturgebil- 
des vor  sich  gent,  ein  Zweig  um  den  andern  hervortreibt  an 
dem  Baume  der  Literatur.  Von  den  grossen  Gattungen  tritt 
keine  eher  ins  Leben  als  bis  ihre  Vorgängerin  das  ihrige  voll- 
endet hat.     Erst  wie  das  Epos  am  Ende  seiner  Entwicklung  ange- 


Allgemeiner  Charakter.  77 

• 

kommen  ist  entsteht  die  Uebergangsform  der  Elegie;  die  eigent- 
liche Lyrik  (Melik)  taucht  erst  auf  wie  die  Elegie  in  allem  Wesent- 
lichen fertig  ist;  und  me  das  Drama  beginnt,  so  verzichtet  die 
Lyrik  auf  Portsetzung  ihres  eigenen  Daseins  und  lebt  nur  in 
Unterordnung  unter  die  neue  Gattung  fort,  als  das  Lied  des 
tragischen  oder  des  komischen  Chors.  Ebenso  sind  die  Haupt- 
arten der  Lyrik  nicht  nur  zeillich  sondern  sogar  räumlich  ge- 
schieden und  an  verschiedene  Stämme  verlheilt.  Die  kriegerisch 
organisierten,  in  compacten  aber  ivohlgegliederten  Massen  sich 
bewegenden  Dorier  entwickeln  aus  sich  das  Chorlied,  wo  der 
Beitrag  des  Einzelnen  untergeht  in  der  Leistung  des  Ganzen; 
dagegen  bei  den  Aeoliern  und  loniern,  wo  der  Einzelne  in  un- 
gehemmter Freiheit  sich  bewegt,  ersteht  die  individuelle  Lyrik. 
Durch  dieses  Sachverhältniss  ist  auch  dem  einzelnen  Dichter  im 
Voraus  der  Kreis  für  seine  Wirksamkeit  unabänderlich  gezogen, 
und  er  gewinnt  dadurch  Sicherheit  der  Bewegung  innerhalb  der 
genau  bekannten  Schranken,  Virtuosität  in  dem  Gebiete  das  er 
sich  zur  Lebensaufgabe  gewählt;  und  die  Technik  der  einzelnen 
Gattungen  erlangt  eine  Feinheit  und  Strenge  wie  sie  nur  unter 
solchen  Umständen  möglich  war.  In  Folge  dessen  nahm  die 
Dichtweise  des  Einzelnen  leicht  einen  typischen  Charakter  an,  die 
landschaftlich  Zusammengehörigen  zeigen  ein  gemeinsames  Gepräge, 
wie  Alkäos  und  Sappho,  Stesichoros  und  Ibykos,  Simonides  und 
Bakchylides;  ja  es  bildeten  sich  Dichterschulen,  wo  ein  Meister 
jüngere  Genossen  die  Kunst  des  Liedes  lehrte.  Denn  eine  Kunst 
war  im  Alterthum  das  Dichten,  und  der  Dichter  vor  Allem  ein 
Künstler,  der  zwar  einen  weniger  spröden  Stoff  bearbeitete  als  etwa 
der  Bildhauer,  aber  für  seine  Gebilde  der  künstlerischen  Be- 
sonnenheit und  Ausdauer  nicht  viel  weniger  bedurfte  als  dieser, 
und  der  auch  nicht  leicht  aus  den  Augen  verlor  dass  seine 
Schöpfungen  dazu  bestimmt  seien  von  Andern  gesungen  zu  werden 
und  ihnen  als  geistige  Nahrung  zu  dienen.  Dieses  wesentlich 
künstlerische  Verhalten  des  antiken  Dichters  hängt  selbst  wiederum 
mit  zwei  Thatsachen  zusammen.  Einmal  dass  jeder  Dichter  zu- 
gleich sein  eigener  Tonsetzer  war.  Die  Noth  dass  ein  Lied, 
wenn  es  der  Zufall  will,  sein  Leben  lang  ohne  die  zu  ihm  gehörige 
musikalische  Hälfte  bleibt,  und  dass  umgekehrt  von  Schaffensdrang 
erfüllte  Tonsetzer  vergeblich  nach  Texten  schmachten  worein  sie 
ihre  musikalischen  Ideen  niederlegen  könnten,  eine  Noth  von  der 
uns  Mendelssohn's.  Briefe    so   rührende    Beweise   liefern,    diese 


78  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik. 

kannte  das  Alterthnm  nicht.  Das  Lied  kam  mit  seiner  MeloiUe 
gleich  zur  Welt»  und  in  dem  antiken  BegrifTe  der  Musenkunst 
waren  diese  beiden  Seiten  ganz  unzertrennlich  beisammen.  Der 
andere  Umstand  ist  die  Wichtigkeit  welche  in  der  antiken  Poesie 
die  äussere  Form  hat.  Sie  ist  es  hauptsächlich  welche  die  ein- 
zelnen Gattungen  und  Arten  von  einander  scheidet,  welche  die 
eigentliche  Lyrik,  d.  h.  Melik,  abgrenzt,  nicht  nur  gegen  Epos 
und  Drama ,  sondern  ebenso  sehr  auch  gegen  die  Elegie  und  den 
lambos.  Die  Strenge  in  der  Reinhaltung  der  Form  gieng  so  weit 
dass  sie  sich  sogar  auf  scheinbar  Zufälliges  erstreckte,  wie  den 
Dialekt.  So  war  die  Elegie  ursprünglich  eine  Schöpfung  des 
ionischen  Stammes,  somit  von  Anfang  an  im  ionischen  Dialekt 
gehalten ;  wenn  daher  ein  Dichter  aus  anderem  Stamme  Elegieen 
verfasste,  so  that  er  es  im  ionischen  Dialekt.  Ebenso  ist  die 
Chorlyrik,  wie  gesagt,  auf  dem  Boden  des  dorischen  Stanunes 
entsprossen;  wenn  daher  der  attische  Dichter  in  seine  Dramen 
ein  Chorlied  einflocht,  so  vergass  er  niemals  es  mit  dorischen 
Formen  auszustatten.  Mag  hievon  auch  viel  auf  Rechnung  der 
Pietät  für  alles  Conventionelle  und  Traditionelle  zu  setzen  sein, 
so  liegt  jener  Auffassung  doch  hauptsächlich  die  Ansicht  zu  Grunde 
dass  die  Schöpfungen  des  dichtenden  Künstlers  Individuen  sind, 
die  man  nicht  beliebig  in  dieses  oder  jenes  Gewand  kleiden 
kann,  Organismen,  welche  zu  ihrem  Gedeihen  den  heimischen 
Boden  und  den  heimischen  Himmel  verlangen. 

Diese  Grundverschiedenheit  der  beiderseitigen  Ausgangspunkte 
und  Lebensbedingungen  legt  die  Gefahr  nahe  dass  wir  Ungleich- 
artiges vergleichen  und  in  Folge  dessen  unsere  Vergleichung  un- 
gerecht und  schief  wird.  Um  dieser  Gefahr  zu  entgehen,  müssen 
wir  erstens  auch  für  das  Alterthum  den  Kreis  der  Lyrik  so  weit 
ziehen  als  ihn  die  moderne  Welt  auffasst  und  somit  die  Chorlyrik 
so  gut  wie  die  Einzelmelik  berücksichtigen  und  auch  die  Elegie 
und  den  lambos.  um  ihren  lyrischen  Gehalt  befragen.  Sodann 
müssen  wir  auch  die  Zeitgrenzen  wenigstens  in  so.  weit  an- 
nähernd gleich  machen  dass  wir  bei  dem  Alterthum  uns  auf  die 
klassische  Zeit  der  Hellenen  beschränken  und  nur  beiläufig  der 
Vergleichung  wegen  diese  Grenze  zu  überschreiten  uns  erlauben. 
Endlich  muss  sich  unsere  Vergleichung  vorzugsweise  an  die  beider- 
seitigen Stoffe  halten ,  da  die  Form  schon  durch  die  Verschieden- 
heit der  Sprachen  und  das  Fehlen  des  Reims  in  der  antiken 
Lyrik  der  einfachen  Gegenüberstellung  widerstrebt. 


] 


Allgemeiner  Charakter.  79 

Auch  so  noch  bleibt  freilich  eine  sehr  grosse  Ungleichheit, 
welche  zu  beseitigen  aber  leider  nicht  in  unserer  Macht  steht. 
Während  nämlich  die  Erzeugnisse  der  modernen  Lyrik  auf  Weg 
und  Steg  uns  begegnen,  und  oft  in  glänzendem  und  lockendem 
Gewände  uns  umschwärmen,  so  haben  wir  von  der  antiken  Lyrik, 
den  einzigen  Plndar  ausgenommen,  nur  Trümmer.  Es. ist  um- 
sonst dass  wir  gern  so  manches  Gleichgültige,  Fade  und  Geschmack- 
lose hingäben  was  uns  aus  dem  Alterthum  erhalten  ist,  um  dafür 
ein  Buch  Lieder  zu  erkaufen  von  einem  Heister  ersten  Ranges^ 
wie  Archilochos,  von  welchem  ein  stimmfähiger  alter  Kritiker 
urteilt  dass  es  nur  an  seinem  Stoffe  liege  wenn  er  nicht  der 
absolut  Erste  unter  allen  Dichtern  der  Hellenen  sei.  Auch  von 
so  grossen  Künstlern  wie  Alkman  und  Stesichoros,  wie  Alkäos, 
Sappho  und  Anakreon,  wie  Ibykos  und  Simonides  aus  Keos, 
haben  wir  nur  kümmerliche  Ueberreste,  die  wir  hauptsächlich 
alten  Schulmännern  verdanken,  welche  aus  jenen  Liedern  theils 
Sprüche  der  Lebensweisheit  excerpierten,  theils  für  ihre  sprach- 
lichen Bemerkungen  und  Regeln  aus  ihnen  Belege  entnahmen. 
Und  nicht  blos  blinder  Zufall  hat  hier  an  dem  Werke  der  Zer- 
störung gearbeitet ,  sondern  theilweise  auch  noch  blinderer  Fana- 
tismus, wie  wir  aus  der  byzantinischen  Zeit  wissen  dass  hier 
namentlich  die  Gedichte  des  Archilochos,  weil  sie  der  ethischen 
und  religiösen  Orthodoxie  allzu  unverdaulich  erschienen,  plan- 
massig  verfolgt  und  vernichtet  wurden.  Diese  Sachlage  müssen 
wir  uns  vergegenwärtigen,  wenn  etwa  die  Ausbeute  aus  den 
alten  Lyrikern  nicht  so  reichlich  ausfallen  sollte  als  wir  wohl 
erwarten,  und  wenn  die  Beschaffenheit  der  Proben  vielleicht 
nicht  immer  ganz  im  Verhäitniss  steht  zu  dem  traditionellen 
Rufe  welchen  diese  Dichter  geniessen  und  auch  verdienen;  denn 
obwohl  so  wenig  von  ihnen  auf  uns  gekommen  ist  und  keines- 
wegs gerade  ihr  Bestes,  so  legt  doch  das  Erhaltene,  selbst  in 
seiner  traurigen  Zertrümmerung,  noch  oft  genug  lautes  Zeugniss 
ab  von  der  einstigen  Kühnheit  und  Pracht  dieser  künstlerischen 
Gebilde. 

Betrachten  wir  nunmehr  die  hauptsächlichsten  Stoffe  der 
Lyrik.  Unter  diesen  nimmt  die  äussere  Natur  in  der  antiken 
Lyrik  theils  keine  so  hervorragende  Stellung  ein  wie  in  der 
modernen,  theils  ist  die  Auffassung  derselben  dort  eine  andere 
als  hier.  Das  Verhäitniss  des  modernen  Menschen  zur  Natur  ist 
überwiegend  das  des  Gegensatzes.    Mögen  einzelne  weichere  Ge- 


80  Zur  Vergleichung  antiker  tnjd  modemer  Lyrik. 

m 

muter    sich    auf    sioniges   Nachempfinden    der    Stimmungen    der 
äussern  Natur  beschränken,  im  grossen  Ganzen  besteht  für  das 
moderne  Bewusstsein  zwischen  Natur  und  Geist  eine  Kluft  und  eine 
Spannung.   Wir  sind  von  der  Natur  weit  abgekommen,  sie  ist  uns 
fremd  und  fern  geworden,   wir  liegen  mit  ihr  im  Kampfe,   wir 
wollen  sie  uns  unterwerfen,  und  empfinden  ihren  Widerstand  als 
Auflehnung.    Aber  dieses  Grundverhältniss  spiegelt  sich   in  den 
verschiedenen  Dichtercharakteren  in    verschiedener  Weise.    Den 
Einen  schmerzt  unser  Abfall  von  der  Natur,  er  sehnt  sich  nach 
ihr  zurück  als  nach  einem  verlorenen  Paradiese;  im  Gegensatze  zu 
dem  wirren  Wogen  des  Menschenherzens,  seinen  trüben  Leiden- 
schaften und  Kämpfen  empfindet  er  die  Natur  als  die  ewig  Reine 
und  erquickt  sich  an  ihrem  stillen  Frieden ,  und  richtet  sich  auf 
an  dem  Anblick  ihrer  Herrlichkeit.    Ein  anderer,   der  die  Brust 
voll  unendlicher  Gefühle  in  sie  hineintritt,  erhebt  laute  Klage, 
dass  sie  ihm  keine  Antwort  gebe  auf  seine  Fragen,  keinen  Trost 
spende  in  seinen  Schmerzen,   und  ungerührt  von  all  dem  Weh 
des  Menschenlebens  starr  und  kalt  und  herzlos  ihre  ewige  Bahn 
weiter  wandle.    Ein   drittes  Verhalten  ist    dass    der   Mensch  in 
titanenhaftem  Stolze  sich  ihr  gegenüberstellt  und  dem  tobenden 
Sturme  zuruft:  mich  beugst  du  nicht,  und  zur  Sonne  am  Firma- 
mente  spricht:  ich  bin  mehr  als  du.  Im  Unterschiede  Ton  diesem 
modernen  Idealismus  und  Spiritualismus  fühlt  der  antike  Mensch, 
weil  das  specifisch  Geistige  in  ihm  noch  nicht  so  reich  entwickelt 
ist,   sich   als  wesentlich   gleichartig  mit   der  Natur,   sich   selbst 
als  ein  Naturprodukt,   ein  Naturkiiid,  und   die  Natur  als  Seines- 
gleichen,  als  belebt  und  beseelt  wie  er.    Es  besteht  zwischen 
beiden  ein  Verhältniss  herzlicher  Freundschaft:   die  Natur  reicht 
dem  Menschen  willig  ihre  besten  Gaben  und  findet  es  ganz  in 
der  Ordnung  dass  er  Alles  was  sie  hat  als  sein  eigen  behandelt; 
und  der  Mensch  widmet  ihr  aufrichtige  Theilnahme,  es  ist  ihm 
wohl  zu  Mute  in  ihrer  Nähe,   er  blickt  mit  inniger  Freude  in 
ihre  schönen  Züge,  er  verfolgt  mit  hellem  Auge   alle  ihre  Ge- 
stalten und  Wandlungen,  und  er  legt  sich  sterbend  vertrauensvoll 
ihr  in  die  Arme.    Dieses  Verhalten  kommt  zu  seinem  Ausdrucke 
wie  in  den  religiösen  Vorstellungen  und  dem  praktischen  Leben 
so  auch  in   der  Literatur  der  Alten,  insbesondere  ihrer  Lyrik. 
Von  den  religiösen  Vorstellungen  gehört  hieher  das  Personificieren 
von  Gegenständen   der   Natur,   wie   Quellen,    Bäume,   Pflanzen, 
und  der  Glaube  an  ein  Ineinanderfliessen  der  verschiedenen  Ge- 


Verhalten  zuf  Natur.  81 

« 

biete,  wie  er  in  den  Mythen  von  Verwandlungen  uns  entgegen- 
tritt. Im  Leben  zeigte  sich  dieses  Verhalten  unter  Anderm  auch 
in  einer  gewissen  Brüderlichkeit  gegenüber  von  den  Thieren,*) 
so  dass  Plalon**)  sogar  die  Behauptung  aufstellt,  in  Athen  seien 
auch  die  Pferde  und  Esel  von  dem  allgemeinen  demokratischen 
Gleichheitsgefühle  ergrilTen  und  gehen  trotzig  ihre  Strasse,  das 
Ausweichen  Andern  überlassend.  In  der  Literatur  hat  uns  diese 
Stellung  zur  Natur  eine  Fülle  feiner  und  sympathischer  Beobach- 
tungen des  Pflanzen-  und  Thierlebens  verschafft.  Schon  bei 
einem  der  ältesten  hellenischen  Meliker,  bei  Alkman,  finden  sich 
überraschende  Proben  solchen  Naturgefühls,  obwohl  noch  in 
epischer  Breite  der  Ausführung,  wie  z.  B.***)  in  folgender 
Schilderung  der  Nacht: 

Schlummernd  liegen  die  Gipfel  der  Berge  und  die  Schluchten, 
Hügel  insgesammt  und  Klüfte, 

AUe  die  Schaaren  so  kriechen  umher  auf  dunkler  Erde, 
Thiere  des  Hochwalds  und  der  Bienen  fleissig  Völklein, 
Die  Ungethüme  in  dem  Schoos  des  hlauen  Meers, 
Schlummernd  auch  der  Vögel  fittiggewandtes  Geschlecht. 

Oder  wenn  der  vom  Alter  schwerfällig  gewordene  Dichter  sich 
wünscht  dass  er  ein  Meervogel  (xflQvlog)  wäre  und  sorglos  über 
die  Fläche  des  Meers  hinflattern  könnte :  f ) 

Nimmer,  ihr  Mädchen  mit  lieblicher  Stimm*  und  holdem  Gesänge, 
Mögen  die  Kniee  mich  tragen;  o  dass  ich  ein  Kerylos  wäre, 
Welcher  am  Saume  des  Meers  dahin  mit  Alkyonen  flattert, 
Frei  von  Sorg*  in  der  Brust,  er  der  Vogel  des  goldenen  Lenzes. 

Ganz  besonders  aber  bei  Sappho  begegnen  wir  verhältnissmässig 
zahlreichen  Beweisen  zarten  Verständnisses  für  das  stille  Weben 
der  Pflanzenwelt.  So  klingt  Mitleid  mit  der  misshandelten  Blume 
hindurch  wenn  sie  singt: 

Wie  auf  dem  rauhen  Gehirg  Hyakinthen  von  weidenden  Männern 
Werden  mit  Füssen  getreten,  zu  Boden  die  glänzende  Blüte. 


*)  Vergl.  Plutarch  Cato  maj.  6  und  meinen  Commentar  zu  Horaz 
Satiren  II,  I,  20.  S.  19  f. 

**)  Staat  VIII.  p.  563  C. 

***)  Fragm.  44  =  53  der  lyrici  graeci  von  Bergk.  Die  üeher- 
setzungen  rühren,  wo  nicht  etwas  Anderes  ausdrücklich  bemerkt  ist, 
von  dem  Verfasser  selbst  her. 

t)  Fragm.  13  =  21  bei  Bergk. 
Teuf  fei,  Studien.  0 


82  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik. 

Oder: 

So  tanzten  dereinst,  kundig  des  Tacts,  mit  zartem 
Fuss  Töchter  des  Lands  rings  um  den  holden  Altar, 
Nnr  sanft  auf  das  Haupt  tretend  des  Rasens  Blumen. 

Und  gewiss  eine  anmutige  Vergleichung  ist  es  deren  sie  sich  in 
einem  Hochzeitliede  von  der  Braut  bedient: 

Wie  rothwangig  der  Apfel  erglänzt  an  dem  obersten  Aste, 
Hoch  an  dem  obersten  oben,  er  ward  beim  Brechen  vergessen, 
Nein,  nicht  ward  er  vergessen,  jedoch  war  nicht  zu  erreichen. 

EI)enso  ist  voll  Anschaulichkeit  die  Schilderung: 

Kühlung  rauscht  ringsum  in  des  Apfelbaumes 
Zweigen,  von  den  schwankenden  Blättern  fliesset 
Schlummer  hernieder. 

Auch  für  die  eigenthiimliche  Stimmung  eines  Waldes ,  einer  Quelle 
zeigen  die  hellenischen  Dichter  und  insbesondere  die  Lyriker  ein 
sicheres  Verständniss;  sie  fühlen  und  schildern  lebhaft  das  Weh- 
mütige, das  in  den  lauggezogenen  Tönen  der  Nachtigall  liegt, 
die  mütterliche  Fürsorge  der  Vögel  für  ihre  Jungen ,  ihre  Angst 
wenn  ein  Raubvogel  sich  dem  Neste  naht,  und  gar  nicht  selten 
sind  in  allen  Literaturgattungen  Wendungen  wie  dass  die  Rebe 
den  Arm  schlingt  um  die  Pappel,*)  dass  die  Platane  zärtlich 
flüstert  mit  der  Ulme,**)  dass  die  Cypressen  einander  erzählen 
von  dem  Liebesglück  eines  jungen  Paares.***)  Doppelt  innig 
aber  ist  das  Verhältniss  zu  denjenigen  Naturgegenständen  welche 
die  gewöhnliche  Umgebung  des  Menschen  bilden,  welche  die  trauten 
Gespielen  seiner  Kindheit  waren,  die  mit  ihm  gross  geworden 
und  ihm  ans  Herz  gewachsen  sind,  zu  der  Natur  seiner  Heimat. 
So  sind  die  letzten  Worte  des  zum  Tod  entschlossenen  Aias  ein 
Abschied  von  der  Heimat: 

O  Licht,  0  Heimatserde,  heiiges  Salamis, 
O  Schwelle  meines  Vaterherds,  o  stolze  Stadt 
Athen,  und  ihr  Genossen  meiner  Jugendzeit, 
Ihr  Flüsse  dort  und  Quellen,  —  lehet  wohüf) 

So  bietet  selbst  ein  attischer  Redner,  der  ernste  Lykurgos,  am 
Schlüsse  seiner  Rede,  „das  Land  und  die  Bäume''  auf,  dass  sie 
die  Geschworenen  anflehen  sie  nicht  unbeschützt  und   ungerächt 


♦)  Ion  Fragm.  el.  1,4  ff. 
♦♦)  Aristoph.  Wolken  1008. 
♦*♦)  Theokrit  Id.  XXVII,  56. 
f)  Soph.  Ajas  V.  859  ff.,  nach  der  Uobersetzung  von  Minckwitz. 


Verhalten  zur  Natur,  83 

zu  lassen.  Das  schönste  Denkmal  dieses  Heimatsgefuhls  aber  ist 
das  berühmte  Cborlied  in  Sophokles'  Oedipus  auf  Kolonos,  wo 
es  unter  Anderm  heisst:"*) 

Fremdling,  staune  die  schönste  Fhir 
Unter  Attika's  Himmel  an:  Kolonos* 
Glanzvoll  helles  Gefild,  woselbst 
Nachtigallen  im  Silherton, 
Zahlreich  nistend  in  grünen  Hags 
Waldnacht,  seufzen  und  klagen. 

Prachtvoll  unter  des  Himmels  Than 
Siehst  du,  jeglichen  Morgen  neu,  Narkissos 
Blühn,  an  prangenden  Trauben  reich, 
Siehst  goldglänzenden  Erokos  blühn. 

Stolz  ausbreitet  sich  hier  über  das  Land,  schwellend  und  üppig, 
Wild  fortwuchernd,  der  hochheilige  Oelbaum, 
Welcher  des  Feinds  Lanze  zurückscheucht 
Und  dessen  Zweig  kränzt  des  Knaben  Wiege. 

Diese  kindliche  Unmiltelbarkeit  im  Verhalten  zur  umgebenden 
Natur,  wie  es  das  klassische  Allerthum  und  seine  Literatur  charak- 
terisiert, bringt  es  auch  mit  sich  dass  im  Allgemeinen  die  Schrift- 
steller nicht  viel  reden  von  den  Eindrücken  welche  die  Natur 
auf  sie  macht;  nichts  liegt  ihnen  ferner  als  ihre  Empfindungen 
darüber  im  Spiegel  zu  besehen  und  Andern  zu  beschreiben.  Erst 
bei  den  Römern,  mit  dem  Beginne  der  Kaiserzeit,  tritt  an  dessen 
Stelle  ein  reflectierteres,  dem  modernen  ähnliches  Verhalten.*'^) 
Als  die  Gegenwart  trübe,  die  Verhältnisse  des  Lebens  über- 
künstlich, verwickelt  und  schwierig  geworden  waren,  da  erst 
erschien  manchem  weichgeslimmten  Dichter  die  Natur  mit  ihrer 
Einfachheit  und  ewig  gleichen  Noth wendigkeit  als  ein  Ideal,  nach 
dem  er  mit  schmerzlicher  Sehnsucht  die  Arme  ausstreckte  und 
das  doch  bei  jedem  Schritte  mit  dem  er  sich  ihm  zu  nähern 
suchte  immer  weiter  zurückwich,  weil  es  nichts  war  als  der 
Schatten  den  sein  eigenes  Innere  vor  sich  her  warf. 

Wenden  wir  uns  fernef  von  der  äussern  Natur  -  zum 
Menschenleben,  so  ist  hier  wiederum  der  moderne  Dichter 
sehr  im  Vortheil  gegenüber  von  dem  antiken.  Dem  modernen 
steht   die   geistige  Errungenschaft    von  Jahrtausenden   zur   Ver- 


*)  V.  669  ff.  nach  Minckwitz. 

**)  AehnUch  schon  auf  griechischem  Boden  in  der  Zeit  des  Helle- 
nismus, s.  W.  Heibig,  Rhein.  Mus.  XXIV.  S.  614  ff. 

6* 


84  Zur  Vergleichung  antiker  und  modemer  Lyrik. 

fügung;  die  so  unendlich  erweiterten  und  vertieften  Anschauungen 
und  Gedanken  der  neuern  Zeit  sind  der  reiche  Born  woraus  ihm 
Anregung  und  Stoff  in  Fülle  zuströmt.  Die  antike  Weltanschauung 
dagegen  beschränkt  sich  auf  die  wesentlichen  Grundbestimmungen 
menschlichen  Daseins,  die  ewiggleichen,  unwandelbaren,  die  älter 
sind  als  das  Menschengeschlecht  und  es  überdauern  werden.  Diese 
Beschränkung  bewirkt  bei  dem  antiken  Dichter  eine  gewisse  Enge 
und  Einförmigkeit  des  Gesichtskreises,  aber  sie  verschafft  zugleich 
den  von  ihm  ausgesprochenen  Gedanken  eine  Geltung  die  an 
keine  Schranke  der  Zeit  und  der  Nation  gebunden  ist.  Hier  ist 
es  vor  Allem  der  Fundamentalsatz  von  der  Vergänglichkeit  aller 
menschlichen  Herrlichkeit,  von  der  Kürze  des  Lebens  und  der 
Wandelbarkeit  irdischen  Glückes,  der  in  tausend  Variationen  durch 
die  ganze  antike  Literatur  sich  hindurchzieht  und  ihr  eine  resig- 
nierte, wehmütige  Grundiarbung  verleiht.  Von  Homer*)  bis  zu 
dem  spätesten  Erzeugniss  des  Alterthums,  den  Liedern  in  der 
Weise  des  Anakreon,  wird  dieses  Thema  unermüdlich  abgehandelt, 
und  als  Folgerung  daraus  gezogen  bald  die  Mahnung  zum  Mass- 
halten in  Freude  und  Schmerz,  bald  auch  die  Aufforderung  zum 
Genüsse  des  Lebens  so  lange  man  es  hat,  zum  Auskosten  der 
Stunde  die  man  sicher  sein  eigen  nennen  kann.  Die  erstere 
Richtung,  die  Mahnung  zu  einem  gedämpften  Milteltone  des  Lebens, 
vertritt  unter  den  Lyrikern  hauptsächlich  ein  Dichter  welcher 
selbst  vergebens  darnach  rang,  der  energische,  immer  kampf- 
bereite und  doch  dabei  innerlich  unglückliche  Archilochos,  wenn 
er  sich  zuruft: 

Herz,  mein  Herz,  von  Qual  und  Sorgen  ruhelos  umhergehetzt, 
Harre  standhaft  aus  und  kühnlich  wirf  entgegen  deine  Brust; 
Neben  deinen  Feinden  schlage  herzhaft  deine  Wohnung  auf, 
Und  wenn  dir  der  Sieg  zu  Theil  wird  juble  weder  überlaut. 
Noch  wenn  du  besiegt  wirst  falle  weinend  nieder  in  dem  Haus; 
Sondern  in  der  Freude  freu*  dich  und  im  Unglück  sei  betrübt 
Nie  im  Uebermass,  bedenkend  was  der  Gang  des  Lebens  ist. 

Für  die  andere ,  weichmütigere  Folgerung  mag  Mimnermos  Wort- 
führer sein,  in  dessen  Elegieen  der  Schmerz  um  die  kurze  Dauer 
der  Jugend  und  Schönheit  bis  ins  Weinerliche  geht.  So  sagt 
er  z.  B. 


*)  Ilias  VI,  146  ff.:  Gleichwie  der  Blätter  Geschlecht,  so  sind  die 
Geschlechte  der  Menschen  u.  s.  w. 


1 


Verhalten  zum  Menschenleben,  85 

Wir  sind  ähnlich  den  Blättern,  geweckt  vom  blumengeschmückten 

Lenze,  wenn  kräftiger  wird  wieder  des  Helios  Strahl. 
Also  laben  wir  uns  an  den  Blüten  der  Jugend  die  kurze 

Spanne  von  Zeit,  was  Gott  Gutes  und  Schlimmes  bescheert 
Nicht  noch  wissend;  dabei  stehn  aber  die  finsteren  Keren, 

Bringend  die  eine  das  Ziel  traurigen  Alters  daher. 
Jene  den  zeitigen  Tod.    Ein  Weilchen  bestehet  der  Jugend 

Frucht,  so  lang  wie  das  Licht  über  die  Erde  sich  giesst. 
Aber  sobald  diess  Ziel  in  dem  Laufe  des  Lebens  erreicht  ist, 

Dann  ist  Sterben  sogleich  besser  denn  längeres  Sein. 
Denn  viel  Uebles  begibt  dem  Gemüte  sich;  keiner  der  Menschen 

Lebte  noch  dem  nicht  Zeus  Leiden  in  Menge  verlieh. 

Dagegen  der  resolute  lebensfrohe  Alkäos  meint: 

Man  muss  das  Herz  nlcbt  hängen  ans  Ungemach; 
Es  hilft  ja  nichts  doch  falls  wir  uns  härmen  ab , 
O  Freunde,  und  der  beste  Balsam 

Ist  in  dem  Weine  sich  froh  bezechen. 

Diese  ganze  Anschauungsweise  vom  Leben  fuhrt  in  ihrem  letzten 
Ziele  zu  dem  im  Alterthum  oft  ausgesprochenen  Satze,  dass  es 
sich  eigentlich  gar  nicht  verlohne  ins  Leben  einzutreten,  me 
der  greise  Sophokles  einen  Chor  von  Greisen  singen  lässt:*) 

Nicht  geboren  zu  sein ,  o  Mensch , 
Ist  das  höchste,  das  beste  Loos; 
Doch  wofern  du  das  Liebt  erblickt, 
Acht'  als  Zweites,  dahinzugehn 
Wieder  von  wannen  du  kamst,  in  Bälde. 
Denn  betratst  du  der  Jugend  Feld, 
Das  Thorheiten  umgaukeln,  haust 
Nicht  ein  jeglicher  Jammer  drin? 
Streit,  Blutvergiessen ,  Hader,  Kampf, 
Hass  und  Neid;  und  endlich  wartet 
Schmachbeladen,  mürrisch,  einsam, 
Krank  und  schwach  das  Alter  unser. 
Das  der  Uebel 

Uebel  all'  umlagern. 

• 

Dieses  trübselige  Ergebniss  zeigt  dass  der  Ausgangspunkt  ein 
unrichtiger  war ,  dass  diese  Sinnesweise  des  Lebens  wahre  Deutung 
Dicht  getroffen  hat.  Das  Menschenleben  ist  nicht  arm,  —  wenn 
es  mit  reichem  Inhalt  sich  zu  erfüllen  versteht  und  zum  Segen 
wird  für  sich  und  Andere;  und  das  Leben  ist  nicht  kurz>  — 
wenn  es  dem  Dienste  des  Unvergänglichen  sich  weiht,  wenn  es 


*)  Oedipus  auf  Kolonos  1225  ff.  nach  Minckwitz. 


86  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik. 

nicht  den  kleinen  irdischen  Zielen  nachjagt,  sondern  seine  Auf- 
gabe darein  setzt  ein  Theil  zu  sein  und  ein  Abbild  des  Ewigen. 
Unter  den  Beziehungen  des  einzelnen  Menschen  zu  grösseren 
Ganzen  nimmt  billig  die  erste  Stelle  ein  das  Vaterland.  Hiebei 
müssen  wir  zweierlei  auseinanderhalten.  Das  Vaterland  ist  erstens 
die  Summe  der  von  dem  Einzelnen  vorgefundenen  Lebensbe- 
dingungen, der  mutterliche  Boden  aus  dem  er  hervorgegangen 
ist,  in  dem  sein  ganzes  Sein  wurzelt  und  immer  neue  Nahrung 
zieht.  In  diesem  elementaren  Sinne  besteht  das  Vaterland  nicht 
blos  aus  dem  gewohnten  Himmel  und  den  Bergen  und  Thälern 
und  Triften  in  denen  man  als  Knabe  umhergeschweift,  sondern 
ganz  besonders  auch  aus  Menschen,  lebenden  wie  einst  gewesenen, 
aus  Eltern  und  Geschwistern  und  Freunden  und  Ahnen,  an  die 
man  mit  lausend  Banden  gekettet  ist,  bewussten  me  unbewussten. 
Das  Vaterland  in  diesem  Sinne,  als  Heimat,  ist  auch  von  moder- 
nen Dichtern  viel  besungen  —  ich  darf  nur  an  Lenau  erinnern 
—  und  im  Alterthum  ist  es  die  Form  in  welcher  das  Vaterland 
vorzugsweise  empfunden  wird.  Ablösung  von  den  Wurzeln  seines 
Daseins  empfindet  der  Einzelne  wie  Vernichtung  seines  Daseins, 
Verbannung  gilt  gleich  Tod.  In  den  grossen  Krisen  des  Lebens 
ist  es  der  Gedanke  an  die  Heimat  —  oder,  wie  dieser  Begriff 
gewöhnlich  umschrieben  wird,  an  Weib  und  Kind,  an  die  Tempel 
der  Götter  und  die  Gräber  der  Ahnen  —  was  den  Einzelnen  be- 
geistert, dass  er  mutig  sich  in  Kampf  und  Tod  stürzt.  Je  tiefer 
aber  dieses  Gefühl  liegt,  desto  weniger  drängt  es  sich  an  die 
Oberfläche;  und  in  den  bedeutendsten  Mitgliedern  der  Nation,  die 
mit  ihrem  Geiste  weit  hinausragen  über  die  kleinen  Verhältnisse 
ihrer  Vaterstadt  und  die  in  ihrer  Kunst  oder  ihrem  Berufe  eine 
neue  Heimat  sich  selbst  geschaffen  haben,  wird  die  Vaterlands- 
liebe in  dieser  instinctiven  Form  sogar  am  leichtesten  abgeschwächt 
und  verflüchtigt.  Archilochos  und  Xenophanes  irrten  heimatlos 
umher  in  Hellas;  Ibykos,  Anakreon,  Simonides^  Bakchylides 
ziehen  der  Sonne  der  Fürstenhöfe  nach ;  auch  Pindar  ist  viel  von 
Hause  weg.  Desto  lebendiger  ist  das  Gefühl  der  Anhänglichkeit 
an  die  Heimat  bei  denjenigen  Schriftstellern  die  auf  ihrer  Vater- 
stadt Stellung  stolz  zusein  alle  Ursache  haben,  bei  den  attischen, 
Aeschylos  an  ihrer  Spitze,*)  und  besonders  innig  bei  Sophokles, 
aus  dessen  Preise  seiner  engsten  Heimat,  Kolonos,  wir  schon  oben 


♦)  Vergl.  Eumeniden  916  ff. 


Heimat  und  Vaterland.  87 

Proben  gegeben  haben.  Die  zweite  Seite  am  Begriffe  des  Vater- 
lands ist  die  politische.  Und  zwar  ist  das  Vaterland  in  diesem 
Sinne  theils  die  Gesammtheit  der  einzelnen  Heimaten  und  Stämme, 
zusammengefasst  in  den  Gedanken  dos  einen  grossen  Vaterlandes» 
der  Nation,  theils  die  Summe  der  politischen  Einrichtungen  in 
denen  der  Einzelne  seine  Wirksamkeit  entfaltet,  durch  die  er  sich 
gehemmt  oder  gehoben  fühlt,  in  denen  er  seine  Ideale  verkörpert 
oder  verzerrt  sieht.  Das  Nalionalgefühl  nun  ist  in  dem  Hellenen 
aufs  Schärfste  ausgeprägt  dem  Nichthellenen,  dem  Barbaren 
gegenüber;  unter  sich  aber  sind  sie  vor  Allem  Athener  oder 
Spartlaten,  Boeotier  oder  Argiver;  standen  ja  doch  nicht  einmal 
in  dem  Vertheidigungskriege  gegen  den  persischen  Einfall  alle 
Hellenen  auf  hellenischer  Seite.  Die  Centrifugalkraft  überwiegt 
bei  ihnen  in  einem  Masse  dass  Hellas  ewig  zu  politischer  Unmaclit 
verdammt  blieb  und  bald  eine  Beute  der  Römer  wurde.  Keine 
Spur  daher  von  einer  eigentlichen  Nationallyrik;  eine  grosse 
Schranke  für  eine  solche  bildete  schon  die  Verschiedenheit  der 
Dialekte,  von  welchen  fast  ein  jeder  seine  eigene  reiche  Literatur 
besass.  Um  die  Zeit  der  Perserkriege  zwar  wurde  ein  Anlauf 
gemacht  zu  einer  gemeinsamen  Lyrik.  Die  Tage  der  Gefahr  und 
des  Siegs  hatten  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  gestärkt, 
und  in  gehobener  Stimmung  begieng  man  die  festlichen  Kampf- 
spiele, bei  denen  Hellenen  aller  Stämme  sich  zusammenfanden, 
die  Agonen  zn  Olympia  und  Delphi,  auf  dem  korinthischen  Isth- 
mos,  im  Thale  von  Nemea,  und  die  Sieger  in  diesen  Wett- 
kämpfen fanden  Herolde  ihres  Ruhms  an  Künstlern  wie  Simonides 
und  Pindar.  Aber  wie  diese  Feste  selbst  die  politische  Einigung 
der  Hellenen  nicht  bewirkt  haben  ^  so  tritt  auch  in  den  durch  • 
sie  veranlassten  Liedern  der  nationale  Gedanke  kaum  jemals  zu 
Tage,  vielmehr  beschränken  sie  sich  auf  die  Verherrlichung  der 
Person  des  Siegers,  seines  Geschlechtes^  seiner  Heimat  und 
ihrer  Ciilte.  Um  so  weniger  aber  fehlt  es  innerhalb  der  hel- 
lenischen Lyrik  an  dem  eigentlichen  politischen  Gedichte,  und 
die  Klippen  an  denen  dieses  so  leicht  scheitert  sind  hier  grossen- 
theils  vermieden.  Die  politische  Lyrik  der  Modernen  sieht  sich 
in  eine  schlimme  Alternative  versetzt:  entweder  lässt  sie  die  con- 
creten  politischen  Verhältnisse  bei  Seite,  und  wird  dann  g§r  zu 
leicht  verschwommen  declamatorisch  und  phraseologisch;  oder  sie 
geht  auf  die  bestehenden  Einrichtungen  und  bestimmte  einzelne 
Ziele  ein,  und  hört  dann  auf  Poesie  zu  sein  und  muss  durch 


88  Zur  VergleichuDg  antiker  und  modemer  Lyrik. 

ihre  dann  unvermeidliche  Einseitigkeit  ebenso  Viele  abstossen  als 
anziehen  und  wissentlich  Verzicht  leisten  auf  einen  schonen  Vor- 
zug echter  Poesie,  Alle  zu  erfreuen.  Die  erstere  Gefahr  veran- 
schaulichen uns  die  vielen  politischen  Gedichte  Vielehe  sich  mit 
Vorliebe  in  den  Begriffen  Tyrannei  —  Freiheit  —  Knechtschaft 
—  Zwingburg  —  Ketten  —  Fesseln  —  Sklaven  u.  dergl.  umher- 
tummeln.  Wie  schwer  es  ist  davon  sich  ganz  frei  zu  erhalten,  möge 
ein  sonst  glänzendes  Beispiel  uns  vergegenwärtigen.  Es  ist  gewiss 
sehr  schön  gesagt  und  sehr  wirkungsvoll,  wenn  es  am  Schlüsse 
eines  bekannten  Liedes  von  Kinkel  heisst: 

Hier  steh*  ich,  nun  zielt I    Nun  brichst  du,  o  Leib, 

Wenn  achtzehn  Mündungen  knallen. 

Die  Seele,  sie  braust  in  den  heiligen  Chor 

Der  Freien  die  vor  mir  gefallen. 

Wir  kennen  nicht  Rast ,  wir  durchstreichen  die  Welt 

In  Sonnenschein  und  Gewittern, 

Bis  die  letzte  Zwingburg  flammend  zerfällt 

Und  die  letzten  Ketten  zersplittern. 

Und  doch^  wenn  wir,  ungeblendet  von  dem  Glänze  der  Worte 
und  der  Kraft  der  Sprache,  nüchtern  uns  Rechenschaft  zu  geben 
suchen  über  die  Einzelheiten  dieses  farbenreichen  Bildes,  so 
werden  wir  manchfach  in  Verlegenheit  gerathen ;  ganz  abgesehen 
von  der  Beleuchtung  welche  die  Stelle  erhält  wenn  wir  sie  ver- 
gleichen mit  der  so  sehr  ähnlichen  und  doch  so  unendlich  ver- 
schiedenen unsers  unvergesslichen  Uhland,  in  der  sich  dieses 
einzigen  Mannes  ganze  Schlichtheit  und  grenzenlose  Uneigennützig- 
keit  so  rührend  ausspricht: 

Wohl  werd'  ichs  nicht  erleben» 
Doch  an  der  Sehnsucht  Hand 
Als  Schatten  noch  durchschweben 
Mein  freies  Vaterland. 

Für  die  andere  Gefahr  aber,  der  Einbusse  an  Poesie,  möge 
Uhland  selber  uns  Zeuge  sein,  wenn  er  klagt: 

Einmal  athmen  möcht'  ich  wieder 
In  dem  goldnen  Märchenreich; 
Doch  ein  strenger  Geist  der  Lieder 
Fällt  mir  in  die  Saiten  gleich. 

Diese  Klippen  nun  sind  für  den  hellenischen  Dichter  von  vorn- 
herein ungefährlicher  gemacht  durch  die  grandiose  OelTentlichkeit 
aller  Verhältnisse,  die  schrankenlose  Redefreiheit  und  dadurch 
geminderte  Empfindlichkeit  des  Einzelnen  für  öffentlichen  Tadel. 
Sodann  wirkt  der  in  der  hellenischen  Literatur  überhaupt  waltende 


Politische  Poesie.  89 

Geist  der  Ordnung  und  Sauberkeit  auch  hier  reinigend  und  ver- 
söhnend. P'ur  die  politische  Weisheit  wie  die  poUtiscbe  Leiden- 
schaft werden  alsbald  eigene  Gattungen  abgegrenzt  mit  beson- 
deren Gesetzen,  welche  die  Voraussetzung  der  ganzen  Gattung 
bilden,  für  die  Weisheit  die  Elegie,  für  die  Leidenschaft  der 
lambos.  So  fest  eingedämmt,  können  beide  ihre  Eigenthümlich- 
keit  zu  voller  Geltung  bringen,  ohne  Nachtheil  für  die  Nachbar- 
gebiete und  auch  für  die  Dichter  selbst.  Denn  wie  man  von  der 
Elegie  erwartete  und  es  in  der  Ordnung  fand  dass  sie  öffentliche 
Verhältnisse  ernsthaft  und  lehrhaft  behandle,  so  vom  lambos  dass 
er  stachlicht  sei  und  Niemand  verschone  und  vor  keinem  StolTe 
zurückscheue,,  auch  nicht  dem  niedrigsten,  ja  gemeinsten.  Die 
politische  Weisheit  der  Elegie  hat  ihren  glänzendsten  Vertreter 
an  Solon,  dessen  verhältnissmässig  umfangreiche  Ueberreste  haupt- 
sächlich seine  Wirksamkeit  als  Gründer  der  attischen  Verfassung 
beredt  vertheidigen,  z.  B.: 

So  viel  gab  ich  dem  Volke  Berechtigung  als  ihm  genug  ist, 
Nicht  ihm  nehmend  an  Ehr*  oder  ihm  fügend  hinzu. 

Und  für  die  im  Besitze  der  Macht,  durch  Beichthum  Geehrten 
Sann  ich  es  aus  dass  nichts  wider  Gebür  sie  betraf. 

Also  stand  ich,  den  mächtigen  Schild  vorhaltend  vor  Beide, 
Und  Hess  wider  das  Recht  keinem  von  Beiden  den  Sieg. 

Daneben  aber  auch  nachdrückliche  Warnungen  vor  Peisisiratos, 
der  unter  dem  Scheine  der  Volksfreundlichkeit  eigensüchtige 
Zwecke  verfolgte: 

Aus  dem  Gewölk  her  naht  sich  des  Schneees  Gewalt  und  des  Hagels, 
Und  auf  leuchtenden  Blitz  folget  des  Donners  Gebrüll: 

Ueber  den  Staat  kommt  Noth  von  gewaltigen  Männern;  in  seiner 
Blindheit  fällt  in  das  Joch  Eines  Gebieters  das  Volk. 

Wen  man  erhoben  zu  hoch,  der  ist  schwer  niederzuhalten 
Später;  man  muss  gleich  jetzt  nehmen  auf  Alles  Bedacht. 

Und  als  das  Gefürchtete  geschehen  war ,  als  Peisistratos  sich  zum 
Tyrannen  aufgeworfen  hatte  mit  Hülfe  der  ihm  vom  Volke  be- 
willigten Leibwacbe: 

Wenn  ihr  Schlimmes  erfuhrt  durch  euere  eigne  Verblendung, 

Dürft  auf  die  Götter  ihr  nicht  schieben  die  grössere  Schuld. 
Ihr  selbst  machtet  ihn  gross,  Schutzmittel  demselben  verleihend; 

Dafür  ward  euch  jetzt  schmähliche  Knechtung  zu  Thieil. 
Denn  ihr  seht  auf  die  Zung*  und  die  Worte  des  listigen  Mannes, 

Seht  auf  keinerlei  That  welche  daneben  geschieht. 
Jeder  von  euch  allein  geht  schlau  einher  wie  der  Fuchs  ist, 

Seid  ihr  beisammen,  so  ist  thörichtes  Wesen  in  euch. 


90  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik. 

Ist  die  Elegie  das  Organ  der  Intelligenz,  der  geistigen  Aristokratie 
die  an  dem  Volke  arbeitet,  so  fällt  dagegen  die  Rolle  der  Oppo- 
sition, der  rücksichtslosen  einschneidenden  Kritik,  dem  lambos 
zu.  Ihn  schwang  der  geniale  Archilochos  als  Keule  wider  seine 
persönlichen  Feinde;  dass  aber  auch  auf  politische  Gegner  die 
Wucht  seiner  Schläge  fiel  versteht  sich  von  selbst  und  erhelil 
aus  Ueberresten  wie  folgender: 

Nun  ist  Lophilos  Gebieter,  Lophilos  ist  unser  Herr, 
Lophilos  verordnet  .Alles,  Alles  hört  anf  Lophilos. 

Elegie  und  lambos  aber  —  wie  innerhalb  der  römischen  Literatur 
die  ähnlichem  Stoffe  gewidmete  Satire  —  gehören  den  Grenz- 
gebieten der  Poesie  an.  Die  Gedichte  der  ältesten  Elegiker, 
Kallinos,  Tyrtäos  und  Solon,  sind  geradezu  Standreden  in  ge- 
bundener Form;  und  als  den  lambos  ein  Nachfolger  des  Archi- 
lochos, der  bissige  Hipponax,  einen  Ton  tiefer  setzte,  ward  er 
—  im  Hinkiambos  —  zur  Verspottung  der  poetischen  Form  selbst. 
Nur  der  kühne  Alkäos  wagte  es  die  politische  Leidenschaft  in  das 
Innerste  der  Lyrik  hineinzutragen.  Als  Mitglied  eines  Adelsge- 
schlechtes auf  Lesbos  persönlich  tief  verflochten  in  die  Parteikämpfe 
seiner  Heimat,  welche  bei  diesen  heissblütigen  Insulanern  den  gewalt- 
samen Verlauf  eines  Naturprocesses  zu  nehmen  pflegten,  indem 
der  siegreiche  Theil  den  unterliegenden  aus  dem  Staate  stiess, 
machte  Alkäos  seine  Parteiinteressen  offen  zum  Gegenstande  von 
Liedern,  die  er  auch  geradezu  Parteilieder  {UraöLcotLxd)  be- 
nannte. In  diesen  fand  sich  z.  B.  der  Gedanke,  der  wohl  den 
Werth  der  ritterlichen  Geschlechter  ins  Licht  stellen  sollte: 

Nimmermehr 
Steine  die  man  zusammenlegt, 
Vielmehr  Männer  von  Mut  bilden  die  Burg  der  Stadt. 

Der  Staat  war  darin  in  einer  sorgfältig  ausgeführten  Allegorie 
mit  einem  Schifle  verglichen  über  das  von  allen  Seiten  die  Wogen 
hereinbrechen.  Von  seinen  politischen  Gegnern  aber  sprach  Alkäos 
im  derbsten  Stile  des  lambos,  titulierte  z.  B.  den  weisen  Pittakos 
als  „Plattfuss,  Winkelfresser,  Dickbauch"  und  rief  aus: 

Wirklich  den  Pittakos, 
Diesen  Landesverderb,  haben  sie  hochpreisend  in  hellem  Schwärm 
Zum  Zwingherren  der  jähzornigen  und  unglücklichen^ Stadt  bestellt! 

Beim  Tode  des  Tyrannen  Myrtilos  aber  meint  er: 

Jetzt  gilt*s  zu  trinken,  wuchtigen  Trittes  jetzt 
Zu  stampfen,  weil  nun  Myrtilos  todt  ja  ist. 


Politik.    Liebe.  91 

Indessen  ist  sein  Beispiel  innerhalb  des  Alter thums  ohne  Nach- 
folge geblieben. 

Endlich  bilden  einen  wichtigen  Stoff  der  Lyrik  die  iJe- 
ziehiingen  von  Person  zu  Person,  und  unter  diesen  ganz  beson- 
ders die  Liebe.  Hier  würden  wir  uns  aber  schwer  enttauscht 
finden  wenn  wir  mit  Erwartungen  wie  sie  das  moderne  Liebes- 
lied erregt  an  die  antike  Lyrik  herantreten  wollten.  In  der 
modernen  Welt,  wenigstens  bei  den  Völkern  germanischen  Stam- 
mes, steht  das  Weib  dem  Manne  ebenbürtig  zur  Seite;  die  Wir- 
kungskreise beider  sind  verschieden,  aber  das  Recht  für  beide 
gleich.  Auch  dem  weiblichen  Geschlechte  ist  die  Högiicbkeit  ge- 
boten an  dem  geistigen  Leben  der  Zeit  und  der  Nation  sich  zu 
betheiligen,  und  im  Zusammenhange  damit  hat  das  weibliche 
Gemüt  unendlich  gewonnen  an  Reichthum  und  Tiefe.  Mit  dem 
höheren  Werthe  seines  Gegenstandes  hat  denn  auch  das  Gefühl 
der  Liebe  selbst  zugenommen  an  Innigkeit,  Reinheit  und  Ideali- 
tät. Der  moderne  Dichter  kann  die  besten  Schätze  seines  Geistes 
ausbreiten  vor  der  Geliebten  und  darf  dabei  auf  Theilnahme  nicht 
nur,  sondern  auch  auf  volles  Verständniss  rechnen.  Das  Liebes- 
lied hat  sich  daher  in  der  modernen  Literatur  zu  einer  Bedeutung 
und  Manchfalligkeit  entwickelt  durch  die  es  sich  kühn  jedem 
andern  Zweige  an  die  Seite  stellen  kann,  es  durchläuft  die  ganze 
Tonleiter  der  Gefühle  und  Töne,  von  stürmischer  Leidenschaft 
und  Sinnenglut  bis  zu  ätherischer  Zartheit.  Gedenken  wir  hier 
wiederum  eines  Dichters  aus  dem  engern  Vaterlande,  dem  sein 
furchtbares  Unglück  ein  doppeltes  Anrecht  darauf  erworben  hat 
von  uns  nicht  vergessen  zu  werden.  Kann  man  die  Liebe  als 
einen  Bund  der  Seelen  beredter  schildern,  kann  man  das  Gefühl 
in  der  Geliebten  das  Wort  zum  Räthsel  des  ganzen  Lebens  ge- 
funden zu  haben,  die  herrliche  Erfüllung  dessen  was  bis  dahin 
unbewusst  im  Herzen  schlummerte,  kann  man  diess  ergreifender 
aussprechen  als  Hölderlin  gethan  hat  in  dem  unvergleichlich 
schönen  Liede: 

Diotima,  edles  Leben, 
Schwester,  heilig  mir  verwandt, 
Eh*  ich  dir  die  Hand  gegeben, 
Hab*  ich  lange  dich  gekannt. 
Damals  schon  als  ich  in  Träumen, 
Sanft  umspielt  vom  goldnen  Tag, 
Unter  meines  Gartens  Bäumen 
Ein  zufriedner  Knabe  lag; 


92  Zur  Vergleichung  antiker  und  moderner  Lyrik. 

Da  in  leiser  Lust  und  Schöne 
Meines  Lebens  Mai  begann, 
Säuselte,  wie  Zephjrtöne, 
Göttliche,  dein  Hauch  mich  an. 

Diess  Alles  ist  nun  ganz  anders  im  klassischen  AUerthunie.  Zwar 
die  hellenische  Ritterzeit,  wie  sie  uns  die  homerischen  Gedichte 
darstellen,  zeigt  das  weibliche  Geschlecht  auf  gleicher  geistiger 
Höhe  mit  dem  männlichen  und  daher  in  geachteter  äusserer 
Stellung ,  und  die  Frauenliebe  bei  aller  Natürlichkeit  doch  zugleich 
voll  Zartheit.  Aber  die  eigentlich  geschichtlichen  Zeiten  bieten 
uns  beim  ionischen  Stamme  ein  ganz  anderes  Bild  dar:  das  weib- 
liche Geschlecht  ausgeschlossen  von  der  allgemeinen  Quelle  der 
Bildung,  in  halb  orientalischer  Abgeschiedenheit  im  Hause  gehal- 
ten und  daher  in  einem  Zustande  geistiger  Verkümmerung.  Was 
unter  solchen  Umständen  aus  dem  Liebesliede  werden  musste  ist 
von  selbst  klar.  Bei  Mimnermos  ist  es  daher  nur  ein  weiteres 
Symptom  seiner  ethischen  Verkommenheit  dass  ein  Theil  seiner 
Elegien  einer  Flötenbläserin,  Namens  Nanno,  gewidmet  war.  Bei 
den  Doriern  war  zwar  die  sociale  Stellung  des  Weibes  eine  bessere, 
die  geistige  Bildung  aber  nicht  grösser.  Nur  bei  den  Aeoliern 
traf  Beides  zusammen^  geistige  Regsamkeit  des  ganzen  Stammes 
und  freiere  Bewegung  des  weiblichen  Geschlechtes,  und  hier 
sehen  wir  denn  alsbald  das  Liebeslied  erblühen.  Der  stürmische 
Alkäos  zwar  fand  dazu  nicht  die  Stimmung,  desto  mehr  aber 
seine  berühmte  Zeitgenossin  und  Landsmännin  Sappho.  Bei  ihr 
ist  die  Liebe  sogar  der  Angelpunkt  um  den  sich  all  ihr  Denken 
und  Dichten  dreht.  Nur  aber  tritt  bei  so  heissfühlenden  Naturen 
die  Liebe  nicht  als  ein  sanftes  Verlangen  auf  oder  ein  stilles 
Glück,  sondern  als  eine  verzehrende  Flamme,  ein  Alles  mit  sich 
fortreissender  Sturmwind,  wie  sie  selbst  dieses  Bild  gebraucht: 

Eros  wieder  durchschüttelt  die  Seele  mir, 

Wie  der  Sturm  im  Gebirg  sich  auf  Eichen  stürzt. 

Diese  Leidenschaftlichkeit  ihrer  Liebe  ist  immer  dieselbe,  ob  sie 
nun  schildert  wie  der  Anblick  des  Geliebten  ihre  Sinne  verwirrt 
oder  über  Mangel  an  Erwiderung  klagt  oder  von  ihm  verlassen 
sich  einsam  fühlt  und  unglücklich. 

Der  Mond  ist  hinabgesunken, 

Das  Siebengestirn,  und  Mitte 

Der  Nacht  ist^s,  die  Stunden  schwinden. 

Ich  aber,  ich  liege  einsam.  ^ 


Liebeslied.  93 

Bei  Anakreon  bildet  die  Liebe  nur  einen  Theil  des  Lebensgenus- 
ses, erotisches  Getändel  ein  Mittel  die  Zeit  auszufüllen.  Dazu 
stört  bei  ihm^  wie  schon  bei  Ibykos,  eine  Weitherzigkeit  in  Bezug 
auf  die  Gegenstände  der  Liebe,  die  nicht  blos  nach  modernen 
Begriffen,  sondern  nach  den  unabänderlichen  Gesetzen  der  Natur, 
die  Möglichkeit  echter  Liebe  geradezu  ausschliesst.  Ueberhaupt 
haben  im  Alterthum  nur  prophetische  Geister,  welche  ihrer  Zeit 
vorangeeilt  waren,  das  Wesen  der  Liebe  in  seinem  tiefsten  Grunde 
erfasst.  Ein  solches  prophetisches  Wort  ist  es  wenn  Piaton  in 
seinem  Gastmahl"^)  dem  Aristophanes  die  Worte  in  den  Mund 
legt:  „Die  Liebenden  mögen  sich  nicht  von  einander  trennen, 
auch  nicht  eine  kurze  Weile;  .  .  .  und  dabei  wissen  sie  doch 
nicht  zu  sagen,  was  sie  eigentlich  von  einander  haben  wollen; 
denn  nicht  der  sinnliche  Genuss  ist  es  um  was  es  ihnen  zu  thun 
ist,  sondern  ein  unbestimmtes  Anderes  will  ihre  Seele,  das  sie 
nicht  im  Stande  ist  auszusprechen,  sondern  sie  ahnt  nur  was  sie 
will  und  hat  davon  ein  dunkies  Gefühl.  Und  diess  ist  das  Eins- 
sein mit  dem  Geliebten."  Verhältnissmässig  am  nächsten  kommen 
der  modernen  Auffassung  der  Liebe  unter  den  Dichtern  des  Alter- 
thums  die  römischeji  Elegiker.  Die  Liebeselegie  von  den  Alexan- 
drinern herubernehmend  haben  diese  sie,  statt  wie  die  Alexan- 
driner mit  todter  Gelehrsamkeit,  vielmehr  mit  warmem  Leben 
erfüllt;  und  dieselben  Verhältnisse  welche  damals  für  Natur- 
empfindung zugänglicher  machten  haben  auch  ihren  Liebesgedich- 
ten manchmal  einen  schwärmerischen  sentimentalen  Anstrich  ver- 
lieben, ^"^j  .  Diess  ist  besonders  häufig  der  Fall  bei  dem  inner- 
lichstMi  unter  diesen  Dichtern,  bei  Tibull,  von  dem  ein  Wort  das 
er  seiner  Geliebten  zuruft***)  diese  Betrachtung  schliessen  möge: 

Du  bist  Trost  mir  im  Leid,  in  der  dunkelsten  Nacht  du  mir  Leuchte, 
Aach  in  der  Einsamkeit  hab^  ich  an  Dir  eine  Welt. 


♦)  p.  192  C. 

**)  Diese  Sentimentalität  geht  bei  ihnen  sogar  vielfach  bis  zum 
Vergessen  der  Manneswürde  und  zur  Selbsterniedrigung.  Im  Gegensatze 
dazu  machen  die  Liebesgedichte  des  Horaz  (besonders  III,  9)  einen 
wohlthuenden  Eindruck  dadurch  dass  sie  die  Selbstachtung  niemals  aus 
den  Augen  lassen.  Eher  thun  sie  im  andern  Extrem  zu  viel,  darin  dass 
sich  allzu  deutlich  zu  fühlen  gibt  wie  diese  Verhältnisse  und  diese  Per- 
sonen für  den  Dichter  nur  zum  Spiele  dienen  und  zum  Genüsse. 

***)  Eleg.  IV,  1 3, 1 1  f.  nach  meiner  Uebersetzung  (Stuttgart  1853)  S.  103. 


Aristophanes  Stellung  zu  seiner  Zeit.*) 


Es  ist  eine  eben  so  anerkannte  als  leicht  zu  erklärende 
Thatsache  dass  Athens  bedeutendste  Schriftsteller  nahezu  alle 
vollkommen  die  gleiche  Stellung  zu  ihrer  Zeit  einnahmen.  Aeschylos 
und  Aristophanes,  Thukydides  und  Isokrates,  Piaton  und  Demo- 
sthenes  sind  sich  in  dieser  Beziehung  zum  Verwechseln  ähnlich; 
und  nicht  nur  die  allgemeine  Richtung  ist  bei  allen  dieselbe, 
sondern  häufig  genug  erstreckt  sich  die  Aehnlichkeit  bis  auf  die 
Wendungen  und  Worte.  Alle  stellen  sich  in  bewussten  und  be- 
stimmten Gegensatz  zu  ihrer  Zeit,  alle  fähren  bittere  Klage  über 
die  Gesunkenheit  der  Gegenwart  und  über  die  Fehler  und  Schwächen 
des  Volks,  alle  rücken  die  Vergangenheit  in  ein  ideales  Licht  und 
halten  sie  der  Gegenwart  als  Spiegel  vor  zur  Beschämung  und 
zur  Nachahmung.  Kaum  dass  man  in  dieser  Hinsicht  Sophokles 
und  Euripides  von  den  übrigen  unterscheiden  darf;  denn  wenn 
der  milde,  friedliebende  Sophokles  sich  auch  vom  Kampfe  fern 
hält  und  directe  Polemik  vermeidet,  so  kann  doch  kein  Zweifel 
darüber  sein  welcher  Seite  seine  Sympathien  angehören;  Euri- 
pides aber,  so  entschieden  er  das  Recht  der  Gegenwart  verficht, 
so  klar  er  den  neuen  Geist  als  den  seinigen  erkennt,  thut  es 
doch  jedem  der  andern  gleich  in  stolzem  Herabsehen  auf  den 
Unverstand  und  Wankelmut  der  Masse.  Mit  Einem  Worte:  die 
grossen  Geister  des  hellenischen  Alterthums  sind  alle  Aristokraten. 
In  dem  Masse  als  sie  sich  geistig  über  die  Menge  erhoben,  in 
demselben  waren  sie  auch  abgeneigt  sich  an  sie  hinzugeben ,  sich 
von  ihr  verschlingen  oder  auch  nur  beherrschen  zu  lassen.  Und 
da  andererseits  die  Eigenschaften  der  Masse  zu  allen  Zeiten  die- 

*)  Vortrag,  gehalten  im  Frühjahr  1855,  gedruckt  im  Morgenblatt 
1855,  S.  777  ff. 


Aristophanes  Stellung  zu  seiner  Zeit.  95 

selben  sind,  trotzig  und  ungebärdig  im  Glück,  verzagt,  sobald 
es  nicht  nach  Wunsch  geht,  leicht  in  Wallung  zu  bringen,  aber 
noch  schneller  wieder  erkaltend  und  in  Thatlosigkeit  zurück  sinkend, 
leichtgläubig,  die  willenlose  Beute  derer  die  sie  zu  behandeln, 
ihr  zu  schmeicheln  wissen,  unfähig  abweichende  Ansichten  zu 
begreifen  und  Widerspruch  zu  ertragen:  —  da  diese  Merkmale, 
trotz  aller  dazwischen  liegenden  Erfahrungen  und  Ermahnungen, 
mit  vollkommenster  Regelmässigkeit  immer  wiederkekren,  so  war 
es  unvermeidlich  dass  auch  diejenigen  welche  sich  zur  Masse^. 
polemisch  oder  pädagogisch  verhielten  immer  wieder  in  dasselbe 
Geleise  der  Gedanken  hineingeriethen. 

Bei  Aristophanes  aber  brachte  es  die  Natur  seiner  Dicht- 
gattung mit  sich  dass  er  seine  persönliche  Ueberzeugung  zu  be- 
sonders vielen  Gebieten  des  Lebens  in  Beziehung  zu  setzen  hatte^ 
und  schon  darum  verdient  er  vor  andern  um  diese  seine  Ueber- 
zeugung befragt  zu  werden,  zumal  sie  auch  sonst  noch  manches 
Eigenthümliche  darbietet  und  die  Schwierigkeiten  einer  solchen 
gegensätzlichen  Stellung  zur  eigenen  Zeit  besonders  klar  zu  Tage 
treten  lässt. 

Der  Bestand  des  altgriechischen  Staates  beruhte  auf  einer 
mystisch  religiösen  Grundlage.  So  lange  der  Einzelne  mit  seinen) 
ganzen  Sein  und  Wollen  im  Staate  aufgieng ,  seinen  höchsten  Stolz 
darein  setzte  ein  Glied  desselben  zu  sein,  und  sein  höchstes  Glück 
sich  ihm  zu  eigen  hinzugeben,  so  lange  war  es  gut  bestellt  mit 
dem  Staatsganzeu  wie  mit  dem  Einzelnen;  denn  das  Bewusstsein 
dass  die  Augen  des  Vaterlandes  auf  ihm  ruhen,  und  das  Verlangen 
demselben  durch  das  eigene  Auftreten  Ehre  zu  machen,  bewirkte 
dass  der  althelienische  Bürger  auch  in  seinen  persönlichen  Be- 
ziehungen sich  der  höchsten  Achtbarkeit  befliss.  Je  reicher  aber 
der  Einzelne  sich  ausbildete,  desto  grösser  wurde  die  Gefahr 
dass  er  sich  vom  Ganzen  abschäle,  seinen  Mittelpunkt  in  sich  selbst 
suche,  und  darüber  das  Ganze  zerbröckle  und  allmählich  sich 
auflöse.  Dieser  Process  war  in  der  Zeit  des  Aristophanes  schon 
so  weit  gediehen  dass  die  Risse  für  jedes  Auge  wahrzunehmen 
waren,  und  er  machte  während  der  Lebenszeit  unseres  Dichters 
furchtbar  schnelle  Fortschritte.  Aristophanes  erkannte  die  Gefahr 
und  suchte  ihr  zu  begegnen,  indem  er  die  Zeit  harmloser,  un- 
eigennütziger Hingabe  an  das  Staatsganze,  die  gute  alte  Zeit  der 
Ehrbarkeit  und  Sittenstrenge,  aufs  Wärmste  pries  und  empfahl, 
und  dem  Eindringen  des  neuen  Geistes,   der  Richtung  auf  selb- 


96  Aristophanes  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

ständige  und  selbstsüchtige  Ausbildung  des  Individuums,  aus  allen 
Kräften  sich  entgegen  stemmte  und  mit  allen  Waffen  gegen  die 
losschlug  welche  er  an  der  Zertrümmerung  des  naiven  Verhaltens 
zum  Staate,  und  damit  des  Staates  selbst,  arbeiten  sah.  Als  jene 
Musterzeit  betrachtete  der  Dichter  diejenige  welche  um  ein  halbes 
Jahrhundert  seiner  eigenen  voraus  lag,  die  Zeit  der  Perserkriege, 
der  Harathonskämpfer.  Diese  ist  es  die  er  mit  den  glänzendsten 
Farben  ausmalt,  bei  deren  Preis  es  ihm  warm  ums  Herz  wird 
und  auf  die  er  mit  schmerzlicher  Sehnsucht  zurück  blickt,  wie 
nach  einem  verlorenen  Paradiese. 

Diese  Begeisterung  unseres  Dichters  für  die  Vergangenheit 
war  ohne  Zweifel  höchst  ehrlich  gemeint  und  entbehrte  auch 
nicht  der  Begründung:  die  Zeit  um  die  Perserkriege  war  un- 
leugbar die  Glanzperiode  Athens,  eine  Zeit  idealen  Aufschwunges, 
zunächst  um  die  heranwogenden  Feindesschaaren  abzuwehren, 
und  dann  im  Gefühle  der  Dankbarkeit  gegen  die  Götter,  die  ihnen 
so  sichtbarlich  geholfen,  und  im  seligen  Genuss  der  eigenen  Tapfer- 
keit. Aber  dieser  Glanz  nach  aussen  deckte  im  Innern  manchen 
Schaden  zu.  Dass  schon  damals  nicht  alles  war  wie  es  sein  sollte 
zeigte  sich  bald  in  der  selbstsüchtigen  Ausbeutung  des  gewonnenen 
Sieges  gegenüber  von  andern  Hellenen,  und  Isokrates  wusste 
daher  sehr  wohl  was  er  that  wenn  er  als  Athens  beste  Zeit  nicht 
die  der  Marathonskämpfer,  sondern  eine  viel  frühere,  die  solo- 
nische,  darstellte.  Freilich  war  in  Wahrheit  diese  so  wenig  wie 
die  andere  geeignet  als  Ideal  hingestellt  zu  werden,  und  des 
Redners  Verfahren  nicht  minder  willkürlich  als  das  unseres  Dichters. 
Und  abgesehen  davon  war  es  ja  doch  ein  eitles  Beginnen  eine 
vergangene  Zeit  festhalten  und  zurückrufen  zu  wollen,  das  Be- 
wusstsein  auf  einer  Stufe  festzubannen  welche  wohl  schön  und 
herrlich  war,,  auf  lange  Dauer  aber  so  wenig  Anspruch  hatte  als 
im  Leben  des  einzelnen  Menschen  das  Kindesalter. 

In  dieser  Sehnsucht  nach  einer  hinter  ihm  liegenden  und 
unwiederbringlich  entschwundenen  Zeit  verräth  sich  am  Dichter 
ein  Zug  von  Romantik,  der  bei  ihm  auch  gar  nicht  allein  steht, 
vielmehr  lässt  sich  Aehnliches  auch  in  andern  noch  tiefer  gehen- 
den Merkmalen  seines  künstlerischen  Standpunktes  wahrnehmen.^) 


*)  Namentlich  in  der  phantastischen  Behandlnngsweise ,  der  Wnnder- 
haftigkeit  der  aristophanischen  Komödie,  ihrer  Virtao8i1%  weniger  in 
der  Oekonomie  des  Ganzen  als  in  einzelnen  Scenen,  zeigen  sich  solche 
Berührungspunkte. 


'Ideale.  97 

Und  wie  die  Romantiker  der  neueren  Zeit  nicht  sowohl  das  Mittel- 
alter,  wie  es  wirklich  war,  als  vielmehr  ihre  persönliche  Vorstellung 
von  demselhen  herzten  und  uns  vorhielten,  so  auch  der  antike 
Dichter.  Auch  darin  besteht  Aehnlichkeit  zwischen  den  beiderlei 
literarischen  Erscheinungen  dass  auch  Aristophanes ,  wo  er  zur 
Praxis  überzugiehen  versuchte,  wo  er  bestimmte  einzelne  Vorschläge 
machte,  wie  die  Umgestaltung  zu  bewirken^  der  bessere  Zustand 
herbeizufuhren  wäre,  nur  fromme  Wünsche  vorzubringen  wusste, 
oder  Hitteichen  deren  Unzulänglichkeit  in  die  Augen  sprang. 
So  in  den  Rittern,  1358—1373:*) 

Agorakritos. 

Jezt  sage  mir: 
Wenn  irg^end  ein  schurkischer  Staatsanwalt  je  wieder  sagt: 
„Ihr  habt,  Geschworne,  femer  nicht  das  liebe  Brod, 
Wofern  ihr  nicht  in  diesem  Fall  ein  Schuldig  sprecht!** 
Was  wirst  mit  solchem  Staatsanwalt  du  machen?     Sprich! 

Demos. 

Ich  heb'  ihn  in  die  Höhe,  häng*  ihm  an  den  Hals 
Den  Hyperbolos,  und  schleudr'  ihn  in  das  Barathron. 

Agorakritos. 

Das  heisst  einmal  doch  recht  gesprochen  und  mit  Verstand! 
Lass  sehn  wie  willst  du  sonst  die  Verwaltung  führen?    Sprich! 

Demos. 

Fürs  Erste  zahP  ich  allen  Kriegsmatrosen,  gleich 
Sobald  sie  landen,  ihre  Löhnung  unverkürzt. 

Agorakritos. 
Da  wirst  du  manchen  abgesessnen  Steiss  erfreun. 

Demos. 

Zum  Zweiten,  wer  als  Hoplite  in  der  Liste  steht 
Wird  keinenfalls  mehr  umgeschrieben  nach  Vergunst; 
Nein,  wie  er  einfnal  eingeschrieben  ist,  so  bleibt's. — 
Auch  spreche  kein  Unbärt'ger  in  der  Versammlung  mehr. 

Aber  positive  Mittel  zur  Abhülfe  anzugeben  war  allerdings  auch 
nicht  des  Dichters  Aufgabe;  ihm  genügte  es  dass  sein  Ideal  in 
seinem  Herzen  lebte  und  leuchtend  vor  seinem  Geiste  stand,  und 
im  Uebrigen  war  für  ihn  die  Hauptsache  die  Kritik  die  er  vom 
Standpunkt  seines  Ideals  aus  an  den  Erscheinungen  der  Gegen- 
wart übte. 


f% 


•)  Nach  der  umgearbeiteten  Uebersetzung  von  Schnitzer  (Stuttgart 
1854)  in  den  Classikern  des  Alterthums  XXn. 

Teuf  fei,  Studien.  7 


98  Ari&tophanes*  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

In  dieser  Beziehung  verfuhr  Aristophanes  mit  bemerkens- 
werther  Gründlichkeit.  Kein  Gebiet  des  Lebens  gab  es  das  er 
nicht  in  der  Verfolgung  des  neuen  Geistes  durchmessen  hätte, 
keine  Stelle  war  so  abgelegen  oder  harmlos  dass  er  nicht  sein 
Wild  daraus  aufgescheucht  hätte.  Die  äussere  wie  die  innere 
Politik,  Erziehung  und  Privatleben,  Philosophie  und  Beredtsam- 
keit,  Poesie  und  Musik  trugen  ihm  Spuren  des  Abfalls  von  seinem 
Ideale  an  sich,  und  er  entwickelte  in  deren  Aufßndung  eine  Fein- 
heit der  Beobachtung  und  einen  Scharfblick ,  in  ihrer  «Bekämpfung 
einen  bürgerlichen  Mut,  der  unsere  ganze  Bewunderung  verdient. 
Wo  er  einen  MissgrifT  begieng,  da  geschabtes  im  Uebermass  des 
Eifers,  das  ihn  zuweilen  über  die  Grenzen  der  Berechtigung 
hinaustrug. 

Was  er  vor  allem  weghaben  will  aus  den  Zuständen  der 
Gegenwart,  das  ist  der  unheilvolle  Krieg,  in  welchen  Athen 
durch  seinen  Ehrgeiz  und  seinen  Uebermut  hineingerathen  war, 
ein  Krieg  in  dem  kein  Theil  des  Sieges  froh  werden  konnte, 
weil  es  ein  Krieg  unter  Stammesgenossen  und  Brüdern  war,  und 
der  nur  mit  allgemeiner  Erschöpfung  und  Gefährdung  der  Freiheit 
von  Allen  enden  konnte,  für  die  Gegenwart  aber  eine  Quelle 
furchtbarer  Verwilderung  war.  Die  Beseitigung  dieses  Grund- 
übels ist  ein  so  dringendes  Anliegen  unseres  Dichters  dass  er 
nahezu  in  allen  Stücken  welche  in  die  Zeit  des  Krieges  fallen 
darauf  zu  reden  kommt,  ganze  Komödien  eigens  dahin  abzielen 
die  Segnungen  des  Friedens  und  die  Schrecken  des  Kriegs  aus- 
zumalen, der  Abschiuss  eines  —  freilich  nur  vorübergehenden 
—  Friedens  von  ihm  gleichfalls  in  einem  eigenen  Stücke  gefeiert 
wird,  und  an  den  damaligen  Volksleitern  und  Volksschmeichlern 
seinen  Grimm  nichts  so  sehr  erregt  als  dass  sie  fortwährend  zum 
Kriege  hezten  und  billigen  Vergleichen  entgegenwirkten.  Aber 
auch  dem  Volk  im  Ganzen  sagte  er  desshalb  bittere  Wahrheiten. 
So  Lysistrata  1228  ff.*): 

Beim  Wein  sind  wir  Athener  die  Gescbeidtsten  stets, 

Doch  nüchtern  sind  wir  niemals  king.    Dmm,  folgt  man  mir, 

Stets  wären  dann  wir  als  Gesandte  tranken. 

Denn  wenn  wir  nüchtern  hin  nach  Sparta  kommen, 

Gleich  sehn  wir  wo  wir  Wirrwarr  machen  können, 

Und  was  sie  sagen  hören  wir  nicht  an, 

Und  wa«  sie  nicht  gesagt  argwöhnen  wir, 

Und  dann  berichten  wir  wie^s  uns  gefällt! 

*)  Nach  der  Uebersetzung  von  L.  Seeger. 


Verhalten  zum  Kriege.  99 

Die  Stücke  welche  eigens  die  Empfehlung  des  Friedens  ^zum 
Gegenstände  haben  sind  die  Ach  am  er  und  Lysistrata.  In 
jenen  stellt  er,  um  seinem  Volke  gleichsam  den  Mund  wässern  zu 
machen  nach  dem  Frieden,  einen  attischen  Landmann  dar  welcher 
auf  eigene  Faust  einen  dreissigjährigen  Frieden  mit  den  Spar- 
tanern für  sich  und  sein  Haus  abschliesst  und  nun  überallhin 
freien  Verkehr  und  alle  Genüsse  im  Ueberflusse  hat,  von  allen 
Seiten  beneidet  wird  und  mit  Hohn  zusieht  wie  die  Freunde  des 
Kriegs  durch  diesen  selbst  zu  leiden  haben.  In  der  Lysistrata 
lässt  er  die  Frauen  von  Hellas  sich  zusammenthun,  um  ihre 
Männer  zum  Abschluss  des  Friedens  zu  höthigen ,  was  ihnen  auch 
gelingt;  ihre  Wortführerin  versöhnt  die  feindlich  einander  gegen- 
überstehenden Völker,  indem  sie  Recht  und  Unrecht  unbefangen 
abwägt.    Sie  spricht  nämlich  (v.  1115  GT.}: 

—  Ihr  Sparter  stellt  euch  bieher  neben  mich, 
Und  ibr,  Athener,  daher.    Höret  nun  mich  an.  — 
leb  nehme  jezt  euch  vor  und  scbelt*  euch  aus, 
Wie  ibr's  verdient!  —  Bespreiigt  ibr  die  Altäre 
Aus  Einem  Kessel  nicht  als  Stammverwandte? 
Habt  ibr  Barbaren,  Feinde  nicht  genug, 
Dass  ibr  vertilgt  hellen'scbe  StädV  und  Männer?  — 
So  vielfach  schuldet  ibr  euch  gegenseitig  Dank: 
Warum  bekriegt  und  quält  ibr  also  euch?    Warum 
Versöhnt  ibr  euch  doch  nicht?    Was  bindert  euch? 

In  dem  ^.Frieden"  betitelten  Stücke  stellt  Aristopbanes  die 
Wiederkehr  des  Friedens  in  der  Weise  der  alten  attischen  Komö- 
die, d.  h.  phantastisch  dar.  Abermals  ein  attischer  Landmann 
ist  der  hiefür  am  meisten  Thätige.  £r  schwingt  sich  auf  einem 
wohlgefütterten  Riesenmistkäfer  zum  Olympos  empor,  um  sich 
bei  den  Göttern  für  endliches  Aufhören  des  Kriegs  zu  ver- 
wenden. Die  Götter  triflt  er  zwar  nicht  zu  Hause ;  sie  sind  weg- 
gezogen und  haben  dem  Krieg  ihre  Wohnung  übjerlassen;  aber 
Hermes  ist  als  Thürhüter  zurückgeblieben,  und  mit  dessen  Hülfe 
gelingt  es  das  in  einen  Abgrund  gestürzte  und  verschüttete  Bild  des 
Friedens  herauszuarbeiten,  und  er  bringt  es  nun  hinab  auf  die 
jubelnde  Erde.     Da  singt  der  Chor  zum  Beispiel  (v.  1127  if.):''^) 

O  wie  schön,  o  wie  schön, 
Dass  ich  los  den  Helmbuscb  bin, 
Und  die  Zwiebel  und  den  Käs'! 
Nein,  den  Krieg,  den  mag  ich  nicht! 


*)  Nach  der  Uebersetzung  von  L.  Seeger. 


100  Aristophanes*  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

Aber  o  wie  selig  ist^s 

Wein  zu  nippen  Schlack  um  Schluck, 

Froh  gelagert  um  den  Herd! 

Wenn  im  Feld  lustig  hell 

Der  Cikade  Lied  ertönt; 

O  wie  freut  es  mich  zu  sehn 

Nach  den  edlen  lemnischen 

Reben,  ob  die  Beeren  weich; 

Und  dabei  den  Sommer  durch 

Werd*  ich  kugelrund  und  fett. 

Nichts  behaglicher  als  dieses:  wenn  die  Saatzeit  ist  vorbei 
Und  der  Himmel  Regen  spendet,  und  ein  Nachbar  kommt  und  spricht: 
Hör\  was  meinst  du,  Freund,  was  fangen  wir  nun  an,  Komarchides? 
Da  der  Himmel  uns  so  gnädig,  meinst  du  nicht  wir  trinken  eins? 
Also  Weibchen,  setz  an^s  Feuer  Erbsen  heut  drei  Mässchen  voll. 
Nimm  auch  Kuchenmehl  vom  feinsten,  spare  ja  die  Feigen  nicht! 
Sahne  hatt'  ich  auch  im  Hause,  Hasenfleisch  vier  Stücke  noch. 
Wenn  mir  über  Nacht  die  Katze  nicht  davon  gestohlen  hat; 
Ja,  es  war  im  Haus  nicht  richtig,  und  es  kratzt*  und  polterte! 
Junge,  bring*  uns  nur  drei  Stücke:  lass  dem  alten  Vater  eins. 
Ruf  auch  im  Vorübergehen  dem  Charinades:  er  soll 

Heute  fröhlich  mit  uns  trinken, 

Weil  der  Himmel  unsem  Fluren 
Segen  und  Gedeihen  schenkt. 
Besser  als  den  gottverfluchten  Hauptmann  'rumstolzieren  sehn. 
Mit  drei  Büschen  auf  dem  Helme  und  dem  schreiend  rothen  Rock!  — 
Wie  daheim  uns  Seinesgleichen  hudelt!  halt*s  der  Henker  aus! 
Schreiben  Einen  auf  zum  Kriegsdienst,  löschen  aus  und  schreiben  ab, 
Schreiben  wieder,  löschen  wieder.     Morgen,  heisst  es,  geht^s  ins  Feld! 
Nichts  ist  eingekauft,  man  wusste  nichts  als  man  von  Hause  gieng. 
Also  machen  sies  dem  Landvolk,  —  in  der  Stadt  hier  auch  nicht  viel 
Besser,  diese  Schildabwerfer,  Gott  und  Menschen  gleich  verhasst! 
Aber  einmal  doch,  so  Gott  will,  rechnen  wir  mit  ihnen  ab. 

Den  verruchten  Missethätern , 

Die  zu  Haus  den  Löwen  spielen. 
Aber  in  der  Schlacht  den  Fuchs! 

Um  SO  dringender  ist  der  Wunsch  dass  das  Glück  des  Friedens 
auch  Bestand  haben  möge.  Aristophanes  gibt  demselben  Worte, 
z.  B.  in  dem  Chorlied  (v.  987  ff.): 

„Irene,  du  heilige  Königin,  nimm 
Diess  Opfer  in  Gnaden,  o  Liebliche,  hin! 
Und  tractier*  uns  nicht  wie  die  Weiberchen  thUn: 
Die  stehen  am  Fenster  und  öffnen  es  halb. 
Und  recken  die  Köpfchen  und  gucken  heraus; 
Doch  wirft  man  den  Schlauen  ein  Auge  zu  — 
Husch,  fliehen  sie  zurück. 


Der  Friede.  101 

Und  geht  man,  so  schan^n  sie  von  neuem  heraus. 
Nein,  also,  Verehrteste,  neck'  uns  nie! 

Lass  deine  Verehrer  leibhaftig  und  ganz 

In  der  Schönheit  Fülle  dich,  Göttliche,  schaun, 

Uns,  die  wir  yergiengen  vor  Sehnen  nach  dir 

Schon  dreizehn  Jahr. 
Schlag  nieder  den  Krieg  und  den  knurrenden  Sturm, 

Und  Victoria  sollst  du  uns  heissen! 
Verbanne  bei  uns  die  Verdächtigungssucht, 

Die  so  zierlich  und  glatt 
Und  geschwätzig  uns  wider  einander  hezt! 
Schenk  friedlichen  Sinn  und  v^öhnlichen  Geist, 
Lass  schauen  uns  wieder  die  Fülle  des  Markts: 
Grossmächtige  Zwiebeln  und  Knoblauch,  dazu 

Frühgrirken,  Melonen,  Granaten !*' 

Aber  damit  ein  wahrer  Friede  möglich  und  dauernd  wurde, 
mQsste  es  ^~  und  dass  entgeht  dem  Dichter  nicht  —  auch  im 
Innern  ganz  anders  aussehen  als  in  Wirklichkeit  der  Fall  war. 
In  dieser  Beziehung  ist  vor  allem  seine  Mahnung:  „Seid  einig» 
einig,  einig!''  Er  glaubt,  es  sollten  diejenigen  welche  es  mit 
dem  Vaterlande  wohl  meinen  sich  gegenseitig  die  Hand  reichen 
und  die  Selbstsüthtigen  und  Schlechten  aus  dem  Felde  schlagen, 
lieber  die  Vergangenheit,  meint  er,  sollte  man  einen ^  Schleier 
werfen ,  die  verschiedenen  Parteien  einander  gegenseitig  vergessen 
und  vergeben  was  sie  einander  zu  Leide  gethan  oder  am  Vaterlande 
gesündigt,  das  Misstrauen  und  die  Eifersucht  unter  einander,  und 
den  Hochmut  des  speci6$chen  Athenerthums,  das  hoch  herab 
sieht  auf  Halbburger,  Nichlbürger  und  Sklaven,  jezt,  wo  die 
Noth  an  die  Thure  klopft,  in  die  Schanze  schlagen  und  Jeden  als 
das  nehmen  was  er  seinem  Innern  Werthe  nach  ist  und  was  er 
leistet.  Diese  patriotischen  Phantasien  sind  ausgeführt  in  Stellen 
wie  „Weibervolksversammlung**   175  —  208,   Frösche  v.   686  ff.: 

„  Wohl 'geziemt^s  dem  heiigen  Chore  was  dem  Staate  frommen  mag 
Anzurathen  und  zu  lehren.    Und  vor  allem,  meinen  wir, 
Sollten  gleich  die  Bürger  werden  und  verbannt  die  Schreckenszeit. 
Frei  stehn,  mein*  ich,   sollt'  es  Jedem  der  sich  früher  hat  verfehlt 
Durch  Rechtfertigung  zu  tilgen  vor'ger  Zeit  Vergebungen. 
Femer,  denk*  ich,  ehr-  und  rechtlos  sollt'  im  Staate  Keiner  sein. 
Drum  wohlan,  vergesst  des  Zornes,  klug  und  weise,  wie  ihr  seid, 
Lasst  als  Brüder  denn  uns  Jeden  ohne  Rückhalt  an  uns  ziehn, 
Una  als  ehrlich  und  als  Bürger,   wer  mit  uns  den  Feind  bekämpft! 
Wenn  wir  mit  den  Bürgerrechten  vornehm  thun  und  stolz  uns  blähn, 
Jetzo ,  wo  im  Arm  der  Wogen  hin  und  iier  uns  wiegt  der  Sturm , 
Dann  wird  von  der  Nachwelt  unsrer  Einsicht  wenig  Lob  gezollt.** 


102  Aristophanes'  Stellung  zu  Bciuci*  Zeit. 

DaS'  ist  aber  in  Stucken  aus  einer  Zeit  allgemeiner  Gedrücktheit 
und  Mutlosigkeit,  nach  schwerem  Unglück ^  in  einer  Stimmung 
\velcher  auch  der  Dichter  sich  nicht  ganz  zu  entziehen  vermochte 
und  welche  für  kühnere  und  durchgreifendere  Vorschläge  nicht 
zugänglich  gewesen  wäre.  Es  war  damals  eine  Luft  In  Athen, 
so  dumpf  und  so  beklemmend  wie  im  Zimmer  eines  schwer  Er- 
krankten ;  aber  die  Fenster  aufzureissen  hätte  höchstens  des  Kranken 
Zustand  verschUmmern  können:  und  der  Kranke  war  das  Vater- 
land. Dagegen  in  früherer  Zeit,  als  der  Staat  noch,  zwar  nicht 
gesund ,  aber  doch  noch  b^^räften ,  doch  noch  lebensfähig  war, 
wo  sein  Leiden  vielmehr  in  einem  Uebermass  von  Kraftgefühl  be- 
stand, in  einem  wilden  Losstürmen  auf  den  eigenen  Organismus,  als 
wäre -er  unverwüstlich:  damals  hat  sich  der  Dichter  nicht  be- 
schränkt auf  fromme  Wünsche  und  wehmütige  Vorschläge,  damals 
ist  er  nicht  so  leise  und  schüchtern  aufgetreten,  sondern  herz- 
haft hat  er  sich  dem  Tobenden  in  den  Weg  gestellt  und  ihm 
die  Wahrheit  ins  Gesicht  gesagt,  den  gewissenlosen  Fuhrern, 
die  seiner  Leidenschaft  noch  schmeichelten  und  sie  zu  steigern 
suchten ,  die  Stirne  geboten ,  und  ganz  offen  darauf  hingearbeitet 
sie  zu  stürzen  und  durch  besser  gesinnte  zu  ersetzen.  So  ganz 
besonders  in  den  Rittern,  wo  der  Dichter  einen  völligen  Ver- 
nichtungskrieg unternimmt  gegen  den  damals  auf  dem  Gipfel 
seiner  Macht  stehenden  Demagogen  Kleon  und  mit  grimmigem, 
fanatischem  Hasse  auf  denselben  losstürzt.  Die  Leidenschaftiiehkeit 
des  Angriffs  ist  so  gross,  die  Waffen  dabei  meist  so  massiv  und 
die  Beschuldigungen  zum  Theil  so  offenbar  übertrieben  oder  gar 
wahrheitswidrig  dass  über  dem  Parteielfer  häufig  genug  die  reine 
Poesie  zu  kurz  kommt  und  wir  selten  zu  einer  behaglichen,  rein 
heitern  Stimmung  zu  gelangen  vermögen.  Wenige  Proben  werden 
diess  klar  machen: 

Nieder,  nieder  mit  dem  Schurken,  der  die  Ritterschaar  verwirrt, 
Diesem  Zöllner,  diesem  Schlünde,   der  Charybdis  gleich  im  Rftub, 
Diesem  Schurken,  diesem  Schurken,  immer  wieder  sAg*  ich  das. 
Wie  auch  er  so  oft  am  Tage  Schurk'  und  wieder  Schurke  war. 
Auf  denn,  hau*  ihn  und  verfolge,  ängstige,  bring*  ihn  ausser  sich. 
Und  verfluch*  ihn,  wie  wir  alle,  stürme  schreiend  auf  ihn  ein! 
Aber  Achtung!  sonst  entwischt  er;  denn  er  kennt  die  Schliche  wohl. 


O  verflucht  schreierisches  Lästermaul!  deiner  Schamlosigkeit 
Ist  ja  voll  alles  Land,  jeglicher  Gemeindescfaluss ,  Zollvertrag, 
Aktenbund,  sind  Gerichtshöfe  voll,  o  Gestankrtihrer  du, 


Die  Ritter.  •  103 

Der  du  in  der  ganzen  Stadt  alles  uns- wühlest  um; 
Der  du  uns  mit  deinem  SchreiQ^  ganz  Athen  hast  taub  gemacht, 
Und  Yon  Felsen  hoch,  ein  Thnnfischfänger,  nach  Tributen  spähst! 


So  wie  die  Fischer  machtest  du*s,  die  Aale  fangen  wollen: 

So  lang  das  Wasser  ruhig  ist  bekommen  sie  gewiss  nichts; 

Doch  rühren  sie,  herauf  hinab,  den  Schlamm  recht  durcheinander, 

Dann  fangen  sie.    So  fängst  auch  du,  wenn  du  den  Staat  verwirrest.*) 

Und  was  in  den  Ritlern  dramatisch  dargestellt  wird ,  Klcons 
Absetzung,  das  wird  im  nächslverfassten  Stücke  gleichfalls  mit 
dürren  Worten  beantragt: 

Wenn  den  Kieon  ihr  der  Unterschlagung  und  Bestechlichkeit 
Ueberfuhrt  und  ihm  den  Nacken  tüchtig  mit  dem  Blocke  schnürt. 
Kehrt  die  alte  Ordnung  wieder,  trotzdem  dass  ihr  euch  verfehlt; 
Und  so  wird  auch  jener  dumme  Streich  zum  Besten  euch  gedeihn.**) 

Trotz  alle  dem  aber  dürfen  wir  unsern  Dichter  nicht  für 
so  kurzsichtig  halten  dass  er  wirklich  im  Ernst  geglaubt  hätte, 
Kleon  sei.  das  einzige  oder  doch  hauptsächlichste  Hinderniss  für 
Athens  Wohlergehen,  und  man  dürfe  nur  ihn  beseitigen,  so  werde 
Athen  wieder  von  selbst  den  früheren  Glanz  gewinnen.  Auch 
ihm  entgieng  nicht  dass  die  Ursache  des  Verfalls  tiefer  liege,  dass 
die  Bedeutung  zu  welcher  Kleon  gelangt  nur  ein  Symptom  sei  von 
der  eigentlichen  Krankheit,  und  dass  derselbe  keinen  Tag  sich 
zu  halten  vermöchte,  wenn  bei  dem  Volke  selbst  und  den  so- 
genannten Gutgesinnten  alles  so  wäre  wie  es  sein  sollte.  Als  die 
Wurzel  des  Uebels  erkannte  der  Dichter  vielmehr  den  unauf- 
haltsam eindringenden  neuen  Geist,  dessen  bewussteste  Ver- 
treter die  sogenannten  Sophisten  waren,  welche  zwar  alle  aus 
andern  Theilen  Griechenlands  stammten,  in  Athen  aber  für  ihre 
Saat  einen  so  empfänglichen  und  wohl  vorbereiteten  Boden  fanden 
dass  sie  rasch  aufschoss  und  wuchernd  um  sich  grifT.  Der  Erfolg 
der  Perserkriege,  in  welchen  jeder  Einzelne  und  Alle  fast  auch 
in  gleichem  Masse  zur  Rettung  des  Vaterlandes  beigetragen,  in 
welchen  das  Volk  selbst  und  durch  sich  selbst  der  feindlichen 
Uebermacht  sich  erwehrt  hatte,  dieser  Erfolg  hatte  wesentlich 
dazu  beigetragen  Athens  Verfassung  aus  einer  beschränkt  demo- 
kratischen in  eine  ganz  unumschränkt  demokratische,  in  eine 
ochlokratische  umzuwandeln  und   jeden   Einzelnen   im  Volk   mit 


*)  Ritter  v.  247  ff.  303  ff.  864  ff. 
**)  Kleons  Wahl  zum  Strategen,  Wolken  v.  591  ff. 


104  Arißtophanes'  Stellung  zu  seinei»  Zeit. 

einem  Selbstgefühl  zu  erfüllen  als  hienge  von  ihm  das  Ganze 
ab.  Zu  dieser  Verfassung,  wo  jeder  Einzelne  sich  als  Souverän 
fühlte  und  gebärdete,  stimmte  vortrefflich  eine  Lehre  deren 
Fundamentalsatz  war  dass  der  Mensch,  und  zwar  der  einzelne 
empirische  Mensch,  das  Mass  aller  Dinge  sei.  Diese  Berechtigung 
und  Aufforderung  nichts  Festes  zu  dulden,  alles  in  den  Strom 
der  Wandlung  hinein  zu  ziehen,  alles  immer  neu  aus  sich  zu 
erzeugen,  das  gestern  Beliebte  heute  zu  verwerfen  und  morgen 
wiederaufzunehmen,  sagte  ferner  dem  beweglichen,  leichtfertigen 
Sinne  des  attischen  Stadtbewohners  vollkommen  zu,  so  wie  die 
sophistische  Kunst  und  Uebung  des  Redens  um  seiner  seihet  willen 
der  angeborenen  Zungenfertigkeit  jenes  Völkchens  freundlich  ent- 
gegen kam.  Zu  der  Denkweise  der  älteren  Zeit  «Athens,  mit  ihrer 
unbefangenen  Hingabe  an  das  Ganze  des  Staats  und  an  die  Götter, 
mit  ihrer  Unterwerfung  des  Einzelwillens  und  Einzeldenkens  unter 
das  Herkommen  in  Staat  und  Religion,  bildete  freilich  dieser 
neue  Geist  einen  auffallenden  Contrast,  und  zwischen  dem  eigent- 
lichen Volk  und  den  Gebildeten,  zwischen  der  vorgeschrittenen, 
pietätsiosen,  zweifelsüchtigen  Stadt  und  dem  nicht  in  gleichem 
Schritt  mit  ihr  auf  der  Bahn  der  Aufklärung  vorwärts  drängen- 
den Landvolke  entstand  dadurch  eine  Kluft  welche  jeden  tiefer 
Blickenden  mit  Besorgniss  und  Trauer  erfüllen  musste.  Zweierlei 
Generationen  waren  es,  einander  fast  durchaus  entgegengesetzt 
in  ihrem  Glauben  und  Wollen,  die  Jungen  herabsehend  auf  die 
zurückgebliebenen  Alten,  und  die  Alten  mit  Widerwillen  und 
Hass  blickend  auf  das  Gebaren  der  Jungen,  und  den  Zorn  der 
Götter  darob  fürchtend ,  zum  Theil  schon  leidend  unter  den  Folgen 
desselben:  gleichsam  zwei  Welten,  die  einander  gegenseitig  ab- 
stiessen  und  ewig  mit  einander  im  Kampfe  lagen,  nur  durch 
ein  schwaches  äusseres  Band  zusammengehalten:  ein  Zwiespalt 
welcher  unfehlbar  zur  Schwächung  und  endlichen  Auflösung  des 
Ganzen  führen  musste.  * 

Unser  Dichter  hat  ein  klares  Bewusstsein  von  diesem  Gegen- 
satz ,  und  seine  älteren  Stücke  alle  drehen  sich  um  ihn  als  ihren 
Angelpunkt.  Namentlich  aber  in  den  Wolken  hat  er  ihn  eigens 
und  in  höchst  geistreicher  Weise  dargestellt  (vgl.  daselbst  v.  961  ff. 
981  ff.  1002  ff.  1071  ff.).  Je  vollständiger  er  sich  aber  aller  Folgen 
dieses  Gegensatzes  bewusst  war,  desto  mehr  trieb  es  ihn  den- 
selben aufzuheben  und  die  Kluft  auszufüllen.  Und  da  er,  obwohl 
nicht  blind  für  die  Schwächen  der  alten  Zeit  und  ihrer  Vertreter, 


Verhalten  zum  neuen  Geiste.   Die  Wolken.  105 

doch  das  Unrecht  überwiegend  auf  Seiten  der  neuen  fand,  so 
wollte  er  jene  Einigung  dadurch  herbeigeführt  wissen  dass  die 
neue  Zeit  von  ihren  meisten  tmd  schroffsten  Eigenthumlichkeiten 
lasse  und  zum  Wesen  der  alten  zurückkehre ^  bei  welchem  der 
Staat  gross  geworden.  _Er  tritt  daher  mit  der  Wärme  eines  Hannes 
der  sich  seiner  redlichen  Absichten  bewusst  ist  auf  gegen  die- 
jenigen welche  er  unter  den  Bürgern  Athens  als  die  zurechnungs- 
fähigsten und  einflussreichsten  Vertreter  des  neuen  Geistes  er- 
kannte. Diess  waren  iri  seinen  Augen  Sokrates  und  Euripides. 
Das  Stück  in  welchem  Aristophanes  den  Sokrates  bekämpft 
sind  bekanntlich  die  Wolken.  In  diesen  stellt  der  Dichter  einen 
Angehörigen  der  alten  Zeit  dar,  welcher  aus  selbstsüchtigen  Be- 
weggründen sich  mit  dem  neuen  Geist  zu  befreunden  sucht  und 
daher  zuerst  selbst  bei  Sokrates  in  die  Schule  geht,  dann  seinen 
Sohn  dahin  schickt,  aber  am  Ende  vor  den  praktischen  Conse- 
quenzen  der  neuen  Richtung  erschrickt,  vor  ihrer  furchtbaren 
Frivolität  und  Impietät,  die  selbst  gegen  die  leihlichen  Eltern 
die  frevle  Hand  erheben  macht,  und  daher  wieder  umwendet 
und  zu  seiner  alten  Denkweise  zurückkehrt.  Sokrates  wird  also 
hier  als  geistiges  Haupt  der  neuen  Richtung  dargestellt  und  dem- 
gemäss  die  auffallendsten  Züge  und  Merkmale  derselben  alle  auf 
seine  Person  übergetragen,  sogar  einander  widersprechende,  wie 
Bedürfnisslosigkeit  und  Habgier,  Gleichgültigkeit  gegen  sinnliche 
Genüsse  und  parasitisches  Wesen,  Widersprüche  welche  ihre 
Lösung  darin  haben  dass  die  eine  Reihe  von  Eigenschaften  dem 
historischen,  wirklichen  Sokrates  angehört,  die  andere  dem  in 
der  Person  des  Sokrales  zusammengefassten  und  mit  dessen  Namen 
bezeichneten  modernen  Wesen ,  insbesondere  der  Blüte  desselben, 
der  Sophistik.  Zwar  geschah  dem  Sokrates  schweres  Unrecht 
durch  dieses  Zusammenwerfen  seines  Thuns  und  Lehrens  mit  dem 
Hier  Sophisten,  da  er  sich,  obwohl  vielfach  auf  demselben  Boden 
mit  ihnen  stehend,  doch  ganz  wesentlich  von  ihnen  unterschied^); 
indessen  würden  ebenso  auch  wir  unserem  Dichter  Unrecht  thun 
wenn  wir  unser  Bewusstsein  über  die  principielle  Grundver- 
schiedenheit  beider  ihm  unterschieben  und  vergessen  wollten  dass 
nach  den  Begriffen  des  damaligen  Athen  die  eigentlichen  Sophisten, 
als  Ausländer,   nicht   zum  Hauptgegenstande  eines  im  attischen 


*)  Vgl.   die  Einleitung  zu  meiner  Ausgabe    der  Wolken  (Leipzig, 
1867)  S.  37  flf. 


106  Ariätopbdnes'  Stelluug  zu  sciaer  Zeit. 

Tbealer  dem  attischen  Volke  vorzuführenden  Stuckes  gemacht 
werden  konnten,  dass  die  attische  Eitelkeit  sich  sogar  dagegen 
gesträubt  haben  wurde  die  Ehre  der  Erßndung  und  grösseren 
Bedeutung  auf  diesem  Gebiete  Ausländern  abzutreten,  und  daher 
Aristophanes ,  wenn  er  die  Sophistik  auf  die  Bühne  bringen 
wollte,  von  allen  Seiten  darauf  hingewiesen  war  zum  Vertreter 
derselben  den  Sokrates  zu  machen.  Dadurch  hat  er  uns  die  Mühe 
gemacht  die  Züge  auseinanderzulesen  welche  dem  wirklichen  So- 
krates und  welche  den  Sophisten  entnommen  sind.  Am  Dichter 
selber  aber  rächte  sich  die  Wahl  eines  für  komische  Behandlung 
wenig  günstigen  Stoffes  und  das  thatsäcblich  unrichtige  Zusammen- 
werfen verschiedenartiger  Richtungen  und  Persönlichkeiten  da- 
durch dass  sein  Stück,  in  der  Gestalt  in  der  es  auf  die  Bühne 
kam,  den  gehoßlen  Beifall  bei  weitem  nicht  erlangte. 

Als  zweiten  Vertreter  des  neuen  Geistes  behandelt  unser 
Dichter  den  Tragiker  Euripides,  und  er  hatte  darin  nicht 
Unrecht;  denn  auch  Euripides,  wie  Sokrates,  hatte  die  Fesseln 
der  Autorität  von  sich  abgestreift,  auch  er  erkannte  dem  seiner 
selbst  bewussten  und  aufs  Edle  gerichteten  Ich  das  Recht  freiester 
Bewegung  zu,  und  er  wird  sogar  vielfach  als  Schüler  des  So- 
krates bezeichnet.  Ihn  für  die  Früchte  des  neuen  Geistes  ver- 
antwortlich zu  machen  hatte  Aristophanes  sogar  etwas  mehr  Recht 
als  gegenüber  von  Sokrates.  Zwar  als  Schöpfer  der  neuen  Richtung 
konnte  Euripides  unmöglich  betrachtet  werden,  desto  eher  aber 
als  ihr  einflussreichster  Apostel.  Denn  während  Sokrates  nur  in 
einem  engen  Kreise  wirkte,  so  waren  dagegen  die  Stücke  des 
Euripides  allenthalben,  so  weit  die  hellenische  Zunge  reichte, 
gelesen,  bewundert,  auswendig  gelernt.  Von  seiner  Popularität 
gibt  uns  einen  anschaulichen  Begriff  die  Erzählung  des  Plutarch*) , 
von  den  bei  dem  unglücklichen  sicilischen  Feldzug  in  Gefangen- 
schaft und  Sklaverei  gerathenen  Athenern  haben  viele  ihre  Frei- 
lassung vorzugsweise  dem  Umstände  zu  danken  gehabt  dass  sie 
Stellen  aus  Euripides  auswendig  wussten  und  dadurch  die  Gunst 
ihrer  sicilischen  Herren  sich  erwarben,  welche  ganz  besonders 
eifrige  Bewunderer  des  Euripides  waren.  Und  aus  der  entgegen- 
gesetzten Richtung,  aus  Karlen,  wird  berichtet,  ein  von  See- 
räubern verfolgtes  griechisches  Schilf  habe  in  einem  dortigen  Hafen 
erst  dann  Aufnahme  gefunden  als  seine  Mannschaft  die  Frage,  ob 


*)  Leben  des  Nikias,  Cap.  29.  vgl.  Polyän.  VII,  41.  VIII,  52. 


Verhalten  zu  Sokrates  und  Euripides.  107 

sie  Lieder  von  Euripides  auswendig  wissen,  bejaht  habe.  Anek- 
doten dieser  Art  beweisen  wenigstens  so  viel  dass  Euripides  dem 
Geist  und  Geschmacke  seiner  Zeit  yollkommen  entsprach  und  zu- 
sagte, dass  sie  in  seinen  Gedichten  ein  Spiegelbild  ihrer  eigenen 
Denkweise  erkannte,  und  dass  daher  Aristophanes  nicht  so  ganz 
fehlgriif  wenn  er  die  Streiche  die  er  dem  Zeitgeist  versetzen 
wollte  gegen  Euripides  führte.  Die  Pofemik  gegen  diesen  zieht 
sich  durch  alle  Stucke  des  Aristophanes;  da  ist  keines  in  welchem 
nicht  wenigstens  einzelne  Steilen  des  Tragikers  parodiert  würden, 
und  von  den  eilf  auf  lAis  gekommenen  sind  drei  fast  ausschliess- 
lich dem  Euripides  gewidmet. 

In  dem  einen  (Thesmophoriazusen)  ist  es  des  Tragikers 
Abneigung  gegen  das  weibliche  Geschlecht  im  Ganzen  was  den 
Hauptgegenstand  der  Komödie  bildet.  Die  Frauen  benützen  ein 
religiöses  Fest,  bei  welchem  sie  versammelt  sind  und  kein  Mann 
Zutritt  hat,  um  darüber  zu  berathen  wie  sie  den  Euripides  be- 
strafen wollen  für  die  Schmähungen  die  er  in  seinen  Stücken 
über  ihr  Geschlecht  auszugiessen  pflege.  Von  dieser  ihrer  Absicht 
hat  natürlich  schon  vorher  verlautet,  und  so  ist  auch  dem  Euripides 
zu  Ohren  gekommen  dass  sie  seinen  Tod  beschliessen  wollen. 
Um  das  wo  möglich  abzuwenden,  sucht  er  einen  Verlheidiger 
seiner  Sache  einzuschwärzen.  Er  wendet  sich  daher  zuerst  an 
seinen  CoUegen,  den  weibischen  Tragiker  Agathon,  um  ihn  zu 
bereden  dass  er  sich  in  Weiberkleidern  in  die  Versammlung  der 
Frauen  einschleiche.  Als  Agathon  sich  dazu  nicht  entschliessen 
kann,  so  übernimmt  die  schwierige  Sendung  der  Schwager  des 
Euripides,  Mnesilochos.  Diesem  gelingt  es  wirklich  in  die  Ver- 
sammlung der  Frauen  einzudringen,  und  er  sucht  hier  den  Beweis 
zu  fuhren  dass  des  Tragikers  Vorwürfe  gegep  die  Weiber  nicht 
nur  vollkommen  begründet  seien,  sondern  hinter  der  Wahrheit 
sogar  noch  zurückbleiben.  Aber  durch  Verrath  eines  Bundes- 
genossen der  Frauen  unter  dem  Geschlechte  der  Männer  kommt 
.der  versuchte  Schlich  an  den  Tag.  Mnesilochos  wird  beim  Amte 
angezeigt,  verhaftet,  von  Euripides  jedoch  mit  List  befreit,  im 
Einverständniss  mit  den  Frauen ,  gegen  das  Versprechen  sie  künftig 
in  Ruhe  zu  lassen. 

Wird  schon  in  diesem  Stücke  Euripides  nach  allen  Eigen- 
ihümlichkeiten  seiner  Poesie  durchgenommen,  sein  Unglaube  an 
die  Götter  des  Volks,  seine  Sentenzensucht,  sein  Theaterpathos, 
so  hat  der  Dichter  noch  ausserdem  der  ästhetischen  Kritik  des 


108  Aristophanes*  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

Tragikers  ein  eigenes  Stück  gewidmet,  die  Frösche,  worin  er 
ihn  besonders  mit  Aeschylos  vergleicht  und  an  dem  eben  Ge- 
storbenen in  eben  so  unbarmherziger  als  geistreicher  Weise  das 
Amt  eines  Todtenrichters  ausübt.  Bis  ins  feinste  Detail  hinein 
verfolgt  er  hier  die  Manier  des  Euripides,  er  weiss  sie  durch 
Häufung  und  Uebertreibung  der  charakteristischen  Züge  aufs 
Köstlichste  zu  verspolten ,  wie  er  andererseits  mit  grossem  Ernste 
gegen  die  verderblichen  Wirkungen  desselben  polemisiert.  Dabei 
lässt  sich  Aristophanes  freilich  durch  seinen  Eifer  zum  Theil  über 
das  Ziel  hinausfuhren,  indem  er  den  Tragiker  für  alles  das  ver- 
antwortlich macht  was  zu  dessen  Lebzeiten  in  Athen  sich  allmählich 
geändert  hat,  für  den  Umschwung  in  den  Sitten  wie  im  öffent- 
lichen Leben,  von  welchem  doch  Euripides  nur  eine  Frucht  und 
ein  Herold  war,  nicht  aber  der  Urheber.  So  lässt  er  den  Aeschylos 
sagen  (Frösche  1078  ff.): 

„Was  hat  er  nicht  Alles  verdorben  zumal! 

Und  hat  er  nicht  Kuppler  uns  vorgeführt, 

Und  Schwestern,  mit  leiblichen  Brüdern  gepaart, 

Und  Leute  die  sagen,  das  Leben  sei  Tod? 

Durch  all  das  hat  er  die  Stadt  uns  gefüllt 

Mit  Rechtsconsulenten  und  Schreibergeschmeiss, 

Volksaffen,  Schmarotzern  mit  wedelndem  Schweif, 

Die  das  Volk  betrogen  zu  aller  Zeit! 

Wer  versteht  sich  denn  noch  auf  den  Fackellauf 

Und  der  Turnkunst  männliche  Uebung?** 

Während  aber  so  unser  Dichter  mit  einer  Art  von  beiligem 
Eifer  losfährt  gegen  diejenigen  welche  nach  seiner  Meinung  Schuld 
waren  an  dem  Alles  zerfressenden  neuen  Geiste,  und  mit  Wärme 
sich  verwendet  für  den  alten  Glauben,  so  sehen  wir  ihn  anderer- 
seits eben  so  entschieden  sich  kehren  gegen  diejenigen  welche 
den  alten  Glauben,  von  dem  sie  vielleicht  innerlich  selbst  ab- 
gefallen waren,  nur  aus  selbstsuchtigen  Beweggründen  festzu- 
halten und  für  ihren  persönlichen  Vorteil  auszubeuten  suchten. 
Sie  erregten  den  Zorn  des  Dichters  auch  dadurch  dass  sie,  an 
die  jeweils  Mächtigsten  im  Staate  sich  anlehnend  und  von  der  Fort- 
dauer des  Kriegs  eine  Förderung  auch  ihrer  Zwecke  hoffend, 
mit  den  Demagogen  und  Führern  der  Kriegspartei  einen  Bund 
geschlossen  hatten  dessen  Opfer  unfehlbar  das  Volk  werden  musste. 
Einen  Solchen  stellt  Aristophanes  z.  B.  im  „Frieden"  1045  ff.  dar, 
wie  er  —  glücklicherweise  zu  spät  und  ohne  Erfolg  —  dem 
Friedensschlüsse  sich  zu  widersetzen  sucht.    Ein  anderes  Exemplar 


Die  Frösche  und  Vögel.  109 

dieser  Gattung  führt  uns  Aristophanes  in  seinen  Vögein  vor 
(v.  959  ff.).  Dieses  Stück  enthält  überhaupt  eine  Zusammen- 
Tassung  alles  dessen  was  der  Dichter  gegen  seine  Zeit  auf  dem 
Herzen  bat,  was  er  aus  seinem  Vaterlande,  damit  es  glücklich 
sein  und  bleiben  könne,  getilgt  wissen  will.  Er  bringt  diess  in 
der  Weise  zur  Darstellung  dass  er  seine  Unzufriedenheit  über 
den  jetzigen  Zustand  Athens  in  zwei  Athenern  verkörpert,  welche 
in  solcher  Stimmung  den  Entschluss  fassen  aus  Athen  auszu- 
wandern und  einen  neuen  Staat  zu  gründen.  Dieser  Gedanke, 
so  wie  die  neue  Gründung  selbst,  wird  aber,  mit  dem  gross- 
artigen Humor  welcher  dieses  ganze  Stück  auszeichnet,  dadurch 
wieder  ironisiert  dass  das  neue  Gen^einwesen  (Wolkenkukuksheim) 
in  die  Luft  gebaut  wird,  somit  sich  selbst  als  Luftschloss  charak- 
terisiert. In  dieses  neue.  Gemeinwesen  sucht  sich  nun  aus  dem 
alten  eine  Menge  unreiner  Elemente  einzudrängen  und  einzu- 
schleichen, die  aber  auf  unsanlle  Weise  abgefertigt  und  fernge- 
halten werden.  Von  diesen  unreinen  Elementen,  welche  nach 
des  Dichters  Ansicht  ausgestossen  werden  müssten,  wird  eine  in 
ihrer  Art  vollständige  Aufzählung  gegeben.  Nach  einander  lässl 
Aristophanes  an  das  neue  Gemeinwesen  anprallen  und  davon 
zurückgestossen  werden  einen  Hungerleider,  von  lyrischem  Dichter, 
einen  habgierigen  Priester,  einen  naturwissenschaftlichen  Charlatan, 
einen  zudringlichen  Regierungscommissär,  einen  frechen  Gesetzes- 
händler, weiterhin  einen  ungerathenen  Sohn,  einen  Musikver- 
derber,  einen,  Denuncianten.  Bemerkenswerth  für  die  Gründlich- 
keit womit  Aristophanes  in  seiner  Polemik  gegen  den  neumo- 
dischen Geist  zu  Werke  geht  ist  neben  der  Mitaufzählung  des 
Husikverderbers  besonders  auch  die  des  angeblichen  Charlatans. 
Es  ist  diess  der  in  der  Geschichte  der  Astronomie  und  Chro- 
nologie noch  immer  mit  Achtung  genannte  Meton,  welchen  der 
Dichter  aus  keinem  andern  Grunde  in  dieser  wenig  respektabeln 
Gesellschaft  aufzählt  als  weil  die  Wissenschaften  welche  Meton 
vertrat,  Geometrie  und  Astronomie,  in  der  Zeit  des  Aristophanes 
neu  aufgekommen  und  von  Angehörigen  der  neuen  Richtung  cul- 
tiviert  waren,  daher  unser  Dichter  dieselben  zu  den  specifischen 
Ausflüssen  und  Kundgebungen  des  neuen  Geistes  rechnen  zu  dürfen 
glaubte. 

Zugleich  aber  ist  dieses  Stück  mehr  als  irgend  ein  anderes 
geeignet  uns  die  Kehrseite  von  Aristophanes*  Stellung  zu  seiner 
Zeit  vor  Augen  stellen.     Zwar  werden  wir  aus  allem  Bisherigen 


•  « 


1 10  Aristophanes^  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

die  Ueberzeugung  zu  schöpfen  haben  dass  es  dem  Dichter  mit 
seiner  Vorliebe  für  die  alte  Zeil  und  seinem  Kampfe  gegen  die 
neue  ausserordentlich  Ernst  ist;  ja  in  vielen  Stellen  legt  er  auf 
diese  seine  ernste  ethische  Tendenz  sogar  das  Hauptgewicht  seiner 
dramatischen  Thätigkeit  und  bezeichnet  sie  als  dasjenige  wodurch 
er  sich  von  andern  Dichtern  dieser  Gattung  am  wesentlichsten 
unterscheide.*)  Nichts  destoweniger  aber  hat  er  für  seinen  ernst- 
lich gewollten  Zweck  ganz  und  gar  untaugliche  Mittel  gewählt, 
Mittel  welche  sogar  das  Gegentheil  von  dem  eigentlich  Gewollten 
bewirken  mussten.  So  kämpft  er  für  den  alten  Glauben  und  die 
alten  Götter,  und  tbut  doch  selbst  sein  Möglichstes  um  sie  lächer- 
lich und  unmöglich  zu  machen;  so  eifert  er  gegen  die  ochlo- 
kratische  Zuchtlosigkeit^  und  benüzt  sie  doch  im  ausgedehntesten 
Masse;  so  zuchtigt  er  die  Volksschmeichler,  und  stellt  doch  selbst 
so  oft  das  Volk  als  den  schuldlosen  Theil  dar,  und  gewöhnt  es 
daran  die  Ursache  des  Uebels  überall  eher  zu  suchen  als  in  sich 
selbst;  so  donnert  er  gegen  die  Wühler,  und  untergräbt  doch 
unermüdlich  das  Bestehende;  so  verhöhnt  er  die  Redekünstler 
welche  nach  Belieben  diese  oder  die  entgegengesezte  Sache  ver- 
fechten, und  lässt  doch  selbst  in  seinen  Stücken  mit  besonderer 
Vorliebe  solche  Wortgefechte  abhalten. 

Zwar  hat  er  natürlich  von  diese^  Verhalten  kein  klares  Be- 
wusstsein:  er  meinte  seiner  Farbe  treu  zu  sein,  und  half  sich 
über  jene  Widersprüche,  wo  sie  sich  auch  ihm  aufdrängten, 
gewiss  durch  allerlei  Mittel  der  Selbsttäuschung  hinüber.  So 
redete  er  sich  ohne  Zweifel  ein  dass  er  ja  nicht  das  Wesen  der 
Götter  lächerlich  mache,  sondern  nur  ihre  Erscheinungsform. 
Aber  für  das  Bewusstsein  des  Volks  waren  beide  unzertrennlich 
in  einander,  für  das  Volk  hieng  das  Sein  der  Götter  unlösbar 
zusammen  mit  ihrer  Persönlichkeit,  und  deren  Personen  lächer- 
lich zu  machen  und  in  komische  Conflicte  zu  bringen  hiess  nichts 
Anderes  als  die  Volksgötter  selbst  um  den  schwachen  Rest  von 
Achtung  bringen  den  sie  noch  genossen.  Mag  es  immerhin  für 
einen  harmlosen  Witz  gelten  weiin  in  den  Vögeln  Prometheus 
unter  einem  aufgespannten  Schirm  auftritt,  damit  Zeus  ihn  nicht 
sehe,  so  ist  es  doch  wohl  anders  zu  beurteilen  wenn  in  dem- 
selben Stücke  der  Dichter  geradezu  die  Absetzung  der  alten  Göt- 


♦)  Z.  B.  Acharn.  633  ff.     Ritter  510.    Vesp.  1025  ff.    Frieden  762  ff, 
Frosche  389  ff.    Weibervolksvers.  1155  f. 


Wideraprüche.  111 

ter  decretiert,  durch  Aushungern  ihnen  Concessionen  abpressen 
lässt  und  vom  Sterben  des  Zeus  redet,  oder  die  Formen  der 
Götteranrufung  persifliert.  Um  durch  Dinge  dieser  Art  sich  nicht 
irre  machen  zu  lassen  in  ihrem  Glauben»  und  bei  der  l^omischen 
Vernichtung  der  Schale  nur  um  so  unverrückbarer  festzuhalten 
am  Kerne,  dazu  wäre  eine  Kraft  der  Abstraktion  erforderlich 
gewesen  und  eine  Gediegenheit  der  Gesinnung,  wie  sie  der  Dich- 
ter wohl  für  seine  Person  besitzen  mochte,  bei  dem  Ganzen  des 
Volks  aber  nimmermehr  voraussetzen  konnte.  So  wenig  daher  der 
Dichter  es  Wort  haben  will,  und  so  sehr  er  wohl  erschrocken 
wäre  wenn  er  es  sich  klar  gemacht  hätte ,  so  gewiss  steht  er  doch 
seihst  auf  derjenigen  Seite  gegen  welche  er  Front  zu  machen 
meint,  und  ist  Bundesgenosse  derjenigen  welche  er  als  Gegner 
bekämpft,  ja  er  wirkte  für  deren  Sache  vielleicht  noch  unmittel- 
barer und  nachhaltiger  als  sie  selbst. 

Dieses  schiefe  Verhältniss  hat  seinen  Grund  darin  dass 
Aristophanes,  so  sehr  er  auch  mit  seinem  Wollen,  Wunscheu 
und  Lieben  der  alten  Zeit  zugekehrt  war,  dennoch  mit  allen 
Fasern  seines  geistigen  Seins  wurzelte  in  der  neuen..  Mochte 
er  das  was  an  ihm  Sache  der  Selbstbestimmung  war  auch  ganz 
und  gar  hingeben  in  den  Dienst  seines  selbstgeschaflenen  Ideals, 
sein  eigentliches  Wesen  blieb  doch  unwandelbar  stehen  im  Herzen 
seiner  Zelt;  und  ob  der  Sohn  auch  hoch  so  hartnäckig  die  Mutter 
verleugnete,  jede  Bewegung,  jeder  Laut  verrieth  ihn,  und  wenn 
er  schvneg  so  redete  für  ihn  die  Gleichheit  der  Züge. 

Aristophanes  ist  nicht  ums  Geringste  weniger  modern  als 
diejenigen  welche  er  als  modern  bekämpfte;  von  Euripides  z.  B. 
unterscheidet  er  sich  nur  dadurch  dass  jener  mit  Bewusstsein 
und  ungetheilt  sich  der  neuen  Zeit  ergeben  hatte  und  gutes  Mutes 
mit  dem  Strome  schwamm  vor  dessen  Verlauf  unserm  Dichter 
bangte  und  dem  er  darum  sich  zu  entziehen  und  entgegenzustellen 
suchte,  ohne  eine  andere  Wirkung  als  dass  er  müder  wurde  als 
sein  Genosse  und  mehr  Kraft  verbrauchte  a'ls  dieser.  Dass  aber 
seine  Kraft  sich  nicht  erschöpfte  In  dem  ungleichen  Kampfe  ist 
ein  Beweis  von  ihrer  Grösse  und  ausdauernden  Festigkeit,  zum 
Theil  wohl  auch  eine  Folge  von  des  Dichters  eigenthömlichem  Ver- 
fahren, von  den  Pausen  die  er  bald  unwillkürlich,  bald  wohl 
auch  mit  Bewusstsein  in  seinem  Kampfe  eintreten  Hess.  Ob  auch 
im  Princip  entschieden,  so  schwankte  Aristophanes  oft,  wenn  er 
an  die  Erscheinung  herantrat;  so  sehr  er  sich  abgestossen  fühlte 


]  12  Aristophanes'  Stellung  zu  seiner  Zeit. 

von  dem  vorlauten ,  absprechenden  und  frivolen  Wesen  das  er  auf 
der  einen  Seite  gewahrte ,  so  wenig  war  er  doch  auch  erbaut  von 
der  UngeschlifTenheit  und  Plumpheit,  der  Unzugänglichkeit  für 
andere  als  grob  materielle  Interessen,  die  er  im  entgegengesezten 
Lager  fand;  und  zu  verschiedenen  Zeiten  und  in  verschiedenen 
Stücken  lässt  er  bald  die  eine,  bald  die  andere  Stimmung  vor- 
walten und  vertheilt  Recht  und.  Unrecht  oft  in  einer  Weise  dass 
man  meinen  sollte  er  habe  sich  selbst  von  der  Unhaltbarkeit 
seines  Standpunktes  überzeugt  und  sei  zu  seinen  früheren  Gegnern 
übergetreten. 

Eine  Schwenkung  dieser  Art  zeigen  besonders  die  Wespen, 
wo  der  Dichter  den  Vertreter  der  neuen  Generation  mit  unver- 
kennbarer Vorliebe  zeichnet  und  ihn  gegenüber  von  seinem  Vater, 
einem  Manne  der  alten  Zeit,  nicht  nur  als  den  Gebildeten  und 
Aufgeklärten  schildert,  sondern  auch  als  den  Edlen,  für  seines 
Vaters  Wohl  zärtlich  Besorgten,  Uneigennützigen  und  Massvolleu. 
Dieses  Schwanken  hat  wohl  seinen  Grund  in  dem  besprochenen 
Verhältniss.  Weil  der  Dichter  seiner  Natur  nach  selbst  dem  neuen 
Geist  angehört,  so  äussert  er  sich  da  wo  er  sich  gehen  lässt, 
wo  er  nicht  seine  Grundsätze  sich  eigens  vor  die  Seele  stellt, 

f 

ganz  im  Sinne  der  neuen  Zeit:  er  schwimmt  unwillkürlich  mit 
ihr  fort,  bis  ihm  plötzlich  wieder  zum  Bewusstsein  kommt  welche 
Richtung  er  ja  eigentlich  zu  verfolgen  sich  vorgenommen  habe; 
oder  auch  gibt  er  sich  mit  Bewusstsein  der  Strömung  hin,  lässt 
sich  behaglich  von  den  Wellen  dahiniragen  und  plätschert  munter 
in  ihnen,  in  der  «Meinung  dass  er  ja  jeden  Augenblick  wieder 
umkehren  und  ans  Land  steigen  könne. 

Dass  er  aber  mit  seinen  Grundsätzen  wenigstens  seiner 
Fahne  treu  geblieben  ist,  das  zeigt  sein  spätestes  Stück,  der 
PI u tos  (Gott  des  Reichthums),  in  welchem  die  neue  Zeit  sogar 
zum  Theil  mit  greisenhafter  Bitterkeit  angefeindet  wird  (v.  30  if. 
46  fS.).  Wenn  wir  daher  in  den  Stücken  der  mittleren  Periode 
unseres  Dichters  scheinbar  Frieden  abgeschlossen  sehen  mit  dem 
neuen  Geist,  so  ist  diess  wohl  hauptsächlich  zu  erklären  aus  der 
trüben  Zeit  welcher  sie  angehören,  der  Zeit  nach  dem  kläglichen 
Scheitern  des  unseligen  Zugs  nach  Sicilien.  Wo  alles  gleich- 
massig  gelitten  hatte  durch  das  öffentliche  Unglück,  wo  alle  Par- 
teien gleich  sehr  niedergeschmettert  waren,  da  konnte  es  einem 
Vaterlandsfreunde  nicht  einfallen  irgend  welchen  Gegensatz  unter 
den  Bürgern  wach  zu   rufen,  irgend  weichen  Zank  aufzurühren. 


Ergebnisse  113 

Auf  eine  nachhallige  Aenderung  seines  Sinnes,  seiner  Grundsätze 
dürfen  mr  aber  daraus  nicht  schiiessen;  wenn  auch  vielfach  ent- 
täuscht und  in  seiner  Begeisterung  abgekühlt,  hielt  er  doch  fest 
an  dem  Glauben  an  eine  bessere  Vergangenheit,  an  seiner  Sehn- 
sucht nach  ihr,  seinem  Streben  darnach,  und  liess  wenigstens 
in  seinem  Bewusstsein  nicht  ab  zu  protestieren  und  zu  kämpfen 
wider  den  neuen  Geist  selbstsüchtiger  Abkehr  von  den  Gesammt- 
interessen.  Wenn  er  darin  sich  getäuscht  hat,  wenn  er  zu  schieben 
meinte  wo  er  geschoben  wurde,  wenn  er  in  dem  unfruchtbaren 
Kampfe  seine  Kraft  verzehrte,  was  ist  das  Anderes  als  unser 
Aller  Loos?  Und  wenn  wir  an  ihm  ein  ewiges  Ringen  zwischen 
dem  Gewollten  und  dem  Gemussten,  zwischen  Freiheit  und  Noth- 
wendigkeit,  eine  ewige  Kreuzung  und  Mischung  beider  Elemente 
wahrnehmen,  so  ist  diese  wechselnde  und  wechselseitige  Bethätigung 
der  beiden  Mächte  ja  doch  nur  eben  das  was  wir  Leben  heissen. 
Und  endlich,  wenn  wir  unsern  Dichter  eine  ernste  Tendenz  in 
ernster  Weise  verfolgen  sehen,  wenn  er  öfters  mehr  Satiriker  ist 
als  komischer  Dichter,  so  mag  diess  in  manchen  Augen  seinen 
poetischen  Werth  mindern;  aber  was  der  Dichter  verliert,  das 
gevnnnt  in  ihm  der  Mensch:  er  steigt  in  unserer  Achtung  als 
Person,  er  rückt  uns  menschlich  näher,  indem  wir  hinter  der 
schönen  Form  ein  warmes  Herz  durchfühlen,  das  liebt  und  hasst 
und  —  irrt,  und  hinter  der  lachenden  Maske  ein  ernstes  Ange- 
sicht gewahren,  das  oft  nur  schwer  sich  der  Thränen  erwehrt. 
Diese  ernste  Seite  unseres  Dichters,  womit  wir  uns  im  Bis- 
herigen ausschliesslich  beschäftigt  haben ,  ist  zwar  nur  Eine  Seite 
an  ihm ,  aber  doch  eine  wesentliche  und  eine  solche  von  welcher 
er  nicht  minder  liebenswürdig  und  dabei  reiner  sich  zeigt  als 
'  von  den  meisten  andern. 


Teuf  fei,  Studien.  8 


V. 


Zu  Sophokles'  Oedipus  Tyrannus. 


l.'^)  In  der  Controverse  zwischen  Classen  und  Ribbeck 
(rhein.  Mus.  XHI  S.  129  ff.  XVI  S.  489  ff.  501  ff. ;  besonders 
abgedruckt  Frankfurt  1861.  27  S.)  über  v.  224  ff.  muss  auch 
ich  mich  entschieden  auf  die  Seite  des  Letzteren  stellen.  Nicht 
als  ob  ich  die  mancherlei  feinen  Bemerkungen  nicht  zu  würdigen 
wüsste  welche  Classens  Aufsatz  enthält  und  unter  denen  das  über 
die  chiastische  Stellung  der  Glieder  in  v.  233  f.  Gesagte,  sowie 
die  Erörterung  über  die  Darslellungsweise  in  v.  255  ff.  noch  fort- 
während von  Werth  ist.  Aber  in  der  Hauptfrage  muss  ich  doch 
Ribbeck  Recht  geben  und  glaube  dass  die  thatsächlichen  Ver- 
hältnisse Jeden  der  sie  unbefangen  erwägt  zu  dieser  Ueberzeugung 
drängen.  Man  mache  sich  nur  den  Gedankengang  klar.  Oedipus 
will,  dem  Spruche  des  Apollon  gemäss,  den  Urheber  von  Laios' 
Tödtung  ermitteln,  um  ihn  und  damit  die  Seuche  aus  dem  Lande 
zu  schaffen.  Da  er,  jenem  Vorfalle  (wie  er  meint]  absolut  fremd, 
in  sich  selbst  keinen  Anhaltspunkt  zu  dieser  Ermittlung  findet, 
so  sieht  er  sich  auf  fremde  Unterstützung  und  Mitwirkung  ange-, 
wiesen,  abhängig  von  Anderer  gutem  Willen  (219  ff.).  An  diesen 
appelliert  er  mit  dem  doppelseitigen  Befehle,  es  möge  entweder 
der  Thäter  sich  selbst  melden:  es  werde  ihm  nichts  zu  Leide 
geschehen,  sondern  er  ungefährdet  über  die  Grenze  gebracht 
werden;  oder  wer  den  Thäter  kenne  möge  diess  offen  anzeigen: 
der  .Anzeigende  werde  (nicht  nur  nicht  für  sein  bisheriges 
Schweigen  bestraft,  sondern  sogar)  in  jeder  Weise  belohnt  wer- 
den (222 — 232).  Dieser  directe  Weg,  wenn  er  eingeschlagen 
würde,  wäre  natürlich  der  beste  und  sicherste.     Indessen   liegt 

*)  Aus  Fleckeisen's  Jahrbb.   1863,  S.  393  ff.    Vgl.   dazu  jetzt   bes. 
Ribbeck*s  Epikritische   Bemerknngen  zur  Königsrede   im  O.    J.,    Kiel 
1870*  28  S.  4. 


Zu  Sqph.  Oed.  E.  224  ff.  115 

die  Besorgniss  sehr  nahe  dass  dieser  Weg  nicht  eingeschlagen 
werden  wird,  und  zwar  aus  Furcht:  von  Seiten  des  Thäters  für 
sich  selbst,  von  Seiten  der  Mitwisser  für  den  ihnen  möglicher- 
weise befreundeten  Thäter.  Diese  Wahrscheinlichkeit  muss  daher 
Oedipus  berücksichtigen,  und  für  den  Fall  dass  jener  erste  Weg 
nicht  betreten  wird,  sondern  Thäter  und  Mitwisser  schweigen, 
eine  zweite,  eventuelle  Massregel  treffen  (233 — 235).  Diese 
besteht  in  dem  Befehle  den  Thäter  wenigstens  indircct,  schweigend, 
aus  dem  Lande  zu  drängen,  dadurch  dass  man  allen  Verkehr 
mit  ihm  abbreche  und  so  ihn  nöthige  das  Gebiet  Thebens  zu  ver- 
lassen, womit  dann  gleichfalls  die  Seuche  entfernt,  der  Haupt- 
zweck somit  erreicht  ist  (236 — 243).  Die  Voraussetzung  bei 
diesem  zweiten,  eventuellen  Befehle  ist  (wie  bei  dem  ersten)  dass 
der  Thäter  in  Theben  sei  und  dass  man  ihn  dort  wohl  kenne, 
wenn  man  sich  auch  nicht  entschliessen  könne  dem  König  dessen 
Namen  zu  nennen.  Auf  letzteren  verzichtet  Oedipus  eventuell  mit 
seinem  zweiten  Befehle:  mag  er  auch  niemals  den  Namen  des 
Thäters  erfahren  (vgl.  oörig  iöxi  236),  wenn  man  nur  seiner 
Anordnung  gemäss  den  Umgang  mit  demselben  meidet  und  dadurch 
ihn  aus  dem  Lande  treibt;  aus  dem  Aufhören  der  Seuche  wird 
Oedipus  dann  schon  ersehen  dass  der  Missethäter  aus  Thebens 
Gebiet  hinausgedrängt,  ApoUons  Weisung  befolgt  ist.  Mit  diesen 
beiden  Anordnungen  hat  Oedipus  das  Seinige  gelhan  um  dem 
Interesse  des  Getödteten  und  dem  Befehle  des  Gottes  zu  genügen 
(v.  244  f.) ;  es  ist  nun  an  den  Bürgern  auch  das  Ihrige  zu  Ihun, 
indem  sie  für  die  Ausführung  dieser  Anordnungen  des  Königs'*') 
sorgen,  wozu  sie  dreierlei  treiben  sollte:  der  Wunsch  dem  Be- 
fehle ilires  Königs  nachzukommen,  das  Verlangen  die  Weisung 
des  Apollon  zu  befolgen,  endlich  die  Bücksicht  auf  das  dringende 
Interesse  ihres  Landes  (252 — 254). 

Hienach  kann  vor  allem  gar  keine  Bede  davon  sein  dass  die 
Achtserklärung,  also  toi/  SvdQu  tovtoi/  (236),  sich  auf  den 
schweigenden  Mitwisser,  den  Hehler,  bezöge.  Für  diese  Be- 
ziehung spricht  lediglich  gar  nichts  als  der  grammatische  An- 
schein, sofern  das  nächstgelegene  Subject  rtg  (233)  ist  und  man 
daher  einen  Augenblick  sich  versucht  fühlen  kann  röi/  avöga- 
tovrov  mit  diesem  rig  in  Verbindung  zu  bringen.     Diess  aber 


*)  tavra  ndvra  (252)   von  den   beiden  Anordnungen,  von  welchen 
jede  wiedernm  sich  mehrfach  gliedert. 

8* 


116  Zu  Sophokles. 

auch  nicht  länger  als  einen  Augenblick;  näheres  Nachdenken 
muss  sofort  die  Unmöglichkeit  dieser  Beziehung  klar  machen. 
Um  nichts  davon  zu  sagen  dass  die  späteren  Worte  des  Teiresias 
und  des  Oedipus  selbst  (v.  350  ff.  817  ff.)  die  Beziehung  auf 
den  Hehler  ausschliessen :  auch  der  unmittelbare  Zusammenhang 
gestattet  sie  nicht.  Schon  die  Entladung  so  grossen  Eifers  gegen 
die  (oder  vielmehr  —  ein  neues  Wunder  —  den)  unglücklichen 
Mitwisser«  die  aus  blosser  Furcht  die  Anzeige  unterlassen,  wäre 
im  höchsten  Grade  auffallend,  und  dann  ergäbe  sich  überhaupt 
etwas  ganz  Monströses.  Oedipus  hat  (nach  v.  125)  Verdacht  dass 
der  Tödtung  des  Laios  politische  Motive  zu  Grunde  lagen  ^  dass  eine 
Partei,  eine  wohl  weit  verzweigte  Verschwörung,  dabei  die  Hand 
im  Spiele  hatte,  es  konnte  also  möglicherweise  halb  Theben  dabei 
betheiligt  sein:  Oedipus  hätte  dann  also  der  einen  Hälfte  Thebens 
zugemutet  den  Umgang  der  andern  zu  meiden,  die  beiden  Hälf- 
ten hätten  zu  diesem  Zwecke  billig  Abzeichen  haben  müssen, 
damit  jeder  Einzelne  wüsste  wer  zu  den  Verfehmten  gehöre  und 
wer  nicht,  der  Z^eck  aber,  das  [liae^a  aus  dem  Lande  zu 
bringen,  wurde  so  keinehfalls  erreicht.  Kurz,  man  darf  sich  nur 
die  Consequenzen  dieser  Beziehung  auf  den  Hehler  vergegen- 
wärtigen und  man  wird  sie  alsbald  als  unmöglich  erkennen.  Der 
grammatische  Anschein  kann  hiergegen  nicht  ins  Gewicht  fallen. 
Der  Mörder  ist  die  Hauptperson,  um  die  sich  alle  Gedanken  des 
Oedipus  drehen,  welche  ihm  fortwährend  vor  der  Seele  steht, 
fortwährend  geistig  gegenwärtig  ist,  und  von  der  er  daher  jeden 
Augenblick  sagen  kann  tov  avSga  tovtov. 

Was  sodann  die  Umstellung  der  sechs  Verse  246  —  251  be- 
trifft, so  ist  zuerst  zu  constatieren  dass  sie  unzertrennlich  zu- 
sammengehören. Das  erhellt  theils  aus  den  beiden  sich  offenbar 
auf  einander  beziehenden  Anfängen  xavsvxoiiac  —  iicsvxofiacj 
theils  (wie  Ribbeck  bemerkt  hat)  aus  der  Nothwendigkeit  den 
Thäter  (tov  SeS^axota)  als  Subject  für  ^wi^ttog  zu  behalten. 
Weiterhin  ist  zuzugeben  dass  iy<D  [ihv  ovv  (244)  und  v[itv  dh 
(252)  sich  zur  Noth  allenfalls  auch  über  die  sechs  Verse  hinüber 
auf  einander  beziehen  können,  sowie  dass  rotads  (cctcsq  tottsS' 
ccQrvGjg  '^Qa0ä(i7iv  251)  auch  bei  der  handschriftlichen  Stellung 
der  Verse  eine  grammatische  Beziehung  hat ,  nämlich  auf  den 
Plural  at(O7C'>j6€0d'€  (233).  Aber  mehr  als  eine  grammatische 
und  formale  auch  durchaus  nicht.  Denn  den  öKOTCfi^öiisvot  hat 
Oedipus,  wie  unsere  Darlegung   gezeigt  hat,   im  Vorhergehenden 


Oed.  R.  224  ff.  246  ff.  117 

lediglich  nichts  angewünscht  {i^gaöäiLtiv),  vielmehr  ihnen  befohlen 
{anavdä  236)  wenigstens  indirect  auf  den  Thäter  einzuwirken» 
durch  Meiden  des  Umgangs  mit  ihm  seine  Entfernung  aus  dem 
Lande  herbeizufuhren.  Es  bleibt  also  dabei  dass  bei  der  über- 
lieferten Stellung  der  Verse  rot^ds  keine  vernünftige  Beziehung 
hat,  dass  somit  diese  Stellung  schon  desshalb  zu  ändern  ist. 
Und  da  ist  die  einzige  methodische  Aenderung  die  von  Ribbeck 
vorgeschlagene,  welche  die  sechs  Verse  beisammen  lässt,  welche 
sie  an  eine  Stelle  setzt  wo  Alles  aufs  Beste  zusammenstimmt, 
welche  endlich  die  Entstehung  der  handschriftlichen  Stellung  auf 
einleuchtende  Weise  erklärt. 

Dass  244  f.  und  252 — 254  bei  der  Umstellung  vollkommen 
zusammenstimmen  haben  wir  schon  dargelegt;  aber  auch  das 
\yeitere  (255  ff.)  ist  jetzt  ganz  klar.  JVachdem  in  v.  253  f.  die 
drei  Beweggründe  zusammengefasst  waren  aus  welchen  die  the- 
bäischen  Bürger  (beziehungsweise  deren  Vertreter,  der  Chor)  zur 
Ausführung  der  Anordnungen  des  Oedipus  mitwirken  müssen, 
wird  daran  ein  weiteres  Motiv  zur  Verfolgung  der  Sache  ange- 
reiht (255 — 268),  ein  Motiv  welches  der  Person  und  Stellung 
des  Laios  entnommen  ist  und  welches  sich  auf  die  beiden  vorher 
mit  iym  [ihv  ovv  .  .  v^lIv  dl  Auseinandergehaltenen  gleichzeitig 
erstreckt,  sowohl  auf  die  Bürger  als  auf  Oedipus,  wobei  es  ganz 
natürlich  ist  dass  der  Redende  seine  persönliche  Beziehung  be- 
sonders eingehend  darlegt.  Nachdem  so  von  allen  Seiten  her 
sich  die  dringendsten  Motive  zur  Aufklärung  der  schwebenden 
Frage  ergeben  haben,  zieht  pedipus  noch  einmal  die  daraus 
fliessende  praktische  Folgerung:  also  müssen  alle  Theile  zusam- 
menwirken zu  dieser  Aufklärung,  also  ist  es  ein  wahres  Verbrechen 
und  fluchwürdig  wenn  nicht  Jeder  thut  was  in  seinen  Kräften 
steht,  um  jenen  Zweck  zu  erreichen.  Wer  also  den  Thäter  kennt 
und  ihn  nicht  entweder  geradeswegs  anzeigt  oder  auf  indirectem 
Wege  nöthigt  das  Land  zu  verlassen,  der  verdient  nicht  nur 
das  Unglück  das  jetzt  auf  der  Stadt  Jastet,  sondern  sogar  noch 
schwereres  (269 — 272);  wer  die  That  begangen  hat  und  nicht 
jetzt  sich  dazu  bekennt  {XBXri%'Bv  247),  der  verdient  für  sein 
ganzes  weiteres  Leben  das  schlimmste  Loos  {xatsvxo^cct  .  . 
ßtov)  ^) ;  und  endlich  scliliesst  Oedipus  sich  selbst  noch  ganz  aus- 


*]  Die  Verfluchnng  des  Mörders   ist  also  doch   gewiss   in  diesem 
Znsammenhange  sehr  wohl  motiviert. 


118  Zu  Sophokles. 

drücklich  ein  in  die  so  eben  gegen  den  Hehler  und  Thäter  aus- 
gesprochenen Verwünschungen  (Stcsq  tolöd*  ägrias  riQa6äiii]v), 
für  den  Fall  dass  er  dem  Thäter  irgend  welche  Förderung  zu  Theil 
werden  Hesse,  oder  —  denn  auch  diess  kann  in  den  Worten  mit  ent- 
halten sein  —  für  den  Fall  dass  eines  seiner  nächsten  Angehörigen 
(etwa  lokaste)  sich  als  Thäter  oder  Anstifter  oder  Mitschuldiger  er- 
weisen würde  und  er  nicht  Alles  aufböte  um  der  Weisung  des  Gottes 
zu  entsprechen.  An  diese  Bedrohungen  wird  schliesslich  die  KehrseiCe 
angefügt,  Segenswünsche  für  alle  diejenigen  welche  seinen  Anordnun- 
gen Folge  leisten  und  zur  Entfernung  des  [liccaiia  irgendwie  beitragen. 
Dass  die  sechs  Verse  ausfielen,  davon  ist  die  Ursache  viel- 
leicht in  dem  Umstände  zu  suchen  dass  sie  die  Aufeinanderbe- 
ziehung  der  Worte  raika  rotg  fi^  8Qä0iv  und  vintv  totg  aXXoi0i 
Kad^SLOig  auf  ungehörige»  Weise  zu  unterbrechen  schienen,  ^s 
ist  diess  in  Wahrheit  nicht  der  Fall:  denn  die  beiden  Glieder 
sind  so  deutlich  ausgeprägt  dass  ihre  gegenseitige  Beziehung  auch 
nach  einer  noch  längeren  Unterbrechung  ganz  unverkennbar 
wäre;  zudem  erfolgt  unmittelbar  vor  dem  zweiten  Gliede  eine 
Art  Zusammenfassung  des  ersten  durch  rotöds,  und  endlich  ist 
das  rotg  äkkotac  Kaö^eioig  sogar  erst  jetzt  genau  richtig,  da 
es  den  Rest  bezeichnet  welcher  bleibt  wenn  man  alle  diejenigen 
abzieht  welche  ihrer  Pflicht  nicht  nachkommen,  sowohl  den  Mörder, 
wenn  er  sich  nicht  selbst  meldet,  als  die  Mitwisser  welche  nicht 
direct  oder  indlrect  die  Entfernung  des  Mörders  bewirken,  und 
mit  diesen  eventuell  auch  Oedipus  selbst,  wenn  er  je  sich  das 
Gleiche  zu  Schulden  kommen  liesße.  Aber,  wie  gesagt,  irgend 
Jemandem  konnte  es  scheinen  als  ob  die  sechs  Verse  störend 
wären  und  mit  ihrer  Beseitigung  dem  Dichter  ein  Liebesdienst 
erwiesen  würde,  in  einem  Bühnenexemplar  z.  B.  konnten  sie 
weggelassen  sein  und  dann  aus  einem  andern  Exemplar  an  der 
unrichtigen  Stelle ,  vor  dem  unrichtigen  v[itv  äs,  eingefügt  werden. 


2.''')  Wie  Oedipus,  nachdem  er  sich  selbst  geblendet,  wieder 
auf  die  Bühne  tritt  spricht  der  Chor  in  einem  anapästischen 
System  sein  Entsetzen  über  den  Anblick  aus  und  fügt  dann  hinzu: 

all*  ovd'  iaiSsiv 
SvvafiaC  <fc,  &iXav  nolX'  ivsgsad'ai,, 
nolla  nvd'ecd'ai,  nolXa  d'  d^griaai, 

*)  Aus  Fleckeisen's  Jahrbb.  97  (1868)  S.  752. 


Oed.  R.  1304  ff.  1424  ff.  119 

Nauck  klammert  die  Worte  sroAA'  dvsQs^d'ac  bis  d&Q'^aac  „als 
einen  absurden  Zusatz"  ein  und  begründet  dieses  derbe  Urteil 
damit  dass  man  Jemand  befragen  könne  aucb  ohne  ihn  anzusehen, 
und  den  „Oedipus  Vieles  zu  befragen  hat  der  Chor  den  ge- 
ringsten Anlass;  vielmehr  wäre  es  im  höchsten  Grade  tactlos 
wenn  der  Chor  den  unglücklichen  geblendeten  König  mit  vielen 
Fragen  bestürmte/'  Diese  Motivierung  ist  ganz  unzureichend. 
Der  Chor  hat  schon  im  Vorhergehenden  an  Oedipus  zwei  Fragen 
gerichtet:  tig  tf',  cl  rA^ftov,  |  ngo^ißri  ^navCa;  reg  6  ni]di^(Sag 
u.  s.  w. ,  und  richtet  v.  1327  f.  noch  weitere  an.  ihn:  TtiSg  ezlrig 
xovavxa  öäg  \  o^ffsig  iiaQcivai;  tCg  <;'  in^QS  daiiiovov;  ohne 
dass  man  darin  irgend  etwas  Unpassendes  finden  könnte.  Die 
Situation  ist  eine  ähnliche  wie  in  Aeschylos'  Persern,  wo  nach 
dem  Erscheinen  des  bIS&Xov  ^JaQsiov  der  Chor  die  Antwort 
auf  dessen  Fragen  ablehnt  (v.  694  ff.): 

cißopbai  &'  dvxCa  Xi^at 
ei^Bv  aQxaitp  nBql  zdqßu. 

Die  Vermittlung  liegt  in  o{>di:  ,,  während  ich  so  manche  (weitere) 
Frage  an  dich  richten  möchte,  finde  ich  vor  Grauen  in  mir  nicht 
einmal  den  Mut  dich  anzusehen."  Auch  ist  wenig  wahrschein- 
lich dass  ein  Interpolator,  wenn  er  ein  Object  zu  %^iXa)v  ver- 
misste,  deren  gleich  drei  eingefugt  hätte.-  Gegründeteren  Anstoss 
bieten  die  Worte  TiokXd  xv^iad'at,  nokXd  d'  a%^Qii0aL,  Einmal 
enthält  die  dreimalige  Wiederholung  von  noXXä  einen  ganz  zweck- 
losen Aufwand  von  Rhetorik;  sodann  ist  nv^ia^m  tautologisch 
mit  dvegia^ai-j  endlich  ist  dd'Q^öav  schief,  theils  in  seinem 
Verhältniss  zu  iöidelv  theils  in  seiner  Stellung  nach  avegiiS^at 
und  nvd'io^ai.  Ich  halte  daher  diese  Worte  —  aber  nur  diese, 
nicht  auch  nolV  dvsQsöd'aL  —  für  eine  Interpolation,  für  eine 
Ausweitung  des  ^iX&v  tcoIV  dveQsad'aCy  bei  welcher  ihr  Ur- 
heber offenbar  keinen  grossen  Aufwand  von  Geist  und  Kunst  zu 
machen  brauchte  und  auch  nicht  gemacht  hat. 


3.*)  V.  1409  —  1437  sind  namentlich  die  Worte  Kreons 
v.  1424  ff.  neuestens  Gegenstand  mehrfacher  Erörterungen  ge- 
worden. A.  Nauck,  zuerst  in  seiner  Bearbeitung  der  Schneide- 
win'schen  Ausgabe  und  dann  im  Philologus  XII.  S.  635.  hat  be- 


*)  Aus  Fleckeisen's  Jahrbb.  79  (1859)  S.  322  ff. 


120  Zu  Sophokles. 

hauptet,  dieselben  passen  nur  in  den  Mund  von  Oedipus.  Dessen 
Verzweiflung  sei  es  „angemessen  zu.  meinen,  Himmel  und  Erde 
mussten  vor  solcher  Befleckung  schaudernd  zurückweichen,  und 
der  Sonnengott  werde  durch  seinen  Anblick  beleidigt.  In  dem 
Munde  jedes  Andern  wären  die  Worte  unmenschlich,  selbst  wenn 
Oedipus  kein  Mitleid  verdiente."  Er  gründet  darauf  die  Vermutung 
dass  die  bezeichneten  acht  Verse  zwischen  1415  und  1416  ein- 
zuschalten seien,  so  dass  sie  mit  den  vorausgehenden  acht  Versen 
(1416  — 1423)  die  Stelle  wechseln.  Mir  scheint  das  Angeführte 
keine  zureichende  Begründung  dieser  Vermutung.  Kreons  Be- 
weggrund zu  diesen  seinen  Worten  ist  ein  wohlmeinender,  er 
gründet  sich  auf  herzliches  Mitleid  mit  des  Oedipus  Lage,  wenn 
es  auch  zunächst  das  Gefühl  für  Familienehre  sein  mag  was  es 
ihm  als  empörend  erscheinen  lässt  dass  der  Chor  den  unglück- 
lichen Oedipus  so  als  Gegenstand  der  öffentlichen  Neugierde  da- 
stehen sehen  kann.  Etwas  „Unmenschliches''  vermag  ich  daher 
in  Kreons  Worten  schlechterdings  nicht  zu  entdecken,  Nauck 
hätte  desshalb  wohl  besser  daran  gethan  seine  Vermutung  zu 
stützen  vielmehr  auf  den  unangenehm  raschen  Wechsel  des  Tones 
und  Inhaltes  welchen  die  fraglichen  Worte  Kreons  zeigen.  Kaum 
hat  er  mit  zwei  Versen  den  Oedipus  beruhigt,  so  fährt  er  Jäh- 
lings, und  ohne  dass  die  verschiedene  Richtung  seiner  neuen 
Worte  eigens  markiert  würde,  scheltend  über  den  Chor  her. 
Auch  die  Aufeinanderbeziehung  von  xaAv^ar'  (1411)  und  axd- 
XvTCtov  SsLxvvvaL  (1427),  wenigstens  nach  der  Aenderung  welche 
Nauck  V.  1411  f.  vorgeschlagen,  konnte  dieser  für  seine  Um- 
stellung der  acht  Verse  geltend  machen. 

Die  zunächst  dagegen  sich  aufdrängende  Einwendung  hat  schon 
H.  Bonitz  ausgesprochen  (Z.  f.  d.  Ostreich.  Gymn.  1857  S.  164  f.). 
Wenn  Oedipus  es  ist  der  den  Wunsch  ausspricht  ig  olxov 
söxogii^sTS  u.  s.  w.  so  verlangt  er  damit  das  directe  Gegentheil 
von  dem  was  er  sonst  fortwährend  haben  will,  el^ca  fis  xaXvtlfoctB 
oder  ixQiilfar€  1410  f.,  pr^di/  (is  y^g  ix  tijöös  1436,  y%  ft' 
OTtcag  7tB(i7p€ig  anoixov  1518,  wie  er  denn  Kreons  Weisung  t%i 
ütiyrig  bCg)  (1515)  nur  mit  Widerstreben  befolgt  {Tteiatiov,  xsl 
firidhv  i^dv  1516).  Auch  mit  v.  1287  —  1291  scheint  jene  Zu- 
theilung  nicht  vereinbar,  wornach  Oedipus  selbst  verlangt  hat 
dass  man  ihn  herausführe  und  allen  Thebanern  zeige  (und  jetzt 
sollte  er  dem  unschuldigen  Chor  Vorwürfe  darüber  machen  dass 
diess  geschehen!),  und  seinen  Entschluss  aussprach  <6g  ix  x^ovög 


Oed.  R.  1409ff.  121 

qI'^ov  iavtov,  oi)d'  in  fisvaiv  So^ioLg  ä^atog  (1290  f.). 
Diese  Einwendungen  hat  Nauck  a.  0.  S.  636  f.  zu  beseitigen  ge- 
sucht. Er  sagt:  „Oedipus  wünscht  schleunigst  in  das  Haus  gebracht 
zu  werden,  nicht  etwa  um  darin  zu  bleiben,  sondern  um  bei  seinen 
nächsten  Verwandten  die  Erhörung  zu  finden  die  der  Chor  ihm 
schweigend  versagt  hat,  die  Erhörung  seiner  Bitte  um  Tod  oder 
Verbannung.  Aus  dem  Schweigen  des  Chors  nach  v.  1412  schloss 
Oedipus,  der  Chor  meide  ihn,  um  nicht  durch  seine  Berührung 
befleckt  zu  werden.  Daher  die  Bitte  (1413  f.),  würdigt  mich 
der  Berührung,  fürchtet  euch  nicht  u.  s.  w.  Als  auch  darauf 
der  Chor  schweigt,  beschwört  ihn  Oedipus  1424 — 31  ihn  ins 
Haus  zu  .bringen  um  der  dem  Helios  gehörenden  Scheu  willen: 
seine  Verwandten,  so  hofi't  der  Unglückliche,  werden  noch  am 
ehesten  seine  Gemeinschaft  insoweit  zu  tragen  im  Stande  sein 
dass  sie  eine  Bitte  ihm  erfüllen.  Auf  das  Begehren  des  Oed.  zu 
seinen  Angehörigen  gebracht  zu  werden  passt  vortrefllich  dass 
die  Ankunft  des  Kreon  gemeldet  wird  (1416 -—18),  der  als  Ver- 
wandter ihm  nahe  steht  und  als  Nachfolger  in  den  Herrschaft 
Massregeln  zu  treffen  hat  um  den  Zorn  des  Apollon  zu  versöhnen. 
Und  nun  wird  es  nicht  weiter  auffallen  wenn  Oed.  dem  Kreon  gegen- 
über nur  den  Wunsch  ausspricht  aus  dem  Lande  gebracht  zu 
werden."  Aber  diese  angeblich  einfache  Lösung  hat  in  Wahrheit 
wenig  Einleuchtendes.  Nicht  nur  dass  der  Dichter  sich  einer 
grossen  Undeutlichkeit  schuldig  gemacht  hätte  wenn  er  den  Oed. 
einen  Wunsch  aussprechen  Hess  der  mit  dem  oftmals  von  ihm 
ausgesprochenen  im  geradesten  Widerspruch  stand,  ohne  doch 
diesen  neuen  Wunsch  irgendwie  zu  motivieren,  sondern  es  ist 

auch  die  dem   Chor  dabei  zugetheilte  Rolle   eine  unbegreifliche. 

• 

Er,  der  sonst  so  wenig  schweigsame  und  fortwährend  gegen  Oed. 
wohlwollend  gestimmte,  soll  durch  sein  beharrliches  Schweigen 
diesen  zur  Verzweiflung,  bringen,  ohne  dass  doch  zu  diesem 
Schweigen  selbst  ein  vernünftiger  Grund  abzusehen  wäre,  da 
der  Chor  sehr  leicht  mit  wenigen  Worten  ^ie  Entscheidung  über 
Oedipus'  Wunsch  ablehnen  und  auf  Kreon  verweisen  konnte,  und 
ohne  dass  Oedipus  je  sich  über  dieses  Schweigen  ausdrücklich 
beklagen  würde!  Sodann  wer  sollen  die  „nächsten  Verwandten", 
die  „Angehörigen"  sein  zu  welchen  Oed.  gebracht  sein  will,  um 
von  ihnen  Tod  oder  Verbannung  zu  erlangen?  Etwa  Kreon? 
Aber  dessen  Auftreten  erfüllt  ihn  ja  mit  Angst  und  Verlegenheit 
wegen  des  Unrechts  das  er  sich  bewusst  ist  ihm  früher  angethau 


122  Zu  Sophokles. 

zu  haben;  wie  viel  weniger  kann  es  ihm  einfallen  selbst  ihn 
aufsuchen  zu  wollen!  Oder  seine  Kinder  ?  Von  diesen  soller 
Tod  oder  Verbannung  hoffen?  Endlich  wäre  das  Abrupte  (les 
Uebergangs  in  den  scheltenden  Ton  bei  dieser  Anordnung  nicht 
gebessert,  sondern  eher  verschlimmert.  Denn  nun  sind  es  die 
gleichen  Personen  (der  Chor)  welche  zuerst  flehentlich  gebeten 
und  dann  ungeduldig  gescholten  werden,  und  der  diess  thut  ist 
nicht  Kreon,  noch  auch  Oedipus  auf  der  Höhe  seines  Glückes, 
welcher  allerdings  den  Teiresias  v.  330  in  dieser  Weise  behandelt 
hat|  sondern  der  gedemutigte,  gebeugte,  gebrochene,  von  Rüh- 
rung überfliessende  Oedipus;  und  wer  dem  Chor  Vorwurfe  darüber 
macht  dass  sie  tovovS*  ayog  axäkimr(yv  Ssmvvvai  können  ist 
derjenige  welcher  dieses  detxvvvai  selbst  einzig  und  allein  und 
stürmisch  verlangt,  veranlasst  und  herbeigeführt  hat  (1287  ff.). 
Auch  wären  die  zwei  Verse  (1422  f.)  für  den  neu  und  in  einer 
unerwarteten  Stimmung  und  Absicht  auftretenden  Kreon  viel  zu 
wenig  und  ständen  zu  kahl  da;  man  sollte  nach  der  negativen 
Erklärung  ovx  Aq  ysXaetrjg  u.  s.  w.  schlechterdings  auch  eine 
positive  erwarten.*)  So  sehr  ich  daher  auch  das  Vorhandensein 
von  Schwierigkeiten  in  der  Stelle  anerkenne,  so -kann  ich  doch 
nicht  glauben  dass  sie  durch  Nauck's  Umstellung  gehoben  seien; 
im  Gegentheil  finde  ich  dass  dadurch  an  die  Stelle  der  vorhan- 
denen andere,  und  sogar  grössere,  gesetzt  werden.  Ich  möchte 
daher  eher  annehmen  dass  nach  v.  1423  (der  handschriftlichen 
Anordnung)  einige  Verse  ausgefallen  sind,  worin  Kreon  seine 
positive  Gesinnung  und  Absicht  gegenüber  von  Oedipus  ausge- 
sprochen und  dann  sich  zum  Chor  gewendet  hätte,  diesem  sein 
Befremden  über  dessen  Verfahren  ausdrückend,  über  ihr  o^ 
xatacex^^^^^^f'  ^vijtovSf  worauf  er  dann  fortfuhr  aAA'  sl  tä 
d'VTjtäv  u.  s.  w.  (1424  ff.).  Die  Ursache  des  Ausfalls  läge  in 
dem  Umstände  dass  die  betreffenden  Worte  gleichfalls  (wie  v. 
1424)  mit  aAA'  begannen  (nach  ovts-ovrs). 

Ich  glaube  dass  dieser  Vorschlag  weniger  gewaltsam  ist  und 
doch  gründlicher  hilft  als  der  von  Nauck.  Zugleich  hat  die  An- 
nahme eines  solchen  Ausfalles  um  so  weniger  Bedenkliches  da  der 
Schluss  des  König  Oedipus  uns  überhaupt  in  einer  sehr  verderb- 


*)  Nur  einen  kleinen  Theil  dieser  Schwierigkeiten  beseitigt  die  An- 
nahme von  Bergk  (in  der  B.  Tauchnitzischen  Ausgabe) ,  dass  nach  y.  1416 
und  vor  den  bei  Nauck*s  Abtheilung  nachfolgenden  Worten  äXX'  sl  ta 
9'vritcov  u.  s.  w.  etwa  drei  Verse  des  Chors  ausgefallen  seien. 


Oed.  R.  1409  ff.  1424  ff.  1515  ff.     "  123 

ten  Gestalt  überliefert  ist.  Ueberall  stösst  man  auf  Anstände,  und 
namentlich  von  v.  1515  an  nehmen  die  Wiederholungen,  Wider- 
sprüche und  Tnconvenienzen  in  einem  solchen  Masse  zu  dass  man 
beinahe  zweifeln  möchte  ob  diess  wirklich  der  von  Sopokles  selbst 
für  dieses  Stück,  in  seiner  jetzigen  Gestalt,  bestimmte  Schluss 
ist,  und  die  Frage  entsteht  ob  wir  in  diesen  Trochaeen  nicht 
vielmehr  den  Ueberrest  eines  älteren  Schlusses  oder  gar  eine 
fremde  Hinzudithtung  für  eine  spätere  Aufführung  des  Stückes 
besitzen. 

Darjuber*)  dass  die  Stelle  v.  1424 — 1431  nicht  in  Ordnung 
sei  herrscht  ziemlich  allgemeines  Einverständniss;  denn  das  Um- 
springen des  Sinnes  und  Tones  gegenüber  den  unmittelbar  vor- 
ausgehenden zwei  Versen  ist  unverkennbar.  Meinungsverschieden- 
heit bestellt  nur  über  die  Frage  wo  das  Uebel  sitze  und  wie 
ihm  abzuhelfen  sei.  Während  im  Vorstehenden  eine  Lücke  von 
einigen  Versen  zwischen  1423  und  1424  angenommen  ist,  hat 
Nauck  diese  Annahme,  in  dem  autokratischen  Tone  den  er  sich 
angewöhnt,  abgewiesen  und  in  der  neuesten  Ausgabe  seine  Hypo- 
these „wie  sichs  gebürf'  kurzweg  in  den  Text  gesetzt.  Nach 
dieser  sind  die  Verse  nicht  Worte  des  Kreon,  sondern  des  Oedipus, 
und  an  den  Schluss  von  dessen  Rede,  nach  v.  1415*;  zu  stellen. 
Ich  habe  diesen  Vorschlag  nochmals  mit  aller  Unbefangenheit 
geprüft,  aber  noch  immer  nicht  mich  von  seiner  Richtigkeit  über- 
zeugen können.  Die  acht  Verse  enthalten  die  dringende  Weisung 
das  äyog  (den  Oedipus)  nicht  so  öffentlich  dastehen  zu  lassen, 
sondern  ins  Haus  zu  bringen,  wenn  nicht  aus  Rücksicht  auf  die 
Menschen,  so  doch  jedenfalls  auf  Helios.  Dieser  Inhalt  und  das 
Vorwurfsvolle  des  Tones  passt  wenig  in  den  Mund  des  Oedipus, 
welcher  vorher  vielmehr  selber  ungestüm  verlangt  hatte  aus  dem 
Hause  hinausgeführt  zu  werden  (1287  ff.)  und  auch  jetzt  noch 
fortwährend  nur  den  Wunsch  hegt  und  anspricht,  gegen  den  Chor 
und  gegen  Kreon  (1410  ff.  1436  ff.  1449  ff.) ,  auf  irgend  welche 
Weise  aus  dem  Lande  weggebracht  zu  werden,  noch  1516  die 
Aufforderung  ins  Haus  hineinzugehen  mit  den  Worten  erwidert: 
nBL0xeov  xsi  fir^dhv  ^Sv  und  vielmehr  (1518)  abermals  Kreon 
bittet:  y^g  fi*  oTtog  TCs^ipstg  &n:oixov,**)  Um  so  besser  passen 
die  Verse  in  den  Mund  eines  Neuauftretenden  wie  Kreon,   der 

*)  Aus  Fleckeisen's  Jahrbb.  1869  S.  29  f. 
**)  Diess  wohl  auch  iminteresse  der  Anknüpfung  an  denKoIonos-Mythus, 


124  Zu  Sophokles  und  Euripides. 

bei  dem  greulichen  Anblicke  der  sich  ihm  darbietet  vor  Allem 
wünscht  dass  derselbe  dem  Auge  der  Neugierde  oder  gar  Schaden- 
freude entzogen  werde,  ynd  v.  1515  wiederholt  den  Oedipus 
nach  Hause  verweist  {dXl^  td'i  6riyijg  iöcai), .  Insbesondere  die 
Worte  roiovd^  ayog  ,  .  to  fiifr«  y^  fii/r'  ofißQog  Igog  fii^rs  q)f3g 
yeQoedilBtat ,  ganz  geeignet  zur  Begründung  des  Befehles  dieses 
ayog  im  Hause  zu  verbergen ,  stehen  in  Widerspruch  mit  dem 
von  Oedipus  in  erster  Reihe  ausgesprochenen  Wunsche  aus  dem 
Lande  gestossen  oder  ins  Meer  geworfen  zu  werden."?  Ferner 
ist  das  Lob  als  Sgiarog  welches  v.  1433  Oedipus  dem  Kreon 
spendet  durch  die  zwei  kurzen,  blos  negative  Bestimmungen 
enthaltenden  Verse  1422  f.  noch  nicht  genügend  begründet  und 
lässt  auch  eine  positive  Ausführung  (nach  v.  1423),  wie  ich  sie 
vermutete^  erwarten.  Endlich  erklärt  sich  das  von  mir  ange- 
nommene Ausfallen  der  Verse  sehr  leicht  durch  Ueberspringen 
des  Auges  von  dem  einen  c?AA'  auf  ein  anderes,  gleichfalls  zu 
Anfang  des  Verses  stehendes,  während  mir  nicht  bekannt  ist  dass 
Nauck  die  Entstehung  der  von  ihm  behaupteten  Umstellung  zu 
erklären  vermocht  hätte.  Es  musste  dies  denn  in  den  von  ihm 
angeführten  melanges  greco-romains  II  s.  700  f.  geschehen  sein, 
welche  mir  nicht  zugänglich  sind. 


In*)  der  Hypothesis  zu  Euripides' Alk  es  tis,  welche  wir  dem 
cod.  Vatic.  verdanken ,  findet  sich  die  Notiz :  ro  Sgafia  i7tocij%7i 
t^.  So  wichtig  diese  an  sich  sein  könnte,  so  sehr  verliert  sie 
an  Bedeutung,  wenn  wir  uns  erinnern  dass  die  Zahl  17  gerade 
diejenige  ist  welche  sich  ergibt  wenn  wir  das  Auffühningsjahr 
der  Alkestis  (438  v.  Chr.)  abziehen  von  dem  Jahre  in  welchem 
Euripides  zum  ersten  Male  eine  Tetralogie  auf  die  Bühne  brachte 
(455  V.  Chr.).  Der  Urheber  jener  Notiz  dachte  sich  also  dass 
Euripides  von  da  an  jedes  Jahr  etwas  aufgeführt  haben  werde, 
und  gelangte  so  für  die  Alkestistetralogie  zu  der  Numer  17.  Dass 
dieser  Gedanke  in  der  Hypothesis  durch  ro  Sgäfia  in:,  i^  sehr 
unvollkommen  ausgedrückt  ist  stösst  jene  Erklärung  nicht  um. 


*)  Aus  dem  Rhein.  Maseum  XXT,  S.  471. 


VI. 
Zu  Piaton. 


1.    Zur    Politeia. 

a)  Einleitung.*) 

Platon's  Politeia  bildet  theils  nach  ihrer  äusseren  Einkleidung 
tbeils  nach  dem  inneren  Zusammenhange  des  Systems  ein  Glied 
in  einer  grösseren  Gruppe  von  Schriften:  mit  dem  Timaios  und 
Kritias  zusammen  bildet  sie  eine  Art  von  Trilogie,  an  die  sich 
weiterhin  die  Nomoi  anschliessen.  Die  Einkleidung  ist  nämlich 
nach  dem  Anfange  des  Timaios  folgende:  Im  Hause  des  Kritias 
ist  eine  Gesellschaft  beim  Mahle  beisammen,  ausser  dem  Haus- 
herrn bestehend  aus  Sokrates,  Timaios,  Hermokrates,  und  noch 
einem  Vierten  der  nicht  genannt  wird  und  am  zweiten  Tage 
wegen  Unbässlichkeit  wegbleibt.  Der  Reihe  nach  geben  die  Gäste 
ihren  Beitrag  zur .  gemeinsamen  Unterhaltung.  Zuerst  bekommt 
Sokrates  das  Wort  und  erzählt  das  Gespräch* das  er  am  Tage 
zuvor  gehalten;  diese  Erzählung ,  welche  den  ganzen  Tag  ausfüllt, 
ist  eben  die  Politeia.  Die  Fortsetzung  des  Rundgespräches  erfolgt 
am  nächsten  Tage,  wo  denn  Timaios  sein  naturphilosophisches 
System,  Kritias  seine  Geschichte  des  atlantischen  (altathenischen?) 
Idealstaates  vorträgt.  Ohne  Zweifel  sollte  auch  noch  Hermokrates 
einen  längeren  Vortrag  halten  und  das  Ganze  somit  eine  Tetra- 
logie bilden;  aber  schon  der  Kritias  ist  nicht  mehr  vollendet, 
geschweige  denn  dass  Hermokrates  noch  zum  Vi^orte  käme.  Diess 
das  Aeussere;  der  innere  Zusammenhang  der  Werke  aber  beruht 
auf  der  grossarligen  Grundanschauung  Platon's,  dass  Individuum, 
Staat  und  Welt  nicht  qualitativ,  sondern  einzig  quantitativ  ver- 
schiedene Begriffe  seien,  dass  in  allen  dreien  dieselben  Grund- 


*)  Aus  der  Ueborsetzung  des  Werkes,  Stattgart  1856. 


126  Zu  Piaton. 

kräfte  wirken,  alle  drei  wesentlich  dieselbe  Organisation  und 
Gliederung  haben,  in  allen  dieselbe  Idee,  nur  bei  dem  einen  in 
kleinerer,  bei  dem  andern  in  grösserer  Schrift,  ausgedrückt  sei, 
so  dass  wie  der  Einzelne  ein  Staat  und  eine  Welt  im  Kleinen, 
so  andererseits  die  Welt  und  der  Staat  nur  ein  im  grossen  Mass- 
stabe ausgeführtes  Individuum,  jener  ein  Mikrokosmos,  dieser  ein 
Makranthropos  ist.  Wie  nun  die  Politeia  die  Verwirklichung 
des  Sittlichen  im  Leben  des  Einzelnen  und  in  der  Gestaltung 
des  Staates  darstellt,  so  der  Timaios  dessen  Verwirklichung  im 
grossen  Ganzen  der  Welt,  in  der  Gestaltung  des  Universum ;  und 
während  die  Politeia  das  Ideal  eines  Menschen  und  eines  Staates 
in  dem. luftigen  Elemente  des  Gedankens  aufbaut,  so  schaut  der 
Kritias  dasselbe  als  in  einem  bestehenden  Lande,  seiner  Atlantis, 
verwirklicht  an. 

Hiemit  haben  wir  bereits  eine  alte  Streitfrage  erledigt^  die 
Frage  nämlich  was  der  eigentliche  Zweck  der  Politeia  sei,  ob 
die  Erörterung  des  Begriffes  des  Sittlichen  {Sixaiov)  oder  die 
Darstellung  des  Staates  wie  er  sein  soll.  Beide  Ansichten  haben 
von  jeher  ihre  Vertheidiger  gefunden ,  die  erste  z.  B.  an  Morgen- 
stern und  Schleiermacher,  die  zweite  neuerdings  in  Rettig;  und 
das  Merkwürdigste  an  der  Sache  war  dass  beide  Theile  sich  auf 
Platon's  eigenes  Zeugniss  beriefen,  und  beide  Theile  so  ziemlich 
mit  gleichem  Rechte.  Während  nämlich  die  Verfechter  der  vor- 
zugsweise ethischen  Abzweckung  des  Werkes  darauf  hinwiesen 
dass  Piaton  selbst  (II.  p.  36.8  C.)  den  Sokrates  die  Auseinander- 
setzung des  Musterstaates  nur  als  Mittel  zur  Verdeutlichung  des 
Begriffes  der  dL7caio0vvri  darstellen  lässt  und  dass  er  zu  diesem 
Begriffe  zurückkehrend  wiederholt  denselben  als  eigentlichen  Zweck 
seiner  Erörterung  bezeichnet  (IV.  p.  430  D.  434  E.  V.  p.  471 
B.  u.  sonst)  —  machten  dagegen  die  Anhänger  der  entgegen- 
gesetzten Ansicht  vor  Allem  auf  den  Titel  des  Werkes,  jcokitsla, 
aufmerksam,  der  doch  von  Piaton  herrühren  müsse,  da  nicht 
nur  Aristoteles  (z.  B.  Pol.  il,  1  extr.  p.  23.  19.  22.  Bekk.  IV,  3.  p. 
120  G.  V,  10.  p.  193.  G.  12/ p.  162.  B.),  Cicero  (Legg.  II,  6.), 
Doxopater  zu  Aphthon.  IL  p.  130  (Walz)  u.  A.  ihn  unter  dem- 
selben eitleren,  sondern  sogar  Piaton  selbst  im  Timaios  (p.  17  C: 
TceQi  nokix aCag  ^v  x6  HBq>dkaiov)  und  in  den  Gesetzen  (V.  p. 
739  B.).  Und  doch  bewies  jede  von  beiden  Ansichten  ihre  Ein- 
seiligkeit und  Unzuläpglichkeit  dadurch  dass  sie  je  die  andere 
Hälfte    der   ganzen   Schrift   für  eine   Abschweifung   zu  erklären 


Einleitung  zur  Politeia.  127 

genöthigt  war.*)  Den  wahren  Sachverhalt  hat  zuerst  Stallbaum 
in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe,**)  mit  grösserer  Schärfe 
dann  K.  Fr.  Hermann  in  der  Recension  der  Stallbaum'schen  Aus^- 
gabe  (AUg.  Schulz.  1831;  erweitert  in  seinen  Gesammelten  Ab- 
handlungen I.,  Göttingen  1849,  S.  132  ff.)  und  in  seiner  Schrift 
über  Geschichte  und  System  der  Platonischen  Philosophie  dar- 
gelegt. Weder  in  dem  einen  noch  in  dem  andern  für  sich  ge- 
nommen ist  der  Zweck  des  Werks  erschöpft,  sondern  nur  in 
Beidem  zusammen,  in  der  Einheit  beider;  und  dass  Piaton  über 
seine  eigentliche  Absicht  einander  scheinbar  widersprechende  An- 
deutungen g^b  ist  eine  Neckerei  wie  sie  Künstler  —  und  Piaton 
auch  sonst  oft  —  üben,  um  gleichsam  die  Fugen  und  Nähte 
ihrer  Arbeit  zu  verstecken.  Zudem  war  die  Benennung  Politeia 
vollständig  damit  gerechtfertigt  dass  die  Darstellung  des  Muster- 
staates wirklich  den  grössten  Theil  des  Raums  einnimmt  und  das 
am  meisten  Eigenthümliche  ist.  Die  beiden  Bestandtheile,  die 
Erörterung  über  das  dUaiov  im  platonischen  Sinne  des  Worts 
und  die  Auseinandersetzung  über  das  Staatsideal,  verhallen  sich 
zu  einander  theils  wie  Fundament  und  Gebäude,  theils  sind  sie, 
sofern  die  ethische  Begriffsbestimmung  zugleich  eine  Beschreibung 
der  Erscheinung  des  Begriffs  im  Individuum  ist.  Ausfuhrung  des- 
selben Verhältnisses  nur  in  verschiedenen  Massstäben,  gerade  wie 
der  Mathematiker  ein  Verhältniss  nach  Bedürfniss  bald  durch 
1  :  2  bald  durch  10:  20  ausdrückt,  und  wie  der  Hellene  über- 
haupt den  Menschen  und  den  Bürger  sich  unauflöslich  ineinander 
verschlungen ,  die  Sittlichkeit  des  Einzelnen  und  die  des  Staats- 
ganzen in  einem  Verhältniss  der  Wechselwirkung  denkt..  Für 
den  Hellenen  alten  Schlags  ist  der  Staat  nicht  die  Summe  der 
Einzelwillen,  sondern  der  dem  Einzelwillen  bestimmende  absolute 
Wille;  da  für  ihn  im  Staate  das  an  sich  Gute  verwirklicht  ist, 
so  helsst  den  Gesetzen  des  Staates  treu  und  gehorsam  sein:  ab- 
solut gut  sein;  das  Verhalten  der  Substanz  des  Staates  zum  Indi- 
viduum ist  sozusagen  ein   pädagogisches:    das  Individuum,    der 


*)  Z.  B.  Schleiermacher  S.  63:  Die  Frage  von  der  Förderlichkeit 
eines  gerechten  und  sittUchen  Lehens  ist  die  Hauptsache;  was  sich 
nicht  daranf  bezieht  ist  Abschweifung. 

**)  Stallbaum  gibt  p.  LIII  und  sonst  als  Zweck  Platon*s  an:  nt 
proponeret  imaginem  perfectae  et  consummatae  virtutis  humanae,  qnalis 
cum  in  ipsis  hominum  singulorum  animis  tum  in  civil!  societatc  inesse. 
deberet,  eiusque  vim  et  praestantiam  ostenderet. 


128  Za  Piaton. 

Bürger  muss  gut  sein,  er  mag  wollen  oder  nicht,  sonst  trifft  ihn 
die  Strafe  des  Gesetzes.  Während  der  moderne  Staat,  aufgebaut 
aus  reich  und  selbständig  entwiclielten  Individualitäten,  nur 
deren  arithmetisches  Ergebniss  ist  und  die  Sorge  für  die  un- 
gehemmte Entwicklung  und  Förderung  derselben  zur  Aufgabe  hat, 
so  ist  dagegen  der  antike  Staat,  in  seiner  begrifflichen  Reinheit 
aufgefasst,  Selbstzweck,  ist  das  Höhere  dem  der  Einzelne  sich 
unterordnen ,  das  Absolute  nach  dem  er  sich  bilden  muss.  Dieses 
uralte  Princip  des  hellenischen  Staatslebens  war  indessen  durch 
den  Gang  der  geistigen  Entwicklung,  durch  welchen  das  Indi- 
viduum zu  immer  grösserer  Ausbildung  und  damit  Geltung  gelangt 
war,  längst  durchlöchert,  ja  zertrümmert  worden;  nur  Sparta  hielt 
noch  daran  fest,  weil  es  Lykurg  gelungen  war  jenes  Princip  in 
so  ehernen  Formen  zu  verkörpern-  dass  diese  noch  aufrecht  blieben 
als  der  Geist  schon  aus  ihnen  gewichen  war,  und  Sparta  noch 
in  einsamer  Pracht,  eine  stolze  Ruine,  dastand,  als  um  sie  her 
schon  Alles  in  Auflösung  gerathen  war.  Diese  Thatsache  brachte 
in  der  Zeit  des  Verfalls  alier  Orten  schärfer  Blickende  auf  den 
Gedanken,  nur  durch  Rückkehr  zu  dem  alten  Principe  der  un- 
reflectierten  Hingabe  an  das  im  Staate  vemirklichte  Sittliche  lasse 
sich  dem  immer  weiter  um  sich  greifenden  Verderben  steuern, 
nur  durch  Aufnahme  spartanischer  Einrichtungen  Sparta's  Festig- 
keit in  allen  Stürmen  sich  erwerben.  Aus  dieser  an  sich  wohl- 
gemeinten Restaurationspolitik  gieng  der  Widerstand  hervor  welchen 
man  allenthalben  den  Sophisten  entgegensetzte,  die  mit  klarstem 
Bewusstsein  den  diametralen  Gegensatz  jenes  alten  Principes  bildeten 
und  lehrten;  auf  dieser  reactionären  Richtung  beruht  auch  der 
Process  des  Sokrates,  welchen  der  souveräne  Unverstand  wegen 
mancher  Berührungspunkte  einfach  mit  den  Sophisten  zusammen- 
warf, ja  in  ihm  sogar  einen  potenzierten  Sophisten  zu  erkennen 
glaubte,  daher  Piaton  nicht  müde  wird  in  seinen  Dialogen  den 
Unterschied  Beider  und  den  Kampf  des  Sokrates  mit  den  Sophisten 
hervorzuheben.  *) 

Im  Wesentlichen  dieselbe  Richtung  hatte  wie  Isokrates  und 
Xenophon  so  besonders  auch  Piaton.  Auch  er  sab  dass  die 
Strömung  der  Zeit  einem  Abgrund  zugehe,  und  vermäss  sich  in 
seinem  edlen  Eifer  die  unaufhaltsame  aufhalten  zu  wollen.  **)    Der 

•)  Vgl.  oben  8.  103  ff. 

**)  Zeuge  seiner  Bewunderung  für  die  lykurgische  Verfassung  ist 
z.  B.  die  AeusseruDg  im  Gastmahl  p.  209  D. 


Einleitung  zur  Politeia.  129 

Ausdruck  dieses  Bestrebens  ist  eben  die  Politeia.  In  ihr  trilt^ 
wie  K.  F.  Hermann  (Scimlztg.  1831.  S.  646)  schön  sagt,  nocli 
einmal  das  uralle  Princip  des  griechischen  Staatslebens  vor  unser 
Auge  in  einer  durch  den  transcendentalen  Schwung  des  philo- 
sophischen Bewusstseins  idealisierten  Gestalt,  in  welcher  wir 
aber  jene  nämliche  Sonne  nicht  verkennen  können  die  nach  der 
Morgenröthe  der  homerischen  Heldenzeit  in  Lykurg's  Gesetz- 
gebung aufgieng  und  in  der  Demokratie  der  Sieger  von  Marathon  , 
culminierle.  Aus  dieser  Innern  Verwandtschaft,  dieser  Gemeinsam- 
keit des  Princips,  erklärt  sich  denn  auch  die  auffallende  Aehnlich- 
keit  welche  viele  Einrichtungen  des  platonischen  idealstaates  mit 
lykurgischen  haben ,  eine  Aehnlichkeit  auf  welche  zuerst  Morgen- 
stern p.  305 — 314  aufmerksam  gemacht  und  welche  neuerdings 
K.  F.  Hermann  mit  Gelehrsamkeit  und  Sciiarfsinn  nachgewiesen 
hat  in  seinen  gesammelten  Schriften  (Göttingen  1849)  S.  132 
bis  159.  Direct  spricht  sich  diese  Uebereinstimmung  freilich 
nirgends  aus,  wie  überhaupt  Piaton  in  dieser  Schrift  eine  un- 
verkennbare  Abneigung  zeigt  aus  dem  Kreise  der  Abstraction  und 
Speculation  herauszutreten  und  auf  die  concreten  Verhältnisse 
der  Wirklichkeit  sich  einzulassen;  vgl.  HI.  p.  394  D.  399  A. 
400  A  —  C.  Nur  mittelbar  und  verhüllt  polemisiert  er  manchmal 
gegen  Zustände  seiner  Zeit  und  Umgebung,  wie  IV.  p.  425  E. 
426  A.  ff.  VI.  p.  492  A  -  C.  494  C.  497  E  f.  VH.  p.  520  E.  529  A. 
537  E.  539  D.  VIH  passim,  bes.  p.  557  f.  IX  a.  E. 

In  dem  Bisherigen  ist  theilweise  schon  die  Antwort  ent- 
halten auf  die  Frage  warum  Pläton  das  Sittliche  durchaus  nur 
in  einem  Staatsorganismus  sich  verwirklichen  lasse,  statt,  wie 
doch  näher  läge  und  die  neuere  Philosophie  thut,  in  dem  Ganzen 
der  Menschheit  überhaupt.  Diess  hat  seinen  Grund  einfach  darin 
dass  die  Menschheit  als  CoUectivbegriff  für  den  Hellenen  gar  nicht 
vorhanden  ist.  Das  Bedürfniss  fest  geregelten  Anschlusses  an 
Gleichartige,  der  Trieb  zur  Organisation  ist  nach  hellenischen 
Begriffen  ein  zum  Wesen  des  Menschen  gehöriges  Merkmal,  der 
Mensch  ist  ^g5ov  TcqXixiTtov,  wie  Aristoteles  sagt.  Nur  in  Gemein- 
wesen, in  TColsLQ,  gegliedert  kann  der  Hellene  sich  den  Menschen 
denken;  was  keine  solche  Verbindung  bildet  ist  für  ihn  gar  kein 
Mensch.  Der  Hellene  lässt  seinen  Blick  nicht  ins  Unermess- 
liche,  Leere  schweifen,  er  betrachtet  sich  nicht  als  Weltburger 
—  was  ja  auch  streng  genommen  ein  sich  widersprechender 
Begriff  ist  —   sondern   als  Burger   eines  concreten  Organismus, 

Tenffel,  Studien.  9 


130  .   .  Zu  Piaton. 

in  dessen  natürlicher  Begrenzung  er  nicht  eine  hemmende  Schranke, 
sondern  eine  schirmende  Mauer  erblickt.  Ohne  vollständig  das 
hellenische  Wesen  abgestreift  zu  haben  hätte  daher  Piaton  gar  nicht 
auf  den  Gedanken  kommen  können  die  Menschheit  als  die  Ver- 
wirklichung der  Idee  aufzufassen»  und  wir  haben  ja  im  Gegentheil 
gesehen  dass  er  bemuht  war  das  althellenische  Princip  in  möglich- 
ster Strenge  und  Reinheit  wiederherzuslellen.  Wollte  er  ein  starkes 
Centrum,  so  musste  er  auch  die  Peripherie  fest  und  klar  abgrenzen- 

Dieser  nationale  Charakter  der  platonischen  Denkweise  tritt 
in  der  Politeia  zum  Theil  sogar  in  schroffer  Weise  zu  Tage,  wenn, 
sie  z.  B.  gegen  Nichthelienen  Grausamkeiten  aller  Art  gestattet 
(V.  p.  470  A.  —  471  B.)  und  sie  überhaupt  als  die  geborenen 
Feinde  der  Hellenen*  bezeichnet  (p.  470  C),  auf  welche  der 
Philosoph  gerne  die  Streitlust  seines  Volkes  ableitete.  Nur  dagegen 
dass  Hellenen  durch  Hellenen  zu  Sklaven  gemacht  werden  sträubt 
sich  Plalon's  Bewusstsein  (V.  p.  .469  B.  C),  und  er  spricht  es 
auch  (V.  p.  470  E.)  mit  dürren  Worten  aus  -dass  das  von  ihm 
aufgebaute  ideale  Gemeinwesen  ein  hellenisches  sein  solle.  Solche 
Züge  sind  es  welche  mit  eine  Gewähr  dafür  bieten  dass  Piaton 
sein  Ideal  wirklich  für  ausführbar  ansah  (vgl.  p.  471  C.  —  V, 
17  z.  Anf.  Vir.  p.  540  D  ff.  VIU.  p.  557  C.)*)  und,  wenn  er 
gleich  von  den  Menschen  der  Gegenwart  Nichts  hoffte,  doch  dess- 
wegen  nitht  an  seiner  Verwirklichung  in  irgend  welcher  Zukunft 
verzweifelte  (vgl.  IIL  p.  415  D.  VII.  p.  541  A.).  Zwar  war  diess 
unleugbar  ein  Irrthum,  aber  ein  Irrthum  der  ihm,  gerade  wie 
dem  Isokrates  seine  Hoffnungen  auf  Philippos  von  Makedonien, 
zu  Gute  gehalten  w  erden  muss  in  einer  Zeit  wo  die  Ahnung  des 
nahen  Schiffbruchs  gerade  die  besten  Augen  in  jeder  entfernten 
Klippe  eine  rettende  Rüste  erblicken  liess.**) 

Dass  Platon's  Darlegung  unpraktisch  sei  ist  indessen  bei 
Weitem  nicht  die  triftigste  Einwendung  gegen  dieselbe:  liegt  es 
doch  im  Begriffe  des  Ideals  dass  es  nie  vollständig  wirklich  wird; 
wohl  aber  muss  man  sagen  dass  das  Aufgestellte  in  mancher 
Beziehung  gar  kein  Ideal  ist,  sondern  vielmehr  ein  Rückschritt 
gegenüber    vom    Wirklichen.      Piaton    zeigt    für   die    Errungen- 


•)  K.  F.  Hermann  (allg.  Schulztg.  1831,  S.  647)  hat  hiefür  auch 
V.  p.  473  mit  Legg.  IV.  p.  709  E.  —  712  A.  verglichen,  welche  Stelle 
die  Sage  von  dem  Zwecke  der  Beis^  Platon's  zu  dem  jüngeren.  Diony- 
Bios  in  dieser  Hinsicht  hestätige. 

**)  Worte  von  K.  l\  Hermann,  allg.  Schulztg.  1831,  S.  647. 


Einleitung  zur  Pöliteia.  131 

Schäften  der  Cultur  nicht  nur  wenig  Interesse,  sondern  sogar 
eine  gewisse  romantische  Antipathie.  Er  möchte  seinen  Staat 
auf  die  Grundlage  der  Naturbestimmungen  zurückfahren  und  von 
den  Zuthaten  der  Cultur  ihn  säubern.  Bezeichnend  ist  in  dieser 
Richtung  der  Eifer  womit  gegen  die  neugemachten  Fortschritte 
in  der  Heilkunde  polemisiert  wird  (III,  14  f.),  noch  mehr  aber 
die  Eigenthumlichkeit  dass  die  meisten  und  wichtigsten  Bestim- 
mungen seines  Staates  gewonnen  werden  durch  Heranziehung 
von  Analogien  aus  der  Natur  der  Thiere,  besonders  der  Hunde 
(z.  ß.  n.  p.  375  A.  D.  E.  m.  p.  404  A.  413  D.  416  A.  424  B.  IV.  p, 
440  n.  V.  p.  451  C  ff.  459  A  ff.  p.  466  C.  VII.  p.  537  A.  539  B.). 
Am  grellsten  tritt  dieser  Charakter  hervor  in  der  Ausfuhrung  über 
die  Kinderzeugung  (V.  p.  459  ff.),  wejiche  ganz  bestialisch  gehalten 
und  noch  überdiess  auf  höchst  widrige  V^eise  mit  dem  Elemente 
der  Berechnung,  Absicht  und  Politik  zersetzt  ist.  Darin  besteht 
aber  überhaupt  eine  der  tiefsten  Eigenthümlichkeiten  des  plato- 
nischen Staates  dass  er  eine  merkwürdige  Mischung  ist  von  idyl- 
lischem Naturstaat  und  despotischem  Polizeistaat:  Freiheit,  Leben, 
Entwicklung  sind  Begriffe  welche  ausserhalb  seines  Kreises  fallen. 
Charakteristisch  tritt  dieses  hervor  in  der  so  häufig  wiederkehren- 
den Wendung:  wir  müssen  die  Dichter  nöthigen  so  zu  dichten, 
die  Maler  nöthigen  so  zu  malen  und  drgl.  (z.  B.  III,  5.  11.  12. 
IV.  p.  421  C).  Auf  unorganischem  Wege,  durch  äusserlichen 
Zwang  eingeführt,  können  die  Satzungen  auch  nur  durch  Zwang 
aufrecht  erhalten  werden ;  daher  die  starre  Unbeweglichkeit  dieses 
platonischen  Staates  (vgl.  IV.  p.  424.).  Diese  ganze  Betrachtungs- 
weise hängt  damit  zusammen .  dass  in  den  Augen  Platon's  der 
Staatsverband  überhaupt  nicht  viel  mehr  als  ein  nothwendiges 
Uebel  ist,  hervorgegangen  aus  den  Unzulänglichkeiten  des  Indi- 
viduums, das  den  vielseitigen  Anforderungen  des  Daseins  für 
sich  selbst  nicht  gewachsen  wäre  (vgl.  II.  p.  369  B.),  eine  An- 
schauung welcher  Aristoteles  (Pol.  IV,  3,  12)  die  seinige  gegen- 
überstellt, dass  der  Staat  vielmehr  aus  einem  positiven  Bedürf- 
niss  hervorgehe,  aus  dem  angebornen  Triebe  des  Menschen  die 
engen  Schranken  der  Natur  zu  überwinden  und  zu  einer  immer 
freieren,  immer  mehr  auf  sich  selbst  gestellten,  echt  mensch- 
lichen und  schönen  Gestaltung  seines  Seins  vorzudringen.  *)  Platon's 
Sione  wäre   es  am  entsprechendsten   wenn  der  Mensch    der   in 


*)  Vgl.  unten  S.  142  f, 

9^ 


132  Zu  Piaton. 

seioen  Augen  alleio  Mensch  und  ein  sittliches  Wesen  ist,  wenn 
der  Philosoph,  sich  aus  sich  selbst  heraus  so  entwickeln  könnte 
dass  er  aller  Anderen  und  der  Zuflösse  aus  der  Natur  völlig  ent- 
behren könnte:  Piaton  ist  ebenso  wesentlich  Idealist  und  Aristokrat 
als  Aristoteles  das  Gegentheil  davon.  Daher  auch  die  auffallende 
Gliederung  seines  Staates,  worin  die  Wächter  Alles^  die  Uebrigen 
Nichts  sind  (vgl.  IV.  p.  421  A.  434  A.)  und  nur  beiläufig  mit 
in  Betracht  kommen."^)  Für  Piaton  besteht  zwischen  den  ver- 
schiedenen Ständen  ein  qualitativer  Unterschied,  wogegen  er 
zwischen  dem  männlichen  und  weiblichen  Geschlechte  nur  einen 
quantitativen  zugibt ,  eine  Verkehrung  des  natürlichen  Verhältnisses 
welche  nothwendlg  zu  solchen  Abenteuerlichkeiten  führen  musste 
wie  sie  der  platonische  Staa(  zum  Theil  enthält. 


Es  ist  gleich  zu  Anfang  gesagt  worden  dass  die  PoUteia  in 
einen  Cyclus  mit  dem  Timaios  und  Kritias  gehört.  Man  würde 
aber  irren,  wollte  man  nun  aus  der  Nichtvollendung  des  Kritias 
schliessen  dass  diese  Schriften  zu  den  letzten  Arbeiten  Platon*s 
gehören.  Vielmehr  nöthigt  das  Verhältniss  zu  den  Nomoi,  dem 
Erzeugniss  der  Greisenjahre  Platon's,  die  Politeia  um  Jahrzehnte 
früher  zu  setzen,  etwa  in  die  Fünfziger  Jahre  Platon's,  so  dass 
es  irgend  welche  besondere  Gründe  gewesen  sein  werden  aus 
welchen  der  Kritias  unvollendet  liegen  blieb.  Diess  wird  dadurch 
bestätigt  dass  diese  Reihe  von  Schriften ,  indem  sie  die  Anwendung 
der  philosophischen  Principien  Platon's  auf  das  Welt-  und  Menschen- 
leben darlegt,  ein  fertiges  theoretisches  System  voraussetzt  Auch 
lassen  sich  im  Einzelnen  indirecte  Hindeutungen  auf  frühere 
Schriften  nachweisen  oder  wenigstens  wahrscheinlich  machen  (s. 
Stallbaum's  Prolegg.  p.  LXIII  f.).  Ausserdem  schliesst  Stallbaum  aus 
der  in  dem  Werke  hervortretenden  Bekanntschaft  mit  dem  Tyrannen 
Dionysios  und  mit  der  pythagoreischen  Philosoi)hie,  so  wie  aus 
der  Erwähnung  (I.  p.  336  A)  des  Tyrannen  Ismenias  (f  Ol.  99,  3;  s. 
Xen.  Hell.  V,  2,  36)  als  eines  bereits  Gestorbenen,  dass  die  Politeia 
nicht  vor  Olymp.  98  verfasst  sein  könne,  aber  auch  nicht  nach 
Ol.  100,  da  Olymp.  100  Plalon  50  Jahre  alt  gewesen  sei  und  ein 


^)  So  werden  in  Buch  II.  und  III.  die  Bestimmungen  so  getroffen 
als  handele,  es  sich  um  die  Erziehung  der  Staatsbürger  überhaupt  and 
nicht  blos  eines  einzelnen  Standes  derselben. 


J^inleitung  zur  Politeia.  133 

mehr  als  öOjähriger  Mann  ein  so  vollkommenes  Werk  nicht  hätte 
liefern  können!  (Prolegg.  p.  LXYI.)  Bei  dem  Mangel  bestimmterer 
Anzeichen  werden  wir  uns  auf  die  allgemeine  Aussage  beschränken 
müssen  dass  das  Werk  der  reifsten  Periode  Piaton's  angehört.  Dem 
entgegen  steht  die  Annahme  von  Morgenstern  p.  73  ff.  und  Bergk 
de  reliq.  com.  Att.  p.  81,  in  breiter  Ausführung  theilweise  wieder 
aufgewärmt  von  Tchorzewski  p.  90  ff.,  dass  nämlich  die  Politeia 
schon  wenige  Jahre  nach  Sokrates*  Tod  verfasst  sei,  theils  wegen 
einer  Stelle  in  einem  der  —  doch  unzweifelhaft  unechten  —  Briefe 
Platon*s ,  theils, wegen  der  Anspielungen  auf  den  Inhalt  des  Werkes 
in  den  am  Ende  von  Olymp.  96  oder  Anfang  von  Olymp.  97  auf- 
geführten Ekklesiazusen  des  Aristophanes. 

Diese  angeblichen  Anspielungen  beziehen  sich  namentlich 
auf  die  Gemeinschaft  der  Weiber  und  Kinder  und  Aufhebung 
des  Eigenthums,  und  ausserdem  soll  v.  647,  wo  ein  Aristyllos 
mit  jener  Idee  geneckt  wird,  diess  eine  Entstellung  des  ursprung- 
lichen Namens  von  Piaton,  Aristokles,  sein.  Aber  diese  Beweise 
haben  durchaus  nichts  Zwingendes ,  s.  Stallbaum  Prolegg.  p.  LXVIII 
IT.  Zimmermann  de  Aristoph.  et  Plat.  amicit.  p.  19  ff.  Beide  Dar- 
stellungen, die  des  Dichters  und  die  des  Philosophen,  gehen  von 
wesentlich  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus,  und  Piaton  erkennt 
den  Weibern  nicht,  wie  Aristophanes  karikierend  thut,  die  Herr- 
schaft zu,  sondern  nur  einen  Ihren  (schwächeren)  Kräften  ent-.. 
sprechenden  Antheil  am  öffentlichen  Leben.  Auch  geht  der  komische 
Dichter  an  die  Auseinandersetzung  dieser  Ideen  mit  so  viel  Be- 
hutsamkeit, schickt  so  viele  Bedenken  und  Verwahrungen  voraus 
(v.  579  ff.),  bereitet  durch  andere  Vorschläge  darauf  vor  (v.  415 
ff.),  macht  auf  die  Neuheit  dieser  Ideen  so  oft  aufmerksam,  dass 
es  wenig  Wahrscheinlichkeil  hat  anzunehmen  sie  seien  damals 
bereits  von  einem  Anderen  so  ausführlich  und  mit  solchem  Ernste 
öffentlich  vorgetragen  gewesen  wie  Piaton  thut.  Andererseits  aber 
ist  die  Aehnlichkeit  zwischen  den  beiderseitigen  Ideen  eine  so 
grosse  und  auffallende  dass  man  sich  der  Annahme  irgend  welches 
äusseren  Zusammenhanges  zwischen  beiden  nicht  leicht  erwehren 
kann.  In  dieser  Beziehung  Hesse  sich  denken  dass  der  Dichter 
in  einer  vielleicht  nur  hingeworfenen  Aeusserung  des  Philosophen 
einen  fruchtbaren  komischen  Stoff  erkannte  und  mit  Begierde 
aufgriff,  oder  dass  die  betreffende  Idee  schon  vor  Beiden  durch 
einen  Dritten  —  etwa  von  Protagoras  in  seinen  ^AvttXoyiaL 
(Diog.  Laert.  III,  57),   wie   Vater   (in   Jahn's   Archiv  IX.  p.  199 


134  Zu  Piaton. 

not.  66)  vermutet  —  beiläufig  ausgesprochen  war  und  nun  von 
Beiden  auFgenommen  und,  je  in  ihrer  Weise,  ausgeführt  wurde. 
Doch  konnte  der  Dichter  auch  selbständig  auf  die  fraglichen 
Gedanken  kommen.  Der  Communismus  ist  eine  so  naheliegende 
Consequenz  des  starr  durchgeführten  demokratischen  Princips, 
wie  es  in  Athen  am  schrankenlosesten  verwirklicht  war,  dass  es 
nicht  besonderer  Mittelglieder  bedurfte  um  dazu  zo  gelangen. 
Wie  sehr  dergleichen  damals  in  der  Luft  lag  zeigt  v.  415  ff.  der 
genannten  Komödie.  Ohnehin  hatten  die  communistischen  Ideen 
schon  längst  eine  Art  von  Verwirklichung  in  Sparta,  sofern  dort 
das  Eigenthum  im  Princip  gleich  vertheilt  war  und  die  Frauen 
eine  weit  freiere  Stellung  einnahmen  als  bei  den  loniern;  und  so 
mochten  dieselben  auch  zu  Athen,  in  dem  Kreise  der  Bewunderer 
der  lykurgischen  Verfassung^  längst  verbreitet  sein,  lange  bevor 
Piaton  sie  ausführte.  Der  Spott  des ,  Aristophanes  müsste  also 
diesem  ganzen  Kreise  gelten,  nicht  aber  der  Person  des  Piaton. 
Indessen  tritt  es  bei  Aristophanes  nirgends  hervor  dass  er  diese 
Gedanken  als  Gedanken  eines  Dritten,  und  diesen  durch  sie,  lächer- 
lich machen  will;  vielmehr  sind  ihm  dieselben  theils  an  sich  ein 
komischer  Stoff,  theils  benützt  er  sie  als  Mittel  zur  Kritik  des 
Bestehenden.  Hätte  also  einer  von  Beiden  den  Andern  benützt 
oder  auf  ihn  Bezug  genommen,  so  müsste  diess  vielmehr  Piaton  sein, 
in  dessen  Darstellung  sich  wirklich  öfters  Beziehungen  auf  das  zu 
grosser  Oeffentlichkeit  gelangte  und  auch  ihm  bekannte  Stuck  des 
Dichters  durchfühlen  lassen,  und  der  das  komische  Licht  welches  im 
Voraus  auf  diese  Ideen  durch  Aristophanes  geworfen  war  offenbar  mit 
zu  den  Schwierigkeiten  ihrer  Darlegung  (V,  2  p.  450  A.  G.  451  A. 
vgl.  p.  457  B.  473  C.  u.  p.  451  C  to  ynvcctxetov  6QäfA(x)  rechnet. 
Uebrigens  ist  bei  der  ganzen  Erörterung  über  die  Abfassungs- 
zeit der  Politeia  nicht  aus  den  Augen  zu  lassen  dass  die  Ent- 
stehung des  Werkes  sich  jedenfalls  über  eine  Reihe  von  Jahren 
vertheilt  und  die  Herausgabe  eine  allmähliche  war.  Wenigstens 
wissen  wir  ausGellius^)  dass  zuerst  ein  einzelner  Abschnitt,  un- 


*)  Gell.  XIV,  3,  3:  Xenophon  inclito  illi  operi  Platonos  quod  de 
optimo  statu  reip.  civitatisqne  administrandae  scriptum  est,  lectis  ex  eo 
duobus  fere  libris  qni  primi  in  volgus  ezierant,  opposnit  contra  cooscri- 
psitque  diversum  regiae  administrationis  genas,  qnod  ncciSBiag  Kvqov  in- 
scriptum  est.  Man  sollte  hienach  meinen  die  zwei  Bücher  waren  solche 
worin  die  verschiedenen  Arten  von  Verfassung  dargestellt  und  beurteilt 
waren,  also  besonders  B.  VIII. 


Einleitung  zur  Politeia.  135 

gefähr  in  dem  Umfang  von  zwei  der  jetzigen  Bucher,  selb- 
ständig herausgegeben  wurde;  vgl.  auch  Themist.  Orat.  XXIIL  p. 
295  C,  wonach  Axiothea  nach  Lesung  eines  Stuckes  der  Politeia 
sich  nach  Athen  aufmachte  und  in  Männerkleidung  seine  Zuhörerin 
wurde.  Auch  die  Nachrichten  dass  Piaton  nach  Kyrene  und  nach 
Megalopolis  eingeladen  worden  sei,  ihnen  eine  Verfassung  zu  geben, 
würden  gut  passen  zu  der  Annahme  dass  ein  Theil  seiner  Dar- 
stellung des  Idealstaates,  aber  wohl  nicht  der  verfängliche  von 
der  Gemeinschaft  der  Weiber  und  Kinder,  das^  Erste  gewesen 
sei  was  Piaton  von  dem  Werke  veröffentlichte,  was  ihm  einen 
Namen  als  Politiker  machte  und  auch  die  schliessliche  Benennung 
des  ganzen  Werkes  bestimmte.  K.  F.  Hermann  dagegen  betrachtet 
als  das  zuerst  Herausgegebene  das  erste  Buch  und  setzt  dieses 
in  die  erste  Periode  Platon's,  das  übrige  Werk  in  die  letzte.*) 
Für  diese  Vermutung  ist  es  zwar  wenig  günstig  dass  das  erste 
Buch  für  sich  ein  positives  Ergebniss  nicht  enthält,  sondern  nur 
die  beiden  aufgestellten  Versuche  den  Begriff  der  Gerechtigkeit 
zu  bestimmen,  den  dem  gewöhnlichen  ßewusstsein  angehörigen 
und  den  sophistischen,  als  udhaltbar  und  unrichtig  erweist.  An- 
dererseits ist  aber  nicht  zu  leugnen  dass  in  Bezug  auf  Ton  und 
Haltung  sich  das  erste  Buch  von  den  späteren  merklich  unter- 
scheidet. Während  nämlich  jenes  dramatisch  sehr  belebt  und 
manchfaltig  ist,  —  vornehmlich  auf  Kosten  des  Thrasymachos  — , 
so  herrscht  dagegen  in  den  späteren  ein  viel  ruhigerer  Ton,  und 
sie  beschäftigen  sich  auch  statt  der  Polemik  mit  positiver  Ent- 
wicklung; daher  denn  die  Bolle  der  Katechumenen  von  dem  ur- 
sprünglich gegnerischen,  aber  schliesslich  versöhnten  Thrasymachos 
auf  die  von  Anfang  an  befreundeten  Söhne  des  Ariston ,  Glaukon 
und  Adeimantos,  übergeht.**) 

Ueberhaupt  glaubt  Hermann  in  dem  Werke  4 — 5  Massen 
unterscheiden  zu  können,  von  welchen  Buch  H  — IV  nebst  VHI. 
IX  den  eigentlichen  Kern  bilden,  sofern  sie  die  qualitative  Gleich- 
heit von  Individuum  und  Staat  sowohl  in  Beziehung  auf  das  Ideal 


*)  Aehnlich  Tchorzewski  p.  188:  die  zwei  ersten  Theiie  des  Werks 
seien  um  die  Zeit  der  ersten  Reise  Platon^s  nach  Sicilien  verfasst,  der 
letzte  Theil  gleichzeitig  mit  dem  Timaios,  also  eine  der  letzten  Ar- 
beiten Platon's. 

**)  Die  B.  I  hauptsächlich  behandelte  Frage  wird  B.  IX  nochmals 
erörtert,  und  zwar  theiiweise  ohne  Rücksicht  auf  das  mit  Thrasymachos 
Yerhandelte. 


136  Zu  Piaton. 

der  sittlicheo  Harmonie  als  auf  die  Entartungen  darlegen,  B. 
V — VII  aber  zwischen  jene  beiden  Massen  hineingeschoben  seien, 
um  die  früher  nur  leicht  hingeworfene  Idee  von  der  Gemein- 
schaft der  Weiber  u.  s.  w.  weiter  auszuführen;  das  pythagori- 
sierende  B.  X  wäre  dann  erst  nach  geraumer  Zeit  zu  den  übrigen 
hinzugefügt,  und  das  für  diesen  Zweck  überarbeitete  älteste  B.  I 
dem  Ganzen  als  Einleitung  vorangestellt  worden.  Doch  beruhen 
dergleichen  Annahmen  immer  auf  Wahrnehmungen  und  Empfin- 
dungen, die  für  Andere  nicht  völlig  überzeugend  sind,  zumal  in 
diesem  Falle,  bei  einem  Werke  das  so  entschieden  den  Eindruck 
der  Einheitlichkeit  macht  wie  die  Politeia. 

Die  Eintheilung  in  die  zehn  Bücher  rührt  nicht  von  dem 
Verfasser  selbst  her,  sondern  wohl  von  alexandrinischen  Gelehr- 
ten. Den  besten  Beweis  hiefür  liefert  die  Eintheilung  selbst,  da 
sie  keineswegs  immer  geschickt  und  mit  Wendepunkten  der  Ge- 
d|inkenentwicklung  zusammenfallend  ist,  sondern  überwiegend 
durch  die  Bücksicht  auf  die  Gleichheit  des  Umfangs  der  ein- 
zelnen Theile  bestimmt  scheint.  Vgl.  z.  B.  den  Schluss  von 
B.  II.  III.  V.  VI.  VIII. 

Von  der  Frage  nach  der  Abfassungszeit  ist  zu  unterscheiden 
die  andere,  in  welche  Zeit  das  Gespräch  vom  Verfasser  verlegt 
werde,  also  die  fictive  Entstehungszeit,  im  Gegensatze  zur 
wirklichen.  Die  ältere  Ansicht  ist  in  dieser  Beziehung:  dass  die 
Scene  in  Olymp.  82  oder  83  falle,  weil  Lysias  darin  noch  zu 
Athen  sei,  während  er  sich  doch  bei  der  Ol.  84,  1  (J.  444 
v.  Chr.)  stattgefundenen  Colonisierung  von  Thurii  als  fünfzehn- 
jähriger Jüngling  betheiligt  habe.  Dass  aber  diese  Begründung 
unstichhaltig  sei  und  das  Gespräch,  nach  allen  Andeutungen 
welche  in  seiner  Einkleidung  enthalten  sind,  jedenfalls  bedeutend 
später  verlegt  werden  müsse,  haben  A.  Böckh  und  K.  F.  Her- 
mann'") so  gründlich  nachgewiesen  dass  jene  Annahme  für  immer 
beseitigt  ist.  Welches  jedoch  genauer  jenes  spätere  Datum  sei, 
darüber  herrscht  Meinungsverschiedenheit.  K.  F.  Hermann**) 
setzt  das  Gespräch  in  Ol.  87,  2  oder  3=431  oder  430  v.  Chr. 
und  begründet  diess  theils  mit  den  Lebensverhältnissen  des  Kepha- 
los^  theils  mit  dem  Bendisfeste.  Kephalos,  der  Vater  des  Redners 
Lysias,  war  auf  Einladung  des  Perikles  aus  Syrakus  nach  Athen 

*)  Zuerst  in  der  Allg.  Schulztg.  1831,  S.  651  flf. 
**)  De  reip.  Platonioae  temporibus,  Marburg  1830.  4.  vgl.  de  Thra- 
symacho  CUalcedonio  (Oöttingen  1848,  4.)  p,  5  f. 


Einleitung  zur  Politeia.  137 

gezogen  und  lebte  hier  noch  dreissig  Jahre.  Da  jene  Einladung 
und  das  darin  liegende  Protectionsverhältniss  voraussetzt  dass 
Perikles  (dessen  erstes  öfTentliches  Auftreten  ins  J.  469  fällt) 
bereits  eine  bedeutende  Rolle  im  Staate  spielte,  und  anderer- 
seits zu  Syrakus  ums  Jahr  460  politische  Wirren  Statt  fanden 
welche  dem  Kephalos  den  Aufenthalt  in  seiner  Heimat  verleiden 
konnten,  so  ist  nach  Hermann  der  athenische  Aufenthalt  des. 
Kephalos  mit  Wahrscheinlichkeit  ungefähr  in  die  Jahre  460 — 430 
V.  Chr.  zu  setzen.  Ums  Jahr  430  müsste  also  Kephalos  gestor-  . 
ben  sein,  bald  nach  unserem  Gespräche,  in  welchem  er  hoch 
bejahrt  ist  und  sich  viel  mit  dem  Tode  beschäftigt.  Erst  nach 
dem  Tode  seines  Vaters  begab  sich  dann  Lysias  nach  Thurii, 
wo  sein  Vater  sich  schon  vorher  angekauft  hatte,  ohne  jedoch 
seine  Besitzungen  persönlich  zu  übernehmen."')  Zu  jener  Datie- 
rung würde  auch  die  Erwähnung  des  Bendisfestes  passen ,  welches 
in  unserem  Gespräche  zu  Athen  erstmals  gefeiert  wird,  und  zwar 
so  dass  dabei  die  Thraker  neben  den  Einheimischen  einen  selb- 
ständigen Theil  des  Festzuges  bilden  (s.  den  Anfang  und  den 
Schluss  des  ersten  Buchs).  Die  grössere  Zahl  und  Geschlossen- 
heit iil  welcher  Jene  erscheinen  macht  wahrscheinlich  dass  es 
ein  Heerhaufen  thrakischer  Miethstruppen  war:  die  Verbindung 
zwischen  Athen  und  Thrakien  begann  aber  (nach  Thukyd.  H,  29) 
im  J.  431  oder  Ol.  87,  2,  und  nicht  lange  vor  dieser  Zeit  hatte 
auch  Kratinos  der  Göttin -Bendis  in  einer  seiner  Komödien  (den 
Thrattai,  aufgeführt  frühestens  um  Ol.  87)  gedacht.  So  weist 
auch  dieser  Punkt  die  Scene  der  Politeia  in  den  Anfang  des 
peloponnesischen  Krieges  (der  eben  431  begann).  Hiezu  passt 
weiter  die  Erwähnung  des  Kleitophon,  der  bei  Aristophanes 
(Frösche  967,  aufgeführt  Ol.  93,  3)  mit  dem  angesehenen  The- 
rämenes  zusammengestellt  wird,  in  unserem  B.  I  aber  noch  eine 


*)  Dass  man  sieb  an  neuen  Niederlassungen  einen  Antheil  kaufen 
konnte,  ohne  sogleich  selbst  mitziehen  zu  müssen,  ersehen  wir  aus 
Thukyd.  I,  27.  Aehnlich  ist  der  Fall  des  Ennius,  der  gleichfalls  im 
Gebiete  der  Stadt  Potentia  ein  Ackerloos  besessen  zu  haben  scheint 
und  mittelst  desselben  römischer  Bürger  wurde,  vielleicht  ohne  jemals 
Potentia  gesehen  zu  haben.  Vgl.  F.  Ritter,  Zeitschr.  f.  Alt.-Wiss.  1840, 
S.  384  f.  Von  Kephalos  insbesondere  ist  ganz  denkbar  dass,  als  im 
J.  444  die  Colonie  nach  Thurii  abgieng,  in  ihm  der  Wunsch  erwachte 
sich  in  dieser  seiner  Heimat  nahegelegenen  Stadt  anzukaufen,  um 
später,  wenn  er  in  Athen  die  Erziehung  seiner  Söhne  ^vollendet,  sich 
allenfalls  forthin  zurückzuziehen. 


138  Zu  Piaton. 

ziemlich  kindische  Rolle  spielt;«  ferner  dass  Thrasymachos  am 
Gespräche  lebhaft  Theil  nimmt  und  al»  Redner  bezeichnet  wird, 
während  Lysias  schweigt  und  über  ihn  geschwiegen  wird;  denn 
obwohl  Letzterer  mit  Thrasymachos  ziemlich  in  demselben  Alter 
stand,  so  fällt  doch  sein  Rekanntwerden  als  Redner  erst  in  die 
Zeit  als  er  aus  Thurii  zurückkehrte,  wo  er  inzwischen  Schüler 
des  Tisias  gewesen  war.  Zugleich  passt  die  Kühnheit  und  Selbst- 
gewissheit  womit  Thrasymachos  bei  Piaton  auftritt  am  ehesten  zu 
der  Altersstufe  die  er  im  J.  430  einnahm,  wenn  er  etwa  460 
geboren  war.  Ferner  stimmt  zu  der  Annahme  des  J.  430  unter 
Anderem  besonders  das  Lebensalter  in  welchem  Sokrates  (geb. 
469)  in  dem  Gespräche  erscheint:  da  er  erklärt  er  spreche  gern 
mit  Hochbejahrten  (I.  p.  328  D.)  und  von  den  Vorzügen  und  Nach- 
theilen des  Alters  wie  von  einer  ganz  fremden,  völlig  ausser  ihm 
liegenden  Sache  redet,  auch  in  vollster  Rüstigkeit  und  Heiterkeit 
auftritt,  so  wäre  willkommen  wenn  man  ihn  als  etwa  einen 
Vierziger  sich  denken  dürfte. 

Wenn  die  angeführten  Momente  für  die  Hermann'sche  An- 
sicht sprechen,  so  hat  dieselbe  andererseits  gegen  sich  theils  die 
Anachronismen  welche  sie  dem  Piaton  aufbürden  würde  (neben 
ismenias  I,  9  auch  Polydamas  I,  12  und  vielleicht  Herodikos  ill, 
14),  theils  besonders  den  Umstand  dass  schon  im  ersten  Buche, 
namentlich  aber  vom  zweiten  an,  die  Brüder  Platon's  (der  selbst  im 
J.  429  geboren  sein  soll),  Glaukon  und  Adeimantos,  redend  ein- 
geführt werden,  und  il,  10  geschieht  ihrer  Waffenthat  bei  Megara 
Erwähnung.  Von  Kämpfen  zwischen  Athen  und  Megara  können 
hier  in  Frage  kommen  nur  diejenigen  welche  Statt  fanden  Ol. 
80,  1  (Thuk.  i,  105.  Diod.  Xi,  79),  Ol.  89,  1  (Thuk.  IV,  66  ff. 
Diod.  XU,  66)  und  Ol.  92,  2  oder  3  (Diod.  XUI,  65).  Unter 
diesen  müsste  hier  der  erste  gemeint  sein;  waren, aber  im  J.  460 
die  Brüder  schon  in  kriegsfähigem  Alter,  so  müssten  sie  um 
476  geboren,  also  um  ein  halbes  Jahrhundert  älter  gewesen  sein 
als  Piaton.  Seine  Rrüder  könnten  sie  dann  also  nicht  sein, 
sondern  gleichnamige  altere  Verwandte  (Geschwisterkinder  seines 
Vaters,  indem  dieser  Sohn  eines  Glaukon  wäre,  sie  Söhne  von 
dessen  Bruder  Ariston).*)  Aber  sie  wären  dann  auch  sieben  Jahre 
älter  als  Sokrates,  und  wären  im  Jahr  430  schon  über  die  Mitte 
der  Vierzige  hinaus,  während  doch  ihre  ganze  Haltung  im  Ge- 


*)  K.  F.  llermann  de  reip.  temp.  p.  2Ö  ff. 


Einleitung  zur  Politeia.  139 

spräche  und  Sokrates'  Benehmen  ihnen  gegenüber  ganz  ent- 
schieden den  Eindruck  macht  dass  sie  einer  jüngeren  Generation 
angehören  als  Sokrates  (vgl.  z.  B.  HI.  p.  402  £.  V.  p.  474  D). 
Man  müsste  daher  seine  Zuflucht  nehmen  etwa  zu  der  Annahme, 
die  betreifenden  beiden  Junglinge  der  Politeia  seien  -  überhaupt 
keine  historischen  Personen,  und  die  zu  ihrem  Bilde  verwen- 
deten Züge  entlehnt  theils  von  dem  älteren,  mit  Piaton  ver- 
wandten, Paare  das  bei  Megara  focht,  theils  von  den  viel  jünge- 
ren Brüdern  des  Piaton.*) 

Solche  Nothbehelfe  wären  nun  freilich  in  Bezug  auf  diesen 
Punkt  überflüssig  bei  der  Annahme  von  A.  Böckh,  welcher**) 
die  Scene  des  Gesprächs  in  Olymp.  92,  2  (J.  411  v.  .Chr.)  setzt. 
Dann  könnten  Glaukon  und  Adeimantos  nicht  nur  überhaupt 
Brüder  Platon's  sein,  sondern  sogar  —  in  Uebereinstimmung  mit 
der  durch  Xenophon  (Mem.  III,  6^  1)  unterstützten  Angabe  des 
Suidas  —  jüngere  Brüder  desselben,  geboren  etwa  428  und  427, 
und  ihre  megarische  Waflenlhat  fiele  unmittelbar  vor  die  Zeit 
des  Gesprächs  (gleichfalls  Ol.  92,  2).  Auch  die  Erwähnung  des 
Polydamas  würde  alsdann  zutrefl'en.  Um  so  weniger  wären  mit 
dieser  Datierung  vereinbar  die  Lebensverhältnisse  des  Kephaios 
und  Lysias,  sowie  die  des  Hermokrates  und  Kritias,  zum  Theil 
auch  des  Nikeratos ;  Protagoras ,  der  doch  X.  p.  600  als  lebend 
erwähnt  wird,  wäre  dann  schon  gestorben,  und  endlich  ist  im 
höchsten  Grade  unglaublich  dass  die  erstmalige  Feier  des  Bendis- 
festes erst  im  J.  411  sollte  Statt  gefunden  haben. 

Letztere  Einwendung  trifil  zum  Theil  auch  noch  die  Annahme 
von  Fr.  Vater,  welcher*)  als  fingierte  Zeit  unsres  Gesprächs 
Olymp.  90  annimmt.  Dabei  wäre  nämlich  die  Zeitdifferenz 
zwischen  der  Erwähnung  der  Bendis  bei  Kratinos  und  ihrer  Auf- 


•)  Vgl.  Schneider,  üebersetzung  der  Politeia,  S.  291  f.;  „So  mögen 
wohl  die  meisten  Züge  die  uns  hier  gelegentlich  von  Glaukon^s  und 
Adeimantos*  Art  zu  sein  und  zu  leben  mitgetheilt  werden  von  den  wirk- 
lichen'Brüdern  des  Piaton  entlehnt  sein,  und  diejenigen  welche,  der 
schon  im  Alterthum  verbreiteten  Meinung  gemäss,  sagen  Piaton  habe 
im  Staate  seine  nächsten  Y&rwandten  verherrlichen  wollen  .  .  nicht 
ganz  Unrecht  haben.  Das  Wahre  aber  ist  dass  dieses  Brüderpaar ,  wie 
wir  es  im  Staate  vor  uns  haben,  niemals  existiert  hat/* 

**)  Vor  dem  Berliner  Lectionskatalog  für  Winter  1838 — 39  und 
Sommer  1839,  endlich  (gegen  K.  F.  Hermann)  vor  dem  Sommerkatalog 

1840. 

**♦)  In  Jahn's  Archiv  IX.  p.  196—223. 


140  Zu  Piaton. 

nähme  in  den  ofßciellen  €ult  der  Athener  eine  ziemlich  grosse, 
was  freilich  eine  sehr  unerhebliche  Schwierigkeit  sein  wurde. 
Erheblicher  ist  das  Bedenken  dass  alsdann  Glaukon  und  Adei- 
mantos  zu  älteren  Brüdern  Platon's  gemacht  werden  müssen; 
doch  stimmt  eine  solche  Annahme  sehr  gut  zu  Piaton  Apologie 
p.  33  E.  und  34  B.;  andere  Bedenken  lassen  sich  durch  die  — 
allerdings  einem  ausdrücklichen  Zeugniss  des  Apulejus  zuwider- 
laufende —  Vermutung  beschwichtigen  dass  Piaton  der  erst- 
geborne  Sohn  einer  zweiten  Gattin  seines  Vaters  sei;  und  die 
Schlacht  bei  Megara  ist  dann  die  Ol.  89,  1  gelieferte,  von 
welcher  bezeugt  ist  dass  in  ihr  gerade  die  jüngste  Kriegerkiasse 
—  welcher  damals  Glaukon  und  Adeimantos  zugehört  haben 
roüssten  —  sich  am  meisten  ausgezeichnet  habe.  Auch  alle 
übrigen  Personen  und  Thatsachen  unseres  Dialoges  würden  sich 
innerhalb  dieses  Zeitrahmens  ohne  Zwang  unterbringen  lassen, 
mit  alieiniger  Ausnahme  von  Ismenias,  welcher  aber  sogar  bei 
der  Böckh'schen  Datierung  ein  Anachronismus  bleibt.  Die  Lebens- 
zeit des  Lysias  müsste  jedoch  dabei  tiefer  herabgerückt*  werden 
als  die  gangbare  (Jeberlieferung  thut,  welche  äeine  Geburt  schon 
ins  Jahr  459  v.  Chr.  setzt.  Indessen  hat  letztere  an  sich  schon 
so  Manches  gegen  sich  dass  eine  solche  Nothwendigkeit  der  Vater- 
sehen  Datierung  fast  nur  zur  Empfehlung  gereicht. 

Gegen  diese  ganze  Erörterung  könnte  freilich  das  Bedenken 
sich  erheben,  ob  es  denn  überhaupt  auch  der  Mühe  werth  sei 
die  Frage  einer  so  ausführlichen  Untersuchung  zu  unterwerfen, 
da  doch  sich  bezweifeln  lasse  ob  Piaton  selbst  auf  diese  Dinge 
Werth  gelegt  habe,  ob  nicht  das  ganze  kunstvolle  Gebäude  auf 
Sand  gegründet  sei,  da  es  dem  Künstler  gestattet  sein  müsse  mit 
grösserer  Freiheit  zu  Werke  zu  gehen,  Personen  die  eigentlich 
der  Zeit  nach  von  einander  getrennt  sidd  zusammenzurücken,  andere 
zu  erfinden  u.  dgl.  Solche  Zweifel,  wenn  sie  auch  nahe  genug 
liegen  und  ihre  Berechtigung  haben,  sind  doch  nicht . g^ichtig 
genug  um  uns  eine  solche  Untersuchung  als  vergeblich  erscheinen 
zu  lassen.  Denn  je  belebter  und  anschaulicher  die  Einleitungen 
der  platonischen  Dialoge  sind,  um  so  gewisser  dürfen  wir  an- 
nehmen dass  Piaton  jedesmal  die  Situation  sich  klar  gemacht, 
dass  er  den  Schauplatz,  die  Zeit  und  die  Personen  des  Gesprächs 
mit  Bewusstsein  gewählt  und  durchgeführt  hat.  Und  jene  Frei- 
heit des  Künstlers  muss  doch  auch  ihre  Grenzen  haben,  er  darf 
dem  Leser   nicht  gar   zu  viel  zumuten;   namentlich   wo  er  sich 


Zur  PoKteia.  141 

geschichtlicher  Personen  bedient  dürfen  die  einzelnen  Zuge  nicht 
in  grellem  Widerspruche  mit  der  Geschichte,  stehen  und  wesent- 
liche Punkte  betreffen,  wie  hier  der  Fall  sein  würde. 

b)  Zu  einzelnen  Stellen.*) 

I.  p.  341  D  ist  die  Schreibung  fast  aller  Handschriften: 
ttQ^  ovv  axd0ry  xäv  tsxväv  a6tv  ti  ^v(ig)iQOv  aXko  i}  ort 
(iäki0ta  xekiav  alvai.  Nur  ein  Monacensis  hat:  akko  ov  itQog- 
äettai^  ^*  i^aQXSt  sxäörri  avrri  avrfj  ä0re  ori^dhdxa  takiav 
elvai^  und  dasselbe  findet  sich  auch  in  einem  Florentinus  am 
Rande.   Sind  diese  Worte  ursprünglich  oder  ein  Glossem?    Bekker 

.  und  Stallbaum  nehmen  das  Erstere  an  und  haben  sie  in  den  Text 
gesetzt;  Schneider  gleichfalls,  aber  eitigeklammert;  für  ein  Glos- 
sem hält  sie  Neukirch,  quaest.  philol.  in  Plat.  Polit.  I.  p.  3---6, 
und  ich  glaube  mit  Recht.  Sie  sind  in  den  Text  gekommen  aus 
der  im  Folgenden  von  Piaton  gegebenen  Erläuterung  der  Frage 
und  durch  Missverständniss  dieser  Frage  selbst.  Sokrates  sucht 
zu  beweisen  dass  der  Zweck  der  verschiedenen  Künste  (z.  B.  der 
Regierungskunst)  nicht  sei  für  sich  selbst  zu  sorgen,  sondern  für 
Andere.  Diess  tbut  er  dadurch  da^ss  er  zuerst  nachweist  wie  die- 
selben sich  selbst  genug  seien  und  für  sich  selbst  kein  weiteres 
Bedürfniss  haben  als  ihrem  Begriffe  vollständig  zu  entsprechen. 
Dieses  Bedürfniss,  im  Anschluss  an  die  vorhergehende  Entwick- 
lung durch  l^viLfpBQOv  ausgedrückt,  ist  eben  oti  ^dki0ra  xskiav 
slvai.  Da  die  Frage  der  Erläuterung  bedarf,  so  ^ird  diese  in  der 
Art  gegeben  dass  in  dem  Verhältnisse  der  Heilkunst  zum  Leibe 
nachgewiesen  wird  wie  der  Leib  als  solcher  sich  nicht  selbst 
genug  ist,  sondern  eines  Andern  bedarf,  wogegen  die  Heilkunst 
kein  Interesse  (^v(ig)iQOv)  für  sich  selbst  hat ,  dar  sie ,  in  ihrer 
Idee  aufgefasst,  vollständig  und  rein  ist,  daher  alle  ihre  Interes- 
sen ausser  Ihr  liegen,  nämlich  die  des  zu  Heilenden  sind.  Davon 
wird  nun  die  -Anwendung  gemacht  auf  das  Verhältniss  zwischen 
Regierenden  und  Regierten:  der  Regierende  hat  für  sich  selbst 
kein  Interesse,  sondern  einzig  für  die  Regierten,  was  denn  das 
Gegentheil  von  der  durch  Thrasymachos  aufgestellten  Definition 
des  Sixacov  ist. 

II.  p.  376  D  fragt  Sokrates  ob  die  Erörterung  der  Frage  wie 
der  Kriegerstand  zu  erziehen  sei  für  den  vorliegenden  Hauptzweck 


•)  Aus  dem  Rhein.  Mus      11.  1860.   S.  468—470. 


142  Zu  Platon. 

Förderung  verspreche  oder  nicht?  und  fügt  dem  hinzu:  tv«  ftij 
ifSfiev  Lxavöv  koyov  ij  övyvov  Sis^Ccn^BV,  Diess  übersetzt  K. 
Schneider,  im  Sinne  der  von  Stallhaum  gegebenen  Erläuterung: 
,,  damit  wir  nicht  eine  zur  Sache  gehörige  Untersuchung  unter- 
lassen oder  eine  weitläufige  durchnehmen."  Aber  weder  Ixavog 
hat  diese  Bedeutung  noch  ist  0v%v6g  ein  tadelnder  Begriff,  noch 
auch  bilden  die  Worte,  sogefasst,  einen  logisch  richtigen  Gegensatz. 
Alles  wird  klar  wenn  man  schreibt :  ivu  ^'  icofiev  0v%vov  Xoyov  ijf 
Ixavöv  di£^i(0(i€v.  Das  Erstere,  i}  für  ^i^y  habe  ich  schon  in 
meiner  Inauguraldissertation  de  luliano  (Tab.  1844)  p.  39  ver- 
mutet und  finde  es  jetzt  durch  den  Monacensis  bestätigt;  das 
Zweite,  die  Umstellung  von  Ixavos  und  ^vx^og^  bieten  drei  gute 
Handschriften.  Der  Sinn  ist:  damit  wir,  je  nach  dem  Ausfall  der 
Antwort  über  die  Förderlichkeit  dieser  Untersuchung,  entweder 
unterlassen  sie  ausfuhrlich  vorzunehmen  oder  sie  in  genügender 
Weise  durchführen,  ut  aut  mittamus  ampliorem  disquisilionem 
aut  sufficientem  exequamur.  Hiefür  spricht  auch  die  nach  der 
Antwort  des  Adeimantos  folgende  Erklärung  des  Sokrates:  ovx 
ccq>6t60v,  ovd'  si  fiaxQOt^Qa  tvyxävsL  ovöa.  Entstanden  könnte 
die  Schreibung,  tva  fti)  mfisv  daraus  sein  dass  im  Folgenden  die 
Untersuchung  wirklich  nicht  unterlassen  wird. 

Mit  Beziehung  auf  Rep.  H.  p.  369  macht  Aristoteles  (Pol.  IV, 
4  p.  99  Bk.  =  p.  120  G.)  die  Ausstellung  dass  Platon  von  der 
Ansicht  ausgehe  (og  tcSv  dvayxqicov  ys  %dQiv  näOav  noXvv 
öwsörrixvtav,  «AA'  ov  tov  xaXov  n&XXov,  Hier  ist  nun  Pinzger  (de 
iis  quae  A:  in  Plat.  Pol.  reprehendit',  p.  14  f.)  und  Stallbaum  gleich 
mit  der  Belehrung  zur  Hand:  Aristoteles  verwechsle  die  Begriffe 
Veranlassung  und  Zweck:  die  avayxata  seien  bei  Platon  zwar 
der  Anstoss  ühd  der  nächste  Zweck  der  Gründung  einer  noXtg, 
nicht  aber  der  letzte  Zweck.  Das  scheinbar  Einleuchtende  und 
Handgreifliche  dieser  Bemerkung  ist  es  gerade  was  das  meiste 
Bedenken  gegen  sie  erregen  muss;  denn  einen  so  groben  Ver- 
stoss gegen  die  Logik  kann  man  einem  so  scharfen  Denker  wie 
Aristoteles  billigerweise  nicht  zutrauen.  Und  wirklich  hat  Ari- 
stoteles vollkommen  Recht  mit  seiner  Ausstellung  und  damit  eine 
der  wundesten  Stelle  der  platonischen  Politeia  aufgedeckt.  Denn 
allerdings  ist  es  ein  Grundgebrechen  von  dieser  dass  über  den 
ursprünglichen  Zweck  der  Gemeinschaftstiftung  niemals  ausdrück* 
lieh  hinausgegangen  wird,  dass  die  Beschränkung  auf  die  rein 
natürlichen   Bedürfnisse   als  Ideal    dargestellt,    alles    über  diese 


Zu  Politeia  und  Symposion.  143 

Hinausreichende  als  ein  Nichtseinsoliendes,  zur  tQvqxSi^cc  nöhg 
Gehöriges  (s.  p.  372  E)  behandelt  wird,  statt  vom  Naturlichen 
und  Nothwendigen  aufzusteigen  zum  Sittlichen,  Freien  und  Schönen. 
So  wird  z.  B.  III.  p.  406  D  an  der  Heilkunst  alles  was  über  die 
Fertigkeit  eines  gewöhnlichen  Barbiers  hinausgeht  als  eine  Ver- 
irrung  und  ein  Krankheitssymptom  verworfen.*) 

2.   Zum  Symposion.''''^) 

1.***)  Plat.  Symp.  p.  182  extr.  q)tloaoq>{ag  rcc  [i^ytöta 
xaQTCOit^  av  ovBldri  muss  das  gesperrt  jgedruckte  Wort,  das  die 
Zürcher  Herausgeber  wieder  von  seinen  Schleiermacher'schen 
Klammern  befreit  haben,  doch  nothwendig  ein  Glossem  sein. 
Denn  dasselbe  bleibt  anstössig,  man  mag  es  ansehen  wie  man 
will.  Nähme  man  es,  mit  Bezug  auf  das  p.  182  B  vorausgegangene 
q)iXo6o(pta  xal  fptXoyviivMtCa ,  als  Seiten  der  nai8eQa<5rCa  (vgl. 
p.  184  D),  in  dem  Sinne  dass  der  Fragliche  für  sein  (angebliches) 
Streben  nach  Weisheit  Tadel  ernte,  so  wäre  diess,  abgesehen  davon 
dass  jene  Beziehung  der  tpiXodotpia  auf  die  naiSsQaörCa  selber 
problematisch  ist  und  der  wichtige  BegrilT  „angeblich'*  gerade 
fehlen  würde,  darum  unrichtig  weil  hier  von  erotischen  Zwecken 
nicht  mehr  gesprochen  wird,  sondern,  im  Gegensatze  zu  diesen, 
von  jedem  anderen  (akXo  oxlovv),-\)  Soll  es  aber  heissen:  er 
würde  von  Seiten  der  Philosophie  Tadel  ernten,  so  ist  zu  er- 
widern dass  ihm  das  keineswegs  blos  oder  vorzugsweise  von  der 
Philosophie  widerfährt,  dass  in  dem  ganzen  Zusammenhange  über- 
haupt nur  von  der  gesammten  öfTenllichen  Meinung,  dem  voiiog, 
in  Bezug  auf  den  Eros  die  Rede  ist,  dass  die  ovsCSri  ihm  von 
Jedermann  drohen,  von  Freund  wie  Feind  (p.  183  B),  nicht  blos 
von  den  Philosophen.  Das  Wort  ist  daher  entweder  ein  Glossem 
oder  corrupt.      Von    den    verschiedenen   Aenderungsvorschlägen 


*)  Vgl.  oben  S.  131.  Ans  dieser  Anschauung  von  der  laxqiiiri  er- 
klärt sich  auch  die  stark  komisch  gefärbte  Rolle  welche  Piaton  im  Sym- 
posion den  Eryzimachos  spielen  lässt. 

♦♦)  Vgl.  auch  meine  Recension  von  Schwegler's  Schrift  über  die 
Composition  des  plat.  Symp.  (Tüb.  1843),  in  Jahn^s  Jahrbb.  XLT.  S. 
357—368. 

•♦♦)  Aus  dem  Rhein.  Mus.  XVI.  S.  312. 
t)  Aus  diesem  Qrunde  ist  der  Vorschlag  von  M.  Vermehren,  plato- 
nische  Studien  (Leipzig  1870)   S.  59,   fpiUqactCaq  (vgl.  p.   213  D)  zu 
schreiben,  gleichfalls  unrichtig. 


144  Zu  Piaton.  . 

genügt  aber  keiner,  auch  nicht  (piloti^Cag^  an  das  man  denken 
könnte,  das  jedoch  zu  eng  wäre.  Ebenso  wenig  K.  F.  Hermanns 
Schreibung:  akV  ortotJv  .  .  ßovkofievog  diaTCQcil^aöd^ai,  nl^v 
q>Mag  (ausser  Freundschaften),  ra  (liyLöta  u.  s.  w.;  denn  dm- 
Tcgdi^ao^ai  (pMag  kann  man  überhaupt  nicht  sagen,  am  wenig- 
sten kurzweg  für  ein  erotisches  Verhältniss,  in  welchem  q)iXCa 
bei  Piaton  immer  die  Stimmung  des  igci^svog  zu  seinem  igaöti^g 
bezeichnet.  Vor  Creuzer's  (pkvagCag  oder  gar  Schenkl's  (Zeitschr. 
f.  österr.  Gymn.  1861 ,  S.  603)  q)kriva(pCag  (das  erst  bei  Späteren 
vorkommt)  würde  weit  den  Vorzug  verdienen  Rückert's  Vor- 
schlag axoTcCag,  welcher  sachlich  richtig  wäre  (vgl.  unmittelbar 
vorher:  ^ayfiaötä  sgya  iQya^oiiBvca)  und  dabei  nicht,  wie  jene 
.zwei  Vorschläge,  sprachlich  unrichtig  (von  einem  seltsamen  Han- 
deln). Einen  erträglichen  Sinn  gibt  auch  das  von  M.  Hertz  (im 
Breslauer  Vorlesungsverzeichniss  für  Sommer  1870)  vermutete 
g)tko7tovLag, 

2.*j  Bei  Plat.  Symp.  p.  194  B.  erwähnt  Sokrates  dass  er 
Zeuge  gewesen  sei  von  der  Unerschrockenheit  des'Agathon-,  dva- 
ßaivovTog  ijtl  xbv  oxQißccvta  fietd  rtSv  vjtoxQitcjv  ocal  ßkir- 
ilJUVTÖg  Bvavria  toöovtg)  d'edvQ^j  [leXlovrog  iicideL^söd'ai 
aavrov  koyovg  xal  ovd^  bittogriovv  ixTtXaysvtog.  Diess  hat 
man  so  verstanden  als  wäre  Agathon  selbst  in  seinem  ersten 
Stücke  als  vzoxQiti^g  aufgetreten.  Gegen  diese  Auffassung  hat 
0.  Jahn  im  Proömium  des  Bonner  Vorlesungsverzeichnisses  für 
Sommer  1866  p.  IV  f.  zwei  Einwendungen  erhoben.  Fürs  Erste 
nullo  certo  exemplo  constat  aliquem  ex  illustribus  poetis  officium 
a  Sophocle  omissum  repetiisse,  und  am  wenigsten  sehe  es  dem 
Agathon  gleich  hunc  artem  histrionicam  exercuisse.  Dieses  Argument 
erreicht  jedenfalls  nur  Wahrscheinlichkeit,  als  bioser  Schluss  ex 
silentio  auf  einem  Gebiete  wo  noch  so  dichtes  Dunkel  herrscht, 
und  weil  aus  dem  was  Sophokles  Sva  tiqv  IdxvoqxovCav  unter- 
liess  nicht  mit  Sicherheit  auf  einen  späteren  jungen  Anfänger  zu 
schliessen  ist.  Zwingender  ist  sein  zweiter  Grund:  si  Agatho 
personatus  et  toto  illo  apparatu  histrionico  obvolutus  et  quasi 
tectus  in  scenam  prodiisset,  neque  se  ipsum  spectatoribus  agno- 
scendum  praebuisset  et,  si  metu  et  anxietate  graviter  commoti 
speciem  exhibuisset,  mirum  sane  hoc  in  histrione  spectaculum 
fuisset  (p.  V.).     Nur  trifil  diese  Einwendung  ebenso  sehr  seine 


0  Rhein.  Mus.  XXII.   S.  440  f. 


Zum  Symposion.  146 

eigene  Erklärung.  Er  weist  nämlich  nach,  in  festis  Bacchicis 
antequam  musica  certamina  in  eisque  iudi  scenici  initium  caperenl, 
soUemni  pompa  Bacchi  Eieutherensis  Signum  ex  Ceramico  in  thea- 
trum  deductum ,  ibi  in  orchestra  positum  et  sacrificiis  celebratum 
fuisse  (p.  XI).  An  dieser  Procession  haben  der  Natur  der  Sache 
nach  ausser  den  weltlichen  und  kirchlichen  Behörden  auch  die- 
jenigen Theil  genommen  welche  bei  der  nachfolgenden  Aufführung 
mitzuwirken  hatten,  also  clioreutae,  musici,  histriones,  poetae, 
omnes  denique  qui  in  spectaculis  populo  se  praesentaturi  erant. 
Wegen  der  grossen  Zahl  der  Theilnehmer  am  Zuge  sei  Orchestra 
und  öxi]Vfj  mit  ihnen  angefüllt  gewesen,  und  so  habe  auch  Agathon 
Omnibus  in  scena  stantem  se  conspii^iendum  geboten ,  cum  tam- 
quam  poeta  pompae  particeps  ea  in  theatrum  deducta  cum  acto« 
ribus  locum  in  scena  occuparit  (p.  XU).  Diess  ist  schon  technisch 
nicht  leicht  vorstellig  zu  machen.  Entweder  waren  die  mit  der 
Aufführung  Beschäftigten  nicht  die  Letzten  im  Zuge :  dann  mussteri 
sie,  um  den  weiteren  Zug  an  sich  vorbeizulassen,  sich  in  den 
Hintergrund  der  Bühne  zurückziehen  und  waren  dani>  selber  für 
das  Publicum  nicht  sichtbar.  Oder  waren  sie  die  Letzte^:  dann 
ist  nicht  recht  abzusehen  wie  sie  gerade  auf  die  Bühne  sollen 
zu  stehen  gekommen  sein,  um  da  während  des  Opfers  an  dem 
Dionysosbilde  ihren  Stand  zu  behalten.  Die  Hauptsache  aber 
ist,  dass  in  diesem  Falle,  wenn  Agathon  unter  hundert  andern 
Theilnehmern  der  Procession  müssig  dastand,  doch  zu  einem 
ixnXay^vac  nicht  der  entfernteste  Anlass  war,  noch  viel  weniger 
als  wenn  er  maskiert  auftrat.  Ich  schlage  daher  für  die  Erklärung 
der  Stelle  einen  anderen  Weg  ein.  Auffallend  ist  der  Plural 
lisrä  xäv  inoxQixfSvy  da  doch  nicht  glaublich  ist  dass  bei  der 
Aufführung  die  vTCoxQiral  en  masse  aufzogen,  vielmehr  jeder 
einzeln,  so  wie  seine  Rolle  es  mit  sich  brachte,  auf  die  Bühne 
getreten  sein  wird.  In  Mehrheit  aber  zogen  die  ;|ro(>€i;ral  suif» 
und  statt  dieses  letzteren  Begriffes  wird  der  unbestimmte  all- 
gemeinere VTCoxQiral  gesetzt  sein.  Von  Agathon  wird  also  bei 
Platon  vorausgesetzt  dass  er  als  ;|ro^od6da<7;caAog  mit  seinen 
Cboreuten  in  die  Orchestra  eingezogen  sei,  um  ein  geistiges 
Product  von  sich  {Xoyoi)  dem  Publicum  vorzuführen,  und  dabei 
gar  keine  Befangenheit  gezeigt  habe.  Dass  die  Choreuten  und 
ihr  xoQodiddoxaXog  keine  Masken  vorhatten  wird  sich  wohl  von 
selbst  verstehen :  wie  hätten  sie  sonst  singen  können  ?  Trat  aber 
Agathon  unmaskiert  auf,   so  konnte  er  leicht  befangen  sein  und 

Teuffei,  Studien.  10 


146  Zu  Platon's  Symposion. 

war  es  daher  ein  Zeichen  von  Mut  dass  man  davon  ihm  gar  nichts 
anmerkte.  Auch  der  erste  Wahrscheinlichkeitsgrund  von  0.  Jahn 
leidet  bei  dieser  Auffassung  keine  Anwendung.  Denn  je  eigen- 
tümlicher und  kunstvoller  bökanntermassen  die  musikalische  Seite 
von  Agathons  Tragödie  war,  um  so  gewisser  besass  er  auch  das 
Zeug  zu  einem  ;|^09odtdflf<7xaAo^.  und  desto  mehr  musste  er 
wünschen  diesen  Theil  der  Auffuhruug  selbst  zu  leiten. 

[Hiegegen  hat  J.  Sommerbrodt  (Rhein.  Mus.  XXUI.  S.  533  bis 
536)  nicht  mit  Unrecht  geltend  gemacht  dass  ein  solcher  ungenauer 
Gebrauch  von  VTCOxQiral  in  der  Zeit  Platon's  unerweislich  und- 
hier,  neben  dxQißccg,  besonders  unwahrscheinlich  sei.  Aber 
gegen  seine  eigene  Erklärunjg,  wonach  die  Stelle  besagen  solle 
dass  Agatbon  als  Zuschauer  bei  der  Aufführung  seines  Stückes 
[avaßaCv.)  Mut  bewiesen  habe,  hat  mit  noch  grösserem  Rechte 
R.  Grosser  (ebd.  XXV.  S.  432 — 436)  eingewendet  dass  sie  mit 
den  Worten  ßXdfavtog  ivavxia  xo^ofjTOf  d'sdzQp  unvereinbar  sei 
und  ävaßaivovrog  u.  s.  w.  zu  einer  Tautologie  mit  [leXXovtog 
iTtiSsC^,  machen  würde.  Grosser  selbst  hilft  sich  (S.  435)  mit 
der  Anllbhme  dass  der  Dichter,  zumal  wenn  er  zum  ersten  Male 
sich  um  den  Preis  bewarb,  auf  die  Rühne,  in  die  Nähe  der 
Schauspieler,  gehörte,  um  diesen  als  eine  Art  von  Regisseur 
{vTCoßokavg)  zur  Hand  zu  sein;  eventuell  vermutet  er  dass  der 
Dichter  vor  der  Aufführung  sich  als  Preisbewerber  mit  seinen 
Schauspielern  in  aller  Form  auf  dem  Xoystov  öffentlich  vorstellte 
und  nachher  bei  den  nicht  beschäftigten  Schauspielern  hinter  der 
Scenenwand  sich  aufhielt,  somit  für  Aeusserungen  des  Reifails 
wie  des  Missfallens  erreichbar  war.] 


vn. 

Kaiser  Julianus. 


1.   Die  chronologische  Bestimmimg  von  Jnlian's 

Jugendgeschichte.'*') 

In  keinem  Punkte  von  Julian's  Geschichte  stossen  wir  auf 
so  viele  Dunkelheiten  und  Schwierigkeiten  wie  bei  dem  Versuche 
die  verschiedenen  Angaben  aber  seine  Jugendzeit  zu  verbinden 
und  in  eine  entsprechende  Ordnung  zu  bringen.  Gibbon  z.  B., 
der  sich  noch  am  gründlichsten  darauf  einlässt,  stellt  die  ungenaue 
Behauptung  auf,  Julian  habe  in  Mailand  7  Monate  in  beständiger 
Todesfurcht  geschmachtet  (III ,  206  der  Wiener  Ausgabe),  und  fügt 
in  einer  Note  die  noch  uliricbtigere  Bemerkung  hinzu,  Julian 
vergrössere  in  seinem  Sendschreiben  an  die  Athener  absichtlich 
seine  Leiden,  indem  er,  obwohl  in  dunkeln  Ausdrücken,  zu  ver- 
stehen gebe  dass  dieselben  über  ein  Jahr  gedauert,  ein  Zeitraum 
der  sich  mit  der  chronologischen  Wahrheit  nicht  vereinigen  lasse. 
Auch  ist  es  nicht  richtig  berechnet  wenn  Gibbon  den  Aufenthalt 
Julian's  in  Athen  auf  sechs  Monate  bestimmt.  Und  solcher  Irr- 
Ihümer  Hessen  sich  bei  Andern  noch  mehrere  nachweisen,  z.  B. 
bei  Neander  (über  den  Kaiser  Julian)  S.  80.  93  die  mangelhafte 
Daüerung  der  Reise  nach  lonienr,  die  quellenwidrige  Behauptung 
eines  dreimaligen  Aufenthalts  in  Alben  (S.  83.  86)  u.  A.  Es. 
scheint  daher  passend  die  Quellennachrichten  über  diesen  Zeit- 
raum zusammenzustellen  und  zu  prüfen. 

Wenn  Julian  bei  seinem  Tode  im  J.  363  32  Jahre  alt  war, 
so  war  er  demnach  im  J.  331  geboren.    Am  22.  Mai  337  starb 


♦)  Aus  A.  W.  Schmidts  Zeitschrift  für  Geschichtswissenschaft  IV. 
1845.  8.  143—156. 

10* 


148  Kaiser  Juliänus. 

CoDstantinus,  und  nach,  dessen  Tode  wurden  bekanntlich  alle 
Glieder  des  kaiserlichen  Hauses,  ausser  den  drei  Söhnen  des  Con- 
stantin  sowie  Gallus  und  Julianus,  auf  directes  oder  indirectes  An- 
stiften des  Constantius  von  der  Soldateska  ermordet.  Den  Gallus 
rettete  dass  er  grade  todkrank  war,  den  Julianus  sein  zartos 
Alter.  Libanius,  der  diess  berichtet,  sagt  (oratt.  I,  525Reiske): 
ovrog  Sh  xal  nQeößvrsgog  dd£lq)6g  oyLondxQiog  rov  xokvv 
8i,a(pavyov0i  tpovov^  xov  (liv  vööov  Qvöaiidrnig,  ^  XQog 
d'dvarov  ano%qri06LV  idöxsv^  rov  dh  riyg  '^Itxiag,  —  aQtv 
yäg  äjtvjXlccxto  ydk  axtog.  Sokrates,  der  sich  im  Uebri- 
gen  an  ihn  anschliesst,  geräth  in  Beziehung  auf  die  Berechnung 
des  Alters  auf  das  entgegengesetzte  Extrem;  er  sagt  nämlich 
(III,  1.  p.  135  C):  ^lovkiavov  dh  ij  i^lvxla  (öxtast'^g  yccQ  ^v 
in)  disöcdösv.  Und  ebenso  Soz.om.  \,  2.  p.  482  fin.:  Stt  yaQ 
oydoov  YiXixlag  T^yav  hog;  nur  ist  hier  deutlicher  ausgesprochen 
dass  er  das  achte  Jahr  noch  nicht  vollendet  hatte.  *)  Diess  stimmt 
gleichwohl  nicht  zu  der  Chronologie.  Im  Sommer  337  war  Julian 
erst  sechs  Jahre  alt,  und  man  kann  durch  kein  Mittel  acht 
herausbringen.  Nur  jene  Zahl  stimmt  auch  recht  zu  dem  Zu- 
sammenhange. Ein  achtjähriger  Knabe  ist,  vollends  im  Orient, 
von  der  Reife  nicht  so  entfernt  dass  er  ganz  und  gar  ungefähr- 
lich erscheinen  könnte.  Msx^  iviavtbv  eßdo^iov  wurde  Julianus, 
wie  er  selbst  angibt  (Hisopog.  p.  352  C),  dem  Eunuchen  Mar- 
donius  zur  Erziehung  übergeben.  Wo  er  sich  damals  auf- 
gehalten habe,  darüber  haben  wir  keine  directe  Angabe;  nur 
wissen  wir  dass  die  Güter  seines  ermordeten  Vaters  von  Con- 
stantius eingezogen  worden  waren  (Jul.  ad  Athen,  p.  273  B)  und 
ihm  so  nur  sein  mütterliches  Vermögen  blieb,  zu  welchem  unter 
Anderem  ein  Gut  in  Bithynien  gehörte,  von  welchem  er  EpisL 
46  sagt:  roi;ro  i^iol  [isLQaxio)  xofitd^  vsp  TceSiov  idoxsc 
fpCkxatov.  Er  wird  also  wohl  seine  Knabenzeit  entfernt  vom 
Hofe  und  von  diesem  unbeachtet  (wenigstens  sah  ihn  Constantius 
erst  in  Kappadokien  zum  ersten  Male,  ad  Ath.  p.  274  A)  auf 
seinen  mütterlichen  Besitzungen  zugebracht  haben. 


*)  Bei  dieser  Uebe reinst immung  der  Nachrichten  ist  nicht  abza- 
sehen  wie  Markus  von  Arethusa  einen  wesentlichen  Einflnss  auf  Julian^s 
Erretking  gehabt  haben  könne,  von  welchem  Gregor  von  Kaz.  (orat  III 
p.  90  C)  sagt:  zmv  aeacoiioTaiv  rov  i^äyiotov  rivC%0L  to  ysvog  avrm  näv 
iKivdvvtvi  xctl  Sid  "Klonrjg  vne^ayayovtmv  slg  ovxog  f]V. 


JugendgeBchichte.  149 

Von  jetzt  an  werden  die  Angaben  widersprechend  und  unklar. 
Vor  Allem  handelt  es  sich  um  Julian's  Aufenthalt  in  Constan- 
linopel,  in  Bezug  auf  welchen  es  sich  fragt  ob  er  zweimal  Statt 
hatte,  einmal  vor  der  kappadokischen  Gefangenschaft^  das  andere^ 
Mal  nach  derselben,  oder  ob  nur  einmal,  und  zu  welcher  Zeit 
alsdann?  Stellen  wir  die  Quellenangaben  zusammen.  Libanius 
lässt  (or.  funebr.  I.  p.  525  Reiske)  auf  die  Erzählung  der  Ret- 
tung des  Lebens  von  Julian  die  Worte  folgen:  Stergißs  tvsqI 
tovg  loyovg  iv  xfi  [leyiety  [letä  ttjv  'Pcofii^^  Ttokei  (d.  h.. 
Constantinopel)  q>omav  sig  diSaöxaketov,  . .  op  öoßfDv  ovdi 
Xvnäv  ovd'  d^imv  d7CoßXinao%'ai  dict  TtX'^d'og  dxoXovd'mv  xal 
xov  ttn\  ixstvcov  &6Qvßov'  «AA'  svvmixog  xs  ßsXxcöxog  eca- 
(pQOövvqg  (pvXai,  (Mardonius)  xal  Ttatdaycjyog  sxsgog  cfvx  &^ol- 
Qog  TtaiSsCag.  i0d^g  re  ulsXqIu  u.  s.  f.  (I,  526):  ^dij  öh 
TtQO^ijßog  '^v  xal  xo  xi^g  <pv0s(ag  ßaCvXixov  nokkotg  xal  (le- 
ydXotg  xex^tjQioi^g  i^ritrusxo,  xal  xaika  ovx  sta  xad'svSstv 
Kiav6xdvxiov.  ds£0ag  Sh  ftij  xokv  (isydXri  .  .  ini0jea0^y 
XQog  -xr^v  dQBtr^v  xov  viov  .  .  ndfiJtsL  avxov  slg  xiqv  Nixo- 
liTJdovg  7c6ki,v  (wie  Libanius  in  seiner  Eigennamen  umgehenden 
Rhetorenmanier  Nikomedia  benennt),  itaiSsva6%'av  .8s  diSiXiCiv 
i%ov0iav.  6  da  ov  fpoixa  [thv  TCag^  iiil^  xovg  koyovg  dh  mpov- 
lisvog  oiiiXäv  ovx  atöai..  Durch  diese  Beziehung  auf  seine 
eigene  Person  wird  Libanius'  Zeugniss  noch  beachtenswerther. 
Sichtlich  kannten  und  benutzten  ihn  Sokrates  und  Sozomenus. 
Jener  erzählt  (III,  1.  p.  143  f.  Vales.):  inal  ^  xax^  aixäv 
(Gallus  und  Jul,)  xov  ßa6tka(og  6q^^  (wie  sie  sich  in  der  Er- 
mordung ihrer  Verwandten  bewiesen  hatte)  ixaxavvc3xo,  Faklog 
fiii/  xovg  av  *Ian/ia  xaxd  xrjv  "Ekpaöov  i^polxa  SiSa0xdlovg, 
av&a  avxotg  xal  xxilöig  tJv  ix  JtQoyovcov  jtoXkij  (vergl.  Liban. 
L  p.  531  R.).  *Iovkiavdg  dh  avJ^rjd^alg  xcSv  iv  Kmv0xavxCvov 
nokac  naiSavxTiQliDv  i^XQoäxo,  alg  xi^v  ßaötktxi^Vj  ayd-a  xoxa  xä 
xaiSavxiJQia  ^i/,  iv  Xix^  (Sxri\kaxi  TCQOtt^v  xal  vjto  MaQÖovlov 
xov  avvov%ov  Ttaidaycoyoviisvog.  Nachdem  er  sodann  Julian's 
(christliche)  Lehrer  in  der  Grammatik  und  Rhetorik  genannt  fährt 
Sokrates  (p.  144  A)  fort:  dx^id^ovxog  Sh  avxov  jtaQl  xovg  löyovg 
fjt^ftij  xlg  alg  xov  d'^^ov  8iixQa%av  cog  atifi  Cxavog  xä  ^Pcafiaitov 
XQayiiaxa  Sioixatv  *  xal  voiko  xokotnov  q)avaQaig  d'QvXkovinavov 
taQaxiqv  inoCai  xä  ßa0ikat.  dvo  fisd'{öxri0tv  avxov  ix  xijg 
lieyaXoscöXacog  alg  xijv  Ntxo^rjdsvav.  Offenbar  ist  nach  diesen 
beiden  Schriftsteilern  der  Hergang  folgender:  Julianus  besuchte 


150  Kaiser  Julianns. 

als  Knabe  und  angehender  Jüngling  unter  der  Aufsicht  des  Mar- 
donius  die  Unterrichtsanstalten  zu  Gonstantinopel  in  dem  Auf- 
zuge eines  Nachgeborenen ;  als  aber  seine  Talente  und  Fortschritte 
die  Blicke  und  die  Neigung  des  Volkes  ihm  zuwandten,  entrückte 
ihn  der  eifersüchtige  und  ängstliche  Constantius  nach  Nikomedia. 
Ein  Theil  dieser  Darstellung  wird  dadurch  bestätigt  dass  oach 
der  schon  aufgeführten  Angabe  des  Julianus  selbst  Mardonius 
wirklich  sein  Pädagog  war.  Dagegen  widerspricht  den  meisten 
dieser  Data  der  Bericht  des  Sozomenus.  Dieser  erzählt  (V,  2. 
p.  165  f.  Vales.)  zuerst  ausführlich  die  Gefangenschaft  der  beiden 
Brüder  in  Makellum  und  fährt  dann  fort  (p.  166  C) :  (istct  xqovov 
tiva  3tav0afiivov  Kcsvötavtiov  v^g  ogy^g  (also  dieselbe  Wen- 
dung mit  welcher  Sokrates  von  dem  Attentat  auf  das  Leben  der 
Brüder  weiter  gegangen  war)  FdlXog  (ilv  slg  nqv  ^Aotav  iMciv  iv 
*Ekpi0<p  diixQißsv ,  iv%a  öilj  tä  nkBda  tilg  ov6£ag  sIxbv  (ganz  wie 
Sokrates).  ^lovkiavbg  Sh  slg  KcnvOtavtivovnokiv  inaveX%'0v 
rotg  ixsMs  didaöxäkoig  iq>oha,  q>v08G)g  äh  sv  i%Giv  Tcal  rotg 
fiadTjfia0L  QaSCog  ixdtdovg  ovx  iXdvd'avsv  iv  Idi^citoif  yuQ 
0%iil^ati  tag  itQOoSovg  jtoMVfisvog  nokXotg  6vvBylvßtO'  iitsl 
dh,  ola  (ptXst  iv  6(ilXai  xal  ßMi^ksvovörj  TtoXsL^  adslipög  cSv 
tov  xgatovvtog  xal  TtQayfiata  dtoixstv  Cxavog  slvai  q>aiv6- 
fisvog  TtQogsdoxäto  ßaövkBVBiv  xal  itoXvg  neql  avtov  toiov- 
tog  ixQdtBt  Xöyog,  nQogBtdx%^  iv  NixofiridBicc  öidyBiv.  Also 
ganz  dasselbe  was  Libanius  und  Sokrates  indirect  vor  die  kappa- . 
dokische  Haft  setzen  setzt  Sozomenus  ausdrücklich  nach  dersel- 
ben; so  Gallus'  Aufentlialt  in  Ephesus,  so  Julian's  Studien  in 
Gonstantinopel.  In  'Bezug  auf  das  Erstere  scheint  Sozomenus  nun 
gleich  im  Unrecht  zu  sein ;  denn  dass  Gallus  und  Julianus  gleich- 
zeitig aus  Makellum  entlassen  wurden,  und  zwar  jener  um  vom 
Kaiser  zum  Gaesar  ernannt  zu  werden  und  alsbald  an  seinen 
Posten  nach  Antiochia  abzugehen»  wird  durch  viele  Zeugnisse 
ausser  Zweifel  gesetzt:  s.  Jul.  ad  Athen,  p.  270  D.  271  D.  Gregor. 
Naz.  ni.  p.  61  D:  tov  ^iv  däBXipdv  i;  (pUavd'QC^jeia  rotJ 
avtoxQdtOQog  AuoSbCxwOi  ßaOikia^  .  ,  tä  dl  vniiQXB  xatcc 
jcoUilv  i^ov6lav  xal  aÖBiav  u.  s.  f.  Liban.  or.  I.  p.  527  R. : 
ixBCvip  fihv  ovv  tcbqI  tavta  i}  öTCOvdij  (in  Nikomedia),  r^ 
d'  dÖBkq)^  yCvBtai  ^Btovöia  vqg  ßaöikslag  xatä  to  ÖBvtBQOt/ 
(JXW^9  Ammian.  M.  XIV,  1,  1  von  Gallus:  ex  squalore  nimio 
miseriarum  ...  ad  principale  culmen  .  .  provectus,  vgl.  Tille- 
mont  bist,  des  emp.  IV.   p.  694,  not.  2.     Was  aber  die  andere 


Jugendgeschichte.  151 

DlfTereiiz  betrifft,  die  in  Bezug  auf  Juliairs  Studienzeit  in  ConT 
stantinopel,  so  scheint  eine  Vermittlung  nahe  zu  liegen,  Weder 
Libanius  noch  Sokrates  sprechen  nämlich  von  Julian's  Haft  in 
Maliellum,  vielleicht  weil  sie  nichts  davon  wissen;  der  Erstere, 
der  doch  wohl  Julian!s  Sendschreiben  an  die  Athener  gelesen 
hatte»  vielleicht  aus  Versehen  oder  mit  Absicht;  Sozomenus  aber 
ist  mit  Julian  derjenige  welcher  die  genauesten  Notizen  über 
diese  Haft  mittheilt.  Sechs  Jahre  lang  (Jul.  ad  Ath.  p.  271  B) 
war  nämlich  Julian  mit  seinem  Bruder  Gallus  in  fundo  Macelli 
(Amm.  M.  XV,  2,  7.  vgl.  Sozom.  X,  2,  p.  165  D.  Vales. :  jegog- 
Btdx^6av  iv  K(Knna8oHCa  SiaxqCßaiv  iv  MaxekXpy  welcher 
Aufenthalt  von  Soz.  als  ein  ganz  erträglicher  dargestellt  wird), 
von  allem  standesgemässen  Umgange  abgesperrt  (ad  Ath.  p.  271  C) 
—  denn  der  Besuch  des  Constantius  (ad  Ath.  p.  274  A)  war  ein 
vorübergehender  und  hatte  wohl  andere  Zwecke  — ,  allein  auf 
Bücher  (vgl.  z.  B.  Jul.  Epist.  9  extr.)  und  ihre  Dienerschaft  an- 
gewiesen. Da  von  hier  aus  Gallus  zum  Caesar  ernannt  wurde 
und  dieses  im  März  351  geschah ,  so  wissen  wir  dass  der  Anfangs- 
punkt dieser  sechsjährigen  Gefangenschaft  das  Jahr  345  ist,  wo 
Julian  14  Jahre  alt  war.  Es  liegt  nun  die  vermittelnde  Annahme 
nahe  dass  Julian,  sowohl  vor  seiner  kappadokischen  Gefangen- 
schaft als  nach  dieser,  in  Constantinopel  studiert  habe,  und  darauf 
führt  Sozomenus'  Ausdruck:  er  sei  dahin  zurückgekehrt  {exav- 
€ld'<Dv)y  von  selbst.  Nun  fragt  sich  zuerst,  welche  von  beiden 
Studienzeiten  die  Eifersucht  des  Constantius  erregte?  Nimmt 
man  die  frühere  an ,  so  hat  man  den  Vortheil  dass  nun  die  kappa- 
dokische  Haft  nicht  mehr  so  unmotiviert  dasteht  und  dass  mit 
ihr  nun  wirklich  die  Reihe  dessen  beginnt  was  Julianus  persön- 
lich durch  Constantius  erlitten  (da  die  Ermordung  seines  Vaters 
und  älteren  Bruders  und  die  Einziehung  seines  Vermögens  früher 
Statt  halte  als  Julian's  Selbstbewusstsein  vollständig  wach  war), 
wie  Julian  selbst  es  darstellt  ad  Ath.  p.  271  B;  für  die  zweite 
sich  zu  entscheiden  könnte  man  durch  den  Umstand  veranlasst 
werden  dass  bei  dem  alsdann  schon  vorgerückteren  Alter  des 
Julian  die  Eifersucht  des  Constantius  natürlicher  erscheint,  und 
dass  die  Angabe  des  Libanius  mehr  zu  ihrem  Rechte  kommt,  da 
dieser,  in  Nikomedia  wohnend,  doch  wohl  darüber  unterrichtet 
war  von  wo  aus  Julian  in  diese  Stadt  gekommen  sei.  Indessen 
wird,  was  das  Letzte  betrifft,  die  Untrüglichkeit  von  Libanius' 
Angaben    durch   seine   Auslassung    der   historisch    feststehenden 


152  Kaiser  Julianus. 

kappadokischen  Haft  bedeutend  veriDindert,  und  in  Bezugs  auf 
das  Erste  ist  es  zweifelhafl  ob  Constantius,  wenn  Julian  schon 
erwachsen  war  ^Is  er  die  Aufmerksamkeit  des  Volkes  und  die 
Eifersucht  des  Kaisers  erregte,  sich  mit  der  blosen  Verweisung 
in  eine  audere  Stadt  begnügt  bätte;  auch  halte  das  Volk  nach 
Julian's  kappadokischer  Haft  weit  weniger  Veranlassung  in  ihm 
den  künftigen  Kaiser  zu  erblicken ,  da  eben  erst  Gallus  zum  Caesar 
ernannt  war  und  sich  noch  durch  Nichts  verhasst  gemacht  hatte.  Es 
ist  daher  an  sich  schon  überwiegend  wahrscheinlich  dass  der  Ver- 
lauf folgender  war.  Vielleicht  von  seinem  zehnten  Jahre  an  (weil 
es  doch  längerer  Zeit  bedurfte  bis  der  Ruf  der  Talente  eines 
bescheiden  auftretenden  Knaben  so  weil  sich  verbreitet  und  solche 
Gedanken  erregt)  besuchte  Julian  die  Unterrichtsanstalten  zu  Con- 
stantinopel;  durch  seine  Fähigkeiten  wurde  die  Aufmerksamkeit 
des  Volkes  und  der  Argwohn  des  Kaisers  rege  gemacht,  und 
dieser  verbannte  ihn  nebst  seinem  Halbbruder  nach  dem  fernen 
Kappadokiön  und  hielt  sie  dort  6  Jahre  lang  in  strenger  Haft. 
Nach  seiner  Freilassung  kehrte  Julianus  nach  Conslantinopel 
zurück,  das  ihm  am  meisten  bekannt  und  durch  seine  Jugend- 
erinnerungen theuer  war,  und  wohin  er  sich  um  so  furchtloser 
begab  weil  damals  sein  Verfolger  nicht  dort  residierte.  Von  hier 
aus  führte  den  Julian  sein  Lerntrieb  bald  nach  dem  nahen 
Nikomedia,  dessen  Unterrichtsanstalten  sich  damals  eines  beson- 
deren Rufes  erfreuten.  Julian  kam  also  wirklich  von  Constau- 
tinopel  aus  nach  Nikomedia,  —  darin  hat  Libanius  vollkommen 
Recht  und  darüber  konnte  er  sich  auch  nicht  wohl  täuschen,  um 
so  weniger  weil  er  persönlich  die  Wirkung  davon  zu  empfinden 
hatte  dass  Julian  unmittelbar  von  Conslantinopel  herkam  (durch 
das  Verbot  seiner  Vorlesungen);  aber  darin  hat  er  Unrecht  dass 
er  diesen  zweiten  kurzen  Aufenthalt  in  Conslantinopel  verwechselt 
mit  dem  früheren  längeren  und  daher  bekannteren,  welcher  durch 
Constanüus  unterbrochen  worden  war,  während  d^n  zweiten  Julian 
freiwillig  beendigte.  In  Folge  dieser  Verwechslung  fand  Libanius 
keinen  Raum  für  Julian's  Aufenthalt  in  Makeilum,  und  Sokrates 
schloss  sich  in  allen  Punkten  an  ihn  an.  Die  ganze  Schilderung 
welche  beide  von  Julian's  Rolle  in  Conslantinopel  geben  ist' richtig 
und  passt  nur  auf  dessen  frühere  Jahre,  nur  auf  die  Zeit  vor 
Makeilum;  erst  in  den  Folgen  welche  sie  diesem  Aufenthalte 
geben  irren  sie ,  indem  sie  als  solche  die  Verweisung  nach  Niko- 
mediana  tsatl  der  nach  Makeilum  angeben  und  so  einen  Zeitraum 


Jugendgeschichte.  153 

von  sechs  Jahren  überspringen.  Sozomenus  sab  den  letzteren 
Fehler  ein,  verfiel  aber,  indem  er  ihn  verbessern  wollte,  in  einen 
andern.  Er  versetzte  nämlich  das  was  seine  Vorgänger  richtig  in 
Julian's  12.  — 14.  Lebensjahr  setzen  in  dessen  zwahzigstes,  wohin 
es  nicht  passt,  Hess  aber  die  Erzählung  jener  durchblicken,  indem 
er  die  nach  Makellum  erfolgende  Reise  nach  Constantinopel  eine 
Rückkehr  nannte,  was  nur  unter  der  Voraussetzung  verständlich 
ist  dass  der  erste  Theil  der  Angaben  des  Libanius  und  Sokrates 
die  Wahrheit  enthält.  Richtig  ist  also  an  Sozomenus'  Bericht  die 
Einschiebung  der  kappadokischen  Haft  und  die  Andeutung  eines 
zweimaligen  Aufenthaltes  in  Constantinopel ;  irrig  aber  ist  dass  er 
den  zweiten  Aufenthalt  daselbst  auf  eine  Weise  schildert  und  ihm 
Folgen  beimisst  welche  vielmehr  zu  dem  ersten  gehören;  dieser 
Irrthum  ist  daraus  entstanden  dass  Sozomenus  die  Angabe  seiner 
Vorgänger,'  Julian  sei  durch  die  Eifersucht  des  Kaisers  nach 
Niko media  verwiesen  worden,  beizubehalten  suchte,  anstatt 
sie  zu  berichtigen. 

Zu  dieser  Darstellung  stimmt  auch  dasji^nige  Datum  welches 
einen  weiteren  schwierigen  Punkt  im  Leben  des  Julian  bildet, 
nämlich  seine  Zusammenkunft  mit  Gallus.  Als  man  später,  nach 
der  Ermordung  des  Letzteren,  nach  einem  Vorwande  suchte  auch 
den  Julian  zu  verdächtigen  und  anzuklagen,  stützte  man  sich  auf 
zwei  Punkte:  quod  a  Macelli  fundo  ad  Asiam  demigrarat  liberalium 
desiderio.doctrinarum  et  per  Constantinopolim  transeuntem  viderat 
fratrem  (Amm.,M.  XV,  2,  7).  Das  Erste  scheint  sich  darauf  zu 
beziehen  dass  Julian  von  Makellum  aus  nicht  an  den  Hof  sich 
begab ,  sondern  seinem  Wissenstrieb  folgte  und  nach  Nikomedien 
sich  wandte.  Diess  that  er  insofern  n'on  sine  iussu  als  Constantius 
ausdrücklich  ihm  die  Erlaubniss  ertheilt  hatte  sich  zu  unterrichten 
wo  er  wolle,  indem  er  es  gern  sah  Ttsgl  ta  ßißkCa  Ttlaväöd'aL 
avtdv  xal  agystv  [lakkov  ij  tov  yivovg  xal  tijg  ßaCiksCag 
V7tofiLfivijaxB0d'ccL  (Euuap.  Max.  L  p.  48  Boisson.).  Ammiän  über- 
springt hiebei  wegen  der  Beiläufigkeit  seiner  Notiz  den  kurzen 
zweiten  Aufenthalt  Julian's  in  Constantinopel  wenigstens  insofern 
als  er  ^denselben  nicht  ausdrücklich  erwähnt,  aber  auch  nicht 
aQss.chliesst.  Hätte  er  ganz  genau  sein  wollen,  so  hätte  er  sagen 
müssen:  weil  er,  von  Makellum  entlassen,  in  Constantinopel  nicht 
geblieben  war,  sondern  sich  alsbald  von  da  aus  nach  Nikomedia 
begeben  hatte  (aus  Wissensdurst).  fJebrigens  schliesst  hier  Ammian 
Kappadokien^  als  den  wesentlichsten  Theil,  von  dem  eigentlichen 


154  Kaiser  Julianus. 

Kleinasien  aus;  denn  dass  er  Asia  hier  nicht  in  dem  engsten 
Sinne  (As.  propria)  nehme,  sondern  in  dem  von  Kleinasien  beweist 
der  Umstand  dass  er  Nikomedia  darunter  mitbegreift,  wofern 
die  Benennung  nicht  überhaupt  vom  europaischen  (constantino* 
polischen)  Standpunkte  aus  gewählt  ist.  Schwieriger  ist  der 
zweite  Punkt  der  Anklage.  Nach  Ammian  fand  also  die  Zusammen-^ 
kunft  in  Constantlnopel  statt,  und  zwar  zu  der  Zeit  als  Gallus, 
IUI  Begriffe  sich  nach  Antiochia  zu  verfugen,  durch  diese  Stadt 
reistjB.  Wenn  er  blos  durchreiste,  woher  kam  er?  ^E^'lraliag, 
sagt  Liban.  I.  p.  527  R.  (jitifiTtstaL  il^  7.  ti^v  ngog  sm  tpQov- 
Qijacov).  Was  hatte  er  dort  zu  thun?  Er  hatte  von  Constantius 
seine  Belehnung  mit  der  Caesarwurde  entgegengenommen.  Hatte 
aber'  Constantius  damals  (J.  351)  seine  Hofhaltung  bereits  in 
Italien,  in  Mediolianum?  Unmöglich.  Noch  herrschte  Magnentius 
im  Occidente,  und  eben  darum  war  Gallus  zum  Caesar  ernannt 
worden  damit  Constantius  seine  Aufmerksamkeit  und  Kraft  un- 
gethellt  dem  Magnentius  zuwenden  könnte,  der  dann  auch  im 
J.  353  seinen  Untergang  fand.  Man  muss  daher  annehmen,  Con- 
stantius habe  sich  zu  Anfang  des  Jahres  351  zwar  in  Mediolanum 
ebensowenig  als  in  Constantinopel  aufgehalten,  aber  doch  in  der 
Nähe  von  Italien  und  dem  Kriegsschauplatze,  so  dass  Libanius 
den  allgemeinen  unbestimmten  Ausdruck  gebrauchen  konnte  i^ 
'Irakiccgy  während  doch  Constantius  das  eigentliche  Italien  erst 
im  folgenden  Jahre  (352)  von  Magnentius  eroberte.  '  Dahin  wo 
sich  grade  der  Kaiser  befand  wurde  Gallus  berufen,  zum  Caesar 
ernannt  und  erhielt  die  Weisung  sich  schleunigst  nach  Antiochia 
zu  begeben.  Auf  dem  Wege  dahin  kam  er  durch  Constantinopel, 
und  hier  sah  er,  nach  Ammian,  seinen  Bruder  Julian.  Möglich 
ist  diesswohl;  es  beweist,  wenn  es  richtig  ist,  nur  die  Schnellig- 
keit  mit  der  sich  Gallus  auf  seinen  Posten  begab,  vermöge  welcher 
er  seinen  Bruder  noch  in  Constantinopel  antraf,  so  kurz  dessen 
Aufenthalt  in  dieser  Stadt  war.  Aber  bei  Libanius  findet  sich 
noch  eine  andere  Version:  ixstvog  fihv  ovv  (der  zum  Caesar 
ernannte  Gallus)  xal  dvd  f^g  BitwCag  doQVfpoQoviißvog  i%oiQBt 
xal  elSov  (die  Brüder)  ccIXTJko  (or:  I.  p.  527  R.).  Während  es  in 
Libanius'  Darstellung  zweifelhaft  bleibt  ob  das  Zusammentreffen 
Zufall  oder  Absicht  war,  glaubt  dessen  Nachfolger  Sokrates  be- 
stimmter sagen  zu  dürfen:  Katöag  dvaösix^Blg '^xbv  6i^6(i€vog 
avtov  (den  Julian)  slg  rijv  NixoiiijdBLav,  otB  i%l  rijv  idav 
inoQBVBXo  (III,  1).    Wer  hat  nun  Recht,  Ammian  oder  Libanius? 


J 


Jugendgeschichte.  155 

Fand  die  Zusammenkunft  in  Constantinopel  statt  oder  in  Niko- 
media?  Im  Ganzen  ist  diess  ziemlich  gleichgültig,  da  die  beiden 
Städte  so  nahe  bei  einander  liegen  dass  es  in  chronologischer 
Beziehung  so  gut  als  keinen  Unterschied  macht  ob  Julian  zur 
Zeit  da  Gallus  sich  in  seine  Residenz  verfugte  noch  in  Con- 
stantinopel war  oder  bereits  nach  Nikomedia  abgegangen.  In- 
dessen scheint  doch  das  Zeugniss  des  Libanlus  mehr  Glauben 
zu  verdienen ,  weil  dieser  damals  selbst  in  Nikomedia .  lebte  und 
somit  aus  der  besten  Quelle ,  aus  dem  Augenschein,  seine  Angabe 
schöpfte.  In  Nikomedia  hatte  also  diese  Zusammenkunft  statt. 
Gibt  man  aber  in  diesem  Punkte  die  Darstellung  des  Ammian 
auf,  so  versteht  es. sich  von  selbst  dass  auch  die  Rechtfertigung 
des  Julian  nicht  darin  bestehen  konnte  dass  er  nachwies,  auch 
diese  Zusammenkunft  habe  non  sine  iussu  imperatoris  statt- 
gefunden ;  er  musste  vielmehr  erhärten  dass  Gallus  ihn  aufgesucht 
habe,  nicht  er  den  Gallus,  und  dass  die  damaligen  Verhandlungen 
entfernt  keine  politische  Tendenz  gehabt  hätten.  Diess  wird  er 
um  so  mehr  gethan  haben  als  er  auch  Ep.  ad  Ath.  p.  273  A 
eidlich  versichert  dass  er  so  gut  als  gar  keine,  am  wenigsten 
aber  eine  politische,  Verbindung  mit  Gallus  gehabt  habe,  was 
auch  Libanius  (or.  I,  530)  nachdrücklich  bekräftigt. 

In  Nikomedia  also  war  Julian  frei  und  konnte  Lehrer  wählen, 
welche  ihm  beliebte,  nur  mit  einer  Ausnahme:  den  Libanius, 
den  berühmtesten,  durfte  er  nicht  hören,  das  hatte  er  seinem 
früheren  Lehrer  in  Constantinopel,  dem  Christen  Ekebolius,  eidlich 
versprechen  müssen  (Liban.  I,  527),  ein  Eid  dessen  lästige 
Wirkung  er  durch  seinen  Eifer  zu  vereiteln  wusste,  indem  er 
sich  um  schweres  Geld  einen  ständigen  Nachschreiber  bei  Libanius 
hielt  (ytOQ^iida  tivct  xäv  xad''  i^fiSQCCv  ksyofidvcov  dcoQsatg 
fisyäkaig  xtr^ödfisvog ,  ibid.).  Dieses  Factum,  worüber  Libanius 
doch  Gewissheit  haben  musste,  ist  einer  der  stärksten  Beweise 
dass  Julian  von  Constantinopel  aus  nach  Nikomedia  kam.  Der 
Aufenthalt  in  dieser  Stadt  wurde  für  Julian's  Religions- Richtung 
entscheidend.  Hier  war  es  nämlich  wo  seine  von  Kindheit  an 
gehegte  Vorliebe  für  die  althellenische  Religion  (Ammian.  Marc. 
XXII,  5,  1 :  a  rudimentis  pueritiae  primis  inclinatior  erat  erga 
numinum  cultum,  vergl.  Julian,  or.  in  Sol.  p.  130  C:  ivtitTjxs 
fiot  dsivog  ix  Jtaidmv  täv  aiyäv  xov  %'sov  %6%'og^  und  aus 
der  kappadokischen  Zeit  die  Notiz  bei  Gregor.  Naz.  or.  III. 
p.  61  C,    Julian  habe  gegen  seinen  Bruder  immer   die   helle- 


156  Kaiser  Julianus. 

niscfae  Religion  vertheidigt)  vorzugsweise  durch  den  um  seinet- 
willen hieher  gekommenen  Philosophen  Maximus  (Sokrates  III,  1. 
p.  136  ßC)  solche  Nahrung  fand  dass  er  innerlich  vollständig 
mit  dem  Christenthume  brach  und  nur  den  äusserlichen  Schein 
aus  Furcht  noch  beibehielt  (vgl.  Julian.  Ep.  42,  p.  80  Heyler. 
Liban.  I.  p.  528.  Ammian.  M.  XXII,  5,  1  f.  Sokr.  lU,  1.  p:  144 
C.  Sozom.  V,  2,  p.  166  D.  Vales.).  Daher  sagt  auch  Gregor  von 
Naz.  or.  III.  p.  61  D :  *Aöla  yv  avtp  to  tijg  dösßsüicg  äiäa- 
öxcckstov  und  schreibt  mit  Recht  der  Philosophie  sein  Abwendig- 
werden von  dem  Christenthume  zu:  ijtsl  äh  stg  avögag  TCQotovxeg 
(Gallus  und  Julian)  f^dri  rätf  iv  q>iXo0oq)Ca  doyiiätcav  ^^avto 
(dg  iiilTtotB  Sq>Bkov!)  xai  f^v  ix  rov  loyov  ngogskafißavov 
dvvcc^LV ,  . .  ovxdtL  xaxs%aiv  oXijv  ri^v  voöov  olog  xs  r^v  (Julian 
nämlich),  ibid.  A. ,  womit  vollkommen  übereinstimmt  Liban.  or. 
I.  p.  528  Reiske:  xai  %otB  (in  Nikomedien)  xoig  xov  IJkdxcDvog 
ysiiovöiv  slg  xuvxov  ikd'(6v  äxovöag  VTtdg  xs  &S(Sv  xai  dair- 
(lovcov  .  .  aXfivgdv  axor^v  äTCSxlvöaxo  itoxifiGH  koyai  xai  Ttdvxa 
xov  %iiL%QO0%'Bv  ixßakiov  vd'kov  dvxsLgrjyaysv  slg  xiqv  ^fv^qi^ 
xb  xiig  dkrid'Bcag  xdlkog^  SönsQ  stg  xcva  fiiyav  vs(ov  dydkfjkaxa 
d'SfSv  TtQOxsQOV  vßQL(S(iiva  ßoQßoQG).  xol  ^v  (ihv  tcsqI  xavxcc 
sxsQog,  ic%ri^ax{isxo  äh  xd  XQOöd'SVy  oi  yaQ  ^gi}i/  q)av^vat. 
Eine  bedeutend  abweichende  Darstellung  gibt  Eunapius  in  Max.  I, 
p.  48  Boisson. :  Ttavxaxov  ßa^icuv  xai  ßagvxdxcDv  vjcoxstfidvcav 
xxrjiidxcsv  fisxd  ßaöiXcx'^g  vicovotag  xai  doQV(pOQCag  TtSQvsfpolxa 
xai  8ii0xsv%EV  oicy  ßovkoLxo.  xai  öiq  xai  slg  lHgyaiiov  ig>L' 
xvsixai  xaxd  xkiog  xiig  AlSsöCov  OofpCag.  Aber  dieser,  selbst 
schon  zu  alt,  weist  ihn  an  seine  Schüler,  von  denen  jedoch  grade 
nur  Chrysanthius  und  Eusebius  anwesend  sind.  Von  dem  Letzteren 
geheimnissvoll  auf  Malimus  hingewiesen,  eilt  er  diesem  nach 
.  Ephesus  nach;  auch  den  Chrysanthius  ruft  er  hieher,  xai  [loktg 
^(>xot;i/  a^(p(D  xfj  xov  naidog  slg  xdg  (iadij0sig  svQV%(OQCa 
(ib.  p.  51).  Aber  ist  schon  Eunapius  überhaupt  ein  unglaub- 
würdiger Schriftsteller,  welcher  um  jeden  Preis  seine  Helden 
verherrlichen  will  (daher  er  den  Julian  dem  Maximus  nachreisen 
lässt,  nicht  umgekehrt,  wie  Sokr.  III,  1.  p.  136  C  erzählt  nach 
der  Andeutung  bei  Liban.  or.  funebr.  I,  528:  xiig  q)TJfirig  navxa- 
%oZ  q>SQOiLsvYig  ndvxsg  ot  nsqil  xdg  Mov0ag  xai  xovg  ak- 
kovg  ys  %'Siyvg  ol  ^ihv  ddoiTtoQOVV ,  ol  d'  inksov,  öTtsiiöovxsg 
ISstv  r'  ixstvov  xai  ovyysvko^'ai  xai  slnstv  avxoC  xi  xai  dxov- 
0av  ksyovxog) ,  so  verräth  sich  die  Unrichtigkeit  dieses  Berichtes 


[Jugendgeschichte.  157 

insbesondere  noch  in  manchen  einzelnen  Punkten.  Einmal  in 
der  Uebertreibung  womit  Julian's  Reichthum  und  in  Folge  dessen 
sein  Aufzug  geschildert  ist  und  welche  nur  den  Zweck  hat  seine 
Bemühung  um  Aidesius  und  Maximus  in  ein  für  diese  noch 
schmeichelhafteres  Licht  zu  rucken ;  denn  Julian  war  damals  nicht 
reich,  da  er  sein  vollständiges  väterliches  Vermögen  erst  als 
Kaiser  wieder  in  seinen  Besitz  bekam  (vgl.  Jul.  Ep.  ad  Ath.  p. 
273  B),  und  noch  weniger  war  ein  glänzender,  Aufsehen  er- 
regender Aufzug  der  Julian's  Neigungen  und  Erziehung  ent- 
sprechende. Auch  beweist  der  Ausdruck  roi)  xatdog  wie  wenig  , 
Kenntniss  Eunapius  von  der  Chronologie  hatte,  da  Julian  um 
diese  Zeit  in  seinem  zwanzigsten  Jahre  stand.  Denn  dass  seine 
Abwendung  vom  Christenthume  in  diesem  Lebensalter  erfolgte 
gibt  Julian  selbst  an  (Epist.  51:  ststS'OfisvOL  tp  jcoqbv^bvxv 
xdxeivTiv  rijv  6d6v,  nämlich  das  Christenthum,  oixQ^S  itäv 
stxoöi).  Wir  haben  also  alle  Ursache  die  Erzählung  des  Eunapjus 
bei  Seite  zu  lassen  und  uns  an  die  mit  Julian's  eigenen  Angaben 
übereinstimmende  Darstellung  des  Libanius  und  Sokrates  zu  halten, 
wonach  er  (von  Kappadokien  aus,  also  nach  seinem  19.  Jahre) 
nach  Nikomedien  kam  und  hier  für  die  hellenische  Philosophie 
und  Religion  vollständig  gewonnen  wurde.  Nur  so  viel  können 
wir  an  Eunapius'  Erzählung  als  richtig  anerkennen  dass  aller- 
dings Julian  um  diese  Zeit  (etwa  unmittelbar  nach  seiner  Frei- 
lassung}  allerlei  kleine  Reisen  in  Asien  herum  ausführte,  deren 
er  in  seinem  Briefe  an  Themistius  p.  259  BC  selbst  Erwähnung 
thut.  Jedenfalls  aber  befand  er  sich  in  Nikomedien  als  sein 
Bruder  Gallus  ermordet  wurde.  Dieses  Ereigniss  war  auch  für 
Julian  von  bedeutenden  Folgen.  Man  beschuldigte  ihn  bei  dem 
ängstlichen,  misstrauischen  Kaiser  des.Einverständnisses  mit  Gallus. 
Die  Anklagepunkte  und  die  Rechtfertigung  welche  ihnen  Julian 
entgegensetzen  konnte  haben  wir  des  Näheren  bereits  betrachtet« 
Es  ist  uns  hier  nur  noch  übrig  die  äusserlichen  Hergänge  welche 
sich  an  diese  Anklage  knüpften  darzulegen. 

Der  Tod  des  €allus  erfolgte  nach  Gibbon  im  December  des 
J.  354,  wo  Julian  volle  23  Jahre  alt  war,  Gallus  aber  29  (Amm. 
M.  XIV,  11,  27).  Die  Folgen  welche  dieses  Ereigniss  für  ihn 
hatte  erzählt  Julian  selbst  (ad  Ath.  p.  272  D)  so:  FiXkov  xrsivat 
naQsdioxs  (Constantius)  totg  ix^lotoig^  i^h  dh  ätprixB  fioyig  STCtä 
fiflvfSv  8X(PV  6kxv0ag  tfjde  xaxBl0s  xal  3tOiri0ä(iBVog  i^q>QOVQiov, 
Also*  von  Gallus'  Tod  an  wurde  Julian  7  volle  Monate  lang  hin  und 


158  Kaiser  Julianus. 

hergeschleppt  und  gefangen  gehalten.  Diess  wird  im  Wesentlichen 
auch  durch  Libanius  bestätigt,  der  (Oratt.  1.  p.  Ö30  R.)  berichtet: 
(rdkXog)  änid^riaxev  uqxavoq^  .  .  xal  ai^tixa  ovtog  (Julian) 
avB6ica6x6  xb  xal  '^v  iv  (lioü)  q>vXdx&v  AnkiOiisvGiv  .  .  . 
xal  TtQogijv  to  iirjäh  iq>*  ivog  CdgvOd'ai.  x^Q^ov,  tojtovg  Sh  ix 
röiccDv  äiisißsi^v  iv  xakaiTCcnQia.  Sokrates  schllesst  sich  auch 
hier  an  Libanius  an,  indem  er  (III,  1.  p.  144  D  Vales.)  erzählt: 
inal  rdkXog  apygidi],  TCagaxQ^fia  xal  'lovXiavog  VTCOTtxog 
xareöxfj  x^  ßa6ikhi'  dib  q)Q0VQst6^ai  aixov  ixik€v€ev,  l(Sxv- 
0ag  dh  SiaÖQaOai  xovg  q)QOVQOvvxag  avxöv  xötcov  ix  x6nov 
dfiscßcüv  dL60cii6xo'  o^h  ÖS  7C0XB  ij  xov  ßaöiXicog  yafisxi^ 
EvCBßCa  xQvnxo^BVQv  dvBVQOvöa  TCsid'Bt  xov  ßaOikm  (irjdhv 
fihv  avxov  ÖQaOat  xaxbv^  0'vyx^QV^f^''  ^^  ^^^  ^^S  ^Ad-tjvag 
ik%'6vxi  q)iko0O(pBtv.  Nur  bat  Julian  und  Libanius  statt  dieses 
romanhaften,  aus  blossem  Missverständniss  der  Ausdrücke  des 
Libanius  entstandenen  Versteckens  und  Entdecktwerdens,  von  wel- 
chem auch  Ammian  nichts  weiss,  eine  wahrscheinlichere  Version, 
dass  nämlich  Julian  gefangen  herumgeschleppt  worden  sei.  Worin 
aber  bestand  dieses  ikxvBöd'ail  Jedenfalls  einmal  darin  dass 
Julian  von  Nikomedia  an  den  Hof,  der  sich  jetzt  zu  Mediolanum 
befand,  transportiert  wurde  (perductus,  Ammian  XV,  2,  7;  vgl. 
ib.  §.  10  u.  c.  3,  1,  wo  derselbe  Ausdruck  wieder  von  Gefan- 
genen gebraucht  ist).  Constantius  bereute  die  Ermordung  des 
Gallus,  sobald  sie  vollzogen  war,  um  so  mehr  aber  hiess  ihn  sein 
böses  Gewissen  die  Rache  des  Julianus  furchten.  Gern  verwan- 
delte sich  die  Furcht  in  Zorn,  als  ihm  seine  Camarilla  einredete, 
Julian  habe  sich  mit  Gallus  gegen  ihn  verschworen  gehabt.  Aber 
der  Kaiserin  Eusebia  Fürsprache  und  Vermittlung  beseitigte  für 
Julian  die  ihm  drohende  Gefahr.  Sie  verschaffte  dem  Gefangenen 
und  Angeklagten  eine  Privataudienz  bei  dem  Kaiser,  der  ihn  seit 
Kappadokien  nicht  mehr  gesehen  hatte  (ad  Ath.  274  A),  worin 
Julian  die  falschen  Anklagen  zurückwies  und  sich  vollständig 
rechtfertigte  (Jul.  ad  Ath.  273  A.  Or.  IIL  p.  118  B:  o'ßx  dv^xBv 
ij  Ev0BßCa  xavxa  ÖBOiiivri  tcqIv  ifih  rjyayBV  Big  o'^iv  xiqv 
ßaöikiag  xal  xvxbIv  i%olri0B  koyov,  xal  äjcoXvofiivc;}  Ttäoav 
alxiav  adixov  0vv7J0d'fi;  vgl.  ad  Ath.  274  A:  axal^  iv  ^Ixakia,  mg 
äv  x'^g  öcjxfjQiag  xiig  ifiavxov  d'agQtjoaiiit).  Constantius  ver- 
sprach ihm  noch  öfter  ihn  vor  sich  zu  rufen,  was  aber  der 
Eunuch  Eusebius  zu  hintertreiben  wusste,  so  dass  ihn  Constan- 
tius,  obwohl  Julian  ungefähr   sechs  Monate  in  Mediolanum   sich 


Jugeudgeschichte.  159 


aufbielt  (Jul.  ad  Äth.  p.  274  A:  xaltoi  trjv  avrrjv  ccvrp  nokiv 
SS  äxrj0a  ii'^vag^  xal  (livroi,  xal  \mic%Bx6  [is  d'eäösefß'av 
ndXiv)^  nicht  wieder  sah  bis  nach  seiner  Rückkunft  aus  Hellas. 
Sogar  sein  Leben  wäre  in  Mediolanum  vor  den  Nachstellungen 
der  schuldbewussten  und  daher  ihn  fürchtenden  Camarilla  nicht 
sicher  gewesen  (cum  obiecta  dihieret,  nefando  adsentatorum  coetu 
perisset  urgente,  Ammian  XV,  2,  8,  vgl.  Jul.  ad  Ath.  273  A), 
ni  Eusebia  suffragante  regina  ductus  ad  Comum  oppidum  Medio- 
lano  vicinum  (w^o  er  seinen  Feinden  aus  dem  Gesicht  war), 
ibique  paulisper  moratus  procudendi  ingenii  causa,  ut  cupidine 
flagravit,  et  Graeciam  ire  permissus  esset.  So  Ammian  und  ebenso 
Libanius  (Orr.  I,  531  R.):  rov  81  slösv  .  .  rj  KovCtavtCov 
ywri  xal  xov  fihv  (Julian)  i^lst^as,  tovSh  (Constantius)  i^idkal^e 
xal  TCoklatg  xatg  txscCavg  IkvOsv  (von  seinen  Banden)  sgävtä 
t'^g  ^EkkdSog  xal  fidXtöta  dt]  xov  x'^g  'Ekldöog  6q)d'ak(ioVf 
xäv  '^d'fjvdivj  elg  yrjv  iQ(X)(i6V7iv  ^dfi^at.  Aber  die  Darstel- 
lung beider  Schriftsteller  ist  aus  Julian  in  einem  Punkte  zu  er- 
gänzen: Julian  wurde  nicht  unmittelbar  von  Comum  aus  nach 
Hellas  entlassen,  sondern  er  hatte,  unterstützt  von  Eusebia,  sich 
die  Erlaubniss  ausgewirkt  in  die  Heimat  seiner  Mutter,  iytl  xtjv 
xijg  (Hfcg^g  (weil  sein  väterliches  Vermögen  confisciert  war)  aOxCav 
(ad  Ath.  273  B),  also  wohl  nach  Bithynien  oderlonien,  zurückzit- 
kehren  (Or.  lU.  p.  118  B  von  Eusebia:  otxaSs  inid^^ovvxi  ndUv 
dnUvai  Ttofinrjv  d0q)akij  naQi0%av,  ixixgiil^aL  TtQiSxovxov  ßatSi- 
Xia  ^viiJtEiöaaa),  Schon  war  er  unterwegs  (vgl.  ad  Ath.  273  A:  dg 
ow  dnoq)vyfov  s^Bt&sv  aö^evog  67COQ€v6fiif)v  inl  xi^v  r^g  (irjXQog 
iüxiav,  und  nachher  Jtogsvofidvöv  sjtl  xr^v  BCxiav)y  als  sich 
tibqI  x6  Uigiitov  und  nachher  aus  Gallien  Sykophanten  erhoben 
iHdd  Unruhen  aus  ihren  Gegenden  meldeten  (ad  Ath.  273  CD; 
in  der  Lobrede  auf  Eusebia,  Or.  IH.  p.  118  C- drückt  er  sich, 
wie  es  der  Tact  gebot,  unbestimmt  aus:  daifiovog  rj  xvvog 
l^vvxvxCag  dXkoxoxov  6d6v  xavxriv  vitoxa^Lo^iivrig),  Der  miss- 
trauische  Constantius  fürchtete,  Julianus  möchte  sich  an  die  Spitze 
einer  dieser  Empörungen  stellen  (ßaiöag  navxdstaet  xal  (poßri^slgy 
ad  Ath.  273  D),  schickt  ihm  daher  sogleich  nach  [avxlxa  an" 
ipih  ni^Tcai)   und  weist   ihn  weg   von   dem  Schauplatze   beider 

Aufstände,  nach  Hellas,  wofür  sich  in  seiner  Abwesenheit  Eusebia, 

• 

seine  Neigungen  wohl  kennend,  verwendet  hatte  (Or.  lü.  p.  118  C 
von  Eusebia :  iito^onbavov  TtdfiTcav  xr^v  ^EkkdSa ,  xavxriv  alxrj- 
0a0a  nagd  ßaöckicog  VTcag   i^iov  xal  djtodruiovvxog  'ijdri  xi^v 


160  Kaiser  Julianus. 

XciQLv)*),  Wir  iivissen  also  dass  er  erst  7  volle  Monate  nach 
Gallus'  Tod  nach  Hellas  kam,  somit  im  Sommer  des  Jahres  355, 
und  den  Ausdruck  i^xvea^av  vvissen  wir  so  zu  erläutern  dass 
Julian  von  Nikomedien  nach  Mediolanum  transportiert,  von  da 
nach  Comum  gewiesen,  von  dort  nach  Constantinopel  entlassen, 
unterwegs  aber  nach  Athen  beordert  wurde.  Zugleich  aber  sehen 
wir  dass  es  mit  dem  siehenmonatlichen  Herumgezerrtwerden 
nicht  allzustreng  zu  nehmen  ist;  nur  etwa  einen  vollen  Monat 
lang  brachte  er  unterwegs  zu,  die  übrigen  sechs  Monate  verweilte 
er  in  Mediolanum,  freilich  in  einer  Läge  welche  unangenehm 
genug  war,  da  er  sich  allenthalben  von  Feinden  umringt  sah. 
Auch  wie  lange  Julian  in  Hellas,  oder  vielmehr  Athen,  wohin 
er  sich  sogleich  begab,  verweilte  können  wir  bestimmen,  da  wir 
den  Anfangspunkt  seines  dortigen  Aufenthalts  wie  den  Endpunkt 
desselben  kennen.  Der  Anfangspunkt  ist,  wie  wir  eben  gesehen 
haben,  etwa  der  Juni  des  Jahres  355.  Nun  war  er  aber  am 
6.  November  desselben  Jahres  schon  einige  Zeit,  wenn  auch  nicht 
lange  (haud  ita  dudum  ab  Achaico  tractu  accitus,  Amm.  XV,  8, 
1),  in  Mediolanum;  denn  an  diesem  Tage  wurde  er  dort  zum 
Caesar  ernannt,  dem  Heere  vorgestellt  u.  s.  w.;  er  muss  also 
Anfangs  October  den  Befehl  zu  schleuniger  Ruckkehr  an  den  Hof 
erhalten  und  Athen  verlassen  haben.  Er  war  somit  nicht  über 
ein  Vierteljahr  in  Athen,  wozu  auch  ganz  der  Ausdruck  passt 
^LXQOV  sig  ri)i;  ^ElXaäa  x€l€v0ag  %mo%(»3qiioai^  ad  Ath.  p.  273  D. 
Julian  benutzte  hier  seine  Müsse  [(S%oXri  ixelvri^  Ep.  ad  Themist. 
p.  260  B,  wo  er  auch  seine  damalige  Besitzlosigkeit  schildert, 
vgl.  Liban.  oratt.  I,  531  R.)  zu  emsigem  Studium  der  Philosophie, 
wiewohl  er  sich  bereits  duri^h  seine  gründlichen  Kenntnisse  aus- 
zeichnete (Zosimus  HI,  2,  1:  ix  täv  ^A^riväv  *IovXiavov  fi£- 
raTcdfiTCsraiy  totg  avröd'i  rpikoCoq)OV0i  Cvvovta  xal  iv  icavxl 
7tatd€v0S(X>g  stÖBi  tovg  iavTOv  xad^ysiidvag  VTtSQßakXo^isvov^ 

*)  Gregor.  Naz.  IV.  p.  121  D  sagt ,  er  habe  ausdrücklich  den  Kaiser 
um  Erlanbniss- zur  Reise  nach  Hellas  gebeten,  angeblich  um  das  Land 
und  seine  Bildungsanstalten  kennen  zu  lernen,  in  Wahrheit  aber,  um 
mit  den  dortigen  Opferern  und  Gauklern  sich  zu  besprechen.  Wahr- 
scheinlich hat  Julian  dem  Gregor  gesagt  was  sein  geheimstes  Motiv  sei? 
—  Dagegen  Libanius  ngogfpcDV.  I.  p.  410,  8  (Relske)  sagt  richtig:  ors 
aqijjQi&rjg  zriv  tov  ßadi^siv  onoL  ßovXrj9'SLrjg  i^ovciav  iv  zoiovzm 
XODQ^co  %aT s-Klaia&'Tjg  £9  0  Teccvrcog  av  id^afisg  i^ovö^ccg  vnccQXOvarjg.  Und 
Julian  selbst  (ep.  ad  Themist.  260  A):  änimv  inl  xriv  ^KXXada  itaXiv^ 
otB  fis  ipsvyBiv  ivofii^ov  ndvteg. 


Jugendgeschichte.  161 

und  Libanius  oratt.  I.  p.  532:  (lovog  ixstvog  vsov  tc5v  'y^d"^va^£ 
rjKovtcov  dtdä^ag  tv  iiälkov  ri  (lad'av  dx'^ld'Sy  roiyaQovv  asC 
uva  €(i'^V7i  tcsqI  avzov  scogccto  viov^  XQaößmaQOVy  q)iko- 
cötpcüv,  Qi]tqQ<x)v).  Aber  er  war  damals  noch  so  schüchtern 
dass  er  erröthete  so  oft  er  zum  Sprechen  kam  (Libau.  1.  p.  533: 
6  äi  Xiycav  ta  riv  dfioicog  ^av^a6t6g  xal  aläovfiavog,  oi  yoQ 
rjiu  ozL  %(x>Qlg  iQvd^fiatog  iqjd-ayyaro).  Hier  machte  er  auch 
die  Bekanntschaft  des  eleusinischen  Hierophanten,  Eunap.  vita 
Ma^imi  I,  p,  52  f.  (Boiss.),  der  aber  freilich  nach  seiner  Gleich- 
gültigkeit gegen  den  bislorischen  Rahmen  oder  nach  seiner  Un- 
kenntniss  des  streng  Geschichtlichen  diese  Bekanntschaft  in  eine 
viel  frühere  Zeit  setzt.  Andere  Bekannte  von  Athen  her  begeg- 
nen uns  EpisL  55  und  Ammian  XXII,. 9,  13.  Auch  Gregor  von 
Nazianz  und  Basilius  waren  gleichzeitig  mit  ihm  in  Athen,  aber 
wohl  ohne  dass  er  ihnen  bei  seiner  damals  bereits  entschiedenen 
Richtung  besonderes  Interesse  widmete  {t'^g  ngaötr^rog  a'örov 
aieavtag  ccTcakavov,  tov  maxavao^ai  81  ol  ßakxi0toi^  Liban. 
I,  532);  vielleicht  auch  wurden  sie  von  ihm  verdunkelt  und 
dadurch  gekränkt.  Bald  aber  rief  Constantius,  nachdem  Eusebia 
die  entgegenstehenden  ijjavdatg  vito^Cag  Siikvaav ,  ivagyatrax- 
(iflQip  xä  ßic9  xcifip  XQCDinivri  (or.  111,  p.  121  A),  ihn  an  seinen 
Hof  zurück  {ynxQbv  alg  xriv  ^EKXdSa  xalavaag  v7toxc3Qij6ai 
ndXiv  ixat&av  ixikai  nag^  idvxov,  ad  Ath.  273  D.  Or.  lll. 
p.  121  B).  Unter  schmerzlichen  Thränen  gieng  Julian  aus  der 
theuren  Stadt  einem  noch  Ungewissen  Geschicke  entgegen  (ad  Ath. 
275  A).  In  Mailand,  wo  er  Iv  xivi  itQoaOxaltp  sich  einquar- 
tierte (ad  Ath.  275  B),  Hess  ihn  in  Abwesenheit  des  Kaisers 
Eusebia  freundlichst  bewillkommen  (ib.  p.  274  B) ;  bald  kam  auch 
Constantius,  nachdem  er  eben  den  Feldzug  gegen  Silvanus  glück- 
lich beendigt  hatte,  nach  Mediolanum,  und  Julian  wurde  nun  an 
den  Hof  gezogen  (ibid.  274  C) ,  wo  er  sich  wegen  seiner  Philo- 
sophentracht Manches  gefallen  lassen  musste  (ib.  274  CD).  So 
war  er  nun  unter  Einem  Dache  [biioQOfpiog)  mit  denen  von  wel- 
chen er  wusste  dass  sie  seiner  ganzen  Familie  den  Untergang 
bereitet  hatten  (p.  274  D).  Zwar  schwand  allmählich  der  Arg- 
wohn der 'Höflinge  gegen  ihn  (ib.  274  D),  aber  Julian  fühlte  sich 
nicht  heimisch  in  dieser  Atmosphäre  und  wollte  daher  die  Kaiserin 
in  einem  flehentlichen  Briefe  um  die  Erlaubniss  zur  Rückkehr 
ersuchen  (ib.  275  C);  aber  er  bedachte  die  Gefährlichkeit  dieses 
Schrittes,  und  da   er  noch  überdiess  durch  einen   Traum   davor 

Teaffcl,  Studien.  11 


162  Kaiser  Jiilianus. 

gewarnt  wurde,  so  unterliess  er  ihn  (ibid.).  Ueberhaupt  ent- 
schloss  er  sich  jetzt  zu  vollkommener  Ergebung  in  sein  Schicksal 
(ib.  275  D  bis  277  A)  und  liess  es  sich  daher  auch  gefallen  als. 
ihn  Constantius  am  6.  November  355  zum  Caesar  ernannte,  so 
bang  ihm  dabei  war  (ib.  277  A  vgl.  Misopog.  p.  357  B.  Liban.  I, 
532.  Amm.  XV,  8,  17),  ertrug  auch  die  zwar  glänzende,  aber 
harte  Gefangenschaft  in  welcher  er  die  24  Tage  bis  zu  seinem 
Abgang  von  Mailand  lebte  (ad  Ath.  277  A — C).»  Am  1.  Decem- 
ber  355  gieng  er  nach- Gallien  ab  (ib.  277  D  und  Amm.  XV,  8,  18), 
wobei  die  Art  wie  Constantius  für  seine  Ausrüstung  sorgte  (Jul. 
Ep.  ad  Ath.  p.  277  D.  Liban.  orr.  Lp.  535.  Zos.  III,  3,  3. 
Amm.  XV,  8,  18)  die  Vermutung  nährte  dass  er  nach  Gallien 
geschickt  werde  ovx  ^^^-  ßccövlsvy  täv  ixsivrj  (lovov,  akV 
Xva  iv  ry  ßaOvksCa  Staq)SicQfj  (Eunap.  Max.  I,  53.  Soor.  III, 
1.  p.  145  C.  Ammian  XVI,  11,  13),  was  aber  w^ohl  nur  ein 
Wechselfall  war,  den  man  zwar  keineswegs  fürchtete,  aber  auch 
nicht  unmittelbar  wünschte. 

Aus  dieser  Darstellung  muss  sich  ergeben  haben  dass  die 
Hauptquellen,  Julianus,  Libanius  und  Ammianus,  in  keinem 
Theile  miteinander  in  Widerspruch  sind;  nur  erzählt  Julianus 
manchen  untergeordneten  Punkt  und  manchen  Nebenzug.  welchen 
Ammianus,  der  nur  einen  kurzen  beiläuflgen  Blick  rückwärts 
wirft  auf  die  Geschichte  des  Julian  ehe  er  Caesar  wurde,  über- 
springen konnte  und  musste ,  Libanius  aber  entweder  nicht  kannte 
oder  übersah;  wir  haben  somit  festen  historischen  Boden  genug 
um  eine  zusammenhängende  Darstellung  dieses  Theiles  seines 
Lebens  gehen  zu  können. 

2.   tleber  die  Echtheit  einiger  Briefe  des  Julian^). 

Eine  ergiebige  Quelle  für  die  Geschichte  des  Julianus  und 
die  Erkenntniss  seines  Charakters  als  Mensch  und  als  Regent 
sind  seine  Briefe.  Schade  dass  wir  sie  nicht  alle  haben,  dass  die 
erhaltenen  nicht  alle  vollständig  sind,  nicht  einmal  die  Echtheit 
aller  ausser  Zweifel  ist.  Doch  ist  letztere  Zweifelhaftigkeit  bei 
weitem  nicht  so  gross  als  es  der  Herausgeber  derselben,  L.  H . 
Heyler,  darstellt.  Dieser  verdächtigt  z.  B.  Ep.  25,  deren  Inhalt 
er  so  angibt:  collata  in  Judaeos  beneficia  sua  recenset.     quos  tum 


•)  Ans  Schmidt's  Zeitschr.  f.  Geschichtßwiss.  IV.  S.  166—161. 


Echtheit  von  Jul.  epist.  25.  •  163 

hortatur  ut  in  ipsius  gratiam  preces  ad  deum  mittant.  denique 
Hierosolymam  ab  ipso  refectum  iri  pollicetur.  Man  sieht,  der 
Brief  hat  historisches  Interesse,'  und  die  Frage  über  seine  Echtheit 
ist  daher  schon  vielfach  verhandelt  worden,  s.  die  Literatur  bei 
Heyler  p.  274.  Was  sind  die  Zweifelsgründe?  Heyler  selbst 
fuhrt  sie  nicht  auf,  sondern  gibt  nur  an  dass  schon  Aldus,  Martinius 
und  Petavius  Bedenklichkeiten  gehabt  haben,  indem  sie  der  Ueber- 
schrift  des  Briefes  beifugten:  ^el  yrnieCcn^^'.  Von  äusseren 
Gründen  könnte  hieher  nur  der  Umstand  gehören  dass  einige 
Handschriften  den  Brief  nicht  haben,  was  aber  für  den  der  die 
handschriftliche  Beschaffenheit  der  Julianischen  Briefe  näher  kennt 
durchaus  nichts  Befremdendes  hat.  Von  inneren  Gründen  dürfte 
nur  der  von  Belang  sein  dass  sich  Julian  in  diesem  Briefe  über 
sein  Verfahren  gegen  den  Hof  des  Constantius  auf  eine  Weise 
ausspricht  die  der  Geschichte  zuwider  ist  und  auf  einen  Verfasser 
fuhren  könnte  welcher  gegen  Julian  feindselig  gesinnt  gewesen 
wäre.  Während  nämlich  nach  Ammian  (XXH,  4,  2:  data  quo 
velint  eundi  potestate  proiecit,  vgl.  Socr.  HI,  1.  p.  139:  roi)g 
fihv  ovv  did  tavvag  tag  altlag  i^ißals)  nur  von  einer  Ent- 
lassung, Ausweisung  des  Hofgesindes  die  Rede  sein  kann,  sagt 
Julian  in  dem  Briefe:  ovg  ^ihv  iy(o  slg  ßod'Qov  äöag  äls0a. 
Aber  recht  verstanden  sagen  die  Worte,  wenn  auch  in  einer 
etwas  übertriebenen  Form,  doch  im  Wesentlichen  nichts  Anderes 
als  was  Animian  und  Sokrates  auch  angeben :  er  stiess  sie  von  dem 
behaglichen  müssigen  Leben,  welches  sie  bisher  gefuhrt,  hinaus 
in  ein  herbes,  stiess  sie  von  ihrer  Höhe  herab,  und  da  die  mei- 
sten nichts  Ordentliches  gelernt  hatten  und  ausser  der  Hofatmo- 
sphäre nicht  gedeihen  konnten,  so  mochte  bei  Vielen  die  Folge 
sein  dass  sie  untergiengen.  So  schwach  somit  die  Gründe  gegen 
die  Echtheit  sind,  so  stark  sind  die  für  dieselbe.  Zuerst  die 
äusseren.  Ausdrücklich  berichtet  Sozom.  V,  22:  'lovdaloig  svvovg 
f^v  xal  TCQ^og  .  .  xal  avtä  dh  t^  TtXTJd-H  lygatpav  €vx£<f^cci 
vithQ  a'&tov  xal  tf^g  avtov  ßaCikelag,  Diess  entspricht  den 
Worten  des  Briefs:  Iva  iti  iist^ovag  Bvxcig  noirltB  VTchg  f^g  ifir^g 
ßa6ikslag.  Hätte  (wie  Heyler  annimmt)  ein  Fälscher  die  Worte 
des  Sozomenos  sich  zum  Thema  gewählt  wonach  er  den  gegen- 
wärtigen Brief  ausarbeitete,  so  hätte  er  sicher  nicht  unterlassen 
auch  das  v%kQ  aitov  seines  Originals  auszudrücken;  und  wie 
kann  man  eine  so  untergeordnete  Aeusserung  zum  Mittelpunkte 
des  Briefs  machen  und  annehmen  dass  alle  die  übrigen  theil- 


164  •  Kaiser  Julianus. 

weise  wichtigen  historischen  Angaben  desselben  nur  zur  Bekleidung 
jener  einzigen  gedient  haben!  Aber  noch  andere  innere  Gründe 
sprechen  für  die  Echtheit.  Erstens  hätte  man  später  gar  kein' 
Interesse  gehabt  einen  Brief  dieser  Art  dem  Julian  unterzuschieben, 
oder  hätte  man  es  gethan,  so  hätte  das  Product  ganz  anders 
ausfallen  müssen.  Ein  nachahmender  Verfälscher  pflegt  die  charak- 
teristischen Eigenthümlichkeiten  des  Nachzuahmenden  möglichst 
stark  aufzutragen,  Julian  aber  war  durch  die  Declamationen  der. 
christlichen  Sehr iftsi eller  allmählich  in  ein  Licht  gerückt  worden 
als  habe  er  das  ChristenLhum  gehasst  und  verfolgt.  Ein  Späterer 
nun,  der  einen  Brief  Julian's  an  die  Juden  fabriciert  hätte,  würde 
ganz  gewiss  nicht  unterlassen  haben  dem  Kaiser  Aeusserungen 
dieses  Inhalts  unterzuschieben ,  wovon  aber  in  Ep.  25  keine  Spur 
ist.  Ebenso  spricht  sich  der  Brief  über  Julian's  Vorgänger,  den 
christlichen  Kaiser  Constantius,  nicht  stärker  aus  als  Julian  sonst 
zu  thun  pflegt.  Auch  wäre  es  wohl  keinem  Fälscher  eingefallen 
den  Julian  sagen  zu  lassen,  er  habe  die  auf  die  Steuern  der 
Juden  bezüglichen  Urkunden  in  seinem  Archive  verbrannt,  was 
eine  sonst  nirgendsher  bekannte  und  nicht  leicht  zu  erfindende 
Angabe  ist.  Endlich  kann  an  dem  universell  -  religiösen  Julianus 
die  Achtung  womit  er  von  dem  Judengotte  in  diesem  Briefe  redet 
um  so  weniger  auffallen  als  er  Ep.  63  (p.  133  Heyler)  die  Ueber- 
zeugung  ausspricht  dass  nur  die  Benennungen  der  Götter  ver- 
schiedene seien,  das  Wesentliche  aber  allefitbalben  dasselbe. 

Ebenso  scheint  der  Brief  an  Arsakes  (Ep.  67)  nur  mit  Unrecht 
verdächtigt  zu  werden.'  Heyler  sagt  p.  485:  minime  credendum 
est  ab  Juliane  profectas  esse  litteras  arrogantiam  spirantes  qualem 
indignissimi  nebulones  prae  se  ferrent.  Aber  der  bombastisehe 
grosssprecheriscbe  Ton  des  Briefes  ist  absichtlich  angenommen, 
weil  er  einem  Barbaren,  und  zwar  einem  orientalischen  Fürsten, 
gilt,  und  ist  darauf  berechnet  diesem  zu  imponieren  {exjtk^iai, 
vgl.  Epist.  ad  Themist.  p.  263  A).  Eine  andere,  aber  nicht  hieber 
gehörige  Frage  ist  ob  zu  diesem  Zwecke  ganz  die  rechte^  Mittel 
gewählt  sind;  da  aber  dieser  Ton  Julian  durchaus  nicht  natürlich 
war,  so  werden  wir  gegen  Fehlgrifl'e  im  Einzelnen  Nachsicht  haben 
müssen.  Nicht  triftiger  Ist  Heyler 's  zweiter  Grund :  praeter  Julian! 
morem  insultatur  memoriae  Constantii.  Dieser  wird  nämlich  aßgo' 
tatog  xal  TtoXvBt'^ß  genannt,  welches  Letztere  im  Munde  des 
dreissigjährigen  Julian  gegenüber  von  dem  45  jährigen  Constantius 
freilich  auffallend  ist.    Auch  diese  Herabsetzung  des  Constantius  Ist 


.    Echtheit  von  Jul.  epist.  67  ff.  165 

darauf  angelegt  den  Arsakes  einzuschüchtern  und  ihm  zu  sagen  dass 
jetzt  strengere  Saiten  aufgezogen  werden.  Ob  derselbe  Zweck 
nicht  auch  auf  andere  Weise  zu  erreichen  gewesen  wäre  gehört 
nicht  hieher.  Auch  dieser  Brief  ist  durch  Sozomenos  hinreichend 
geschützt.  Dieser  sagt  (VI,  1):  ^AgöaxCco  . .  .  ^ygaiffs  öviiii^ai 
3t6Ql  tiqv  7toX€(iittV'  djtavd'ttd€iccöci(i€v6g  rs  JtSQav  tov  (istgiov 
iv  ry  ijtiöroXy  xal  avtdv  (i'^v  iJ^ägag  ag  ijcttr^dsiov  JtQog 
riysiiovCav  xal  tpiXov  olg  ivofii^s  d'eotg  (was  alles  Wort  für 
Wort  auf  Ep.  67  passt),  K&vötavriG)  rt,  ov  dud^liato^  (6g  av- 
dvdgG)  xal  äasßst  koLSooTjödfisvog  u.  s.  w.'  Die  Unmännlich- 
keit  liegt  in  aßgörarog  ausgesprochen,  das  Prädicat  äösß'^g  oder 
dveasß'^g  aber  muss,  wenn  man  es  nicht  schon  in  dem  Gegen- 
satze zu  Julian,  der  sich  tov  d'säv  d'SQaxsvtijv  nennt,  liegen 
sollte,  an  die  Stelle  des  ohnehin  sehr  auffallenden  und  nur  auf 
Muratori's  Handschrift  beruhenden  JtoXvstiqg  gesetzt  werden. 
Wenn  endlich  Sozomenos  als  weiteren  Inhalt  des  Briefs  angibt: 
insl  XQi0tiavdv  ovta  invvd'ävsto  {tov  ^AQöaMov) ,  STtitsivmv 
tf^v  vßgvv  rj  ßXa0q>ri[istv  S  ft^  d'ifiig  0jtov6d^(ov  elg  tov 
XQi0r6v^  .  .  .  axETCoimaöBv  v7to8ijX(Sv  (og  o'öx  iTcaiivvoi  ov 
riysttat  d'eov  oXLyoQOvvti  täv  TtQogtstayfiiviov  ^  so  kann  diess 
nur  zum  Beweise  dienen  dass  hier  derselbe  Fall  ist  wie  so  häufig 
bei  Julian  (vgl.  Heyler  zu  Ep.  27  p.  292,  zu  38  fin.  p.  350  und 
zu  63  fin.  p.  479) ,  dass  nämlich  die  mönchischen  Abschreiber 
die  dem  Christenthum  feindlichen  Stellen  gradezu  weggelassen 
haben;  vielleicht  aber  ist  die  Steile  nur  eine  Reminiscenz  von 
einer  aus  Sokrates  herübergenommenen  früheren  Erzählung  (V, 
4.  p.  483  D) ,  wo  es  von  Julian  hiess :  btcsI  Sh  xal  iTtiöxcijttcDv 
ol  SitsQ  sidd'ai  elg  tov  XQiötbv,  ßXaöq>riiic3v  ov  äh  6  yaXi- 
Xatog  cfov  (des  blinden  Bischofs  Maris)  d^eog,  bItcs^  %'SQaxav6si 
0s.  Endlich  muss  selbst  Heyler,  der  pathetisch  sagt:  equidem  totum 
foetum  ut  impurum  damno;  scripserit  aliquis  fraudator,  qui  e 
Sozomeno  didicerat  Julianum  similis  argumenti  litteras  ad  Arsacem 
dedisse,  —  zugeben:  quisquis  fuerit  auctor,  non  imperitus  erat 
still  Julian!.    Also  ein  neuer  Bestätigungsgrund  der  Echtheit. 

Auch  die  zuerst  von  Pabricius  herausgegebenen ,  von  Heyler 
unter  No.  68  —  77  abgedruckten  Briefe  halte  ich  mit  Ausschluss 
des  letzten  und  etwa  des  ersten  alle  für  echt.  Heyler  ia%einer 
zuversichtlichen  Manier  urteiU  über  sie  (p.  495):  mea  sententia 
complures  intersunt  indignae  Juliano.  aliae  sunt  adeo  futiles  ut 
argumentum  agnoscam  nullum  easque  scriptas  censeam  ab  otioso 


166  Kaiser  Julianus. 

quopiam  homine,  qui  nugis  eiusmodi  tempus  falleret;  aliae,  quibus 
argumentum  est  quantumvis  leve,  tantam  in  singulis  loculionibus 
cum  stilo  Juliani  concordantiam  referunt  ut  Julianum  se  ipsum 
exscripsisse  minus  existimem  quam  servum  aliquod  imitalorum 
pecus(?)  fucum  nobis  facere  voluisse.  So  ungeschickt  indessen 
diese  ganze  Argumentation  ist,  so  ist  doch  Einzelnes  davon  nicht 
zu  bestreiten.  So  ist  es  an  Ep.  68,  die  bei  Heyler  8  Zeilen 
füiit ,  jdoch  auffallend  dass  fast  die  Hälfte  aus  Wendungen  besteht 
welche  wörtlich  ebenso  in  JFrüheren  Briefen  vorkommen  (s.  Heyler's 
Noten).  Desto  weniger  ist  bei  Ep.  69  Grund  zur  Verdächtigung. 
Inhalt  und  Form  ist  durchaus  in  der  sonstigen  Weise  de$  Julian, 
und  auch  Heyler  sagt  (p.  497) :  quaedam  leguntur  utique-  con- 
venientissima  Juliano.  Nichtsdestoweniger  meint  er:  sententiae 
complures  3deo  sunt  inconcinnae  ut  interpolatus  videatur  contextus. 
Nur  hat-  er  diese  sententiae  inconcinnae  näher  nachzuweisen  unter- 
lassen, und  die  Annahme  einer  blosen  Interpolation  enthält  das 
Zugeständniss  der  Echtheit  in  sich.  Auch  Ep.  70  erklärt  Heyler 
für  unverdächtig,  wie  er  den  Inhalt  von  Ep.  71  non  alienum  a 
Juliani  morlbus  findet.  Ep.  72  erklärt  er  stillschweigend  für 
echt,  'von  Ep.  73  urteilt  er  (p.  500):  insunt  complura  slilum 
Juliani  referentia.  Dagegen  bei  fp.  74  heisst  es  (p.  503):  ab- 
surdas  hasce  litteras  nemo  sanus  iudicabit  esse  Juliani.  is  enim 
pro  vitandis  publicae  vectnrae  incommodis  (unrichtige  Darstellung; 
die  Post  ist  nur  nicht  zu  rechter  Zeit  da,  und  er  tröstet  sich, 
er  wäre  doch  nur  durchgeschüttelt  worden  u.  s.  w.)  minime  coactus 
esset  pedibus  uti  suis;  vel  si  delectationis  gratia  pedestre  fecisset 
iter  nuntiaturus  a  puerili  temperasset  ostentatione,  quae  nugarum 
insulsissimum  venatorem  -prodit.  Mit  solchen  polternden  Urteilen 
wird  nichts  bewiesen.  Abgesehen  davon  dass  es  nicht  unmöglicii 
ist  dass  der  Brief  von  Julian  geschrieben  wjirde  ehe  er  eine 
öffentliche  Stellung  hatte,  ist  es  ganz  in  der  Art  des  mit  seiner 
Einfachheit  und -Abhärtung  sogar  etwas  kokettierenden  Kaisers, 
wenn  die  erwartete  Fahrgelegenheit  nicht  im  Augenblick  zur  Stelle 
ist,  einen  Theil  des  Weges  (bis  er  eingeholt  wird)  zu  Fusse  zurück- 
zulegen. Und  was  die  ostentatio  betrifft,  so  hätte  ein  Privatmann 
(was  der  nugarum  venator  wäre)  dazu  gar  keine  Veranlassung 
gehabt^  indem  nur  bei  einem  Hochstehenden  etwas  Derartiges 
einigermaassen  bemerkenswerth  erscheinen  kann;  indessen  ist  die 
ostentatio  in. dem  Briefe  gar  nicht  vorhanden,  und  derselbe  hat 
so  viele  kleine  Eigenthümlichkeiten  des  Julian  an  sich  (Citate  aus 


Echtheit  von  Jul.  epist.  68  ff.  167 

Homer  und  Piaton,  Lieblingswörter  wie  dXXoxorog  ü.  dgi.)  dass 
wir  ihn  unbedenklich  für  echt  halten.  —  Zu  Ep.  75  bemerkt 
Heyler  (p.  505):  adeo  futilis  est  ut  an  (num)  Juliani  sit  addu- 
bitare  liceat.  otiosi  sophistae  poterit  esse  lucubratio  (also  —  wenn 
wir  nur  das  Uebertriebene  dieser  Behauptung  abziehen  —  auch 
Juliani).  löcutiones  tamen  usurpantur  quas  ad  instar  bonorum 
auctorum  Julianus  frequentavit  (d.  h.  quibus  saepe  usus  est); 
unde  liquet  fraudatorem,  si  extitit,  non  ex  toto  rudern  fuisse. 
Diess  hebt  sich  von  selbst  auf,  und  der  Brief  ist  also  julianisch. 
—  Ep.  76  ist,  wie  auch  Heyler  (p.  507)  anerkennt,  entschie- 
den echt  und  auch  äusserlich  ganz  gut  beglaubigt.  Aber  Ep.  77 
ist  das  Fabricat  eines  Christen,  so  gewiss  wie  der  angebliche 
Brief  des  Gallus  an  seinen  Bruder  Julianus.  Heyler  (p.  510) 
ereifert  sich  wiedeft:  quae  hinc  elucent,  intolerabilis  arrogantia 
prorsusque  ridicula  iactatio,  non  minus  ab  indole  Juliani  sunt 
alienae  quam  ab  eins  stilo  vocabula  quaedäm  abhorrent  mon- 
struosa,  quae  nonnisi  ab  insulsissimo  nebulone  poterant  effingi. 
Andere  Verdachtsgründe  sind :  Julian ,  der  mehrere  Jahre  in  Gallien 
und  Germanien  zubrachte,  hätte  die  (ioQq)Tq  dygio^ipoviSa  der 
Gothen  nicht  neu  und  bemerkenswerlh  finden  können;  er  hätte 
nicht  voraus  und  am  wenigsten  an  ßasilius  geschrieben:  dst  gia 
0VV  JtoXXä  rp  tdxet  xaraXaßatv  trjg  JleQöäv;  die  Wendung 
(det  fis  XQOitmöaöd'aL  tov  UdsecjQa)  &xqvs  o'S  vnotpoQog  xal 
vTCQTsXijs  f^o^  yivritaij  ist  eine  specifisch  christliche  (neutesta- 
mentliche)  und  hier  sehr  übel  angebracht;  Julian  soll  sich  zu 
seiner  Legitimation  auf  nichts  Besseres  zu  berufen  wissen  als 
darauf  dass  er  K(Qv0tavrivov  tov  xQatidtov  d%6yovoq  sei, 
was  bei  einem  Christen  allerdings  fast  die  einzige  unbedenkliche 
Beglaubigung  für  Julian  war;  endlich  ist  die  Abzweckung  des 
ganzen  Briefs  absurd,  und  in  der  Form  zeigt  sich  eine  ganz  un- 
julianische  Armut  an  Ausdrücken,  so  dass  dreimal  von  Julian's 
Charakter  yaXijvog  gebraucht  wird,  was  Julian  niemals  in  diesem 
Sinne  angewandt  hätte,  zweimal  die  Verbindung  vnotpoQog  xal 
iTCOteXrjg  u.  s.  f.  Die  Unechtheit  kann  daher  kaum  bezweifelt 
werden.  Echt  ist  nur  das  durch  Sozom.  V,  18  hinreichend  be- 
glaubigte Witzwort  am  Schlüsse  {dviyv<x>v^  Syv(ov  xal  xatsyviov), 
welches  die  Veranlassung  zur  Anfertigung  des  ganzen  Briefes 
gegeben  hat. 


168  Kaiser  Julianus. 


3.  Jnlianas  und  seine  Beurteiler^). 

So  entgegengesetzte  Auffassungen  und  Beurteilungen  kann 
keine  andere  lüstorische  Persönlichkeit  erfahren  haben  ^ie  Kaiser 
Julianus,  von  den  Christen  benannt  der  Abtrünnige,  von  Männern 
seiner  Partei  mit  dem  Beinamen  des  Grossen  verherrlicht**).  In 
neuerer  Zeit  sind  die  Gegensätze  am  schroffsten  hervorgetreten 
unter  seinen  franzosischen  Beurteilern.  Während  Montaigne  ihn 
un  homme  rare  et  un  grand  homme  nennt  und  Voltaire  erkläre, 
Julian  sei  le  second  des  hommes,  pour  ne  pas  dire  le  premier, 
und  darin  dass  man  Julians  Namen  ohne  das  Beiwort  des  Ab- 
trünnigen ausspreche  peut-etre  le  plus  grand  effort  de  Tesprit  humain 
erkennt***),  meint  dagegen  Jondot:  l'epith^t^d'Apostat,  peignant 
riiomme  tout  entier,  forme  en  quelque  sorle^  «n  un  seul  mot, 
le  sommaire  de  sa  vie.  Woher  di^se  Verschiedenheit  der  An- 
sichten? Sind  die  Handlungen  Julians  einer  so  entgegengesetzten 
Auffassung  fähig,  unsere-Quellen  so  dürftig  und  widersprechend? 
Nichts  von  all  dem  ist  in  Wahrheit  der  Fall;  nur  ein  wenig 
historische  Kritik  darf  man  anwenden,  nur  ein  wenig  in  die 
damaligen  Verhältnisse  sich  hineindenken ,  so  wird  man  über  die 
Glaubwürdigkeit  der  Quellen  und  über  Julians  Handlungen  keinen 
Augenblick  im  Zweifel  sein.  Nur  Parteileidenschafl  ist  es  was 
diesen  Theil  der  Geschichte  so  sehr  getrübt,  was  die  Auffassungs- 
weise Julians  zu  einer  Art  von  Glaubensbekenntniss  gemacht  bat. 
Doch  vertheilt  sich  hiebei  die  Schuld  sehr  ungleich:  die  Partei 
des  Julian  selbst,  die  heidnische,  oder,  wie  wir  sie,  dem  da- 
maligen Sprachgebrauche  gemäss fj  nennen  •  werden,  die  helle- 
nistische, und  Alle  welche  in  der  späteren  Zeit  Sympathie  für  sie 
hegten,  hat  —  den  einzigen  Voltaire  ausgenommen  —  niemals 


*)  Aus  A.  W.  Schmidt's  Zeitschr.  f.  Geschichtswiss.  V.  1846,  S. 
405  —  418,  mit  starken  Kürzungen  und  unter  Weglassung  der  Erörterung 
über  die  Beurteiler  aus  der  neueren  Zeit  (S.  418 — 439). 

**)  Zosim.  V,  2;  vgl.  Eunap.  Max.  p.  51.  56.  Boissonade. 
***)  In  demselben  Geiste  ist  die   Defense  du  paganisme  par  Pem- 
pereur  Julien  par  M.  le  Marquis  d'Argens,  Gbambellan  de  S.  M.  le  Roi 
de  Prusse.     Berlin  1764.  1767.  1769.  2  Bde.  gebalten. 

t]  Die  Bezeichnung  ^ Heiden'*  ist  scbon  deswegen  nicht  passend 
weil  sie  Hellenisten  und  Polytheisten  zusammenwirft,  welche  man  da- 
mals wohl  unterschied,  vgl.  Procop.  Anecd.  11. 


Julian  und  seine  Beurteiler.  169 

sich  mif  solcher  Einseitigkeit  und  Leidenschaftlichkeit  ausgesprochen 
wie  diess  von  der  entgegenstehenden  geschehen  ist.  Die  helle- 
nistischen Schriftsteller  welche  über  Julian  sich  geäussert,  haben 
sämmüich  unter  christlichen  Fürsten  geschrieben:  schon  dieser 
Umstand  musste  ihrem  Parteieifer  Zügel  anlegen,  wenn  es  ihnen 
auch  möglich  gewesen  wäre  sich  dem  Einflüsse  der  sie  umgeben- 
den geistigen  Atmosphäre  zu  entziehen.  Wir  finden  daher  gleich 
bei  dem  wichtigsten  Historiographen  des  Julianu^,  bei  Ammianus 
Marcellinus,  eine  grosse  Unparteilichkeit.  Er  vertheilt  Licht 
und  Schatten,  Lob  und  Tadel  mit  Gerechtigkeit;  js^wenn  seine 
Darstellung  jeden  nicht  allzu  Befangenen  nothwendig  gemnnen, 
wenn  sie  den  Eindruck  hinterlassen  muss  dass  Julian  ein  durch- 
aus ehrenhafter  und  bedeutender  Mensch  war,  so  geschieht  diess 
fast  gegen  den  Willen  des  Schriftstellers,  der  niemals  mit  solcher 
Entschiedenheit  rühmt  und  bewundert  wie  er  einige  Male,  und 
zwar  nicht  einmal  immer  mit  unzweifelhaftem  Rechte,  rügt  und 
anklagt*).  Diess  entspricht  genau  seiner  religiösen  Stellung:  auch 
hierin  ist  er  ein  Mittelding  zwischen  Christ  und  Hellenist,  doch 
so  dass  sich  die  Wage  etwas  mehr  auf  die  zweite  Seite  neigt.  ^*) 
Denn  sein  Aberglauben,  seine  Wundersucht  ist  Nichts  was  der 
einen  oder  der  andern  religiösen  Partei  ausschlieslich  eigen- 
thumlich  wäre,  sondern  es  ist  ein  gemeinsamer  Zug  der  ganzen 
damaligen  Zeit.  Eutropius  sodann,  gleichfalls  ein  Zeitgenosse 
des  Julianus  und,  wie  Ammian,  ein  Gefahrte  desselben  bei  seinem 
parthischen  Feldzug,  wägt  in  seiner  freilich  sehr  kurzen  Ueber- 
sicht  über  die  römische  Geschichte  mit  derselben  Unparteilichkeit 
Anerkennung  und  Missbilligung  ab  und  desavouiert,  wie  Ammian, 
mit  besonderem  Nachdruck  das  was  Julian  den  Christen  gegen- 
über gethan  hat,  aber  ohne  darum  die  Wahrheit  zu  verletzen. 
Eunapius  und  Zosimus  sprechen  unverhohlen  ihre  aufrichtige 
Bewunderung  für  den  edlen  Kaiser  aus,  aber  Animosität  gegen 
das  Christenthum ,  Verdrehung  der  wahren  Thatsachen  zu  Gunsten 
Julians  und  Erdichtung  unwahrer  wird  man  ihnen  nicht  nach- 
weisen können.  Dies  kann  man  90gar  dem  entscTiiedensten  Partei- 
gänger Julians,  dem  Rhetor  Libanius,  nicht  vorwerfen.  Zwar 
ist  von  den  acht  Schriften  desselben  welche  sich  auf  Julian  be- 


♦)  Amm.  XXII,  9,   12.  XXV,  4,  20  f.  vgl.  mit  Liban.  I.,p.  511. 
Zos.  III,  11,  10. 

'**)  Qenaueres  s.  in  meiner  Römischen  LiteratQrgeschicbte  402,  6. 


170  Kaiser  Julianus. 

ziehen  nur  eine  einzige  unter  einem  christlichen  Kaiser  verfasst, 
diejenige  worin  er  alles  Unglück  was  das  römische  Reich  seit- 
dem betroffen  davon  ableitet  dass  man  den  Mord  des  Julianus 
durch  Christenhand  zu  rächen  •  unterlassen  habe ;  die  übrigen 
alle  sind  entweder  unter  Julians  Regierung  verfasst  und  an  diesen 
selbst  gerichtet  oder  unmittelbar  nach  dessen  Tode  geschrieben, 
wo  zwar  Julians  Leib  begraben  war,  aber  sein  Geist,  sein  Ge- 
dächtniss  noch  fortwirkte  und  seine  Feinde  scheu  und  schüchtern 
machte  und  seinen  Freunden  Hut  einflösste.  Nichtsdestoweniger 
ist  seine  Parteilichkeit  noch  recht  erträglich.  Zwar  darf  man  nie 
vergessen  dass  ein  Rhetor  spricht,  nicht  ein  Historiker,  und 
vollends  von  den  an  Julian  selbst  gerichteten  Reden  wird  Nie- 
mand es  anders  erwarten  als  dass  der  Redner  sich  ganz  auf  des 
Angeredeten  Standpunkt  stellt,  der  ja  ohnehin  auch  der  seinige 
war,  und  dass  er  Thatsachen  von  zweifelhafter  Beurteilung  über- 
geht, bemäntelt  oder  nur  von  Einer  Seite  bespricht;  auch  wird 
man  es  nicht  auffallend  finden  dass  er  weitverbreiteten  Gerüchten, 
welche  auf  die  Christen  ein  nachtheiliges  Licht  werfen,  Glauben 
schenkt  und  darauf  eine  Reihe  von  Schlnssfolgernngen  baut.  Aber 
wo  zeigt  sich  in  seinen  Schriften  diese  systematische  Herabsetzung, 
Verdächtigung  und  Verleumdung  der  Christen  me  sie  die  Chor- 
führer unter  diesen  alsbald  gegen  die  Hellenisten  angewendet 
haben?  Wo  treibt  ihn  die  Liebe  für  seinen  Heiden  und  Freund 
und  für  ihre  gemeinsame  Sache  zu  Aeusserungen  eines  unedlen 
Hasses?  Natürlich,  er  kann  Julians  Feinde,  die  auch  die  seinigen 
sind,  nicht  lieben,  er  hasst  sie  sogar,  aber  die  Schranken  der 
Menschlichkeit  überschreitet  er  niemals.  Mehr  durch  seine  Liebe 
als  durch  seinen  Hass  zeigt  er  die  Partei  an  für  welche  er  sich 
entschieden:  und  seine  Liebe  ist  nicht  die  tobsüchtige,  um  sich 
schlagende,  welche  Jedem  die  Faust  ins  Gesicht  setzt  der  nicht 
ihren  Gegenstand  für  einen  Ausbund  aller  Vortrefiflichkeit  hält, 
sondern  es  ist  die  stille,  tiefe,  auf  gegenseitiger  Achtung  und  lieber- 
einstimmung  beruhende,  die  keinen  Wechsel  kennt,  die  sich  als 
unerlöschlicbes  w'armes  Interesse  durch  das  ganze  Leben  hinzieht. 
Diess  beweist  nicht  nur  Libanius'  schon  erwähnte  Rede  an  Theo- 
ddsius  in  Beireff  der  Ermordung  Julians ,  sondern  besonders  auch 
seine  C^däcbtnissrede  auf  den  Letztern.  Auch  diese  ist  eine  Rede, 
aber  das  verräth  sich  fast  nur  in  der  etwas  peinlichen  Vermeidung 
der  Nennung  von  Eigennamen,  welche  mit  dieser  Stilgattung 
nicht  vereinbar  schien;    von    dem   Gespreizten^  Uebertriebenen, 


Julian  und  seine  Beurteiler.  171 

Gesuchten,  was  sonst  die  Reden  aus  dieser  Zeit  (Charakterisiert, 
ist  in  dieser  möglichst  wenig  zu  entdecken.  Und  dann  hält  sich 
hier  der  Redner  sehr  nahe  an  die  Wahrheit,  er  tadelt  zwar 
Nichts »  aber  er  übertreibt  auch  nicht  das  Wahre ,  lobt  und  recht- 
fertigt nicht;  -als  wo  er  es  mit  voller  Ueberzeugung  thun  kann, 
wie  bei  Julians  Verbrennung  seiner  Flotte*),  und  begnügt  sich 
bei  Mässregeln  wie  die  Hinrichtung  des  Ursiilus**)  sie  in  das 
mildere  Licht  zu  rücken;  über  die  ganze  Darstellung  ist  eine 
Wärme  verbreitet,  welche  den  wohlthuendsten  Eindruck  hervor- 
bringt. 

Blicken  wir  nun  aber  auf  die  entgegengesetzte  Seite,  betrach- 
ten wir  die  christlichen  Schriftsteller  und  ihre  Darstellung  und 
Beurteilung  Julians,  so  finden  wir  hier  den  Charakter  der  Partei* 
lichkeit  in  starkem  Masse  ausgeprägt.  Die  altchristlichen  Histo- 
riker sind  überhaupt  keine  eigentlichen  Historiker,  ihr  Interesse 
ist  überwiegend  ein  praktisches,  apologetisches.  Offen  spricht 
diess  z.  B.  Evagrius  aus,  indem  er  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Kirchengeschichte  an  der  des  Eusebius  als  Hauptvorzug  diess 
rühmt  dass  sie  so  schön  darauf  angelegt  sei  Andersdenkende  für 
das  Christenthum  zu  gewinnen'^**).  Aber  nicht  blos  überhaupt  für 
dae  Christenthum  suchten  die  Historiker  durch  ihre  Darstellung 
zu  werben,  sondern  jede  christliche  Partei  noch  insbesondere 
für  sich  selbst.  Der  athanasianisch  gesinnte  Historiker  suchte  zu 
beweisen  dass  seine  Ansicht  von  jeher  die  der  Kirche  gewesen 
sei,  dass  das  Leben  der  Führer  wie  die  Schicksale  der  ganzen 
Partei  unwidersprechlich  die  Wahrheit  ihrer  Lehre  bezeuge  und 
die  entgegengesetzte  Ansicht  nur  von  schlechten,  Gott  und  den 
Menschen  verhassten  Personen  vertreten  sei;  der  Arianer  aber 
bewies  ganz  dasselbe  auf  demselben  Wege  von  seiner  Partei. 
Die  siegreichen  Athanasianer  haben  die  Gegenpartei  nicht  zum 
Worte  kommen  lassen;  nur  die  Darstellungen  von  Athanasianern 
sind  auf  uns  gekommen,  und  von  der  entgegengesetzten  Partei 
besitzen  wir  nur  einen  Auszug  des  Werkes  von  Philostorgius, 
gemacht  durch  den  Athanasianer  Photius,  der  die  einzelnen  Mit- 
theiluhgen  regelmässig  mit  den  Worten  einleitet:  der  gottlose 
Philostorgius  sagt.     Natürlich  hat  sich  Photius'  P'eder  gesträubt 


*)  Reden  I,  610  Keiske. 
*•)  Ebend.  I,  573. 
)  Vgl.  Schlosser,  Universalhist.  Uebets.  III,  3.  S.  130  f. 


172  Kaiser  Julianus. 

die  treffendsten,  gegründetsten  und  daher  schmerzhaftesten  Be- 
merkungen des  Arianers  abzuschreiben ;  so  ungenügend  aber  sein 
Auszug  ist,  so  enthalt  er  doch  noch  immer  des  Interessanten 
genug.  Für  unsern  Zweck  heben  wir  nur  diess  Eine  hervor  dass 
die  Ermordung  des  arianischen  Bischofs  von  Alexandria,  Georgius, 
welche  die  athanasianischen  Schriftsteller  halb  und  halb  dem 
Julian  ins  Gewissen  schieben,  Philostorgius  (VII,  2)  geradezu 
dem  Athanasius  Schuld  gibt,  welcher  den  Bischofssitz  selbst 
wieder  einzunehmen  gewünscht  habe.  So  gewiss  diess  eine  Un- 
wahrheit ist,  so  kann  uns  doch  dieses  Beispiel  die  Art  der  da- 
maligen Geschichtschreibung  veranschaulichen  und  uns  darauf 
vorbereiten  was  wir  über  einen  gemeinsamen  Feind,  wie  Julian, 
von  dieser  Seite  für  Schilderungen  zu  erwarten  haben ,  wenn  die 
Christen  unter  einander  auf  diese  Weise  sich  behandeln. 

Aber  die  höchste  Erwartung  die  man  in  dieser  Beziehung 
hegen  kann  wird  noch  übertroflbn  durch  Gregor  vonNazianz, 
den  Ersten  unter  den  Christen  welcher  sich  über  Julian  hat  ver- 
nehmen lassen.  Zwei  Reden  hat  er  nach  dessen  Tode*  auf  ihn 
gehalten,  welche  er  Schandsäulenreden  betitelt  hat;  Julian  wollte 
er  damit  an  den  Pranger  stellen,  für  ewig  ihn  brandmarken, 
und  auf  lange  hinein  ist  es  ihm  auch  wirklich  gelungen ,  aber  auf 
ewig  nicht,  ewig  ist  nur  die  Wahrheit,  und  überlebt  und  über- 
windet alle  Parteien.  Ein  bewährter  Forscher,  Schlosser,  sagt 
(in  seinem  Archiv  I,  S.  267.^):  „dass  Gregor  nach  Julian's  Tode 
Schimpf-  und  Schandreden  auf  ihn  halt,  über  seinen  Tod  laut 
jubelt,  dass  er  ihm  körperliche  Gebrechen  vorwirft,  alle  seine 
Fehler  übertreibt  und  alle  seine  Tugenden  zu  Lastern  macht, 
dass  er  ganz  keck  offenbar  lugt  und  verleumdet,  wird  man  ge- 
wiss von  dem   Gründer  eines  frommen  Unterrichtssystems,  das 


*)  Damit  vergleiche  man  desselben  Urteil  in  seiner  Universal- 
bist.  Uebers.  III,  2.  S.  337  f.,  wo  er  Gregor  so  cbarakterisiert:  „Ein 
Mann  den  man  Kircbenvater  nennt,  weil  er  reich  ist  an  salbungsvollen 
Redensarten,  an  blindem  Glauben  und  süsslicber  Sopbistik."  Und  3, 
S.  142:  „Die  beiden  Reden  gegen  Julian,  welche  G.  nach  des  Kaisers 
Tode  ausarbeitete,  beweisen  die  traurige  Wirkung  des  religiösen  Fana- 
tismus besser  als  irgend  ein  anderes  Actenstück  jener  Zeit  G.  erlaubt 
sich  nicht  nur  die  gröbsten  und  unschicklichsten  Schmähungen,  er  froh- 
lockt nicht  allein  über  Julian^s  Tod,  er  macht  nicht  allein  alle  seine 
Tugenden  zu  Lastern,  'sondern  er  geht  hämisch  seine  ganze  Lebens- 
geschichte durch,  um  zur  Erbauung  der  Gläubigen  zu  beweisen  dass 
ein  Ungläubiger  nothwendig  auch  ein  Nichtswürdiger  sein  müsse.'* 


Julian  und  seine  Beurteiler.  173 

die  von  Julian  beschützten  und  empfohlenen  Wissenschaften  ver- 
drängen oder  ersetzen  sollte,  nicht  ahnen.  Dennoch  ist  es  leider 
nur  zu  v^ahr»  und  sein  Freund  und  Genosse  Basilius  sucht  ihn 
durch  seine  Predigten  kräftig  zu  unterstützen  oder  wenigstens 
Gregorys  SchUnpfreden  zu  verbreiten  und  anzupreisen,  empfiehlt 
sie  den  christlichen  Studierenden  und  kann  nicht  Worte  genug 
finden  ihren  ästhetischen  Werth  zu  preisen.  Er  selbst  hat  auf 
ähnliche  Weise  gegen  Julian  geredet,  und  Baronius,  so  wie  die 
Benedictiner,  die  Gregors  Werke  herausgegeben  haben,  rühmen 
es  als  das  grösste  Verdienst  des  heiligen  Mannes  dass  durch  diese 
nach  Julian's  Tode  (als  dieser  selbst  sich  nicht  mehr  vertheidigen 
konnte  und  Freunde  ihn  nicht  mehr  vertheidigen  durflei))  gehal- 
tenen Reden  seinem  Andenken  ein  ewiges  Brandmal  aufgedrückt 
sei."  Wer  diese  Reden  aus  eigener  Anschauung  kennt,  der  weiss 
dass  dieses  Urtheil  keine  Uebertreibung  ist.  Nicht  nur  ist  es 
stehend  dass  Julian  ein  Unsinniger  und  Gottloser,  ein  Meuchler 
und  Apostat  genannt  wird^),  sondern  Gregor  stellt  auch  alle  Hand- 
lungen desselben,  selbst  solche  welche  mit  der  Religion  entfernt 
nichts  zu  thun  haben,  wie  seinen  Parlherzug^'''),  auf  die  giftigste 
Weise  dar  und  bürdet  ihm  die  grössten  Verbrechen  auf.  So  soll 
Julian  den  Constantius  haben  vergiften  lassen*"**),  und  dass  er 
Alles  was  unter  seiner  Regierung  die  lange  gedrückten  Hellenisten 
gegen  die  Christen  verübten  angestiftet  hatf)  versteht  sich  von 
selbst.  Gregor  ist  Sophist,  und  des  Sophisten  Geschäft  ist  ff) 
die  Geschichte  nach  Bedürfniss  zu  drehen,  die  Thatsachen  zii 
übertreiben,  öder  auch  zu  verkleinern,  wie  es  der  Zweck  ver- 
langt; zugleich  ist  Gregor  herrschsüchtiger  Priester,  der  es  dem 
Kaiser  nimmermehr  verzeihen  kann  dass  er  dem  Klerus  seine 
Vorrechte  genommen;  man  wird  es  daher  erklärlich  finden,  aber 
verzeihlich  durchaus  nicht,  dass  er  die  Geschichte  Julian's  in 
solcher  Weise  behandelt  hat  dass  man  sich  auf  keine  einzige  seiner 
Angaben  mit  Sicherheit  verlassen  kann.  Aber  wie  soll  man  es 
erklären ,  geschweige  denn  entschuldigen ,  wenn  dieser  christliche 


•)  Vgl;  z.  B.  94  C. 
•*)  p.  116  f. 

***)  p.  68  B.  Dazu  bemerkt  Schlosser,  Univers.  - Uebers.  III,  2.  S. 
338:  „solche  Yerleamdang,  ein  so  feines  und  so  sanftes  Verklagen  ist. 
ärger  als  Mord!** 

t)  z.  B.  p.  88  A. 
tt)  Vgl.  Sokrates  K.  G.  III,  23.  p.  161  C.  • 


174  Kaiser  Julianas. 

Bischof,  der  seine  Rede  Gott  als  Dankopfer  darbringen  will, 
heiliger  und  reiner  als  das  Opfer  eines  unvernünftigen  Geschöpfes*), 
mit  sichtbarem  Behagen  die  grässlichen  Grausamkeiten  welche 
▼om  hellenistischen. Pöbel  zu  Arethusa  an  dem  Christen  Markus 
verübt  worden  seien  auf  seine  Weise  beschreibt,  und  dann  hinzu- 
setzt: dieser  Markus  sei  einer  von  denen  gewesen  welche  dem 
Julian  in  seiner  Kindheit  das  Leben  gerettet  (eine  Angabe  welche 
jedoch  sehr  unzuverlässig  ist),  —  „woför  allein  wohl  er  diess 
mit  Recht  erlitten  hat  und  noch  Aergeres  verdient  hätte,  indem 
er  unwissentlich  ein  so  grosses  Uebel  für  die  ganze  Welt  ge- 
rettet hat."**)  Man  beurteile  hienach  was  dieser  Mann,  wenn 
er  Julian's  Macht  und  Richtung  gehabt  hätte,  gegen  die  Christen 
gelhan  haben  würde  *^),  und  bedenke  was  dagegen  Julian  gelhan 
hat,  welcher  so  fest  wie  Gregor  überzeugt  war  die  wahre  Reli- 
gion zu  besitzen.  Nicht  viel  ansprechender  ist  es  wenn  Gregor  den 
Todten  einen  Einfältigen  nennt,  der  von  hohen  Dingen  nichts 
verstehet)»  einen  Verfolger  wie  Herodes,  einen  Verräther  wie 
Judas  (nur  mit  dem  Unterschiede  dass  er  sich  nicht  wie  dieser 
aus  Reue  erhenkt  habe),  einen  Christusmörder  wie  Pilatus,  einen 
Gottesfeind  wie  die  Judenff);  oder  in  sein  Grab  hinein  ruft:  „was 
ist  dir  eingefallen,  du  AUerunersättlichsler  und  Allerleichtfertig" 
ster,  dass  du  die  Christen  der  Wissenschaft  berauben  wolltest?"! 
Nichts  Gutes  erkennt  Gregor  an  dem  Kaiser  an;  alles  was  so 
aussah  war  blose  Verstellung,  und  er  leugnet  selbst  da  wo  die 
Wahrheit  aller  Welt  bekannt  war.  So  sind  alle  Geschichtschrei- 
ber Julian'»  von  Bewunderung  erfüllt  von  Julian's  Keuschheit: 
Ammian  sagt^  nach  dem  Tode  seiner  Frau  habe  nicht  einmal 
sein  Kammerdiener  in  dieser  Beziehung  das  Geringste  zu  munkeln 
gewusst;  Libanius  rühmt,  er  sei  kälter  gewesen  als  Hippolyt,  und 
Mamertin,  dass  sein  Lager  reiner  war  als  das  einer  Vestalin. 
Gregor  aber  behauptet  (p.  121  C),  Julian  habe  mit  Dirnen  gezecht! 


•>  p.  50  C, 
**)  vtcIq  ov  toi%a  fiovov  Si%aimg  tavtcc  inaaxs  xal  nXeim  nQog^ 
naO'itv  «|toff  ijy,  OTt  xaxoy  roffovto  z^  oitiQviiivjj  ndajj  ci^mv  ilup- 
»avs,    p.  90  D. 

***)  Doch  ist  anzaerkennen  dass  Gregor  nach  Jalian's  Tode,  als  die 
Christen  wieder  Sieger  waren ,  vor  Gewaltthätigkeiten  gegen  die  Helle- 
nisten warnte. 

f )  p.  76  A.    Gerade  dasselbe  hatte  übrigens  vorher  Julian  von  den 
Christen  gesagt.    Ep.  62  p.  102  Heyler. 
tt)  p.  76  CD.        • 


Julian  und  seine  Beurteiler.  175 

Und  in  dieser  Weise  ist  seine  ganze  Darstellung  gehalten.  Je  tiefer 
aber  der  Schatten  ist  der  auf  Julian  fallt,  in  desto  hellerem 
Lichte  strahlt  das  Bild  seines  Vorgängers,  des  Gonstantius.  Denn 
er  war  ein  gar  gottesfurchtiger  Herr:  er  hat  den  Gregor  zum 
Bischof  gemacht^).  Dafür  wird  aber  auch  von  ihm  gesagt  dass 
er  alle  Regenten  vor  ihm  an  Einsicht  und  Klugheit  fibertroffen*'''), 
und  nur  weil  Julian  gefühlt  habe  dass  er  im  Guten  seinen  Vor- 
gänger nicht  überbieten  könnte  habe  er  sich  entschlossen  im 
Schlechten,  in  der  Gottlosigkeit,  mit  ihm  zu  wetteifern'*''^''').  Zwar 
habe  Gonstantius  die  Orthodoxen  ein  klein  wenig  verfolgt,  aber 
es  sei  nur  geschehen  um  sie  zur  Eintracht  zu  ermahnen""*"''*);  nur 
einen  einzigen  unklugen  und  unfrommen  Schritt  habe  Gonstantius 
gethan,  den  nämlich  dass  er  Julian  seinen  Nachfolger  werden 
liessf).  Ueberhaupt  wurde  es  bei  den  Kirchenschriftstellern  Sitte 
Gonstantius  auf  alle  Weise  zu  rühmen,  was  er  einzig  dem  Um- 
stände zu  danken  hat  dass  Julian  sein  Nachfolger  war;  denn  wäre 
der  Athanasianer  Jovian  unmittelbar  auf  ihn  gefolgt,  so  hätte 
es  nicht  gefehlt  dass  Gonstantius  der  Arianer,  welcher  Athanasius 
und  andere  Bischöfe  seines  Glaubens  verbannt  bat,  als  ein  grau- 
samer Tyrann»  ein  ungläubiger  Verfolger  des  göttlichen  Wortes, 
als  ein  Ghristusfeind  u.  s.  f.  von  den  orthodoxen  Schriftstellern 
verschrieen  worden  wäre;  auch  über  seine  sonstigen  Grausam- 
keiten, z.  B.  die  Ermordung  aller  seiner  Verwandten,  hätte  man 
dann  nicht  so  die  Augen  zugedrückt  wie  es  jetzt  geschehen  ist. 
Tbeodoret  z.  B.  f&Utft)  über  ihn  das  milde  Urteil:  wenn  er 
auch,  verblendet  von  seinen  Lenkern,  den  Ausdruck  Homousiosfff) 
nicht  angenommen  habe,  so  habe  er  doch  dem  Sinne  nach  den- 
selben aufrichtig  bekannt.  Derselbe  Kirchengeschichtschreiber 
schliesstsein  drittes  Buch  mit  den  Worten:  „ich  will  mit  dem  Jubel 
über  den  Tod  des  Tyrannen  (Julian)  mein  Buch  beschliessen;  denn 
ich  halte  es  nicht  für  erlaubt  die  goltesfürchtige  Regierung  (des 
Jovian)  an  die  gottlose  Despotie  (des  Julian)  anzuknüpfen."     Es 

*)  p.  66  C. 

•♦)  p.  66  A. 
»•♦)  p.  66  A. 
•*«)  p.  64  C. 
t)  p.  63. 
tt)  K.  G.  III,  3.  p.  126  D. 
ttt)  Von  Christas  gebraucht:  gleichen  Wesens  mit  Gott,  das  Schibo- 
leih  der  Athanasianer,  dagegen  das  der  Arianer:    er  sei  homoionsios, 
d.  h.  ähnlichen  Wesens. 


176  Kaiser  Julianns. 

genüge  diess  zu  seiner  Charakteristik,  um  so  mehr  als  seine 
Arbeit,  wenigstens  in  diesem  Theile,  wenig  Eigenthümliches  bat. 
Wie  jener  benutzt  auch  Sozoraenus  sehr  stark  seine  Vorgänger 
Gregor  und  den  sogleich  zu  erwähnenden  Sokrates;  mdessen  theilt 
er  auch  manche  wichtige  Urkunden  mit,  namentlich  ßriefe  Julian*s, 
von  denen  wir  ohne  ihn  Nichts  wussten.  Was  er  bei  seinen 
Glaubensgenossen  und  Vorgängern  findet  ist  für  ihn  Geschichte, 
und  so  wird  was  Gregor  als  Declamator  erfunden  und  übertrieben 
durch  den  Hund  der  Historiker  als  Wahrheit  auf  die  Nachwelt 
gebracht.  Was  die  geistige  Befähigung  des  Schriftstellers  betrifft, 
so  ist  er,  wie  seine  ganze  Zeit,  im  höchsten  Grade  abergläubisch: 
Wunder  und  Prodigien  werden  in  Menge  und  in  der  abenteuer- 
lichsten Gestall  erzählt  und  mit  Sorgfalt  ausgedeutet.  So  berichtet 
er  z.  B.*)  nach  Gregor's  Vorgang,  Julian  habe  einst  in  den  Ein- 
geweiden  eines  Opferthieres  ein  Kreuz  erblickt;  ein  andermal "**) , 
das  vom  Blutfluss  geheilte  Weib  habe  aus  Dankbarkeit  Christo 
eine  Statue  gesetzt  (von  der  man  übrigens,  wie  Philostorgius 
VII,  3  erzählt,  nicht  mehr  gewiss-  wusste  ob  sie  Christus  vor- 
stelle), an  deren  Fuss  ein  Kraut  gewachsen  sei  das  alle  Krank- 
keiten  geheilt  habe;  wie  Julian  an  die  Stelle  dieses  Bildes  sein 
eigenes  habe  setzen  lassen,  sei  dieses  alsbald  vom  BUtze  getroffen 
worden.  Auch  weiss  er  von  einem  Baume  der  sich  vor  Christus 
auf  seiner  Flucht  nach  Aegypten  geneigt  habe  und  dafür  mit  der 
Kraft  beschenkt  worden  sei  dass  jeder  Zweig,  jedes  Blatt  oder 
Stück  Rinde  von  demselben,  einem  Kranken  aufgelegt,  ihn  gesund 
mache.  Besonders  viele  Wunder  aber  veranlasste,  nach  den  Kir- 
chengeschichtschreibern ,  Julian's  Versuch  den  Temper  zu  Jeru- 
salem wieder  aufzubauen.  Die  Erde  bebte  damals,  am  Himmel 
stand  ein  leuchtendes  Kreuz  gezeichnet  und  dieselbe  Figur  auf 
einmal  wunderbarer  Weise  auf  den  Kleidern  aller  Anwesenden, 
und  anderes  Derartige,  was  bei  Gregor  p.  112  f.  Sozom.  V,  22, 
Theodorel  p.  143  A  und  Philostorgius  VII,  9  zu  finden  ist. 
Uebrigens  wirft  auf  das  Misslingen  jenes  Wiederaufbaues  einiges 
Licht  der  von  Gregor  verschwiegene,  von  dem  redlichen  Sokra- 
tes***)  aber  bemerkte  Umstand  dass  das  Fehlschlagen  des  Ver- 
suchs von  dem  damaligen  Bischof  von  Jerusalem,  Cyrill,  voraus- 
gesagt worden  war.     Diesen  allgemeinen  Wunderglauben  also  theilt 


•)  K.  G.  V,  2.  p.  482  A.  vgl.  1,  p.  480  D. 
•♦)  V,  21. 
•*♦)  III,  20. 


Julian  und  seine  Beurteiler.  177 

Sozomenus  in  extremer  Weise ,  und  ein  grosser  Theil  seiner  Ge- 
schichte besteht  aus  solchen  Märchen.  Von  seinem  Fanatismus 
aber  gibt  eine  Probe  sein  Urteil  über  das  Gerücht  dass  Julian 
von  einem  Christen  gemordet  worden  sei.  Er  sagt  nämlich^): 
,, vielleicht  ist  diess  auch  wahr;  denn  es  ist  gar  nicht  unmöglich 
dass  einem  Soldaten  einfiel  dass  von  den  Hellenen  und  Jedermann 
bis  auf  den  heutigen  Ttfg  die  Tyrannenmördei*  gepriesen  werden, 
als  Solche  die  sich  für  die  allgemeine  Freiheit  geopfert  haben. 
Kaum  wenigstens  dürfte  man  einen  tadeln  der  für  Gott  und  seine 
Religion  eine  mannhafte  That  verübt."  Selbst  Tillemont  flndet 
diese  Aeusserung  auffallend,  und  Bleterie  gibt  zu  bedenken  dass 
Sozomenus  kein  eigentlicher  Kirchenvater,  also  keine  Autorität 
sei,  meint  auch,  derselbe  müsse  mehr  das  heidnische  Alterthum 
studiert  haben  als  die  Moral  des  Evangeliums  und  den  wahrhaft 
christlichen  Geist. 

■ 

Der  seiner  Gesinnung  nach  achtungswürdigste  unter  den 
alten  Kirchengeschichtschreibern  ist  Sokrates;  er  hat  wenigstens 
den  guten  Willen  die  Wahrheit  zu  sagen,  wenn  er  sich  auch 
nicht  ganz  von  der  unter  den  Christen  traditionellen  Ansicht 
über  Julian  loszumachen  weiss.  So  sagt  er  am  Anfange  seines 
dritten  Buchs:  „Da  ich  jetzt  von  dem  berühmten**)  Kaiser 
Julianus  in  Kürze  zu  reden  habe,  muss  ich  diejenigen  welche 
denselben  näher  kennen  bitten  keinen  glänzenden  Schmuck  der 
Rede  von  mir  zu  erwarten,  dergleichen  nöthig  wäre  um  hinter 
einem  solchen  Gegenstande  nicht  zurückzubleiben.''  Am  besten 
lernt  man  seinen  Werth  kennen  wenn  man  ihn  mit  Gregor  ver- 
gleicht; z.  B.  von  Julian's  Entlassung  des  sehr  kostspieligen  und 
drückenden  ungeheuren  Hofstaates  behauptet  Gregor  (p.  75  A)  der 
Grund  sei  gewesen  weil  der  Hof  an  Constantius  und  Christus  an- 
hänglich gewesen  sei,  und  einen  Theil  des  Personals  habe  Julian 
hinrichten  lassen;  Sokrates  aber  weiss  nur  von  einer  Entlassung 
und  tadelt***)  die  Massregel  nicht  mit  Unrecht  als  unpolitisch, 
weil  nach  den  Begriffen  des  Orients  der  Herrscher  mit  einem 
gewissen  Glanz  auftreten  müsse.  Je  werlhvoller  daher  Sokrates 
in  dem  ist  was  er  gibt,  um  so  mehr  ist  zu  bedauern  dass  er 
fast  nur  die  das  Christenthum  berührende  Seite  von  Julian*s  Leben 
und  Thätigkeit  genauer  behandelt. 

♦)  VI,  2.  p.  617  D. 
♦•)  iXXoyifiov  avÖQOs, 
**♦)  m,  1.   p.  139  A. 
Teaffel,  Studien.  12 


178  Kaiser  Julianas. 


4.  Jnlian's  Charakter  und  Stellung  znm  GhriBtenthnm*). 

Julian  musste  froh  alle  seine  nächsten  Angehörigen  bluten 
sehen;  nur  er  und  sein  Halbbruder  entgiengen  dem  drohenden 
Untergange.  Als  er  dem  Jünglingsalter  sich  näherte  wurde  er 
vom  Kaiser  Constantius,  seinem  Oheim/ zusammen  mit  seinem 
Bruder  in  ein  festes  Schloss  gesperrt,  wo  es  ihnen  an  Nichts 
fehlte  als  an  dem  was  in  den  Jahren  der  geistigen  Entwicklung 
das  Unentbehrlichste  ist,  an  Umgang.  In  der  Abgeschlossenheit 
dieser  sechsjährigen  Gefangenschaft  wurde  wohl  der  Grund  gelegt 
zu  Julian's  späterer  Herbheit  und  Schroffheit,  zu  seinem  Eigen- 
sinn; die  Gewöhnung  an  Alleinsein  und  Alleindenken  mag  sein 
Selbstvertrauen  erzeugt,  die  Nothwendigkeit  des  Zurückhaltens 
mit  seinen  geheimsten  Gedanken  und  Empßndungen  mag  seine 
nachherige  Verschlossenheit  in  allen  wichtigen  Dingen  neben 
rückhaltsloser  Mittheilungslust  und  sprudelnder  Lebendigkeit  ent- 
wickelt haben.  Aus  seiner  Haft  entlassen  lernte  der  zwanzig- 
jährige Jüngling  die  bisher  ihm  vorenthaltene  Zeitphilosophie, 
die  neuplatonische,  kennen.  Bisher  war  die  christliche  Dogmatik 
seine  einzige  Philosophie  gewesen:  die  Lehre  von  der  Person 
Christi,  von  dem  Verhältniss  der  beiden  Naturen  in  ihm,  die 
Frage  ob  er  mit  Gott  gleichen  oder  ähnlichen  Wesens  sei,  ob 
der  heilige  Geist  aus  dem  Wesen  Gottes  selbst  hervorgehe,  diess 
und  Aehnliches,  welchem  er  ein  tieferes  Interesse  abzugewinnen 
nicht  vermochte,  hatte  man  seinem  jugendlichen  Gemüt  als  Nahrung 
gereicht  und  jeder  etwaigen  Frage  eines  frischen  denkenden 
Geistes  durch  Hinweisung  auf  den  Glauben  ßuhe  geboten.  Nun 
aber  hörte  er  Gegenstände  erörtern  die  ihn  ins  eigne  Innere  führten, 
zum  Nachdenken  über  sich  und  seine  Bestimmung,  über  seine 
Stellung  zum  Weltgenzen  veranlassten,  die  Fragen  nach  der 
Natur  der  Seele,  ihrem  Ursprung  und  ihrem  Ende,  nach  dem 
Begriffe  der  Freiheit,  nach  dem  Wesen  der  Gottheit,  und  er 
hörte  sie  erörtern  mit  Glanz,  Beredtsamkeit  und  Begeisterung. 
Basch  warf  er  jetzt  über  Bord  was  ihm  als  werthloser  Kram 
erschien**),  alle  die  theologischen  Stichwörter  die  er  auswendig 


*)  Aus  den  Monatsblättern  zur  Ergänzung  der  Allgemeinen  Zeitung, 
November  1847,  S.  537— ,542. 

**)  Libanius  Reden  I,  p.  528  Reiske. 


Julian's  Charakter.  179 

kannte  ohne  einen  geistigen  Gewion  davon  zu  haben*),  und 
gab  sich  mit  vollen  Segeln  den  Strömungen  der  Philosophie  hin. 
Aber  er  musste  seine  Gesinnungen  verbergen/  um.  nicht  das 
Loos  seiner  ganzen  Familie  zu  tbeilen,  und  erst  als  er,  nach 
vielen  Leiden  und  Quälereien  die  er  von  dem  argv\röhnischen 
Kaiser  zu  erdulden  hatte,  und  nach  einer  Reihe  glänzender  Kriegs- 
thaten  in  Frankreich  und  Deutschland,  durch  den  Tod  des  Con^ 
stantius  in  den  unbestrittenen  Besitz  der  Kaiserwürde  gelangt 
war,  durfte  er  die  lästige  Maske  abwerfen.  Nur  zwanzig  Monate 
dauerte  seine  Regierung,  aber  er  hat  in  dieser  kurzen  Zeit  mehr 
gewirkt  als  viele  Andere  in  Jahrzehnten.  Er  fiel  im  J.  363  in 
dem  Feld2uge  welchen  er  gegen  die  Perser  unternommen  hatte 
um  alte  Beschimpfungen  des  romischen  Namens  zu  rächen.  Schon 
hatte  er  das  Ziel  vor  Augen,  schon  streckte  er  die  Hand  aus 
nach  dem  goldenen  Siegerkranze  ^),  da  trat  das  Schicksal  da- 
zwischen und  schleuderte  ihn  zu  Boden  und  hemmte  die  un- 
ruhigen Schläge  dieses  Heldenherzens.  Er  starb  als  Jungling» 
wie  Alexander,  aber  ruhmvoller  denn  dieser;  er  fiel  im  tapfern 
Kampfe  durch  die  Hand  eines  Feindes.  Es  ist  ihm  ein  Tod  zu 
Theil  geworden  wie  er  ihn  selbst  sich  erbeten  hat***),  sanft  und 
schmerzlos  und  süss  durch  die  frohe  Hoffnung  zu  den  Göttern  zu 
gehen.  Aber  für  die  Welt,  die  seiner  Energie  bedurfte,  ist  er  viel 
zu  früh  gestorben^  und  ein  Freund  stimmt  daher  die  Klage  an: 
„Kaum  hatte  die  lechzende  Welt  diesen  Labetrank  zum  Munde 
gebracht,  kaum  einen  Zug  daraus  geschlurft  und  sich  gefreut 
seiner  erquickenden  Frische,  als  eine  feindliche  Gewalt  ihn  ihr 
aus  der  Hand  riss,  dass  es  schien  als  hätte  sie  ihn  bekommen 
nur  um  die  Grösse  ihres  Verlustes  ermessen  zu  lernen  ("f) 

Was  an  Julian  unsere  Aufmerksamkeit  am  meisten  auf  sich 
zieht  ist  natürlich  seine  Stellung  zum  Christenthum.  Man  hat 
in  dieser  Hinsicht  seinen  Charakter  in  Anspruch  genommen,  man 
hat  ihn  einen  Abtrünnigen  gescholten  und  als  Triebfeder  seiner 
ganzen  Handlungsweise  die  Eitelkeit  bezeichnet:  wir  glauben  mit 
Unrecht.  „Der  Abtrünnige"  ist  ein  Parteiname  welchen  fort- 
zupflanzen nicht  Sache  der  Geschichte  ist,  und  den  der  Kaiser 
in  der  That  auch  nicht  verdient.     Denn  er  war  Christ  nur  so- 


*)  Eunap.  Max.  I,  p.  47  Boissonade. 
♦•)  Liban.  I,  p.  613.  II,  61.     Zosim.  III,  29,  1. 
••♦)  Caiesares  p.  336  C.   Oratt.  IV.  p.  168  B.   V.  p.  180  B.  C. 
t)  Liban.  I,  p.  618  f. 

12* 


180  Kaiser  Julianus. 

lange  er  musste  und  nichts  Anderes  kannte;  sobald  er  zu  einiger 
Selbständigkeit  gelangt  war  entschied  er  sich  für  die  Religion 
der  Vorväter.  Er  war  nie  Christ  mit  Bewusstsein  und  Freiheit, 
die  erste  That  seines  Bewusstseins  und  seiner  Freiheit  war  die 
Entscheidung  für  den  Hellenismus.  Einer  Sache  der  man  nie 
wirklich  angehangen  hat  kann  man  auch  nicht  untreu  werden.  — 
Aber  er  hdt  nur  aus  Eitelkeit  so  gehandelt,  er  stand  für  sich 
immer  vor  dem  Spiegel,  nach  aussen  immer  auf  der  Bühne? 
Ein  schlimmer  Fehler  das,  wenn  es  wahr  ist,  zumal  an  einem 
Fürsten.  Wenn  ein  Niedriggeborner  seiner  Person  und  seinen 
Gedanken  einen  übertriebenen  Werlh  beimisst,  so  kommt  die 
Welt  dadurch  nicht  aus  dem  Geleise;  nur  etwa  in  engem  Kreise 
werden  seine  Einfälle  besprochen,  über  seine  nächste  Umgebung 
hinaus  schlägt  er  keine  Wellen.  Aber,  in  wessen  Hand  die  Macht 
ist,  wer  über  die  Arme  von  Tausenden  gebieten  kann,  der  ladet. 

0 

eine  schwere  Verantwortung  auf  sich  wenn  er  seine  Macht  ge- 
braucht im  Dienste  seiner  Grillen.  Zwar  von  nachhaltiger  Wir- 
kung ist  es  nicht,  wie  Julian's  Beispiel  zeigt.  \Mag  er  sich  dem 
Strome  des  Rechts  und  der  Wahrheit  entgegenstemmen ,  es  drückt 
nur  die  Mitlebenden ;  die  Wogen  der  Geschichte  gehen  über  sein 
Haupt  hinweg,  und  sein  Andenken  wird  verwünscht  von  denen 
die  er  unterdrückte  und  die  trotz  ihm  siegten.  In  dieser  Hin- 
sicht ist  Julian  allerdings  von  Eitelkeit  nicht  freizusprechen:  er 
wollte  seinen  eignen  Entwicklungsgang  der  Welt  aufdrängen,  er 
wollte  das  Rad  der  Geschichte  zurückdrehen  auf  einen  Punkt 
den  es  nun  einmal  verlassen  hatte,  er  wollte  mit  seinem  einzigen 
Geiste  und  Willen  Millionen  bestimmen;  aber  er  Ael,  und  an  seiner 
Leiche  vorbei  setzte  die  Geschichte  ihren  Weg  fort,  ruhig  als 
wäre  nichts  geschehen.  Eine  Ueberschätzung  des  eignen  Urteils 
und  der  eignen  Kräfte  lag  hiebei  freilich  zu  Grunde,  aber  eine 
verzeihliche,  denn  sie  gieng  hervor  aus  begeisterter  Ueberzeugung 
von  der  Wahrheit  seiner  Sache.  Wohl  war  Julian  auch  sonst 
eitel:  er  lechzte  nach  -Lob  wie  ein  ausgetrocknetes  Feld  nach 
Regen  ^);  vielleicht  verlangte  ihn  danach  um  unwillkürlich  sich 
regende  Zweifel  über  sein  Thun  zu  beschwichtigen ,  um  sich  ein- 
zureden er  handle  wirklich  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Bedürf- 
nisse der  Zeit;   vielleicht  war  er  eitel  weil  er  alles  was  er  war 


*)  Liban.  1,  p.  522.  Eutrop.  X,  8.  Aur.  Vict.  Epit.  43,  7.  Ammian. 
Marc.  XXV,  4,1  8. 


Julian's  Charakter.  181 

durch  sich  selbst  war,  weil  er  es  durch  harten  schmerzlichen 
Kampf  dem  Schicksale  hatte  abringen  müssen.  Auch  war  die 
Eitelkeit  der  gemeinsame  Fehler  dieser  Zeit,  wie  er  allen  Perioden 
geistiger  Unfähigkeit  eigenthümlich  ist,  z.  B.  der  grosseren  Hälfte 
des  vorigen  Jahrhunderts,  den  Zeiten  wo  man  den  Massstab  für 
die  Grösse  verloren  hat.  Unter  den  Liliputern  dünkt  sich  gross 
wer  um  eines  Nagels  Breite  über  die  Andern  hervorragt.  So 
war  Julian's  Zeitalter  arm  an  Originalität  und  echter  Grösse ;  wer 
sich  am  reichsten  jbelud  mit  den  Fetzen  der  Vergangenheit  und 
sie  mit  der  meisten  Gewandtheit  zu  handhaben  wusste,  der  galt 
für  gross  und  glaubte  selbst  es  zu  sein.  Alle  bedeutenderen 
Männer  dieser  Zeit,  Julian,  Libanius,  Athanasius,  Gregor,  Basi- 
lius,  leiden  an  unmässiger  Eitelkeit,  und  es  kommt  nur  darauf 
an  wer  verhältnissmässig  am  meisten  Recht  dazu  hatte,  und  wer 
gegen  diesen  Fehler  die  meisten  Vorzüge  in  die  Wagschale  legen 
konnte.  Und  in  dieser  Beziehung  hat  Julian  die  Reinheit  und 
Tüchtigkeit  seines  Charakters,  die  bewundernswürdige  Energie 
seines  Willens  und  die  Unermüdlichkeit  seines  Strebens  aufzu- 
weisen. Auch  gab  er  daneben  Proben  von  aufrichtiger  Beschei- 
denheit^) und  konnte  wohlgemeinten  Tadel  nicht  nur  ertragen 
sondern  wünschte  ihn  sogar '^*).  Ueberhaupt  hatte  seine  Eitel- 
keit nichts  gemein  mit  jener  schwächlichen  die  mit  Feigheit  ge- 
paart ist,  welche  im  stillen  Bewusstsein  der  Grundlosigkeit  ihrer 
'Selbstbewunderung  bei  jeder  missliebigen  Berührung  auffährt,  in 
kleinlichen  Zorn  geräth  und  für  die  Zukunft  sich  gegen  jede 
Verletzung  sicher  zu  stellen  sucht,  sondern  sie  hatte  einen  ge- 
wissen Anstrich  von  Grossartigkeit,  sie  beruhte  auf  einer  tüch- 
tigen Grundlage,  und  wurde  daher  nicht  von  jedem  Windzuge 
erschüttert,  sondern  konnte  die  Untersuchung  und  den  Zweifel 
ertragen.  Weil  seine  Eitelkeit  diese  gesunde,  aus  wirklichem 
Kraftgefühl  hervorgegangene  war,  so  hatte  er  auch  den  Humor 
zur  Selbstverspottung,  und  den  Mut  äusseren  GJanz  nicht  nur  zu 
verschmähen  sondern  die  Begriffe  von  kaiserlicher  Würde  geraden- 
wegs zu  verletzen :  er  war  etwas  Tüchtiges  schon  ehe  er  die  Krone 
trug,  und  er  fühlte  dass  er,  so  viel  er  auch  preisgebe  und  weg- 
werfe, doch  immernoch  genug  übrig  behalte  um  Achtung  einzuflössen. 
Sehen  wir  daher  ab  von  den  etwaigen  persönlichen  Be- 
stimmungsgründen und  betrachten  das  was  er  gegen  das  Christen- 

*)  Vgl.  Or.  ad  themist.  p.  266  D. 
**)  Epist.  12.    Ammian.  XXIT,  10,  3.  XXV,  4,  16. 


182  Kaiser  Julianus. 

tbum  ihat  {ör  sich  selbst,  so  dürfen  wir  vor  Allem  Dicht  ver- 
gessen dass  Julian  unumschränkter  Beherrscher  des  römischen 
Reichs  war,  und  dass  man  sich  längst  gewöhnt  halle  diejenige 
Religion  als  Staatsreligion  zu  betrachten  welche  der  jedesmalige 
Kaiser  begünstigte  oder  bekannte. '  Der  Begriff  einer  Staatsreligion 
war  damals  ein  zwar  noch  nicht  rechllich,  aber  doch  factisch 
bestehender;  Julian  übte  daher  nur  ein  unbestriltenes  Recht 
wenn  er  zu  den  höheren  Staatsstellen  nur  Männer  seines  Ver- 
trauens, also  Genossen  seiner  religiösen  Ansicht,  berief;  und  dass 
im  hellenistischen  Staate  die  Bevorzugungen  einzelner  Stände 
wegfielen,  welche  gegolten  hatten  so  lange  der  Staat  ein  christ- 
licher war,  darüber  konnte  mit  Grund  sich  niemand  beklagen. 
Freilich  war  in  den  wenigen  Jahrz.ehnten  seit  das  Cbristenlhum 
Staalsreligion  war  Staat  und  Religion  so  zusammengewachsen, 
das  Christenthum  war  so  weltlich  und  die  Welt  so  christlich 
geworden*)  dass  eine  Aenderung  der  Religion  zugleich  eine  poli- 
tische Revolution  war,  und  es  zeigte  sich  bei  dieser  Gelegenheit 
die  ganze  Verderblichkeit  eines  solchen  Verhältnisses  zwischen 
Staat  und  Kirche.  Der  Staat  sollte  schlechthin  unabhängig  sein 
von  den  religiösen  Ansichten  der  Burger  und  auch  des  Herrschers ; 
jedes  andere  Verhältniss  untergräbt  nicht  nur  die  sittliche  Rein- 
heit der  Kirche  sondern  bedroht  auch  die  Ruhe,  die  Existenz 
des  Staates,  wie  sich  wohl  bald  hätte  zeigen  müssen  wenn  Julian 
länger  am  Leben  geblieben  wäre. 

Aber  Julian  begnügte  sich  nicht  das  Christenthum  vom  Throne 
zu  Sturzen,  ihm  die  weltliche  Macht  zu  entreissen;  auch  die 
geistige  suchte  er  ihm  zu  entwinden«  Dahin  zielte  sein  berühm- 
tes Gesetz,  es  solle  kein  Christ  in  Rhetorik  und  Grammatik  unter- 
richten, d.  h.  überhaupt  ein  Lehramt  ausserhalb  seiner  Kirche 
bekleiden  dürfen.  Julian  glaubte  nämlich  entdeckt  zu  haben 
dass  die  Christen  alles  was  zur  eigentlichen  menschlichen  Bildung 
gehört  aus  dem  AUerthum,  besonders  dem  griechischen,  schöpfen, 
und  meinte  nun  dadurch  dass  er  ihnen  diesen  Quell  verstopfte 
das  Christenthum  in  einer  Gestalt  hinstellen  zu  können  in  welcher 
es  für  niemand  etwas  Einladendes  hätte.  Die  Massregel  war 
wirklich  nicht  ohne  Klugheit  ausgesonnen,  und  man  darf  nicht 
glauben  sie  sei  blos  eine  halbe  gewesen,  weil  er  den  Christen 
zwar  verbot  die  hellenische  Wissenschaft  zu  lehren,  nicht  aber 

•)  Vgl.  Gregor.  Orat.  III.  p.  80  A.  B. 


Julian'»  Stellung  zum  Christenthum.  183 

zugleich  sie  zu  lernen;  denn  es  war  vorauszusehen  dass  die 
Christen  einen  Anhänger  der  alten  Religion  auch  nicht  zum  Lehrer 
nehmen  würden.  Dabei  versah  es  aber  Julian  doch  in  wesent- 
lichen Punkten.  Fürs  Erste  bemerkt  sein  Widersacher  Gregor 
von  Nazianz*)  sehr  richtig  dass  die  Berechtigung  auf  die  helle- 
nische Literatur  von. der  Sprache,  dem  Hellenischreden,  nicht 
aber  von  der  Religion  abhängig  sei.  Nun  meinte  zwar  Julian, 
Form  und  Inhalt  lassen  sich  nicht  trennen**);  aber. dem  ist  nicht 
also.  Man  kann  Homer  lieben  und  verehren  ohne  darum  au 
seine  Gölter  zu  glauben;  denn  diese  Götter  geben  sich  nicht  als 
ein  Glaubensartikel.  Freilich  halte  die  damalige  Philosophie  auf 
Homer's  Gedichte  den  christlichen  Begriff  der  Inspiration  über- 
getragen, und  Julian  glaubte  daher  wohl  einen  philosophischen^ 
d.  h.  allegorischen  Glauben  an  sie  fordern  zu  dürfen.  Auch  das 
bemerkt  Gregor  ganz  treffend,  dass  es  mit  den  erfundenen  Ge- 
danken, mit  den  Literaturwerken  sei  wie  mit  jeder  Erfindung: 
nachdem  sie  einmal  gemacht  sei  habe  Jedermann  ein  Recht  dar- 
auf. Julian  thut  den  alten  Dichterheroen  Unrecht  wenn  er  sie 
zu  Parteimännern  stempelt ,  wenn  er  meint  sie  würden  sich  grämen 
wenn  sie  wüssten  dass  auch  Christen  sie  benützen ;  vielmehr  sind 
sie  ja  Quellen,  gelegen  an  der  Heerstrasse  der  Menschheit  und 
neidlos  labend  Jeden  der  kommt  aus  ihnen  zu  trinken,  auch  den  der 
nach  dem  Trünke  sie  beschmutzt,  sie  vergiftet  oder  sie  verlästert. 
Weiter  tauschte  sich  Julian  auch  darin  dass  er  meinte  es 
werde  irgend  ein  Christ  seiner  Zeit,  wenn  ihm  die  Alternative 
gestellt  werde  entweder  seiner  Religion  zu  entsagen  oder  auf  alle 
humane  Bildung  zu  verzichten ,  auch  nur  einen  Augenblick  zögern 
das  Zweite  zu  ergreifen.  Die  Sache  stand  damals  so  dass  die 
Christen  einen  Stolz  darein  setzten  der  Bildung  haar  zu  sein"^*"^); 
diess  galt  für  christliche  Einfalt.  Einen  anschaulichen  Beweis 
von  der  Sttimmung  der  damaligen  christlichen  Wortführer  der 
hellenischen  Literatur  gegenüber  gibt  ein  Brief  von  Gregor  an 
einen  gewissen  Adamantios,  an  den  er  seine  Exemplare  alter 
Schriftsteller  verkauft,  wobei  er  ihm  eine  väterliche  Ermahnung 
mit  in  den  Kauf  gibt.     Er  selbst,   schreibt  er,   habe  den  Quark 

längst  in  den  Winkel  geworfen ,  wo  ein  grosser  Theil  von  Motten 

•^— ..^.^— — — — — ^-^         . 

•)  Or.  in.  p.  Bl  A. 
**)  Liban.  I,  p.  674. 
***)  Gregor.   Or.  IIL  p.  51  B.  97  D.    Vgl.  Schlosser,  Universalhist. 
Uebers.  III,  3.  S.  143. 


184  Kaiser  Julianus. 

und  Rauch  zu  Grunde  gegangen  sei;  er  habe  jetzt  Wichtigeres 
und  Angenehmeres  zu  thun  als  den  Pindar  zu  lesen :  er  disputiere 
über  den  Ausgang  des  heil.  Geistes»  über  die  Möuchsregeln  und 
über  die  Art  und  Weise  wie  Christus  Gott  sei.  Adamahtios  thäte 
viel  besser  wenn  er  ihm  nachahmte,  und  statt  dergleichen  Zeug 
zu  lesen  vielmehr  die  heil.  Schriften  auswendig  lernte;  da  er  es 
aber  einmal  wünsche,  so  wolle  er  ihm  die  Bücher  aus  Freundschaft 
überlassen ;  bitte  sich  indessen  gelegentlich  das  Geld  dafür  aus"*"). 
Und  welche  Begriffe  man  damals  überhaupt  von  der  Literatur 
hatte  geht  am  deutlichsten  hervor  aus  dem  Beginnen  der  beiden 
Apollinaris.  Als  nämlich  Julian  sein  Verbot  ergehen  liess,  so 
schüttelten  die  beiden,  Vater  und  Sohn,  eine  ganze  christliche 
Literatur  wie  aus  dem  Aermel.  Der  Vater  brachte  die  jüdische 
Geschichte  bis  auf  Saul  in  Hexameter,  und  um  die  Aehnlichkeit 
mit  Homer  noch  tauschender  zu  machen  Iheilte  er  sein  Werk 
gleichfalls  in  24  Bücher  ein;  auch  christliche  Komödien  fertigte 
er  nach  Menander  und  christliche  Tragödien  nach  Euripides, 
ebenso  eine  christliche  Lyrik  nach  Pindar,  und  richtete  es  dabei 
so  ein  dass  jedes  Metrum  vorkam,  damit  kein  Bestandtbeil  der 
hellenischen  Bildung  den  Christen  mangle;  der  Sohn  sodann  ver- 
wandelte die  neutestamentlichen  Schriften  in  platonische  Dialoge. 
Unter  den  alten  Kirchenhistorikern  sind  die  Stimmen  über  dieses 
Unternehmen  getheilt.  Sokrates  sagt,  diese  Arbeiten  seien  so 
ganz  vergessen  als  ob  sie  nie  gemacht  worden  wären,  und  ver- 
Iheidigt  das  Studium  der  hellenischen  Literatur;  Sozomenos  aber 
meint,  nur  in  Folge  des  Vorurteils  für  alles  Alte  habe  man  die 
Schriften  der  beiden  Männer  hintangesetzt,  die  doch  den  alt- 
hellenischen in  Nichts  nachstehen.  Dass  in  einer  Zeit  wo  solche 
Unternehmungen  entstehen  konnten,  wo  ein  Gregor  von  Nazianz 
hierin  wetteiferte  mit  den  beiden  Apollinaris^*),  Julian  mit  seinem 
Verbote  nichts  ausrichten  konnte  liegt  am  Tage.  Aber  es  war 
zugleich  ein  Zeichen  von  mangelndem  Vertrauen  zu  seiner  eignen 
Sache,  von  bösem  Gewissen,  von  innerer  Schwäche.  Hatte  die 
hellenische  Literatur  wirklich  den  Werth  den  er  von  ihr  voraus- 
setzte, dass  man  um  ihretwillen  seine  Religion  sollte  verlassen 
können,  so  durfte  er  sie  getrost  in  den  Händen  der  Christen 
lassen  und  konnte  von  der  Macht  der  Wahrheit  den  Sieg  er- 

•)  Epist.  30.   Vgl.  Schlosser,  Archiv  I.  S.  265  f. 
*•)  Schlosser,  Universalhist.  Uebers.  III,  3.  S.  143  f.   Vgl.  Gregor. 
Or.  III.  p.  51  B. 


Julian's  Stellung  zum  ChriBtenthum.  185 

warten.  Aber  er  fühlte  selbst  dass  er  diese  Schriften  zu  einem 
Zwecke  verwende  für  welchen  sie  nicht  geeignet  sind  und  bei 
welchem  sie  sich  daher  vielfache  Blossen  geben,  welche  die  Gegner 
mit  Schadenfreude  aufdeckten.  Der  Widerwille  Julian's  hiegegen 
ist  leicht  erklärlich:  es  that  ihm  wehe  zu  sehen  wie  die  christ- 
lichen Ausleger  der  alten  Literatur  bei  jeder  Gelegenheit  die 
Schattenseiten  derselben  hervorhoben  und  dagegen  auf  das  Cbristen- 
thum  als  das  weil  Bessere  hinwiesen*).  Aber  diess  durfte  ihn 
nicht  bewegen  den  Versuch  zu  machen  den  Christen  diese  Lite.- 
ratur  zu  entreissen,,  die  nun  einmal  allen  denen  gehörte  für 
welche  sie  zugänglich  war.  Nur  das^  hätte  er  sich  dadurch  be- 
stimmen lassen  sollen  dass  er  es  aufgab  sie  als  Religionsurkun- 
den, als  symbolische  Bücher  zu  betrachten.  Aber  er  fühlte  mit 
seiner  ganzen  Zeit  das  Bedürfniss  von  Stützen  für  den  in  sich 
selbst  haltlosen  Geist,  und  da  er  sich  nun  einmal  darauf  steifte 
die  vom  Christenthun^  gebotenen  zu  verschmähen,  so  blieb  ihm 
nichts  übrig  als  sich  solche  innerhalb  der  alten  Religion  selbst  zu  - 
schaffen  und  die  althellenische  Literatur  mittelst  der  allegorischen 
Auslegung,  an  deren  guter  Begründung  und  Berechtigung  er  so 
wenig  als  seine  Zeit  zweifelte,  in  Religionsquellen  zu  verwandeln. 
Schon  hieraus  geht  deutlich  genug  hervor  dass  für  Julian 
ein  sachlicher  Grund  den  Hellenismus  dem  Cbristenthum  gegen- 
über festzuhalten  nicht  vorhanden  war,  indem  er  jenen,  um  ihn 
seiner  Zeit  anzupassen,  nach  diesem  umzuformen  sich  genöthigt 
sah;  aber  noch  unmittelbarer  und  auffallender  erhellt  diess  aus 
den  Mitteln  die  er  anwandte  um  die  alte  Religion  zu  kräftigen 
und  zu  heben.  Es  waren  diess  erstens  äussere:  der  Aufwand 
welcher  gemacht  wurde  Mm  den  hellenischen  Cultus  recht  prun- 
kend, recht  bestechend  und  einladend  für  die  Menge  zu  be- 
gehen**), und  die  Bevorzugung  der  Bekenner  des*  Hellenismus 
bei  allen  höheren  Staatsämtern***).  Bedeutsamer  sind  die  inner- 
lichen Mittel  welche  er  anzuwenden  theils  beabsichtigt,  theils 
begonnen  hat.  Er  gieng  nämlich  darauf  aus  das  Gute  am  Christen- 
Ihum  dem  Hellenismus  wieder  anzueignen,  da  es  dieser  von 
Anfang  an  und  zuerst  besessen  und  nur  durch  Fahrlässigkeit  ver- 


*)  Vgl.  Julian  bei  Cyrill  VII.  p.  229  f. 
**)  Liban.  I,  579.     Ammian.  XXII,  12,  7. 

♦**)  Liban.  I,  p.  576.    Gregor.  Naz.  Or.  IV.  p.  120  C.  Sokr.  III,  13. 
Theodoret.  III,  6. 


186  Kaiser  Julianue. 

loreo  habe.  Der  Brief  in  weichem  er  dieses  ausfuhrt*)  ist 
indirect  zugleich  die  schönste  Lobrede  auf  das  Christenthum. 
Was  er  von  diesem  herubernehmen  will  ist  erstens  die  Sorge 

• 

für  die  Armen.  Das  Christenthum  ist  die  Religion  der  Armen: 
es  treibt  die  Reichen  zum  Geben  und  den  Armen  verspricht  es 
für  ihre  Entbehrungen  Schadioshaltung  im  Jenseits.  Dadurch 
Ist  es  eine  weltbeherrschende  Macht  geworden:  die  Masse  der 
Armen,  der  Unterdrückten  und  das  Geschlecht  der  zum  Helfen 
und  Lieben  Geborenen,  das  Geschlecht  der  Frauen,  fiel  ihm 
zuerst  zu,  und  durch  ihren  langsamen  und  stillen,  aber  tiefen 
und  unwiderstehlichen  Einflüss  ward  dann  auch  die  Welt  der 
Männer  in  seinen  Kreis  gezogen.  Diese  Richtung  und  Bedeutung 
des  Christenthums  hat  Julian  aufs  Klarste  erkannt.  Er  sagt  in 
dem  angeführten  Briefe:  zur  Förderung  des  Christenthums  hat 
ganz  besonders  beigetragen  die  Wohlthätigkeit  gegen  die  Fremden, 
die  Sorge  für  die  Todten  und  die  (erheuchelte,  setzt  er  hinzu) 
Gesetztheit  des  Lebenswandels.  Noch  deutlicher  und  zugleich 
schroffer  erklärt  er  sich  in  einer  andern  Stelle ^^):  „Sobald  die 
ruchlosen  Galiläer  (wie  er  die  Christen  regelmässig  nennt)  be- 
merkten dass  die  Armen  von  den  (heidnischen)  Priestern  vernach- 
lässigt werden,  so  warfen  sie  sich  schnell  auf  die  Wohlthätigkeit; 
und  wie  man  Kindern  Kuchen  schenkt  um  sie  zum  Mitgehen  zu 
bereden,  und  dann,  wenn  man  von  Wohnungen  entfernt  ist,  sie 
auf  ein  Schiff  schleppt  und  als  Sklaven  verkauft,  dass  sie  die 
kurze  Freude  mit  lebenslänglichem  Elend  zu  büssen  haben,  so 
hat  das  Christenthum  durch  das  sogenannte  Liebesmahl  und  die 
Wohlthätigkeit  Gläubige  zur  Gottlosigkeit  (d.  h.  Heiden  zum 
Christenthum)  verfuhrt."  Um  diesen  Vorzug  nun  seiner  eigenen. 
Kirche  zuzuwenden,  verordnet  er***)  Herbergen  zur  Aufnahme 
der  Fremden  in  jeder  Stadt  zu  errichten,  und  zwar  nicht  blos 
für  Hellenisten,  sondern  für  alle  Hülfsbedürftigen  ohne  Unter- 
schied des  Glaubens.  Denn  es  wäre  doch  eine  Schande,  sagt 
erf),  wenn  wir  auch  fernerhin  nicht  einmal  unsern  eigenen 
Leuten  hälfen,  während  doch  von  den  Juden  kein  einziger  zu 
betteln  braucht  und  die  gottlosen  Galiläer  aussei^  den  Ihrigen  auch 
noch  die  Unsrigen  verpflegen.    Zweitens  wollte  er  der  alten  Reli- 


♦)  Epist.  49. 

*♦)  Fragm.  Ep.  p.  306  B.  Vgl.  p.  290  f. 
•*•)  Ep.  49.  Vgl.  Gregor.  Or.  III.  p.  101  f.  Sozom.  V ,  16. 
t)  Ep.  49.  p.  91  Heyler. 


-j^m 


Julian's  Stelhmg  zum  Christenthum.  187 

gion  unter  die  Arme  greifen  durch  Hebung  der  Sittlichkeit. 
Die  Priester  sollen  darin  mit  gutem  Beispiele  vorangehen:  sie 
sollen  nicht  das  Theater  besuchen,  weil  das  ganz  unziemlich 
sei*)  —  eine  personliche  Antipathie  des  Kaisers**)»  zugleich 
aber  begründet  durch  den  damaligen  Zustand  der  Bühne  und 
dem  Christenthum  abgesehen  — ,  nicht  ins  Wirthshaus  sitzen  und 
keine  missachtete  Hanthierung  treiben  ***) ;  auck  die  alten  lambo- 
graphen  und  die  Stücke  der  alten  attischen  Komödie,  ja  sogar 
Hythographen  ****)  sieht  er  wegen  deren  Nuditaten  nicht  gern  in  ihren 
Händen,  und  möchte  sie  von  der  epikureischen  und  skeptischen 
Philosophie,  als  einer  frivolen,  ferne  halten f).  Auf  solche  Weise 
glaubte  er  von  zwei  Seiten  zugleich  zu  seinem  Ziele  zu  kommen : 
das  Beispiel  der  Priester  sollte  auf  die  sittliche  Veredlung  des 
Volkes  einwirken  und  den  Hellenismus  mittelst  seiner  Bekenner 
achtungswürdiger  machen,  und  andererseits  sollte  die  sittliche 
Hebung  des  Priesterstandes  diesen  selbst  in  der  äusseren  Aner- 
kennung und  Geltung  steigen  machen.  Denn  das  war  ein  weite- 
rer Punkt  den  er  als  Bedürfniss  erkannte:  ein  wohlorganisierter 
und  geachteter-  Priesterstand.  Er  will  daher  dass  allein  die  sitt- 
liche Tüchtigkeit  die  Aufnahme  in  den  Priesterstand  bedinge -ff), 
und  dass  die  Priester  den  Civil-  und  Militärbeamten  an  Rang 
gleichstehen  fff).  Man-  sieht  wie  gut  Julian  erkannte  was  den 
Hellenismus  gestürzt  hatte  und  was  ihm  Noth  that,  aber  man 
wundert  sich  auch  warum  er  nicht  lieber  beim  Christenthume  blieb, 
wo  er  alle  diese  Einrichtungen  nicht  erst  machen ,  alle  diese  Vor- 
zuge nicht  erst  befehlen  durfte,  wo  er  sie  vielmehr  schon  vor- 
fand; und  nur  etwa  von  dem  Schlechten  was  sich  daran  gehängt 
zu  reinigen  halte.  Aber  tr  war  durch  die  Philosophie  zu  sehr 
darauf  capriciert  worden  den  Hellenismus  zu  bewundern,  und  sein 
persönlicher  Widerwille  gegen  das  Christenthum  war  zu  gross  als 
üass  die  bessere  Einsicht  hätte  siegen  können.  Er  nimmt  daher 
seine  Zuflucht  zu  der  Bemerkung  dass  alle  jene  Vorzüge  ursprüng- 
lich den  Hellenen  eigenthümlich  gewesen  seien,  und  meint,  diese 


•)  Ep.  49.  Fragm.  p.  304  B. 
**)  Misopog.  p.  339  f. 
•**)  Ep.  49. 
••**)  Fragm.  p.  301  A. 
t)  Fragm.  p.  300  f. 
tt)  a.  a.  O.  p.  305  A. 
ttt)  Ebendas.  p.  296  C, 


188  *  Kaiser  Julianus. 

werden  sich  doch  nicht  in  ihren  eignen  Tugenden  von  Fremden 
übertreffen  lassen*).  Und  allerdings  haben  die  Tugenden  der 
Humanität,  wenn  auch  nicht  zuerst,  so  doch  am  schönsten  ge- 
blüht im  hellenischen  Geiste;  aber  mit  diesem  waren  auch  sie 
erstorben  und  erst  durch  das  Christenthum  neu  gepflanzt  worden, 
wenn  auch  nicht  in  der  alten  unreflectierten  Gestalt;  denn  im 
Christenthum  war  Grundsatz  und  Pflicht  was  im  Hellenenthum 
Sitte  war.  Es  galt  daher  die  Zeichen  der  Zeit  zu  verstehen  und 
das  Lebendige  nicht  zu  suchen  bei  den  Todten.  Ein  bestimmter 
Ideenkreis  war  fest  in  dem  Geiste  seiner  Zeit  gegründet:  Julian 
durfte  nur  in  ihn  eintreten,  durfte  ihn  ausbilden  und  entwickeln 
mit  seinem  überlegenen  Geiste,  so  fiel  ihm  alles  zu;  er  durfte  nur 
ergreifen  was  in  jener  Zeit  das  Geistiglebendige  war,  was  die  Herzen 
der  Völker  bewegte,  und  es  durchführen  mit  Kraft,  Weisheit  und 
Beharrlichkeit,  —  und  die  ganze  Welt  war  sein;  er  aber  zog  es  vor 
längst  Vergrabenes  und  Vergessenes  aus  dem  Schutte  von  Jahrhunder- 
ten hervorzuziehen.  Naiv  ist  daher  seine  Klage**)  dass  für  die 
alte  Religion  so  gar  wenig  Begeisterung  vorhanden  sei ,  während  die 
Christen  für  die  ihrige  Noth  und  Tod  freudig  erdulden.  Er  meint  die 
Begeisterung  lasse  sich  machen,  er  meint  sie  lasse  sich  befehlen. 
Da  so  Julian  selbst  wider  seinen  Willen  der  lauteste  Zeuge 
für  die  Schwäche  seiner  Sache  und  die  Nothwendigkeit  äes  Chri- 
stenthums  ist,  so  werden  wir  uns  nicht  wundern  in  seinem  Han- 
dein  allenthalben  Zeichen  des  Gefühles  dieser  Schwäche  zu  ge- 
wahren. Ein  solches  haben  wir  bereits  gefunden  in  dem  Verbote 
des  höheren  Unterrichts  für  die  Christen;  ein  noch  deutlicheres 
ist'  sein  Verfahren  gegen  Athanasius,  den  von  den  Arianern  ver- 
triebenen Bischof  von  Alexandria.  In  Folge  der  Amnestie  welche 
Julian  bei  seiner  Thronbesteigung  allen  denjenigen  ertheilte  welche 
wegen  theologischer  Abweichungen  unter  der  frühern  Regierung 
verbannt  worden  waren,  war  auch  Athanasius  nach  Alexandria 
zurückgekehrt  und  hatte  den  durch  Georgius'  Ermordung  gerade 
leer  gewordenen  Bischofssitz  eingenommen.  Alsbald  fieng  er  auch 
an  für  die  Ausbreitung  seines  Glaubens  thätig  zu  sein:  einige 
vornehme  hellenische  Frauen  brachte  er  dazu  dass  sie  sich  taufen 
Hessen.  Als  diess  Julian  erfuhr  erklärte  er  es  für  einen  Miss- 
brauch: er  habe  den  Bischöfen  nur  die  Rückkehr  in  ihre  Ge- 
meinden gestattet,  nicht  aber  sie  wieder  in  ihre  Posten  einsetzen 

•)  Epist.  49. 
*♦)  Epist.  63. 


Julian^s  Stellung  zum  Cbristentbum.  189 

wollen.  Aber  auch  jener  Vergünstigung  habe  sich  Athanasius 
unwürdig  gemacht  und  habe  daher  nach  Sicht  die  Stadt  zu 'ver- 
lassen; und  wie  diess  nach  einiger  Zeit  noch  nicht  geschehen 
ist,  so  wiederholt  er  seinen  Befehl  noch  nachdrücklicher  und  mit 
Ausdehnung  über  ganz  Aegypten.  Als  jetzt  die  Orthodoxen  von 
AlexandrJa  um  Aufhebung  des  Befehls  baten,  wies  Julian  sie  zur 
Ruhe:  wenn  sie  durchaus  nicht  ohne  atheistische  (christliche) 
Predigten  sein  Icönnen,  so  sollen  sie  sich  an  einen  Schüler  des 
Athanasius  halten;  denn  leider  stehe  dieser  nicht  allein.  So  gut 
wie  er  können  auch  Andere  ihnen  ihre  heiligen  Schriften  aus- 
legen, und  alles  Weitere,  die  UebergrifTe,  das  Proselyteomachen^ 
sei  es  eben  was  er  nicht  wünsche  und  um  dessen  willen  er  den 
Athanasius  verbannt  haben  wolle.  Freilich  gibt  es  einen  Gesichts- 
punkt von  welchem  aus  diese  Massregel  nicht  so  unbedingt  als 
Beweis  von  schlechtem  Vertrauen  zur  eignen  Sache  erscheint: 
es  ist  der-  politische.  Dem  Volke  gegenüber  kann  man  auf  die 
Macht  der  Wahrheit  nicht  ausschliesslich  vertrauen ;  man  weiss  ja 
dass  es  für  die  Unvernunft  mindestens  ebensoviel  Sinn  und  Empfäng- 
lichkeit hat  als  für  das  Wahre  und  Gute,  dass  es  für  jeden  Einfluss 
zugänglich  ist  und  von  dem  auf  welchen  es  einmal  sein  Vertrauen 
gesetzt  hat  sich  blind  als  Werkzeug  gebrauchen  lässt.  Auch  beruht 
die  äussere  Stärke  einer  Partei  auf  der  Theilnahme  der  Masse,  und 
es  war  daher  für  einen  Parteigänger  wie  Julian  fast  unmöglich  ruhig 
zuzusehen  wie  unter  dem  Volke  für  die  Gegenpartei  geworben  wurde. 
Aber  es  war  eine  arge  Täuschung  von  Julian,  wenn  er  meinte  dass 
das  allegorisch -mystische  Gebräu  aus  Altem  und  Neuem,  das  er  auf- 
tischte, für  das  eigentliche  Volk  geniessbarund  erquicklich  sein  könne. 
Es  ist  uns  so  eben  bei  Julian  der  Ausdruck  Atheismus  als 
Bezeichnung  des  Christenthums  begegnet.  Es  hängt  diess  damit 
zusammen  dass  jenes  Wort  in  seinem  gewöhnlichen  Sinne  — 
denn  es  gibt  allerdings  auch  absoluten  Atheismus,  sittlichen,  d.  h. 
Nihilismus  —  ein  relativer  Begriff  ist:  Unglauben  an  das  was  in 
einer  bestimmten  Zeit  die  Masse  oder  doch  die  herrschende  Partei 
in  religiöser  Hinsicht  glaubt^  also  Unglaube  an  die  herrschende 
Religion,  Nichtverehrung  der  Gottheit  des  Volks.  Daher  haben 
zu  alleQ  Zeiten  die  Philosophen,  wenn  sie  hinaus  waren  über 
die  Volksreligion,  für  Atheisten  gegolten;  daher  hiessen  Atheisten 
unter  Julian  die  Christen,  unter  seinen  Nachfolgern  wieder  die 
Hellenisten.  Denn  man  kann  dem  religiösen  Bewusstsein  nicht 
zumuten  sich   als  möglich   zu  denken   dass  sein  Gott  nicht  der 


190  Kaiser  Julianus. 

einzige,  absolute  sei,  dass  an  seinen  Gott  nicht  glauben  noch 
nicht  heisse  keinen  Oott,  nichts  Göttliches  anerkennen;  wurde 
es  solche  Betrachtungen  anstellen,  so  hätte  es  damit  sich  selbst 
aufgegeben;  denn  ein  relativer  Gott  ist  kein  Gott,  ist  nichts  an 
was  man  sich  absolut  hingeben»  was  man  absolut  lieben  kann. 

Werfen  wir  zum  Schlüsse  die  Frage  auf,  wo  bei  Julian 
ein  Punkt  zu  finden  sei  um  dessen  willen  er  sich  als  Romantiker 
bezeichnen  liesse,  so  sind  wir  in  der  That  in  Verlegenheit  einen 
solchen  zu  entdecken.  Wohl  hat  er  die  phantasievolle  und 
durch  den  Neuplatonismus  sogar  phantastisch  gewordene  alte 
Religion  festgehalten  gegen  das  im  Vergleich  mit  ihr  nüchterne 
Christenthum,  aber  nicht  darum  weil  jene  ihm  die  tiefere, 
poetischere  schien ,  sondern  vielmehr  weil  er  sie  für  näher 
liegend  und  natürlicher  hielt.  Die  Alexandriner  z.  B.  fragt  er^), 
um  sie  zum  Glauben  an  Gott  Helios,  Selene  u.  s.  w.  zu  be- 
kehren, welche  er,  sein  Religionssystem  dem  Alterthume  unter- 
schiebend, unter  dem  Namen  „olympische  Götter"  zusammenfasst, 
—  ob  denn  sie  allein  unter  allen  Menschen  nichts  verspüren  von 
der  Macht  des  Helios?  Und  wie  sie  dazu  kommen  diesem  die 
Verehrung  zu  versagen,  und  dagegen  den  Jesus,  von  dem  weder 
sie  noch  ihre  Väter  etwas  gesehen  haben,  als  Gott  Logos  anzu- 
beten? Ein  Romantiker  hätte  gerade  umgekehrt  in  dem  Umstände 
dass  Jesus  kein  Gegenstand  der  niedrigen  sinnlichen  Wahrnehmung 
sei  einen  Vorzug  des  Christenthums  gefunden.  Wohl  stellt  Julian 
Idee  und  Wirklichkeit,  Vergangenheit  und  Gegenwart  in  Gegen- 
satz zu  einander;  aber  um  das  zu  thun  brauchte  man  nicht  etwa 
Romantiker  zu  sein,  sondern  vielmehr  nur  ein  gesundes  Auge  zu 
haben.  Und  was  sind  das  für  unromantische  Ansichten  die  er 
über  das  Theater,  über  Archilochos,  Aristophanes  u.  s.  w.  aus- 
spricht! Nicht  nur  nicht  als  Romantiker  zeigt  er  sich  hier,  son- 
dern vielmehr  als  das  conträrste  Gegentheil  davon,  als  echter 
Philister.  Wie  unromantisch  ist  weiter  seine  unerschütterliche 
Keuschheit,  seine'  strenge  Massigkeit,  seine  Umsicht  als  Feldherr, 
seine  Ausdauer,  seine  eiserne  Willenskraft!  Ein  Mann  der  That 
ist  Julian ,  oft  von  fieberhafter  Ungeduld  und  Leidenschaftlichkeit, 
doch  im  Grunde  seiner  Seele  nüchtern ;  mit  einem  süss  oder  süss- 
lieh  träumenden  Jünger  der  Romantik  hat  er  keine  Aehnlichkeit. 

*)  Epist.  51. 


vm. 

ProcopiusO. 


Procopius  aus  Käsareia  in  Palästina  ^)  war  wohl  am  Ende  38 
des  fünften  oder  gleich  zu  Anfang  des  sechsten  christlichen  Jahr- 
hunderts geboren.  Er  war  Rechtsgelehrter  ^)  und  mochte  sich 
als  solcher  in  Byzantion  bereits  bekannt  gemacht  halben  als  er 
unter  Justin  dem  Aelteren  kurz  vor  dessen  Tode  (also  im  J.  527) 
dem  Belisar  als  rechtskundiger  Rath  und  Secretär  [itÜQSÖQog, 
^viißovXoQ,  assessor,  consiliarius)  auf  seinen  persischen  Feldzug 
mitgegeben  wurde  ^).  Von  da  an  begleitete  er  den  Belisar  fast 
bei  allen  seinen  Zügen  und  sammelte  so  das  Material  für  sein 
Geschichtswerk  ^);  er  zieht  mit  ihm  im  J.  533  in  den  Krieg  gegen 

1]  Ans  A.  W.  Schmidts  Zeitocbr.  f.  Geschichtswiss.  VIII.  1847.  S. 
38 — 79.  Dazu  vgl.  Prokopias  von  Cäsarea;  ein  Beitrag  zur  Historio- 
graphie der  Völkerwanderung  und  des  sinkenden  Römerthums,  von 
Dr.  Felix  Dahn.  Berlin  1866.  502  S.  8. 

')  Pers.  1,1:  KaicaQSvg  nnd  iv  Kaiaagsiot  xij  ift^  (Anecd.  11^  p.  75 
Bonn.).  V^gl*  Agathias  Prooem.  p.  [11:  IT^.  o  pijroQ  o  Kataagsiad'Bv, 
Said.  6  Kaia<XQSvg  iyi  üaXaiatCvTjg ,  Joannes  Scholast.,  Epiph.  I  u.  A. 

')  g'qtfOQ  xal  nocpiatris,  Suidas,  vgl.  Evagr.  IV,  12.  V,  24.  Phot. 
bibl.  63,  Agath.  a.  a.  O.  u.  II,  19.  IV,  15.  30.  Dass  (tJtohq  identisch 
ist  mit  a%oXaati%6g  beweist  z.  B.  Evagr.  V,  14,  wo  Agathias,  fast 
immer  tf^^oXatfTtxog  genannt,  das  Prädicat  (i^tag  erhält,  nnd  über  die 
Bedeutung  von  seholasticus  s.  Hanke  de  byz.  rer.  scr.  gr.  p.  178.   181. 

*)  Pers.  I,  12  extr.:  ßaailsvg  BsliadcQiov  ägxovta  %ataX6ytav  tcSv 
iv  Jccgag  TiarsotTjöato.  tots  dri  avtov  ^viißovXog  '^gid'Ti  Ugonontog  og. 
tccds  ^vviyQa^ps,  13  in.:  XQOvo}  dl  ov  noXXä  varsgov  'loiHStivog  .  . 
ittXsvtrios.  Der  passive  Ausdruck  ygid-ri  scheint  freie  Wahl  durch 
Belisar  selbst  auszuschliessen. 

^)  Niceph.  XVII,  10:  comes  in  ezpeditione  bellica  illi  (Bei.)  subser- 
vlens  fnit.  Vgl.  Pbot.-a.  a.  O.  u.  bes.  Pers.  I,  1,  nebst  Suidas:  yiyovsv 
inl  tmv  xgovmv  'lovativictvov  xov  ßaaiXimgj  vnoygatpBtfg  xgrKiut^aag 
BsXiaagiov  lutl  uTioXovd'og  %atä  navtccg  vovg  avy^ßdvxag  noXi^^ovg  rs 
xal  ngd^sig  tag  in*  avtov  avyyga(pstGag, 


192  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

39  die  Vandalen,  zwar  Anfangs  zagend  vor  den  Gefahren  der  weiten 
Fahrt  und  des  Feldzuges,  aber  durch  einen  Traum  ermutigt^), 
und  Belisar  verwendet  seinen  itägedQog  um  Nachrichten  über 
den  Weg  und  die  Feinde  einzuziehen^).  Auch  nach  Bßlisar's 
Abgang  aus  Afrika  bleibt  er  dort^)  und  veriässt  das  Land  erst 
zu  Ostern  536^);  um  sich  -über  Syrakus  nach  Italien  zu  Belisar 
zu  begeben,  welcher  hier  gegen  die  Gothen  Krieg  führte**^).  Als- 
bald sehen  wir  ihn  im  Dienste  ~des  Feldherrn  neue  Proben  seiner 
Gewandtheit  ablegen^),  und  wenige  Jahre  nachher  ertheilt  er 
aus  seiner  Renntniss  der  Vergangenheit  heraus  Belisar  einen 
gutea  Rath^).  Am  Ende  dieses  Jahres  kehrte  er  ohne  Zweifel 
mit  Belisar  nach  Byzantlon  zurück  und  begleitete  ihn  wohl,  auch 
in  den  Feldzug  gegen  die  Perser,  um  dessen  willen  er  vorgeblich 
aus  Italien  abberufen  wurde  .^);  und  da  Procop  im  J.  542,  als 
die  Pest  in  Byzantion  wüthete,  sich  in  dieser  Stadt  befand^),  so 
musste  er  mit  Belisar  ^^)  dahin  aus  dem  Osten  zurückgekehrt 
sein.  Dass  er  eine  hohe  Stellung  bekleidete,  darauf  weist  der 
Titel  ^IXXovötQiog  hin,  der  ihm  von  Suidas  und  Nicephorus 
(XVII,  10)  ertheilt  wird**).  Da  er  das  328te  Regierungsjahr 
Justinian's  (558 — 559  n.  Chr.)  jedenfalls  noch  erlebt  hat  (die 
Anecdota  und  die  Schrift  De  aediOciis  sprechen  von  dieser  Zeit), 
so  bedarf  es  für  den  Beweis  dass  Procop  das  sechzigste  Lebensjahr 
erreichte  nicht  erst  der  Annahme  dass  der  in  Anecd.  26  erwähnte 
und  der  von  Theophanes  ins  J.  562  gesetzte  grosse  Wassermangel 


*)  Vand.  I,  12.  vgl.  Hist.  inisc.  XVI,  5.  Theophanes,  Anastasius 
und  Zonaras  zum  siebenten  Regierungsjahr  Justinian's. 

8)  Vand.  I,  14. 

^}  Er  war  nicht  an  Belisar's  Person,  sondern  an  dessen  Amt  ge- 
bunden. 

*)  Vand,  II,  14,  p.  474  Bonn,  nach  welcher  Ausgabe  wir  immer 
citieren. 

6)  Vand.  II,  14  extr. 

6)  Goth.  II,  4. 

7)  Goth.  II,  23  (aus  dem  J.  639). 
^)  Goth.  II,  30.  Pers.  II,  14. 

»)  Pers.  II,  22. 

10)  Pers.  II,  21. 

**)  Darin  liegt  wohl  auch  die  Patricierwürde ;  wenigstens  Anecd.  12, 
wo  er  nach  Aufzählung  von  Justinian^s  Unbilden  gegen  den  Patricier- 
stand  fortfährt:  dio  dij  ifioi  rB  xal  xoig  nollois  '^[täv  oväsnoanovs 
^do^av  ovTOi  äv&Qomot  slvai,  würde  für  sich  zu  keinem  sichern  Schlüsse 
berechtigen. 


Leben  und  Schriften.  193 

in  ByzanüoD  identisch   seien  ^).      Diess  ist  Alles  was  wir   über 
Procop's  Leben  wissen^). 

Unter  den  Schriften  des  Procop  nimmt  die  erste  Stelle  ein 
das  grosse  Gesobicbtswerk  in  acht  Büchern.  Als  Inhalt  und 
Gegenstand  gibt  er  zu  Anfang  des  Ganzen  selbst  an:  TLq,  Kccks. 
rovg  xoXaiiovg  l^vvayQai;Bv  avg  'lovözLvtavds  6  'Paikaia^v 
ßaeiksirg  tcqoq  ßuQßaQovg  Svijv&yxs  rovg  rs  i^vg  Tcal  iöna- 
QLOvgj  Sg  Tty  avrdiv  axirtfroi  i,vvrivi%^  ysviöd'Ui^  also  die 
Kriege  welche  unter  Justinian»  Regierung  —  so  weit  als  sie  in  40 
den  Rahmen  dieses  Werks  fällt  —  gegen  die  „Barbaren"  im 
Osten  (Perser)  und  Westen  (Vandalen  und  Ostgothen)  geführt 
worden  sind.  Als  eine  Kriegsgeschichte  wird  es  von  dem  Ver- 
fasser auch  in  seinen  späteren  Werken,  so  oft  er  darauf  zu  reden 
k«mmt,  bezeichnet:  oC  vtcsq  täv  noHfkfxtv  koyot  nennt  er  es 
De  aetlific.  prooem.  I,  1.  10  in.  II,  1.  III,  1.  7.  VI,  5.  6,  und 
in  der  Vorrede  zu  den  Anecd.  eothalten  die  Worte:  oiSa  fihv 
ovv  ^Pca^itov  TcS  yivBi  SvtsjtoXifioig  a%Qi  dsvQO  l^wrivix^V 
yavi&^i  ryda  (aol  daäi'^yijrcci  das  Nämliche  angedeutet.  Und 
da  der  grösste  und  wichtigste  Theil  dieser  Kriege  unter  Belisar's 
Oberbefehl  geführt  worden  ist,  so  ist  wenigstens  nicht  materiell 
unrichtig  die  Auffassung  dieses  Werks  als  einer  Geschiehte  der 
Kriegsthaten  Belisar's,  wie  sie  sich  bei  Evagrius  %  Zonaras,  Georgius 
Cedrenus,  im  Chron.  Vat.  und  sonst  findet.  Aber  dem  Sprach- 
gebrauche des  despotischen  Staates,  wie  ihn  auch  Procop  Pers. 
in.  befolgt  hat,  ist  gemässer  die  Darstellung  von  Niceph.  Call. 
XVII,  10:  facta  Jnstiniani  a  Procopio  Caesariensi  eleganter 
admodum  et  docte  in  temporum  suorum  historia  sunt  conscripta. 
Ohnehin  erzählt  das  Werk  weder  ausschliesslich  Kriege  (z.  B. 
auch  den  Nika  -  Aufstand ,  die  Pest  in  Byzantion  u.  A.),  und  noch 
viel  weniger  blos  die  von  Belisar  geführten  Kriege,  sondern  ist 
überhaupt  eine  Zeilgeschichte,  doch  absichtlich  mit  möglichster 
Vermeidung  der  Darlegung   der  innern  Verbältnisse.     Die  An- 


')  Hanke  p.  153  n.  157  stellt  diese  Annahme  auf.  Vgl.  unten  S.  217. 

')  Dass  er  der  von  Theophanes  erwähnte  TlgOTioniog  vncegxog  des 

J.  562   sei  ist  zweifelhaft,  und  wird  von  Dahn,  Prokop.  S.  452  ff.  mit 

guten  GrSnden  bestritten. 

^)  IV,  12:  yiyQamai,  üffOTioniai  tcS  qtjtoqi  tu  vLaxa  BsXteuQioVy  und 

dann:  qnlonovißxaxa  moiiipcig  xs  xal  Xoyimg  i%xs&sixai  x&  avxm  Hqü- 

wm^m  S  dl}  nin^antat  vno  Bsliaagioi  axQaxriyovvxi  xwnf  hmtov  dwa- 

Hsoav  n.  s.  f. 

Teuf  fei,  Stadien.  13 


194  Der  Gescbicbtsclireiber  Prokopius. 

Ordnung  dieses  Stoffes  ist  in  der  Weise  des  Appianus  vor- 
zugsweise nach  lokalen  Gesichtspunkten  gemaciit:  das  räumlich 
Zusammengehörige ,  auf  Einem  Räume  Geschehene  ist  zusammen- 
gestellt. Vgl.  z.  B.  Vand.  II,  14:  iv  rotg  oniö^i  [loc  Xoyois 
lsHI^€tai  ote  fi€  6  löyos  is  t^^v  'IraXtXfDV  nQayfidtov 
riqv  laxogCav  äyoi.  Aber  dieses  rein  äusserliche  Anordnungs- 
princip  hat  viele  Inconvenienzen  herbeigeführt:  die  Ereignisse 
greifen  nicht  immer  in  einander,  der  Historiker  muss  Lücken 
lassen,  Wiederholungen  begehen,  und  der  Leser  bekommt  zwar 
von  dem  einzelnen  Kriege  ein  lebendigeres  Bild ,  von  der  ganzen 
Zeit  aber  ein  desto  weniger  zusammenhängendes,  überschauliches 
und  einheitliches.  Nur  bei  dem  letzten  Buche  sieht  sich  der 
Verfasser  genölhigt  eine  Ausnahme  zu  machen  und  das  Princip 
der  Gleichräumlichkeit  sich  kreuzen  zu  lassen  von  dem  der  Gleich- 
zeitigkeit; er  erklärt  zu  Anfang  von  Goth.  IV  (oder  vielmehr  Bell. 
VIII),  alles  bisher  Erzählte  habe  er,  so  sehr  es  thunlich  war, 
nach  dem  Schauplatze  der  Ereignisse  geschieden  und  dann  (das 
41  Gleichräumliche)  aneinander  gereiht^);  aber  im  Folgenden  sei 
ein  solches  Auseinanderhalten  nicht  mehr  möglich,  er  könne 
nicht  mehr  das  räumlich  und  stofflich  Zusammengehörige  rein 
halten  von  heterogenen  Elementen ,  sondern  müsse  jetzt  ein  Stück 
persischen  und  ein  Stuck  gothischen  Krieges  in  Ein  Buch  zusammen- 
werfen, und  so  sei  es  unvermeidlich  dass  die  Geschichte  bunt- 
scheckig (noLTcllrj)  werde.  In  dem  zusammenfassenden  Ruckblick 
welchen  Procop  in  der  Vorrede  zu  den  Anecd.  auf  das  ganze 
Werk  de  bellis  wirft  stellt  er  dann  beide  Principien  zusammen: 
er  sagt,  er  habe  das  Bisherige  erzählt  yvceQ  övvatov  iyeyovet 
xäv  TCQdiscov  tag  drjkGiöeig  anä0ag  inl  xulq^v  rs  x/xl 
XG)Qi(ov  imtriSBlGiv  &Q(w0ccfiiva).  Dieser  von  Procop  selbst 
gewählten  Anordnung  entspricht  vollständig  die  Eintheilung 
des  ganzen  Werkes  in  acht  Bücher,  zwei  de  hello  Persico,  zwei 
de  b.  Vandalico,  drei  de  b.  Gothico,  wozu  noch  nachträglich 
das  vierte  hinzukam ,  und  es  ist"  daher  gleichgültig  ob  auch  diese 
Eintheilung  von  dem  Verfasser  selbst  herrührt.     Wenn  diess  auch 


')  oaa  fihv  &XQi  toBäi  fioi  dsdiriyrjtai  t^äs  ^vyyiygantai  ynsg 
dwocTci  iysyovsi  inl  xagiav  i(p*  mv  dr^  xa  ^gya  td  noliiiia  ^vvrjvix^fl 
ysviod'oci  dtsXovti  rs  xofl  aQfioeapbivqi  rovg  Xoyovg.  Vgl.  Vand  II,  14: 
vvv  fkoi  ovx  ano  rgonov  ido^Bv  slvai  ^vfiitavza  dvayQU^dfievov  rd  iv 
Atßvji  ivvsvtx^ivta  oStod  9^  inl  zov  Xoyov  xov  afiqpl  'itaUav  ts  xal 
Fotd'ovg  Uvtti'. 


Bella.   Eintheilung.   Abfassungszeit.  195^ 

nicht  wahrsclreinlich  ist,  da  Procop  selbst  immer  nur  mit  den 
Worten  iv  tots  OTtia^sv  oder  IfiTtQoad'Sv  Xoyotg  auf  die  ein- 
zelnen Theile  seines  Werkes  verweist  und  Vand.  I,  1  von  Mridtxdg 
xoksfLog  spricht,  ib.  II,  14  die  Bücher  vom  gothischen  Kriege 
vielmehr  nach  Italien  benennt  und  die  Vandalica  eher  Aißvxä 
genannt  hätte  ^),  —  so  ist  sie  doch  jedenfalls  in  seinem  Sinne 
gemacht  und  von  ihm  herbeigeführt.  Auch  sagt  schon  Photius  bi- 
bliolh.  63:  IIqoxotcCov  gi^togog  Cötoqitcov  iv  ßtßXiotg  6xr(6, 
Eustathius  ad  IJ.  IV  ciiiari  11  QOXOTCtog  iv  rotg  Atßvxotg  (Vand.), 
und  bei  Niceph.  Call.  XVil,  10  heisst  es:  quatuor  Volumina  is 
(Pr.)  ad  antiquitatis  slilum  accedentia  composuit,  quorum  unum 
Persica  nominavit,  in  quatuor  partes  divisum  opus,  secundum  pari 
divisione  Golhica^).  Diess  ist  die  in  den  Ausgaben  sich  findende 
Eintheilung  in  zwei  Tetraden.  Sie  muss  aber  auf  einem  Miss- 
verständniss  beruhen,  wenigstens  ist  es  nicht  denkbar  dass  Procop 
den  persischen  und  den  vandalischen  Krieg  unter  dem  ge-  42 
meinsamen  Titel  Usgama  zusammengefasst  habe.  In  Betreff  der 
Zeit  der  Abfassung  und  Herausgabe  fällt  das  ganze  Werk  in 
zwei  ungleiche  Theile  aus  einander:  Buch  I  bis  VII.  und  Buch  VIII. 
Denn  zu  Anfang  des  letzteren  nennt  Procop  selbst  die  ersteren 
xovg  koyovg  ovtcsq  ^dr^  i^evex^^f^^^S  navta%6^i  daS'qkGivtat 
t'^g^Pcofiaicov  aQxVSj  spricht  von  ihnen  als  ygäfLiiaOi  rotg  ig  ro 
Tcäv  dsdijXionivotgj  und  sagt:  ixsidr/  rovg  ifLTtQOöd^sv  Aoyovg 
i^ijveyxa,  iv  rpdi  (VIII)  ^ot  rä  Adyco  ndvxa  yeyQa^sxui 
u.  s.  f.  Und  da  die  sieben  ersten  Bücher  unstreitig  uno  tenore 
geschrieben^)  und  herausgegeben  sind,  so  ist  nur  noch  die  Frage, 
wann  jeder  dieser  beiden  Hauptlheile  verfasst  und  herausgegeben 
wurde.  Hiefür  bieten  die  Schririen  selbst  hinreichende  Anhalts- 
punkte.    Keines  der  in  diesen  Büchern  erzählten  Ereignisse  weist 


^)  Vgl.  Qoth.  I  in. :  xu  y^hv  ovv  iv  Aißvy  n^ayfiava  t^Ss  ^PcafiULOis 
i%<aQ7iCBv  und  Eustath.  ad  IL  IV.  Dass  aber  Goth.  I  in.  im  Unter- 
schied von  Vand.  II,  14  von  9roil€fio$  o  Tox&i'nog  die  Rede  ist,  ebenso 
Vand.  I,  1  im  Unterschiede  von  Goth.  I  in.  es  heisst:  oaa  ig  ts  Bav- 
dlXovg  "nal  MavQOvclovg  (nicht:  iv  Aißvrf)  spQyaataiy  kann  nnr  be- 
weisen dass  Procop  überhaupt  keine  festen  Ueberschriften  dieser  Art 
gewählt  hat. 

*)  Von  dem  dritten  und  vierten  völumen  (Aedif.  u.  Anecd.)  wird 
später  (S.  206  ff.)  die  Rede  werden. 

')  Wie  die  unmittelbar  anknüpfenden  Uebergänge  von  Vand.  I  an 
Pers.  und  Goth.  an  Vand.  beweisen. 

13* 


196  Der  Geschichtschreiber  Prokopias. 

über  das  J.  551  hinaus:  Vand.  schliesst  die  umstandlicbe  Er- 
Zählung  mit  dem  19len  Regierungsjabr  Justinian's  (J.  545  —  6) 
und  gibt  über  das  Weitere  nur  eine  summarische  Uebersicht 
(II,  28);  Pers.  erstreckt  sich  bis  zu  Justinian's  23stem  Regieruogs- 
jahre,  also  549—550  (II,  30),  und  Goth.  I— III  geht  bis  über 
das  fünfzehnte  Jahr  dieses  Krieges  hinaus  (iil,  39  extr.  und  40), 
also,  da  in  seinem  neunten  Regierungsjahre  (535 — 6)  Justinian 
den  Krieg  gegen  die  Gothen  begann^),  bis  an  den  Schluss  des 
J.  550.  Die  Erzählung  des  Krieges  mit  den  Persern  schliesst 
(Pers.  U,  30)  mit  dem  vierten  Jahre  des  fünfjährigen  Wafienr 
Stillstandes  (J.  549)  ab,  also  an  einem  Punkte  der  sich  an  sich 
nicht  zum  Abschluss  eignet,  dessen  Wahl  daher  nur  durch  die 
Abfdssungszelt  herbeigeführt  sein  kann  und  bei  dem  es*  wohl 
auch  nicht  geblieben  wäre,  wenn  die  Zeit  der  Herausgabe  des 
Ganzen  eine  Weiterführung  möglich  gemacht  hätte;  wir  werden 
daher  wohl  zu  dem  Schlüsse  berechtigt  sein  dass  die  »leben 
Rücher  gleich  im  J.  550  oder  551  herausgegeben  worden  sind,  ehe 
noch  über  den  weiteren  Verlauf  des  Krieges  mit  den  Persern  in 
Kolchis  bestimmte  und  zuverlässige  Kunde  gegeben  werden  konnte. 
Mit  diesen  Daten  sind  noch  andere  in  diesen  Rüchern  vorliegenile 
in  Zusammenhang  zu  setzen.  Pers.  .1,  25  extr.  ist  angegeben 
dass  in  dem  Augenblicke  da  der  Verfasser  schreibe  Johannes 
4er  Kappadokier  schon  über  zwei  Jahre  in  Gewahrsam  sei^). 
Zugleich  ist  daselbst  gesagt  dass  die  Strafe  für  seine  Verwaltung 
zehn  Jahre  später  als  diese,  d.  h.  dass  sein  Sturz  am  Ende  einer 
43  zehnjährigen  Verwaltung  erfolgt  sei^).  Es  fragt  sich,  wie  Procop 
hiebei  gerechnet  hat.  Er  hat  unmittelbar  vortier  den  Nika- Auf- 
stand (Januar  532)  erzählt  und  berichtet  wie  in  Folge  desselben 
Tribonian  und  Johannes  abgesetzt,  aber  nach  demselben  bald 
iXQ^"^^  vGxsQOv)  wieder  in  ihre  Würden  eingesetzt  worden  seien, 
welche  dann  Tribonian  bis  an  seinen  Tod  bekleidet,  Johannes 
dagegen  im  zehnten  Jahre  nachher^)  durch  Theodora's  Intriken 
wieder  verloren  habe.     Diess   geschah   im  Frühjahre  541,   als 


^)  Goth.  1,5:  ^acilBv^  . .  xa^/aTaro  ig  xov  noKspkov,  ivaxov  ixog 

']  \\.:  xQitoy  xßif^Q  ixog  avxov  ivta^p^a  ^aQ'BdfiuvxBg  xriQPvaiv. 

^)  Imdvvriv  ftlv  ovv  xov  KannadoKT)»  di%u  ivtavxoig  ScxsffOff  avxi^ 
x&v  nsgcQXixsvuBvoiv  %axiXaßs  xCaig, 

*)  8i%axov  ixog  xr^v  iq%riv  ^%(ov,  ib.  p.  130. 


Bella.   AbfasBungBzeit.  197 

Bclisar  bereits  in  d«n  Osten  abgegiinge«  war^y,  nachdem  er  im 
Herbste  zuvor  nach  Besiegung  des  \lltigis  und  Wiedereroberung 
von  Italien^]  nach  Byzantion  zurückberufen  worden  war^);  somit 
wirklich  im  zehnten  Jahre  nach  der  Wiedereinsetzung  des  Johannes. 
Der  Entlassene  und  Verbannte  wurde  in  Kyzikus  Priester;  aber 
auch  dahin  verfolgte  ihn  der  Hass  der  Kaiserin:  als  der  dortige 
Bichof  Eusebius  ermordet  wurde,  suchte  Theodora  den  Johannes 
als  Mitwi^er  in  den'  Process  hineinzuziehen.  Diess  geschah  vier 
Jahre  nach  seiner  Verbannung^),  also  im  J.  545.  Trotzdem 
aber  dass  Johannes'  Schuld  durchaus  nidit  erwiesen  wurde,  wurdb 
er  doch  nach  Antinoopolis  in  Aegypten  in^Haft  gebracht,  lieber 
zwei  Jahre  war  er  schon  dort,  als  Procop  sein  erstes  Buch 
schrieb,  -^  es  ist  also  dieses  ums  J.  548  geschrieben,  was  ganz 
zu  unserer  obigen  Berechnung  stimmt.  Eine  andere  Andeutung 
ist  Goth.  II,  5,  p.  167.  Im  dritten  Jahre  des  gothischen  Krieges^], 
also  im  J.  537»  wurde  ein  römischer  Soldat  Namens  Traianus 
in  die  Stirne  verwundet,  wobei  die  Spitze  des  Geschosses  stecken 
blieb.  Im  fünften  Jahre  nachher®),  also  im  J.  542,  zeigte  sich  44 
von  selbst  die  Spitze  wieder,  und  zu  der  Zeit  da  der  Verf.  diess 
schrieb  war  «s  das  dritte  Jahr  dass  dieselbe  allmählich  immer 
weiter  sich  heraus  arbeitete^).  Somit  hätte  Procop  Goth.  II  schon 
im  J.  545  geschrieben,  was  zu  dem  eben  gewonnenen  Resultate 
durchaus  nicht  passen  will.  Vermittlungsversuche  lassen  sich 
mehrere  denken:  entweder  ist  zwischen  dem  ersten  Erscheinen 
der  Spitze  und  ibne«  weiteren  H6rvorruck<<n  ein  Zeitraum  von 


^)  ibid.  p.  131  f.:  (^BsXiadgtog)  av&ts  inl  Uigcag  iargaTevüs  tijv 
ywcLi%a  iv  Bv^avtiq}  änoXmmv,  vgl.  133,  wo  Antonina  sagt:  iiiXXBiv 
avtC-aa  dr^  (idXcc  ig  ti^v  eo  nagd  !BsXtcccQLOv  atsXXsa^ccif  und  Pers.  II,  14 
p.  215:  (BsXiaaQiov)  otgatriyov  knC  ts  Xocgotiv  nccl  Üigoccg  Sfia  'qgi 
OQXOfiivm  ßaoiXsvg  insfiipsv,  ^ 

<)  Was  nach  Goth.  JII,  80  nach  fünfjähriger  Kriegführung  (von  685 
Ml),  also  wirklich  im  J.  540  erfolgte. 

^)  Pers.  I,  25,  p.  131:  iv  rovrm  BeXiad^ios  'itccXiav  %ccTaatQSilHifiS' 
vog  ßaoiXsC  ig  Bv^dvtiov  ^vv  'Avtcav^vy  xif  yvvttiTil  pLStdnefintog  '^X&sv 
i(p*  CO  inl  nigoocg  atgatevasis  ^  vgl.  II,  14,  p.  215:  BeXiadgiog  ßaoiXsC 
ig  BvtdvTiov  i^  *IxaXCag  (istUTtsiiietog  rjXQ's  xal  avrov  dicc%Hp,daavttt 
iv  Bv^avxCtp  vxQccrrjyov  inl  .  .  Uiqaag  .  *  insfi'fpsv, 

*)  Anecd.  17,  p.  105:  tstgccaiv  iviavtotg  vGzeqov, 

ß)  Vgl.  Goth.  II,  2  extr.  mit  ib.  12  extr. 

^]  nifinxm  votsqov  iviuvzm^  ib.  p.  167. 

^  ib.:  TQ^TOv  xovto  hog  l|  ov  natd  ßQä%^  HegosiCtv  i^m  dsL 


198  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

einigen  Jahren,  worin  sie  ruhig  geblieben,  einzuschalten^),  oder 
ist  anzunehmen  dass  auch  Pers.  I  ursprunglich  ums  J.  545  ge- 
schrieben wurde  und  nur  die  Fortführung  der  Geschichte  des 
Johannes,  bis  auf  die  Zeit  wo  Procop  an  sein  Werk  die  letzte 
Hand  anlegte  und  sich  zur  Herausgabe  anschickte,  erst  später 
(ums  J.  548)  von  ihm  hinzugefügt  wurde.  Auf  eine  ähnliche  Weise, 
scheint  es,  ist  ein  anderer  Widerspruch  zu  schlichten.  In  den 
Anecd.  16,  p.  96  bekennt  Procop  dass  es  ihm  unmöglich  ge- 
wesen sei  Goth.  I,  2  f.  die  volle  Wahrheit  über  Amalasuntha's 
Tod  zu  sagen,  aus  Furcht  vor  der  dabei  compromittierten  Kaiserin 
Theodora^).  Demnach  lebte  Theodora  noch  als  Procop  Goth.  I 
schrieb  und  —  sollte  man  meinen  —  herausgab,  er  hätte  es 
also  vor  dem  Juni  548  geschrieben  und  ediert  haben  müssen. 
Letzteres  aber  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht  der  Fall,  viel- 
mehr erfolgte  die  Herausgabe  erst  nach  Theodora's  Tod ,  dessen 
Pers.  H,  30  extr.  und  Goth.  IH,  30  ausdrückliche  Erwähnung 
geschieht.  Dass  er  aber  nicht  auch  hier  nachträglich  bei  der 
letzten  Bearbeitung  einen  die  Wahrheit  enthüllenden  Zusatz  machte 
war  natürlich,  da  zu  dieser  Zeit  Theodora  noch  in  frischem  An- 
denken bei  Juslinian  stand,  eine  missliebige  Eröffnung  in  Bezug 
auf  sie  daher  besonders  empfindlich  aufgenommen  werden  musste 
und  daher  nicht  rathsam  war^).  Was  dann  endlich  Buch  YHI 
(Goth.  IV)  betrifft,  so  schliesst  es  sich  seinem  Inhalt  nach  un- 
mittelbar an  die  vorhergehenden  Bücher  an  und  führt  den  per- 
sischen Krieg  bis  ins  J.  552  (vgl.  c.  15  extr.),  den  gothischen 
bis  an  den  Schluss  des  J.  553  (c.  35  extr.) ;  und  da  zur  Annahme 
einer  verzögerten  Herausgabe  kein  Grund  vorhanden  ist,  so  wird 
man  diese  wohl  ins  Jahr  554  oder  555  setzen  dürfen.  Das  ganze 
Werk  ist  wohl  aus  allmählich  an  Ort  und  Stelle  gesammel,ten 
Notizen ;  einer  Art  Tagebuch,  entstanden  und  in  Byzantion  ausge- 
arbeitet; für  letzteren  Umstand  scheint  eine  ausdrückliche  Be- 
stätigung zu  enthalten  die  Stelle  Goth.  IV,  31:  ^xov6a  ob  noxB 
45  Hai  xovSb  tov  Xoyov  aTcayyeXXovrog  ^Pcofiaiov  dvÖQÖg  ^vtTca 
inl  'Pdfirig  diatQtßriv  bIxov. 


^)  Dieser  Vermittlang  (durch  mehrjährigen  Stillstand)  stimmt  Dahn 
za,  Prokop  S.  449. 

*)  tva  dfj  fiot  tmv  TCBitQayfiivoiv  innviftovg  noista^ai  rag  altj^siccg 
Sisi  Tfjg  ßcLUiXCdog  ddvvatcc  ijy. 

8)  Vgl  Dahn,  Prokop  8.  460. 


Bella.   Herausgabe.    Quellen.  199 

Welche  Quellen  hat  Procop  für  dieses  Geschichlswerk  be- 
nützt? Vßv  Allem  die  eigenen  Augen.  Er  begründet  seinen  Beruf 
und  seine  Befähigung  zum  Geschichtschreiber  am  Anfange  seines 
Werkes  damit  Sri  avxä  l^v(ißovXip  yQfnidvc)  Behöagip  rcJ  OTQat- 
riyip  exBÖov  xv  ccTCaöt  Tcagayeviöd'at  rotg  xsjtQayiisvotg  l^vve- 
7t€0s}).  Auch  die  von  ihm  beschriebenen  Länder,  Völker,  Gegen- 
stände und  Oerter  hat  er  selbst  gesehen^):  wenigstens  bedauert 
er  in  Bezug  auf  Thule  ausdrücklich  ^)  dass  es  ihm  nicht  möglich 
gewesen  sei  sie  persönlich  zu  besuchen,  so  sehr  er  es  gewünscht 
hätte.  Nächst  seinen  Augen  sind  seine  Ohren  seine  Hauptquelle : 
was  er  nicht  selbst  erlebt  hat,  darüber  hat  er  sich  wenigstens 
bei  Solchen  erkundigt  welche  es  mitgemacht  hatten  oder  sonst- 
her  Kenntniss  davon  haben  konnten^).  Aber  auch  schriftliche 
Quellen  hat  Procop  mit  solchem  Fleisse  zu  Rathe  gezogen  dass 
Agathias  IV,  26,  p.  264  ihn  als  ag  nkatdra  (isfiadT^xota  xal 
Ttäcav  (og  elnstv  IctOQiav  ävaX€^d(i€vop  prädiciert.  Er  that 
es  bei  den  der  Vergangenheit  angehörigen  Partien  seines  Werkes, 
und  die  Hinweisungen  auf  diese  Studien  treten  vielfach  zu  Tage. 
So  Pers.  I,  5  in  Bezug  auf  die  armenische  Geschichte^);  so 
heisst  es  Vand.  U,  10:  äöJtSQ  Sicaatv  (OfioXoyi^taL  o*C  ^oi- 
vlmov  %a  aQ%ai6xata  dvsyQa^avxo^  und  Pers.  U,  12,  p.  208 
wird  in  Betreff  des  Briefs  Christi  an  Abgarus  in  Edessa  gesagt: 
fpaol  .  .  roi;ro  avxov  izetnetv  dg  ovdh  r}  nohg  noxh  ßaQ- 
ßaQOtg  alciötfiog  iaxav.  xovxo  X'^g  iTttOxoXijg  ro  äxQOxaXsvxiov 
ol  iilv  ixsivov  xov  XQOvov  xr^v  [gxoqCuv  i,vyyQd^avxag  ovdcc(ifj 
iyvcDOav^  ov  y&Q  ovv  ov8b  nr^  avxov  iTCSfit/i^ö&Tiaocv,  Arrian 
wird  Goth.  IV,  14,  p.  535  erwähnt,  und  in  ^er  gelehrten  Er- 
örterung über  die  Grenze  zwischen  Asien  und  Europa  (Goth. 
IV,  6)  wird  Aeschylus  und  Aristoteles  eitler t,   von   Herodot  eine 


^)  Fers.  I,  1«  vgl.  Vand.  I,  12.  Phot.  bibl.  36  und  andere  oben 
angef.  Stellen. 

»)  Vgl.  Goth.  IV,  22. 

3)  Goth.  II,  15. 

*)  Vand.  II,  13:  tovrov  tov  civd-gaonov  iym  Xiyovtog  ijiiiovacc.  Goth. 
I,  23:  diei&ccvov  VoT&mv  xQiafivQiov,  tog  avvmv  ot  &q%ovxBq  laxvqC^ovxo, 
ib.  II,  15:  Tcov  Iff  r^iküiq  ivd'ivde  (von  Thule)  iX€pi%oiiiv(ov  InwQ'avoibriv^ 
otnsQ  ifiol  Xoyov  dXrid'ii  '^^  ^^^  ntaxov  iq>Quaav,  ib.  IV,  20.  p.  567: 
driXcoaa}  afcovSaiotarcc  d«ayysXX6vt(ov  axi^xocos  noXXdmq  zmv  r^Ss 
dv9Q<ommv  (von  der  Insel  Brittia). 

^)  ij  xwif  'AQ(t,sv£<ov  tatOQkcc  Xiyst  wechselt  mit  17  t.  *A,  avyyQccqfij 
Xiys^,    Vgl.  De  aedif.  III,  1,  p.  245. 


200  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

ganze  Stelle  herübergenommen.  Aber  er  nennt  seine  Quellen 
fast  nur  wenn  er  von  ihnen  abweicht;  Slrabon  z.  B.  hat  er  fleissig 
46  benützt  und  citiert  ihn  doch  nur  Goth.  IV,  3^);  indessen  ist  unter 
den  ncdai&csQoi  deren  Angaben  aber  den  Pontus  Euxinus  er 
Golh.  IV,  1  vervollständigt  und  berichtigt  wohl  auch  Strabon 
mitbegriffen.  Bei  ihrer  Benützung  wendet  Procop  eine  Genauigkeit 
an  welche  sogar  kleinlich  werden  kann,,  wenn  er  z.  B.  Pers.  II,  5 
anführt  dass  die  Perser  nach  Einigen  einen  Stein,  nach  den  Andern 
ein  Holz  zwischen  das  Thor  und  die  Schwelle  geworfen  haben; 
ebenso  erwähnt  er  Goth.  IV,  32  z.  E.  verschiedene  Versionen 
derselben  Erzählung.  Die  Kritik  die  er  den  Angaben  seiner  Quellen 
gegenüber  übt  ist  eine  rationelle,  apriorische;  so  findet  er  Vand. 
I,  2  die  Darstellung  als  habe  Honorius  selbst  Alarich  herbeige- 
rufen gegen  seine  aufrührerischen  Unterthanen  psychologisch  un- 
wahrscheinlich, und  häufig  kehrt  er  sich  gegen  wunderbare  oder 
mythische  Berichte ^) ,  wiewohl  noch  viel. häufiger,  wie  wir  sehen 
werden,  die  Fälle  sind  wo  er  solchen  Dingen  Glauben  schenkt. 
Einen  eigenen  Vermittlungsversuch  zwischen  Glauben  und  Zweifel 
enthält  Pers.  II,  12,  p.  209.  Nachdem  Procop  berichtet,  warum 
die  Sage  dass  Christus  mittelst  eines  Briefes  den  Edessenern  die  Un- 
einnehmbarkeit ihrer  Stadt  versprochen  habe  unzuverlässig  sei  (was 
Evagr.  IV,  27  mit  Berufung  auf  Euseb.  Bist.  II,  13  bestätigt),  fügt 
er  hinzu:  ich  bin  auf  den  Gedanken  gekommen  dass  Christus,  falls 
sein  Brief  auch  jenes  Versprechen  nicht  enthalten  hat,  doch,  weil  ein- 
mal die  Leute  glauben  er  habe  es  versprochen,  darum  die  Stadt  vor 
Einnahme  beschirme,  damit  man  ihn  nicht  beschuldige  er  führe  irre. 
Procop  nimo^t  unter  den  Historikern  eine  durchaus  achtungs- 
würdige Stelle  ein  sowohl  in  Bezug  auf  die  Gesinnung^)  als  die 


^]  ravvv  ovdaii'^  xmv  ayiitpl  to  Kavaciaiov  oQog  xtogltav  'Afia^ovatv 
ziq  f»,in]pnfj  diaad^staiy  nairoi  %al  ZtQoßoovi  nccl  äkXoig  tial  Xdyoi  dfitp' 
avtatg  nolXol  stgtivtai, 

')  Z.  B.  Goth.  I,  9.  11.  IV,  1:  p^vd'ov  yoQ  ttttogiav  naget  itoXv 
v,B%togCG^cLi  olfiai.  Anderswo  erzählt  er  so  dass  er  stillschweigend  das 
Mythische  beseitigt,  vgl.  Pers.  II,  27  mit  Evagr.  IV,  27,  wo  das  Bild- 
nis« Christi  Wunder  wirkt,  eine  Tradition  die  yielleicht  auch  erat  nach 
Procop*s  Erzählung  entstanden  ist.  Ebenso  vgl.  Pers.  II,  20  mit  Evagr. 
IV,  28,  wo  Reliquien  eine  Schaar  Bewa£fneter  hervorzaubern. 

^)  Wie  er  sie  in  den  Bella  kundgibt.  Die  Uebertreibung  des  Lobes 
von  Justinian  in  den  Aedif.  und  des  Tadels  in  der  Arcana  erklärt  sich 
aus  persönlichen  Verhältnissen  und  beweist  eine  Schwäche  des  Cha- 
rakters die  keineswegs  geleugnet  werden  soll.  Vgl.  Dahn,  Prokop  S.  366. 


I 


Bella.    QuellenbenützuDg.   Freimut.  201 

Darstellung^).  Er  hat  mit  Ernst  und  Redlichkeit  sich  bestrebt 
die  Wahrheit  zu  sagen,  auch  tadelnde  Bemerkungen  freimutig 
ausgesprochen^).  Und  zwar  rögt  er  nicht  blos  das  Treiben  von 
Johamies  aus  Kappadokien,  Tribonian,  Arethas,  Bessas,  Alexander,  47 
Sergius  u.  A.,  so  hoch  auch  diese  schon  standen  durch  Wurde 
und  kaiserliche  Gunst,  hebt  nicht  nur  bei  untergeordneten  An- 
führern ihre  strategischen  Missgriffe  hervor^)  sondern  auch  bei 
Belisar  seinem  Gebieter^),  dessen  schmählichen  zweiten  Feldzug 
gegen  die  Gothen  er  nicht  bemäntelt^),  wenn  er  gleich  die  wahren 
Ursachen  hier  nicht  aufdeckt®).  Selbst  Justinian  gegenüber  hat 
er  gethan  was  er  konnte;  er  stand  unter  einem  Drucke  noch 
schwerer  als  irgend  welche  Censur,  well  er  scheinbar  dem  Schrift- 
steifer vollständige  Freiheit  Hess;  nur  dass,  wenn  er  von  dieser 
seiner  Freiheit  einen  irgendwie  missliebigen  Gebrauch  machte,  dann 
auch  der  Despoftlsmus  seine  unumschränkte  Freiheit  und  Macht 
gegen  ihn  in  Anwendung  brachte.  Erwägt  man  diese  Verhältnisse, 
so  ist  in  Procöp's  Geschichtsbüchern  noch  so  viel  ünverhaltene 
Wahrheit  dass  wir  dem  Schriftsteller  unsere  Anerkennung  nicht 
versagen  können  der  noch  unter  den  Augen  des  bethetligten 
Despoten  öffentlich  so  zu  sprechen  wagte.  Schon  was  er  gegen 
Jttstinian's  Beamte  sagt  trifft  nicht  blos  indirect  den  Kaiser  seihst, 
sofern  dieser  solche  Werkzeuge  wählte  und  duldete,  vielmehr 
war  es  kein  Geheimniss  dass  sie  mit  seinem  Wissen  und  Willen 
so  handelten  und  dass  er  eben  um  ihrer  Charakterbeschaffenheit 
willen^)  sie  erwählt  hatte  und  beibehielt.    Aber  er  wendet  sich  noch 


^)  Vgl.  Photius  bibl.  160:  ügononiog  Sg  sig  fiiya  TiTrjficc  Ttal  Sq>8Xog 
xftv'  iüsivQ  xixi^fov  zag  y^tpccg  cvvza^ag  de^iivrjatov  avtov  %Xiog  rot^ 
anovdoiiotBQOtg  ^ataXiXomsv. 

*)  Vgl.  Prooem.)  wo  er  als  erste  Pflicht  und  Aufgabe  des  Historikers 
die  dXi]9'sia  nennt  nnd  hinzufügt:  xavToi  tot  oi^h  t&v  0%  ig  £ytzv  initTi- 
Ssimv  zd  fi,oxd"rjQd  insTiQvipavro ,  dXXd  td  nä6i  ^wsvsx^i^fx^ ^Tiacea 
d%QtßoXoyov(ASVog  ^wayi^dipato  sÜts  sv  stxs  aXl^j  n^  avroig  et^yaorai, 

»)  Vgl.  Pers.  II,  8.  39  extr.  Goth.  11,  17  extr.  m,  6.  26.  IV,  13, 
p.  625. 

*)  S.  Goth.  I,  26  extr.,  vgl.  II,  8  extr. 

^)  Goth.  III,  35.  Von  seiner  Unbefangenheit  Belisar  gegenüber  ist 
auch  sein  Lob  des  Narses ,  des  Nebenbuhlers  von  jenen ,  ein  Zeugnis«. 

^)  Sondern  Anecd.  5. 

^  Durch  welche  sie  ebenso  gefügige  wie  brauchbare  Werkzeuge 
seiner  Habsucht  wurden;  vgl.  Dahn  S.  384. 


202  Der  GeschichtBchreiber  Prokopius. 

unmittelbarer  gegen  ihn,  rügt  seine  nachlässige  Kriegsführung ^), 
erwähnt  seine  kleinliche  Eifersucht^),  seinen  kläglichen  Wankel- 
mut^), seine  unzeitige  Beschäftigung  mit  theologischen  Dingen^), 
bemerkt  «eine  feige  Nachgiebigkeit  gegen  fremde  Völker  und 
Fürsten,  die  Schnödigkeit  seiner  Verträge^).  Zwar  steckt  ersieh  , 
dabei  gern  hinter  Ändere,  nimmt  die  Miene  an  nur  objectiv  zu 
berichten  was  die  Leute  gesagt  haben  ^),  bescheidet  sich  au,ch  wohl 
48  kein  Urteil  darüber  zjd  haben  ob  solche  Ansichten  begründet  oder 
kurzsichtiges  Unterlhanengerede  seien  ^);  das  sind  aber  doch  wohl 
nur  Praktiken  der  Vorsicht,  die  jeder  Billige  ebenso  sehr  verzeiht 
als  sie  jeder  Verständige  durchschaut^),  zumal  wenn  der  Historiker 
ausführlich  auseinandersetzt  warum  die  Leute  sich  zu  einem  tadeln- 
den Urteil  berechtigt  geglaubt  haben  ^).  Ohnehin  strebt  Procop  auch 
sonst  nach  objectiver  Hallung,  drängt  seine  Person  nicht  in  den 
Vordergrund,  und  spricht  von  sich,  wenn  die  Erzählung  ihn  auf 
sich  selbst  führt,  gern  in  der  dritten  Person,  wie  Caesar.  Wie 
wenig  er  sich  über  seine  ganze  Zeit  Täuschungen  hingibt  erhellt 
schon  daraus  dass  er  Aetius  und  Bonifacius  die  letzten  Römer 
nennt  ^^).  Dass  er  dennoch  nicht  mehr  thut  in  der  freimütigen  Kritik 
seiner  Zeit  war  nicht  seine  Schuld :  nicht  an  seinem  Wollen  fehlte 
es,  wohl  aber  am  Können.  Diess  hat  er  am  besten  dadurch  be- 
wiesen dass  es  ihn  drängte  das  was  er  öffentlich  nicht  sagen  durfte 
doch  wenigstens  in  einer  geheimen  Schrift  niederzulegen,  um  so  der 
Wahrheit  die  Schuld  abzutragen,  die  er  auf  sich  geladen,  indem 
er  in  der  einen  Schrift  nicht  die  ganze  Wahrheit  sagen  konnte, 
in  einer  andern    das  Gegentheil    von  ihr  sagen  musste.      Diese 


^)  Goth.  IV,  26:  X£av  xa  tcqotsqcc  woXsftov  xo^Bb  an7jiJLeX7i(i,ivmg 
dia<psQ(ov  *Iovativiav6g  ßoioiXsvg. 

«)  Goth.  III,  36,  p.  432  f.  vgl.  Pers.  II,  29. 

3)  Goth.  III,  37,  p.  440. 

4)  Goth.  III,  35,  p.  429. 

5)  Pers.  II,  16,  Goth.  IV,  15. 

6)  Vgl.  die  vorige  Anm.  u.  Goth.  IV,  21. 

^)  Goth.  IV,  15:  xal  ei  Simaiav  riva  rj  dXoyiOTOV  inoiovvTO  Ttjv 
(lifiipiv,  old  ys  zmv  ägxopi'ivtov ,  ovn  ^%(o  slitsiv. 

^)  Unbegreiflich  ist  daher,  wie  Schlosser  (Universalhist.  Uebers.  III, 
4,  S.  125)  in  Bezag  auf  diese  Bücher  sagen  kann:  „Justinian^s  Lob- 
redner, der  parteiische  Procopias.'* 

^)  Wie  er  eben  Goth.  IV,  15  thut. 

^®)  Vand.  I,  3.  Aensserlich  betrachtet  er  auch  die  Oströmer  durch- 
aus als  *Pa>fiaiO(  und  nennt  sie  constant  so. 


Bella.    Charakteristik.  203 

Schuld  druckte  ihn  um  so  mehr,  je  klarer  er  sich  bewusst  war 
dass  sein  Wirken  auf  die  Zukunft  gerichtet  sei  und  das  Thun 
und  Urteilen  der  Nachwelt  zum  Theil  von  ihm  abhänge*),  und 
je  tiefer  und  wahrer  seine  Liebe  zu  seinem  Vaterlande  war  und 
sein  Schmerz  über  dessen  unglückliche  Lage.  Dieses  Gefühl  durch- 
dringt sein  ganzes  Geschichtswerk  und  bricht  besonders  lebhaft 
hervor  wo  er  von  den  Erniedrigungen  zu  erzählen  hat  welche 
die  „Römer"  von  den  „Barbaren"  zu  erfahren  hatten 2). 

Procop  bemuht  sich  seine  Darstellung^)  durch  Excurse  und  49 
Episoden,  durch  Einflechten  kleiner  Nebenzöge  ebenso  anziehend 
als  lehrreich  zu  machen.  Mit  einer  Menge  specieller  Züge  und 
Anekdoten,  wie  sie  nur  der  Augenzeuge  zu  liefern  vermag,  hat 
er  sein  Buch  durchwirkt.  Auch  die  vielen  geographischen,  ethno- 
graphischen und  historischen  Erörterungen  sind  ebenso  lehrreich 
für  den  Leser  als  sie  des  Verfassers  Gelehrsamkeit  beweisen;  sie 
sind  zwar  öfter  wie  vom  Zaun  gebrochen^),  nicht  selten  aber 
dienen  sie  zur  Aufhellung  und  Veranschaulichung  der  erzählten 
Ereignisse^).  Je  mehr  er  nach  dem  Ruhme  der  Vollständigkeit 
und  Gründlichkeit  strebt,  desto  weniger  erspart  er  sich  solche 
Einschaltungen^)  und  bemerkt,  wo  er  abkürzt,  ausdrücklich  dass 


^)  Z.  B.  Ooth.  III,  10  g.  £.:  aitccvrccg  imxsivccv  tgonm  Srj  mneg 
i^sji i6t äpLsvog  ^ytoys  tag  rjniata  sni[ivjjaoficci ,  mg  firj  dnav^gatit/ag 
anoXstna}  fivrjiisicc  tm  oniad-sv  jt^oVo).    Vgl.  Anecd.  15,  p.  94. 

')  Z.  B.  Goth.  IV,  11,  wo  er  von  einem  Gesandten  des  Chosroes 
sagt:  aXka  ts  ov%  d^ioloya  tpsgoav  iyakT^fiata  (gegen  die  Römer  und 
ihren  Kaiser),  ivnig  fioi  iieiiivrjö&^vai  ovtov  avayitatov  iSo^sv  elvai. 
Vgl.  ib.  15.  Pers.  II,  15. 

^)  Menander  Protector  verzichtet  in  dieseL  Beziehung  auf  den  Wett- 
eifer mit  ihm:  ov  yotg  ifioi  ys  Swatov  ovSs  ys  ccXloag  nifpvus  d'viiij- 
QBg,  toeccvffj  Xoyoav  duttvi  trjv  ifiavtov  d'QvakXiSa  dvxavaG%Btv  (p.  433, 
nro.  27,  ed.  Bonn). 

^)  Vgl.  z.  B.  Goth.  IV,  22  über  die  Lage  der  homerischen  Insel  der 
Kalypso. 

5)  Goth.  IV ,  1 :  ontog  xotg  tdds  dvaXsyofiivoig  ^nSriXcc  tu  inl  Aa^i- 
KTJg  %mqlu  ^oxai .  .  xal  fti}  VTikg  tmv  dtpccvmv  GtpifSiv  tognBQ  ot  amiafioc- 
XOvvTsg  BiaXiyBG&ai  dvayud^mvzai ,  ov  fioi  äno  hcciqov  ^So^sv  stvcci 
dvayqdipaG^ui  ivtayd-a  xov  Xoyov  ovziva  diq  tqonov  ävQ'gmjeoi  ol%ovai 
zov  sv^sivov  yiaXovfievov  novrov.  Minder  klar  ist  das  Goth.  1 ,  15  über 
die  Geographie  von  Italien  Auseinandergesetzte. 

^)  Goth.  IV,  20,  656  f.:  indvayyiig  fioC  iatt  Xoyov  fivQ^oXoyioi  ifitpe- 
Qsatdtov  imiiVfjod'TJvaL  ,  ,  mg  firj  zu  yB  u(i<pl  BgizzCff  zij  vqaat  uvu- 
yQUfpopifBvoi  dyvoiug  zivog  xmv  xrjSs  ^vfißuivovxmv  dii^VBHmg  dxBviy- 
%ui(it  do^uv. 


204  Der  Gefscfaichtechreiber  Prokopios. 

er  es  mit  Absiebt  thae  ^).  Eine  zweifettiaftere  Zierde  sdner  Dar- 
stellung sind  die  cablreicben  Reden  welche  er  nach  tradilioneüer 
Manier  seiner  Geschichtserzahlung  einverleibt.  Bd  jeder  Gelegen- 
heit, Tor  jeder  Schlacht,  hei  jeder  Verhandlung  kommen  die 
obligaten  Standreden  und  fingierten  diplomatischen  Actenstücke, 
zwar  meist  in  bescheidener  Ausdehnung  und  oft  auch  den  Um- 
standen angemessen,  aber  im  Ganzen  doch  über  Einen  Leisten 
geschlagen,  reichlich  gespickt  mit  Gemeinplätzen  und  Reflexionen 
ober  specielle  Verhältnisse  wie  über  ganz  allgemeine  Dinge.  Es 
mag  kommen  wer  da  will»  Grieche  oder  Barbare,  die  Gemein- 
plätze bekommt  er  in  Mund  oder  Feder,  &e  mögen  flin  würgen 
50  so  arg  sie  wollen ;  das  wasserfarbene  Kleid  des  Rhetors  wird  ihm 
angezogen,  es  mag  ihm  passen  oder  nicht.  Einer  der  stärk- 
sten Fälle  dieser  Art  ist  Goth.  IV,  12,  wo  ein  römisdier 
Soldat  eine  lange  Rede  voller  Sentenzen^)  an  die  Akropolis  von 
Petra  hinaufscbreit  Abgesehen  von  dem  Unpassenden  ihrer  Stel- 
lung sind  übrigens  diese  Sentenzen  der  Beachtung  nidit  unwürdig; 
namentlich  findet  sich  unter  ihnen  manche  feine  und  treffende 
psychologische  Bemerkung.  Beispielsweise  erwähnen  wir  Goth.  iV, 
15,  p.  537.  Hier  wird  erzählt  wie  Justinian  sich  dazu  verstanden 
habe  den  Persern  für  die  Bewilligung  eines  fünfjährigen  Waffen- 
stillstandes 2000  Pfd.  Gold  zu  bezahlen;  diese  Summe  habe  er 
Anfangs  auf  die  fünf  Jahre  vertheilen  wollen,  sei  aber  davon 
abgekommen,  damit  es  nicht  scheine  als  zahle  er  Tribut.  Hierzu 
bemerkt  Procop:  tä  yuQ  alß%Qa  ovofuiraj  ov  ra  nQayfuxxa 
sldd'aOtv  av^Qtonot  ix  roi)  iici  xXbZ^xov  aüfxvvs0^t,  — 
die  schlagendste  Kritik  von  Justinian's  Handlung. 

Der  Stil^)  von  Procop  ist  zwar  klar,  trägt  aber  starke  Spuren 
seiner  Zeit  an   sich;  er  hat  das  Preäöse,  Geschraubte  und  Ge- 


*)  Vand.  I,  7:  pa&ilsit  «ttl  aXloi  tv  x^  i^ntgta  ysyovatfi^,  mtwn^ 
za  ovoficcta  i^B^iCTOiisvog  mg  ^xicta  inißvijaofiai.,  XQ^^^  ^^  7^  ^^' 
toig  ti  afjxi  olfyov  xiva  inißimwai  ««l  ehr'  avxöv  loyov  S^wp  ovShf 
nBft^axivht  fvrisrsirs. 

*)  Z.  B.  apdyxij  ovdl  aya^^g  xivog  ilxiSog  xvxovüa  x^  ixipCttp 
ixipBvysi  dixaCag  ^v  %al  xmv  igyav  intßdlrixai  xd  alcxifoxattt. 

')  Vgl.  die  Urteile  von  Alemannos:  Prooopii  formain  dicendi  si  spe- 
ctes  ea  sopbisticis  comta  est  lonociniis  atticiaque  leporibas  ad  ostentatio- 
nem  inairacta.  Sigonios  de  hist.  rom.  c.  33:  mediocri  0tilo  hc  plane 
naturali  dictionis  qaae  aaiaticae  propins  est  qaam  atticae;  Balttt. 
Bottifacins  de  rom.  scriptor.  c.  33 :  propior  est  asiaticae  redondanliae 
qaam  atticae  copiae,  neque  tamen  verbosns  nimium. 


Bella.    Charakteristik.    Sprache.  205 

blähte  des  .späteren  Heiienismus.  Er  sagt  nie  einfach:  TÖd^ 
iyi'uato,  sondern  regelmässig  rode  y€VE6^a$  ^vvijvix^  ^^^^ 
livvBJt£ö€,oder  ^vvsßri  oder  rsTvxri^s;  nicht  ßov^o^ai^  sondern 
ßovkoiiBvq)  [wi  iiSiftv;  er  liebt  hyperbolische  Wendungen  wie 
den  Superlativ  (z.  B.  ^veteStatog^f  0q)ccXs^cixatog)  mit  axävtcov 
äv%Q(6n(0Vj  oder  den  Ausdruck:  iöxaza  i6%at(QV  xcsxä  TCcksjfyv^i 
(Golh.  IV,  14).  In  lexikologiscber  Hinsicht  stdbert  er  allenthalben 
poetische,  pikante,  gewählte  Schriftausdrücke  auf  und  rerwendet 
sie  wie  ordinäre;  es  ist  der  überreizte  Gaumen  der  späteren  Zeit, 
dem  die  einfache  gesunde  Kost  nicht  behagt.  Von  dieser  Art 
sind  Ausdrücke  wie  XtitaQBtv^  o^av^  aim%aix{t,Btv  ^  n6vm  6fte- 
keZv,  äxQaxtog,  ^«^og  (sedes)  und  viele  andere.  Was  das  Gram« 
matische  betriilt,  so  hat  die  Reinheit  des  attischen  Dialekts  viel- 
fach Noth  gelitten:  für  dea  richtigen  Gebrauch  des  Artikels  ist 
das  BewusstseiQ  verloren  gegangen,  idv  wird  unzählige  Male 
mit  dem  Optativ  verbunden, '  die  Präpositionen  der  Ruhe  und 
die  der  Bewegung  werden  durch  einander  geworfen,  andere 
haben  ihre  specifische  Bedeutung  eiogebüsst^),  die  natürliche  51 
Stellung  der  Worte  wird  mit  Afiiectation  zerrissen^),  der  Dialekt 
durch  eine  Menge  von  lonismen  getrübt.  Hiehei  scheint  der 
Einfluss  von  Herodot  bedeutend  mitgewirkt  zu  haben ;  denn  diesen 
copiert  Procop  in  den  kleinsten  Eigenthümlichkeilen ,  in  Liebliogs- 
wdrtern  wie  xatoQQadatVj  l^vvexv^rias^  ^vvrj^  g)LXst  {=  etcad'e)^ 
nsQl  kö^fav  &q>äg^  u.  A.,  in  der  Gewohnheit  die  kleinste  Mit- 
theilung  mit  einem  Epiloge  zu  schliessen,  wie  taika  [ihv  ovv 
tyda  ijipiQft(fi^¥^^  und  damit  den  Uebergang  zu  machen  zu  einer 
neuen,  in  der  Sitte  zweifelhafte  Erörterimgep  abzuschliessen  mit 
der  Weiidung:  aXla  neifi  xovtmv  (ihv  ixä6tp  oxy  g>llov  ravty 
Xoyi^dvcD  u.  dgl.,  aber  auch  in  Bedeutenderem,  in  der  Anlage, 
in  dem  episodenreichen  Gange,  in  der  fatalistischon  Auffassung 
des  jEusammenbanges   d«r  Ereignisse^).     Aber   ehe   wir   diesen 

^]  Z.  B.  naQcc  xiva  iivai  regelmässig  in  dem  Sinne  von  rcgog 
xiva;  für  das  Andere  vgt  z.  B.  Goth«  IV,  16:  ig  tmv  if^v  zag  vnsQ- 
ßoXag  ri6v%j^  ifbsvsv.  Aber  Schnitzer  wie  das  bei  Theophanes  regel- 
mässig Torkommende  'qXd'SP  iv  Kmvatavtivovnolsi  finden  sich  bei 
Procop  nicht. 

')  Vgl.  z.  B.  Goth.  III,  1  g.  E.:  %a^  novs  avtov  rotd-tav  satiavTa 
ttiQfjaag  tovg  ugimovg  vj  inißovX^  ine%9{0i^0'8v;  ib.  lY,  33:  wxiva  ^ 

')  Vgl.  Schlosser,  Universalhist.  Uebers.  III,  4,  S.  108:  Procopios, 
der  sich  in  der  Breite  des  Herodotus  gefällt,  die  bei  seinem  naiven 


206  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

charakteristischen  Punkt  von  Procop's  Weltanschauung  näher  be- 
sprechen, müssen  wir  auch  auf  seine  übrigen  Schriften  einen  Blick 
werfen. 

Dass  die  Schrift  de  aedificiis  (tceqI  xriöiidtcav)^)  nach  den 
Büchern  De  bellis  verfasst  ist  geht  aus  der  häufigen  Anführung 
dieser  in  jener  mit  unfehlbarer  Gewissheit  hervor;  dass  auch 
nach  Herausgabe  des  letzten  (achten)  Buches,  beweist  Aed.  III,  7, 
p.  261:  fJTtBQ  ftoe  anavxa  iv  totg  vtcIq  täv  noXsiiav  dedTJ- 
Xcotccc  Xöyoig^  Iva  d^  xal  tovto  ^ot  dsdi^^yritai^  dg  .  •  q)QOVQia 
ovo,  EsßaOtovjcoXCv  re  xal  Ilixvovvta^  xa^elXov  ^Po^Latoi 
XoOQoriv  äxov0avT€g  CtQarevfia  Oriklaiv  ivravd'a  diä  öitov- 
d^g  i%siv  tovg  rä  q>QOVQia  tavza  xa^iijovtag.  Diess  bezieht 
sich  auf  Goth.  IV,  4,  p.  473  f.:  q)QOVQia  d6i(iäii£vot  dijo, 
UeßaCtonokiv  xa  xal  Ilixovvxa^  ,  .  q)Q0VQäv  ivxavd'a  6xQa- 
xicoxäv  xo  ii,  aQx^g  xaxeöxijaatno  . . .  XoöQorig  .  •  axQcixsvna 
JlsQöciv  ivxavd'a  Oxikkevv  iv  öTtoväfj  iois  xovg  xa  xa  q)QOVQia 
52  xavxa  xad'i^ovxag  .  .  .  anag  inal  oCPatfiatoi  OxQaxiäxai  hqo- 
liadatv  toxvöav,  itgoxriQrfiavxag  xag  xa  olxCag  ivaTtQrjöav  xal 
xa  xaC%ri  ig  x6  iSaq>og  xadakovxag  ig  .  .  TQaTca^ovvxa  icökiv 
i%(aQTfi6av.  Eben  diese  beiden  Castelle  wurden  dann  später 
wieder  aufgebaut,  nach  Aedif.  1.  1.  Also  wüssten  wir  dass  die 
Schrift  nach  dem  J.  555  verfasst  ist.  Aber  sie  ist  auch  nach  dem 
J.  558  geschrieben;  denn  IV,  9,  p.  297  f.  ist  darin  erzählt  wie 
Justinian  den  Wiederaufbau  der  langen  Mauern  und  von  Selymbria 
habe  besorgen  lassen,  was  Theophanes  1;  p.  362  Bonn,  in  die 
Zeit  von  Ostern  bis  August  des  J.  d.  W.  6051=558  n.  Chr. 
setzt.  In  dieses  Jahr,  spätestens  den  Anfang  559,  muss  die  Ab- 
fassungszeit (und  Herausgabe)  fallen,  da  das  Werk  den  am  7.  Mai 
559  erfolgten  Einsturz  der  Sophienkirche  noch  nicht  kennt  ^). 
Die  Absicht  Procop's  bei  der  Schrift  war  wohl,  seine  dem  Kaiser 
verdächtig   gewordene  Loyalität  zu   beweisen    und    dadurch    die 


Muster  nie,  bei  ihm  aber  zuweilen  sehr  lästig  wird.  S.  112:  Procop, 
der  mit  Zahlen  ebenso  freigebig  ist  als  sein  Vorbild  der  Altv^ter  Herodot; 
vgl.  S.  115.  117,  wo  Beispiele  von  PrÖ€op*s  übertriebenen  Zahlenangaben 
aufgeführt  werden. 

^)  Niceph.  Call.  XVII,  10:  tertium  (opus)  Aedificia  inscripsit,  magni- 
fice  admodum  commemorans  quae  opera  Justinianus  construxerit,  templa 
scilicet,  regias,  oppida  et  urbes,  pontes  atque  alia  ad  publicum  usum 
spectantia. 

2)  Dahn,  Prok.  S.  38. 


De  aedificüs.  207 

drohende  Lebeosgefalir  zu  beseitigen').  Der  Inbalt  ist  nSmiicfa 
ein  Panegfrikus  auf  Justinian,  der  freilieb  den  schlagendsten 
fieneis  liefert  wie  schnierig  es  theils  objecliv  uud  an  sich,  tbeils 
besonders  nie  schwer  es  dem  Procop  wurde  einen  solcheo  zu 
lierern.  Er  preist  den  Kaiser  wegen  seiner  Milde,  er  nennt  ibn 
(prooem.  p.  172)  Jtat^if  äg  ^ittog,  aber  er  führt  hiefür  Nichts 
an  als  nag  er  schon  Goth.  III,  32  erzählt  hat,  seine  Hilde  gegen 
den  Verschwörer  Artabanes,  deren  MoÜve  wir  nicht  kennen;  er 
rühmt  seine  Tbatigkeit  für  die  Zusammenstellung  der  Gesetze, 
seine  Wirksamkeit  für  die  Vergrösserung  des  Reiches,  und  wendet 
sich  dann-  zu  dem  Punkte  den  er  zum  Gegenstände  seiner  ganzen 
Schrift  machen  will,  zu  Justinian's  Bauten:  Saa  air^  äya^ 
olxodonovfiäva  äeSTjuiovQyijTai ,  diess  ist  das  Thema  der  Schrift. 
Er  beschreibt  zuerst  Uuch  I  die  von  Justinian  in  Byzantion  und  Hes- 
sen Umgegend  ausgeführten  Neubauten  and  Reparaturen  (worunter 
z.  B.  die  Sophienkirclie] ,  sodann  tä  ^v^ara  olgatQ  tag  ea^tmas 
jtEQidßaXe'Pcafiaiav  T^g/^g,  und  zwar  fängt  er  dabei  im  Osten 
au  und  geht  von  da  mit  seiner  Aufzählung  in  der  Hicblung  von 
Süden  nach  Norden  weiter;  zuerst  das  an  der  persischen  Grenze 
Gebaute  {&.  II),  dann  das  in  Annenien  und  an  der  asiatischen 
Küste  des  schwarzen  Meeres  Geleistete  (B.  III);  B.  IV  Europa, 
wobei  mit  Justinian's  Vaterland  Illyrien  begonnen  wird,  B.  V  den 
ftest  von  Asien ,  Ephesus ,  Bithynien ,  Galatien ,  Kappadokien, 
Kilikien,  endlich  B.  VI  Afrika,  Sardinien,  Gades  u.  dg).  Aber 
wie  lasst  sich  diesen  Sachen  eine  panegyrische  Seite  abgewinnen! 
Procopius  gebraucht  den  Kunstgriff,  Alles  was  unter  Justinian's 
Regierung  aus  Staatsmitteln  irgendwo  gebaut  worden  ist,  der 
Theorie  des  despotischen  Systems  gemäss,  als  vom  Kaiser  selbsl 
ToHrührt  darzustellen.  Er  sagt  p.  172:  ravvv  ial  rag  oixo- 
Sofiiag  ToiiTOv  S^  tov  ßaeiXimg  ^(itv  triov,  tag  (i^  untdzSv 
rp  TS  ai.ij&£i  xal  lä  fiey^&ei  fg  tiv  ^itta&ev  %(f6vQV  Tolg 
avzag  ^eatfiivotg  ^vftßaii]  Srt  Äij  ävSpog  Ivdg  Iqy"'  tvy- 
%ävEi  ovTa,  und  IV,  1  heisst  es:  ^vjj^s  {leyd&si  6 ßaaiÜEvg  B3 

')  Dahn,  Prokop  S.  356  ff.  macht  liiegegen  die  Zeiteotfernang; 
zwischen  der  Herauegabe  der  Bella  und  der  AbfaBsntig  der  Aedif.  gel- 
tend and  Dimmt  als  Aalaas  za  letzterer  vielmehr  einen  ,,directen  BefeM 
JuBtinian's"  an,  „welchem  zn  trotzen  Frok.  nicht  den  Uut  hatte",  den 
er  aber  nnr  widerstrebend  befolgte;  „er  schrieb  das  bestellte  Lob  gegen 
seine  Ueberzeugnng".  Dafür  wird  (8.  319)  besonders  Aedif.  I,  3  p.  183  ' 
angerührt  (toöio  xal  avti  ßatulet  l^tTHtnänt^a  ßovlotihm  [Ivai). 


I 

4 


208  Der  Gescliiohtöclireiber  Prokopius. 

Ottos  td  te  «AA«  4g  elicstv  anavxa  xal  tä  ig  tag  olTioSoniag 
ovädv  t^  '^isaov  l&yov  dtaninQccmcck  x(fsi00(o.  Diese  Theorie 
ist  in  der  Schrift  mit  solcher  Consequenz  durchgeCQhrt  uod  so 
auf  die  Spitze  getrieben  dass  sie  dadurch  gleichsam  ad  absurdum 
geführt  ist;  denn  es  kann  unmöglich  einen-  ernsthaften  Ein- 
druck  machen  wenn  I,  1  der  Historiker  sagt:  iirixccvats  noXXatg 
ßaOiXsvg  rs  'lovouv^avög  xal  ^Av^i^iog  6  (irixavoTCOiog  0vv 
rä  *l6iSciQ^  ovxfo  drj  yL^xBo^loiuvriv  fqv  ixttia^^ütv  iv  t^ 
ci6g>aXat  dtsTtQal^avro  alvat,  oder  III,  2:  ßaoUsvg^IotJ^tivucvdg 
iicsvoBi  vdSs '  Tov  nsQißoiov  ixrog  tiqv  y^v  öio(fv^ag  d'SfiiJUd 
te  tavty  ivd^siiavog  tslxt^fia  dxodofiij^atQ  u.  dgl.,  wodurch 
die  kaiserliche  Wurde  thatsächlich  ironisiert  wird.  Freilich  wenn 
einmal  Justinian  durchaus  gepriesen  sein  musste,  d.  h.  wollte, 
so  war  die  Wahl  gerade  dieses  Gegenstandes'  sehr  gläckiich  ge- 
griffen: man  konnte  das  Geleistete  preisen  ohne  auf  die  Person 
des  Urhebers  näher  einzugehen,  ohne  seine  entschiedenen  und 
grossen  Fehler  berühren  oder  gar  bemänteln  zu  müssen ,  man 
konnte  sich  in  die  Wirkung  vertiefen  ohne  nolhweniig  der  Ur- 
sache näher  ins  Gesicht  zu  sehen,  ja  man  eröffnet«  auch  durch 
eine  rühmende  Aufzählung  jedem  Denkenden  die  Perspectife  auf 
jene  Fehler.  Denn  wenn  der  Kaiser  so  ungeheurcSumaien  yer- 
baute,  so  lag  die  Frage  nahe:  wie  kam  er  zu  dem  nötbigen 
Gelde?  So  zog  sich  Procop  noch  leidlich  ans  der  Schlinge  in 
welcher  er  entweder  seine  Ehre  oder  seihe  Existenz  zurücklassen 
zu  müssen  schien.  Aueh  die  gßnze  Behandlungsweise  liefert  den 
Beweis  wie  wenig  von  innerer  Betheiligung  des  Schriftstellers 
dabei  die  Rede  sein  kann.  Das  Lob  ist  so  dick  aufgetragen  dass 
es  aussieht  als  fürchtete  der  Verfasser  seine  wahre  Gesinnung 
möchte  himlurchblickeii,  und  als  wollte  er  diese  mit  immer  neuen 
Lagen  Lobes  zudecke  und  übertäisdien;  und  dann  ist  es  anderer- 
seits doch  so  kahl  itnd  kühl,  so  arm  und  einförmig,  so  trivial 
und  langweilig  wie  es  bei  der  geringsten  Theilnahme  des  Ver- 
fassers nimmermehr  hätte  seia  können.  Ewig  kehrt  dieselbe 
Wendung  wieder:  es  ist  zu  schön,  zu  gross,  zu  herrlich,  als 
dass  man  es  ausdenken  und  beschreiben  könnte,  und  daneben 
die  allepschaalsten  Bezeichnungen.  Das  Prooemtum  dreht  sich 
immer  im  Kreise  herum,  ohne  von  der  Stelle  zu  kommen,  und 
gleich  I,  1  heisst  es  in  der  Beschreibung  der  Sophienkirche: 
svQog  avt^g  xal  (lijxog  ovt<Dg  ip  initudsi^  an:otet6QV6v- 
tat   (Sgts   Tüxl   xj^Qij^Tix^g   xai    oXwg   svQeta   ovx    und 


De  aedificiis.    Anecdota.  209 

tQOJCOv  elQiq6exaiy  TcdXlsi  äh  d(ivd'7Jtci  d7C06£(ivvv£tai, 
ib.  3:  rov  vedv  ovdi  dvofiaOtv  STCcc^ioig  ovllaßetv  QaSiov 
ovdl  SiavoCa  0xiayQaq)ijaai  ovds  dcatlfid'VQiöai  rc5  ^oyoD, 
Weiterhin  heissl  sie  vsdg  ovx  Bvötr^yritog^  und  von  Tbeodora 
wird  I,  11  gesagt:  a'dtiqg  tiiv  sviCQiTCSiav  loycD  rs  q)Qd6aixal 
ivSdKyiari  dTtoiiiiietöd^aL  dv^QcijtG)  ye  ovxi  TcavtdTCaOtv  d^irj-  54 
Xccva  ifi/.  Dieses  geschraubte,  aufgeblasene  Wesen  bei  inner- 
licher Hohlheit  und  Luge  charakterisiert  den  Ton  der  ganzen 
Schrift.  Wenn  man  von  den  Bella  her  an  diese  herankommt 
merkt  man  alsbald  einen  wesentlichen  Unterschied.  Es  weht  ein 
kalter  Wind  aus  dieser  Schrift  entgegen.  Zwar  warm  sind  auch 
die  Bella  nicht:  zu  viel  Blut  ist  abgelassen,  zu  viele  Gedanken 
sind  unterdruckt,  zu  viele  Empfmdungen  verhalten,  als  dass  sie 
das  sein  könnten;  aber  man  fühlt  doch  die  Pulse  schlagen,  und 
ein  feineres  Ohr  hört  das  Herz  pochen ;  dagegen  in  dieser  Schrift 
ist  Alles  unnatürlich.  Alles  erzwungen,  es  sind  hölzerne  Beine 
auf  denen  einherstolziert  wird,  es  ist  Flittergold  was  hier  um- 
hängt. Und  am  Ende  wird  dem  Verfasser  selbst  die  umgenom- 
mene Maske  lästig,  er  wirft  sie  ab,  und  die  Söhrift  verläuft  in 
eine  nackte,  dürre,  trockene  Aufzählung,  der  Panegyrikus  wird 
zum  Register.  Das  Biographische  verschwindet  ganz,  die  Schrift 
wird  zu  einer  geographischen  und  erstrebt  und  erhält  dadurch 
allein  Werth  und  Bedeutung.  Der  Verfasser  schliesst  daher 
auch  sein  Werk  (VI,  7)  mit  den  Worten:  o6a  fiiv  ovv  rc5v 
^lovöTiviavov  olxoöoiAi]fidtc3v  [lad'ctv  Üöxvöa^  ^  avtozrrjg  yeye- 
vi][iivog  ij  tfSv  d^safSafisvaiV  avxTJxoog  *) ,  o0ri  dvva^ig  reo  Xoyo) 
iz'^l^ov,  i^sn:i0raiiat  dh  dg  noXXd  [i€  xal  akla  naQrlK^Bv 
elnstv  i}  o%lfp  Xad'ovta  rj  navxd%a6iv  Syvoota  ^eCvavra, 
ßgrs  Srco  did  önovd'^g  lötat  SiBQ6vvri<Sa0%aC  zs  anavta  xal 
Tca>  koyGi  ivd'stvaL ,  JCQogs6tai  avxä  rd  diovxa  Tcenonfixivai  xal 
q)iloxdlov  xXdog  dn:svsyx6tv'^).  Von  entgegengesetzter  Art  ist 
die  Schrift 

Anecdota  (oder  historia  arcana).  Diese  Benennung  be- 
stätigt Suidas,  indem  er  von  Procop  sagt:  iyQa^s  xal  bxbqov 
ßißXiov,  xd  xaXov(iBva  ^Avixdoxa  xäv  avxov  (Justinian's)  ngd- 


^)  Vgl,  II,  4,  p.  221:  onsQ  fiol  xar*  «Qxdg  dya(iivw  xal  töiv  inie 
%oiq{iav  dvanvv&avoykivao  .  .  dnrjyyfXXov  tivsg.  Bei  Dingen  weich- 
weit über  seine  Zeit  hinauslagen  beruft  er  sich  III,  1.  IV,  1  auf  of 
tmv  t^xoQicov  dvayQail>dfi€VOt  td  dgxaioxccta, 

*)  Vgl.  meine  Römische  Literatur- Gesch.  33,  6  E. 
Teuf  fei,  Studien.  14 


210  Der  GeBchichtschreiber  Prokopius, 

^scav^  dg  slvcci  diig>6TaQa  tä  ßißkia  ivvia.  tb  ßißXCov  77po- 
xoxiav  rö  xaiovfievov  ^Avixdora  ilfoyovs  xccl  xfoiiciSiag 
7ov6tiviavav  rov  ßacikdmg  negiixai,  xccl  r^g  a'ötov  yvvccixög 
&BodciQag^  dkkä  (if^v  xal  avtov  BsliOagiov  xal  x'^g  fanev^g^ 
airov.  Diess  ist  die  einzige  beslimaite  und  durchaus  richlige 
55  und  wirkliche  Kennlniss^)  beweisende  Nachricht  welche  wir  aus 
dem  Alterlhume  selbst  über  dieses  Werk  haben.  Denn  was  Niceph. 
Call.  XVII,  10  sagt  (quartum  opus  retractallo  est  orationum 
quas  apud  JusUnianum  laudibus  eum  vehens  habuit  quasi  quae- 
dam  palinodla  seu  recantatio  minus  rede  ab  eo  diciorum)  verräth 
oflenbare  Unkenntniss  und  kann  nur  auf  Hörensagen  und  Miss- 
verstandniss^)  beruhen.  Es  scheint  dass  Procop  die  Schrift  ver- 
borgen hielt  so  lange  er  lebte ^j,  und  nach  seinem  Tode,  wenn 
dieser  vor  dem  des  Juslinian  erfolgte,  oder  auch  unter  Justinian's 
Enkd  Justin,  mochte  Niemand  darauf  hinweisen  oder  von  ihrem  Vor- 
handensein wissen.  Erst  der  römische  Bibliothekar  Nico!.  Alemannus 
entdeckte  zwei  Handschriften  davon  in  der  Vaticana  und  gab  sie 
(Lugd.  fi.  1623)  heraus  mit  einem  sehr  gelehrten  und,  so  weit 
nicht  das  Interesse  der  römischen  Curie  ins  Spiel  kommt,  unpar- 
teiischen Commentar,  an  welchen  sich  im  J.  1654  (Ileimstädt)  der 
noch  ausfuhriichere  von  Job.  Eichel  anreihte,  der  sich  zur  Aufgabe 
machte  Procop's  Angaben  zu  widerlegen,  was  er  tlieilweise  mit 
Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit ,  immer  aber  mit  Leidenscliaft ,  durch- 


<)  Suidas  führt  auch  viele  Stellen  aus  den  Aneed.  an,  worunter 
einige  die  sich  in  unsern  Handschriften  davon  nicht  finden,  wie:  Xifxv 
y€C(f  ig  ccixiiv  "^  GBoSoiga  TjygiaivsTO  ttccl  iasaiJQBt  und  fiT^xi^  91  rSv 
Ttvoff  iv  9^vfi4lfj  nsTtOQVBviiivaiv.  Vgl.  Orelirs  Ausgabe  p.  436 — 442. 
Doch  gilt  diese  Kenntniss  keineswegs  nothwendig  von  der  Person  des 
Suidas,  sondern  nur  seiner  Quelle. 

')  Nicephorus  hat  den  Ausdruck  iloyot,  welcher  auch  von  Geschichts- 
werken gebraucht  wird  und  auf  die  Schrift  De  aedific.  sich  beziehen 
kann,  nicht  verstanden. 

^)  Dass  aber  die  VeröflFentlichung  ili  seinem  Willen  lag  geht  hervor 
z.  B.  aus  c.  15,  p.  94:  tlg  rcov  nargiKiaiV  J.  oinsQ  iy&i  ro  evo(ia  i^s- 
7ei9T€i(isvog  mg  fj^tista  intuvrjüofiui ,  (og  fii^  dniguvTOV  triv  ig  avTov 
vßQiv  nonqaaiLai,  Vgl.  die  Vorrede:  of  vvv  avd'gatnoi  Sai^fioveütatoi 
ftd^xv^sg  tmv  nQa^Emv  ovvsg  a^ioxQSco  nagaieofinoi  ig  tov  ^nsira 
XQOVOV  t^g  vnhg  uvz^v  nioxstog  ieovrai.  Denn  beglaubigen  können 
sie  doch  nur  eine  Schrift  die  sie  kennen.  Da  jedoch  Agathias  durch- 
aus Nichts  von  der  Schrift  weiss,  so  scheint  es  dass  sie  auch  nach 
dem  Tode  Procop^s  noch  geheim  gehalten  wurde. 


Anecdota.  211 

(ührtf^).  Audi  aus  der  Zahl  der  JurUten  erlioben  sich  bald  warme 
Vertlieldiger  Justinian's,  wArunLer  wir  als  älteste  nennen :  Thomas 
Biviua,  derensio  Justiniani,  Frankr.  1628.  8.  Gabr.  Trivorius, 
obrer vaUon es  apologelicae  adversus  quosdam  ICtos  et  Procopii 
Anecdota,  Paria  1631.  4.  Prokop's  Sclinft  ist  nSmIicb  wirklich  eine 
Anklageschriß  ^egen  Jusiinian ,  wenn  auch  nicht  mit  bewu»ster 
Absicht,  aber  doch  ihatsächlich.  Sie  schliesst  slcli  unmiltelbar 
an  die  Bücher  De  bellis  an,  so  dass  sie  Sufdas  mit  Recht  als 
neuiries  fiucli  zahlt.  Procop  selbst  sagt  zu  Anfang  der  Schrift: 
Sea  fiiv  ovv'PfapLtdcav  t^  yivBi  Svtc  noXdftote  ^X9*  Sbvqo  ^e 
^vtnjvdx^  yEvia^ai  x'^i  (loi  SeSiflyffzai  .  .  .  tu  Si  dv&ivSs 
01ÜX  Iti  fUM  Tp6xip  tm  eiffrjfiiv^  (wie  die' Bella,  nach  Gleidi- 
heit  des  Ortes  und  der  Zeit)  ^vyxetaetat,  ixel  ivtav&a  yty(fä~ 
itettti  «ävra  hiöa«  Sr^  tbtvxijxe  y£vits&tti  atcvraxo&i  r^g 
'Pajutiav  d^xvs-  Aurb  bezieiil  er  steh  auf  die  Hella  immer 
mit  dien  Awdruck:  iv  tolg  IfmQoa&Bv  ^ö/oig').  Zu  diesen  bilden 
die  Anecdota  die  Ergänzung,  einmal  sofern  sie  cntiialten  was  in 
Jenen  Art  UmstSnde  wegen  gar  nicht  gesagt  werden  konnte,  wenn 
nicht  der  Verfasser  &avdt^  oCxrCatet  änolaXivat  wollte  (prooem. 
p.  10),  sodann  sofern  sie  das  in  den  Bella  aus  Furcht  ungenau 
Angegebene  berichtigen'),  das  nicht  ganz  Gesagte  vervollstän* 
digen*),  das  dort  niclit  Begründete  erklfiren;  denn  nolläv  räv 
iv  tots  iii«QOO&£V  Xöyois  e^pjjjmVov  äxoxtfVii'uCd'M  tag  ahCas 
^Vttyitüa&^v'').  Und  so  fasM  er  selbst  seine  Aufgabe  in  die 
Worte  zusammen:  rä  zÖtb  liag  ä^ijrcc  (iBivavza  xal  rraf 
ilixQoaf^BV   SeStii.ap.ivav  ivrav9ä  pot  toü   Xöyov  tag  ahiag 


')  Die  SeparatRnBgnbe  von  J.  C.  Orelli  (Lips.  1S2T.  8.)  ist  ein 
tMbeqaemer  Abdrar.k  von  A-lemann's  Änigabe,  dessen  kritische  nnd 
eariiliehe  Anmerkungen  Bereiche  rangen  erfahren  hsben,  aber  keine 
weMnlliohen.  Der  Text  dag^egen  ist  dnrch  die  NuditSten  in  c.  9  rorroll- 
BtSndigt,  welcfte  Alamaon  BUllHchweig«nd  anagelaBBeu  hatte, 

*)  Prooem.  p.  10.  c.  11,73.    13,  p.  86.  16  in.  18,  p.  108.  111.  20,  IIT. 

')  Vg],  Vand.  II,  ai:  rovTOvg  liyovaitovt  ßafßäfovs  vä  Soit^^ 
iv  T^  xälti  ytvit9ai  ontog  Sdfyiov  iveSgivaavxfs  »rcivataiv,  mit 
Aiieod,  ö,  p.  41;  «osovtov  fioi  xaviv  ivxi9/vai  lä  läym  ittjoti,  m$ 
ovti  v-ä  JSolFQä  o[  ävS^rt  ovtoi  nopä  Si^tov  t]l&D*>  oüci  iivü  OMq- 
ifuv  «  £ifytat  vKo^Cat  «e^  avxovt  elxtf. 

*)  Vgl.  c.  2,  21 !  Toweo'  fioi  t{v  üh  ataititiipai. 

')  PftMiem.  p.  10,  vgl.  c.  16,  p.  96:  iv  rots  iynatffOie  löyotg,  Sva 
4iJ  fuu  Tmv  ntxtay^vani  inxvttovg  iroitt'ffd'at  läf  älriS'cias  Sin  ßaat- 
X{^Dt  aSvvaia  tpi.  17,  p.  105:  cmv  aittäv,  ojttQ  vifttitov,  ivxav9ä 
fHu  ftäliaxa  x&t  aXTfitaxäxai  avaytaiov  flnstv. 


212  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

Cri^ijvav  äsijösi  (ib.).  Alle  durch  die  Zeitverhältnisse  zurück- 
gedrängte Bitterkeit,  alle  verhaltene  Wahrheit  legt  er  hier  nieder; 
die  geheimen  Fäden  der  Ereignisse  legt  er  hios  und  enthüllt  die 
inneren  Zusammenhänge.  Widerspräche  zwischen  den  zweierlei 
Schriften  wurden  dem  Sinne  Procop's  gemäss  zu  Gunsten'  der 
Anecdota  zu  entscheiden  sein.  Aber  solche  finden  kaum  Statt; 
denn  es  ist  falsch  was  Eichel  c.  13  über  die  Anecdola  sagt:  si 
contra  res  ipsas  quas  ^AvaKÖora  habent  et  reliqui  Procopiani  Codices 
attendas,  scilicet  conslantem  ordinem  quem  in  reliquis  servat,  contra 
confusionem  et  indigestam  molem  huius  scripli;  praeterea  gra- 
vitatem  et  virtutem  scriptoris  quae  in  aliis  elucet ,  levitatem  econtra 
et  malitiam  quae  ubique  hie  pellucet;  candorem  denique  et  liber- 
tatem  qua  in  reliquis  usus  est,  virulentiam  econtra  et  prope- 
modum  diabolicam  conviciandi  et  maledicendi  libidinem  in  hisce 
perpendes:  haud  facile  adduci  poteris  ut  credas  haec  scripta 
57  toto  coelo  in  omnibus  a  se  distantia  ab  uno  eodemque  homine 
fuisse  profecta,  nisi  dixeris  cum  illa  quidem  scripsisse  cum  sanae 
adhuc  mentis,  haec  vero  cum  insania  et  furore  erat  correptus^). 


<)  Ebenso  ist  die  unverhohlene  Abneigung  Schlosser^s  gegen  Procop 
und  die  Anecd.  insbesondere  weder  gerecht  noch  «von  Schi,  selbst  moti- 
viert. Er  sagt  (Universnihist.  Uebers.  III,  4,  S.  96):  „Dass  Justinian 
von  einem  und  demselben  Mann  in  drei  besonderen  Werken  über  alle 
Regenten  erhoben  und  in  einem  vierten  Buche  nicht  blos  wegen  seiner 
Sitten  und  seines  Privatcharakters  sondern  auch  in  Rücksicht  seiner 
vorher  so  laut  gepriesenen  Kenntnisse  und  seiner  öffentlichen  Thätigkeit 
in  einem  unwürdigen  Tone  herabgesetzt  wird,  gehört  zu  den  traurigsten 
Eigenthümlichkeiten  jener  Zeit.  Just,  hatte  zwar  allerdings  Fehler,  er 
war  schwach  gegen  seine  Gemahlin,  die  ihn  irre  leitete;  allein  weder 
er  noch  Theodora  können  so  scheuslich  gewesen  sein  als  sie  Procop  in 
seiner  sog.  geheimen  Geschichte  darstellt.  Die  grossen  Dinge  die  unter 
Justinian^s  Regierung  geschehen  sind  widersprechen  den  Uebertreibungen 
des  Procopins,  der  ausser  Acht  lässt  dass  man  von  einem  orientalischen 
Despoten  und  seinem  Hofe  weder  Keuschheit  noch  Tugenden  freier 
Seelen  erwarten  oder  fordern  darf.**  Diese  Worte  enthalten  beinahe 
ebenso  viele  Unrichtigkeiten  als  Behauptungen.  Weder  sind  die  Bücher 
vom  persischen,  vandalischen  und  gothischen  Kriege  drei  besondere 
Bücher  (sondern  eines  oder  acht;  auch  ist  die  Schrift  De  aedificiis  ver- 
gessen), noch  hat  Procop  darin  den  Justinian  über  alle  Regenten  er- 
hoben; ebenso  wenig  sind  es  dessen  Sitten  welche  in  den  Anecd.  „herab- 
gesetzt'*  werden  (vielmehr  berichtet  Pr.  gerade  die  ausserordentliche 
Nüchternheit  derselben),  und  nicht  dessen  Privatcharakter  als  solchen, 
sondern  sofern  er  für  die  Unterthanen  verderblich  wirkte,  tadelt  er. 
Femer  welche  Kenntnisse  Jnstinian^s  hatte  Procop  vorher  so  laut  ge- 


Aoecdota.  213 

Das  Wahre  hat  vielmehr  Alemann  gelrofTen,  wenn  er  in  der  Praef.  6S 
sagt:  in  tarn  prolixa  hUtoria  (de  Bellis)  adeo  sobrie  ne  dlcam 
ieiuiie  Ju&liniani  laudes  Procopius  deiibavit,  contra  vero  lam  copiosa 
sparsit  semina  vituperationum ,  ul  neque  Ibi  per  adulationem, 
neque  hie  (Anecd.)  per  calumniam  egisse  posteritall  videri  possit'). 
Alle  bedeutenderen  Anklagepunkte  in  dieser  Schrift  werden  durch 
das  grössere  Geschichtswerk  Procop's,  zum  Tbeil  sogar  durch 
De  aedif.  besLätigl;  namentlich  der  wahnwitzige  Bau  Ins  Meer 
hinein,  an  dem  die  Anecd.  so  vielfachen  Anstoss  nehmen,  ist 
De  aedif.  ausführlich  beschrieben,  und  das  leichtsinnige  Veran- 
lassen, nachlässige  Führen  und  schmähliche  Beenden  vieler  Kriege, 
die  Wahl  schlechter  Anffihrer,  die  Sendung  habgieriger  Logolhelen, 
und  vieles  andere  Derartige,  ist  offen  genug  in  den  Büchern 
De  bellis  bemerklich  gemacht.  Auch  andere  Schriftsteller,  wie 
Evagrius  (IV,  30.  32.  V,  3),  stimmen  in  den  wesentlichsten 
Beschuldigungen  gegen  Juslinian,   wie  Habsucht  und  Verschwen- 

priesen?  Etwa  seine  architektonischen?  Aber  das  geschieht  in  der 
Schrift  De  aedif. ,  und  diese  kennt  Suhl,  nicht;  aber  andere  Kenntnisse, 
die  er  laut  gepriesen  hätte,  sind  uns  nicht  bekannt.  Ebenso ;  wo  hat  er 
die  öffentliche  Thätigkelt  Juatinian's  laut  gaprieacn?  Die  Bücher  De 
bellis  enthalten  blutwenig  von  Justinian's  eigener  öffentlicher  Thätig- 
keit,  sie  laut  Preisendes  aber  nichts.  Und  worin  besteht  denn  der 
unwürdige  Ton  der  Anecdota?  Und  was  kann  ans  dieser  doppellen 
Bearbeitung  für  die  ganze  Zeit  Anderes  gefolgert  werden,  als  daas  ihr 
der  Mnnd  geknebelt  war,  dass  man  die  Wahrheit  nicht  sagen  konnte? 
Weiter  ist  es  nnmöglicb  alle  Schuld  auf  Theodora  zu  wälzen,  da  Jnstinian 
schon  ehe  er  sie  kannte  (unter  Justin  I.)  und  in  den  17  Jahren  seines 
Wittwerlebens  ganz  ebenso  handelte  und  regierte  wie  zu  Theodora's 
Lebzeiten.  Dass  Procop's  Angaben  Uehertreibungen  nnd  Jnstiman  und 
Theodora  nicht  so  „schonslicli"  gewesen  seien  wäre  erst  lU  beweieeu; 
denn  mit  den  grossen  Dingen  die  unter  Justinian  gesobehen  sein  tollen  ist 
es  noch  nicht  bewiesen.  Denn  was  beweist  das  Corpus  Juris  gegen  die 
Behauptung  von  Justinian's  Habgier?  Was  beweisen  Bellsar's  Siege 
gegen  die  Angabe  von  Justinian's  wahnwitziger  Verschwendung?  Auch 
dtirfte  die  Bezeichnung  als  orientalischer  Despot  in  keiner  Weise  für 
Justinian  etwas  Rechtfertigendes  oder  Entschuldigendes  eothalten.  End- 
lich enthalten  die  Anecdota  zum  kleinsten  Theile Anklagen  gegen  Jnstinian 
und  seinen  Hof  wegen  Mangels  au  „Keuschheit  und  Tugenden  freier 
Seelen";  die  Unkeuschheit  der  Theodora  fallt  nur  in  ihr  früheres  Leben, 
und  die  eigentlichen  Anklageputtkte  sind  ganz  andere. 

')  Zur  Veranschaulichnag  des  Verhältnisses  zwischen  beiden  Werken 
dient  die  Vergleicbung  der  zwei  Stellen  über  Justiniaa.  Vand.  1,  9: 
i*  iniyo^aai  is  öföc  Mut  noxfoe  lä  fitßovltvitiva  ixirelftitu,  und 
Anecd.  8  (vgl.  13  eztr.):  tjv  iaivo^aai  xu  qiavKa  *al  inixttivai  ögv;. 


214  Der  Geschicbtschreiber  Prokopius. 

(lung,  GewalUhäligkeit,  Beganstigaog  der  Blauen  u.  s.  f.,  mit 
den  Anecd.  uberein,  besCätigen  sogar  ganz  einzelne  Züge,  wie 
z,  B.  die  Erzählung  c.  16.  p.  97  über  das  Schicksal  des  Priscos 
von  Theophanes,  die  c.  17,  p.  100  von  der  HiurichUieg  emes 
pflichttreuen  Prafeclen  ?on  Evagrius  iV,  32  gleichfalls  mitgetheilt 
wird,  mit  Abweichungen  die  ?on  der  Art  sind  dass  sie  nur  die 
Unabhängigkeit  der  Erzähler  von  einander  zu  beweisen  vermögen ; 
und  über  das  widerrechtliche  Einziehen  angeblicher  Erbschaften 
gibt  Agathias  V,  4  noch  detailliertere  Nachrichten  als  Procop 
Anecd.  12,  nur  dass  jener  auf  das  Werkzeug  Anatolius  die  Schuld 
abladet,  aber  auch  hinzufügt:  ^0av  nal  aXkov  ytXeiöxoi  avd 
ri^v  nokiv  itagaTclijoioi,  (läkkov  (ihv  ovv  xal  adixdxsQOt; 
Corippus  de  laud.  Just.  II,  260  ff.  367  ff.  bestätigt  diess  Alles 
in  s^etnem  ganzen  Umfange.  Da  Proc.  sich  nicht  in  vagen  Be- 
schuldigungen ergeht ,  sondern  Namen  nennt  und ,  wo  es  die  Wahr- 
heil erfordert,  auch  Anerkennung  zollt  ^),  und  überdiess  die  beste 
59  Gelegenheil  hatte  auch  Geheimnisse  zu  erfahren,  so  ist  kein  Grund 
vorhanden  seine  Wahrhaftigkeit  in  Zweifel  zu  ziehen.  Er  spricht 
(prooem.  p.  11)  die  Besorgniss  aus,  der  Nachwelt  möchte  das 
was  er  über  Justinian's  und  Theodora's  Leben  erzähle  fiiJTS 
jciCtä  (ifjte  eixora  erscheinen :  SeSoixa  fii^  xal  (iv^oXoyiag  axoi- 
öofiai  dol^av  xdv  totg  tQay^dodiSaaxdkois  tetd^ofim;  aber 
er  beruft  sich  auf  das  Zeugniss  seiner  Zeitgenossen  und  darauf 
dass  er  selbst  gesehen  was  er  erzähle  ^).  Indessen  scheint  es 
doch  als  habe  er  MÜe  Schattenseite  der  Handlungen  zu  ausschliess- 
lich hervorgehoben,  die  ganze  Schilderung  zu  pessimistisch  ge- 
halten^) und  oft  eine  zu  kurzdärmige  Kritik  geübt.     Besonders 


')  Z.  B.  c.  10  von  der  Schönheit  der  Theodora.  Sehr  für  die  Wahr- 
haftigkeit und  ernste  Gesinnung  der  Anecd.  spricht  auch  diess  dass  von 
dem  angeblich  unreinen  Verhältnisse  in  welchem  Jnstinian  nach  der 
Behauptung  der  Leute  su  dem  Eunuchen  Narses  gestanden  haben  soll 
(Theophanes  chronogr.  p.  376  Bonn:  NtXQifijs  •  •  o  dyanfizog  xov  ßaai- 
Xitog  'lovtftiviavov,  slg  ov  iloidoQSito)  in  ihnen  nichts  erwähnt  ist. 
Freilich  ist  aber  weder  sicher  ob  hier  nicht  vielmehr  die  yulg/lovctivov 
(von  dem  wollüstigen  Justin  II.)  richtig  ist,  noch  auch  darum  die  Iden- 
tität des  hier  gemeinten  Narses  mit  dem  Feldherm. 

')  Ebenso  c.  8,  p.  56  f.:  ygdtpm  iv  p^oi  itpinia^ai  öwazov  yiyovBv, 
c.  12,  p.  81  bemerkt  er  ausnahmsweise:  xccvtcc  ovh  ccvrog  ^secifd^BVog 
yifdtpcD^  diXa  t&v  zotB  d'edaacd'ai  laxvgiSoftivmp  dnovcag. 

^)  Z.  B.  wenn  er  alle  Ersparnisse  als  Beraubung  der  durch  die  bis- 
herige Einrichtung  Begünstigten  darstellt,  vgl.  c.  24. 


Anecdota.  215 

spiessburgerlich  zeigl   er  sich  darin   dass  er  (c.   8»  p.  58)   alle 
Henschenleben  die  unter  Justinian's  Regierung  gewaltsam  zu  Grunde 
gegangen  sind  zusammenzählt  und  die  Summe  als  einen  Beweis 
von  der  Mordlust  und   Unmenschlichkeit  jenes  Kaisers  anfuhrt» 
da  doch  die  Umstände  ebenso  viel  dazu  beitrugen  als  Justlnian's 
malitiöse  Indolenz.     Auch  dass  dieser  gleich  am  zehnten  Tage 
seiner  Regierung  den  Ersten  unter  den  Hofeunuchen,  Amantius, 
wegen  einer  herausfordernden  Äusserung  gegen  den  Patriarchen 
von  Byzantion  hinrichten  Hess  weiss  Procop  (c.  6  extr.)  unter  keinen 
andern  Gesichtspunkt  als  den  der  äicavQ'QmitCa  zu   stellen,   da 
es  doch,  wenn  diess  der* Grund  war,  gleichsam  ein  Programm 
über  des  neuen  Kaisers  Stellung  zur  Kirche  gewesen  wäre;  aber 
die  übrigen  Schriftsteller  geben  noch  ganz  andere  Ursachen  jener 
Massregel  an,  namentlich  setzt  Evagrius  iV,  2  sie  ausdrücklich 
an  den  Anfang  von  Justin 's  Regierung  uiid    nennt  »als  Motiv 
dass  Amanlius  einen  Andern  als  Justin  (Theokrit)  auf  den  Thron 
setzen  wollte.     Eine  offenbare  Uebertreibung  ist  die  Beschuldigung 
(c.  6,  p.  45)  dass  Justinian  Alles,   Gesetze  und  Verhältnisse  [tä 
ev  xad'SOtcSra) ,  verschlimmert  habe,  und  die  Charakteristik  (8, 
p.  53):  Justinian  war   über  alle  Maassen   dumm,   einem   trägen 
Esel  gleich,   den  man  nur  dadurch  von  der  Stelle  bringen  kann 
dass  man  ihn  am  Zaume  ergreift;  oder  ib.  p.  57:  Jtäöav  ^  q>v0is 
iöoxsL  xaxotQOTtiav  ag)€koiievfi  topg  aXXovg  ävd'Qcixovs  iv 
rij  tovds  T(yv  dvSQog  xarad'e0d'cci  tfjvx'g,  oder  die  Vergleichung 
mit  Domitian  Ib.  p.  55.     Es  könnte  zwar  scheinen  als  hätte  Procop 
in  dieser  Schrift  das  nämliche  Princip  durchgeführt  wie  in  den 
Aedif. ,   nur  hier  nach  der   entgegengesetzten  Seite,    und   hätte 
alles  Schlechte  was  unter  Justinian's  Regierung  durch  die  Beamten 
geschah  auf  Rechnung  des  Kaisers  gesetzt.    Aber  diess  wird  durch  eo 
die  Schrift  selbst  widerlegt,   in    welcher  er  z.  B.  (14,  p.  90  f.) 
dem  Kilikier  Leo  den  ihn  treffenden  Antheil  ausdrucklich  zuweist 
und  c.  30,  p.  165  als  eine  Hauptelgenlhumlichkeit  der  Regierung 
des  Justinian  eben  diess  anfährt  dass  unter  ihm  die  Verwaltungs- 
behörden und  Gerichte  die  Selbständigkeit  welche  sie  früher  bis 
auf  einen  gewissen  Grad  besessen  hatten  eing^üsst  haben ,  indem 
man  für  jeden  einzelnep  Fall  die  Entscheidung  im  Palaste  zu 
holen  hatte,  dass  der  Kaiser  und  seine  Gemahlin  in  alle  Einzel- 
heiten persönlich  eingriffen  und  Mitschuldige  der  Verbrechen  waren 
welche  die  höheren  Beamten  begiengen.  —  Nachdem  der  Anfang 
des  Prooem.  die  Anordnung  in  den  Bella  als  unthunlich  bezeichnet 


216  Der  Ge&chichtschreiber  Prokopius. 

scheint  der  Scbluss  dennoch  eine  planmässige  Anlage  zu  ver- 
sprechen; es  heisst  hier:  ngdircc  ^hv  oöa  BshöaQtoi  (lox^Qci 
et^yaotat^)  sq^v  SQXO^iai^  vörsgov  ds  xal  o0a  'lovörwi^ava 
xal  ©eoSciQcc  (lOx^rjQä  slgyaCtai  eya  StiXciöca.  Aber  in  Bezug 
auf  die  Letzteren  Tveiss  er  keine  rechte  Ordnung  einzuhalten: 
Anfangs  befolgt  er  eine  Art  von  chronologischer,  dann  gar  keine, 
dann  wieder  ein  Versuch  mit  einer  sachlichen:  was  Justinian 
den  Patriciern  zu  Leide  gethan  hat,  was  den  Grundbesitzern,  was 
dem  Heere  u.  s.  f. ;  aber  sie  ist  an  sich  ungenügend  und  er  fängt 
sie  uberdiess  zu  spät  an  und  führt  sie  nicht  durch,  sondern  begeht 
Abschweifungen  und  Wiederholungen^)  in  solcher  Menge  dass  es 
scheint  als  hätte  er  zu  verschiedenen  Zeiten  niedergeschrieben 
was  ihm  gerade  die  Erinnerung  darbot  Daneben  spricht  er  immer 
von  Neuem  den  Vorsatz  aus  sich  kurz  zu  fassen,  z.  B.  c.  14  in.: 
(0VJC6Q  ftot  oXiycov  ini^vriO^'ivxi  (SioTcfi  Sotdov  tä  komä^  ag 
fiij  iiot  6  loyog  äitiQavtog  strj ;  15  extr. :  oliycov  iTCigivijö^sig^ 
(Dg  fii)  atskBvtrixa  novalv  do§a&/it;  27  in.:  okCya  ii,ol  äzta 
ix  Ttdvtcovä  jtoxQij(Ssi'  bItisIv  ;  28  extr. :  iQya  xal  aXXa  roiaika 
^lovöttvcavov  ävccQLd'na  H^STtiOräiisvog  ovx  av  tv  ivd'sirjv,  eitel 
TtBQccg  Soteov  tp  Ao'yo},  djtoxQij(fet  yaQ  xal  d^  avtcSv  to  tov 
avd'Q(d7tov  iqd^og  örnifjvai^  und  so  noch  oft,  welche  künst- 
lerische Unvollkommenheit  vielleicht  Folge  davon  ist  dass  der  Ver- 
fasser seinem  Werke  die  letzte  Feile  nicht  mehr  geben  konnte. 
Zwar  dass  er  die  Schrift  noch  unter  der  Regierung  Justinian's 
61  geschrieben  hat  geht  im  Allgemeinen^)  hervor  theils  aus  c.  25, 
p.  142  (noch  jetzt  habe  Just,  das  Monopol  des  Seidehandels  in 
Händen),  theils  aus  dem  Schlüsse,  wo  von  dem  Tode  Justinian's 
als  etwas  Zukünftigem  geredet  wird'*);  aber  es  war  doch  im  letzten 
Theile  dieser  Regierung ,  genauer  in  dem  zweiunddreissigsten  Jahre 
derselben  (J.  558  f.).  Vgl.  c.  24,  p.  137:  ß|  otov  dviqQ  oSe  dt^o- 
TcijiSaxo  xiiv  nokixeCav^  xolovxo  oväiv  ovxe  SieTtgäl^axo  ovxs 

^)  Vgl.  c.  5,  p.  41  ta  '^fiaQtrjfiivtt, 

']  Diese  sind  besonders  lästig,  und  er  macht  sie  oft  ganz  nahe  neben 
einander,  vgl.  13,  p.  87.  25,  p.  142. 

^)  Pröoem.  p.  10;^v;|r  oroi'  rs  17 v  nsQiovtcov  ^ti  tmv  ocvvcc  slgyaü- 
fiiviov  otm  dsi  avciyQoigisad'ai  tgonm.  Ein  solches  Hinderniss  war  be- 
sonders Theodora,  vgl.  16,  p.  36.  Indessen  hätte  z.  B.  auch  das  was  er 
c.  5,  p.  41  über  Sergius  sagt,  wenn  er  es  schon  im  bell.  Vand.  gesagt 
hätte,  wie  eine  Denunciation  geklungen. 

^)  c.  30  extr.,  p.  166:  onrjviTia  *[ovisuviccv6g  dnil&tj  tov  ßCov  .  . 
oaoi  tTivindSe  nsgiovrsg  tv%toai  xiXri^'hg  staovtai. 


Aaecdota.  217 

ifi^Xltjas,  xaiJCEQ  %q6vov  Svo  xa\  zQiäxovra  iviavröv 
XQtßivTOs  ^^^^  «nd  am  Schlüsse  des  Capitels:  ^v  xis  ti]1'  %vfi- 
«esTmxvtav  avroCg  ivd-^vSe  ^fiiav  ig  itrj  Svo  xal  rpiä- 
xovta  Siapi^iiotTo ,  evQ^Oet  t6  iiirpov.  Und  da  in  diesem 
Jahre ')  {559]  Belisar  gegen  die  Hunnen  vor  den  Thoren  von  Byzantlon 
geschickt  wurde,  Procop  aber  in  der  Geschichte  lielisar's^)  davon 
Nichts  erwähnt,  sowenig  als  den  Einsturz  eines  Theils  der  Sophien- 
kirche (7.  Mai  559)*),  so  wird  die  Schrifl  noch  *or  diesen  Ereig- 
nissen abgescblosscn  worden  sein.  Ohnehin  ßelisar's  Ungnade 
{Ende  i.  562)  und  Wiedereinsetzung  (J.  563]  hätte  Procop,  wenn  er 
sie  noch  erlebt  hätte,  nicht  unerwähnt  lassen  können.  Hat  man 
also  das  Jahr  558  —  559  als  solches  worin  Procop  noch  an  dieser 
Schrin  schrie))^),  so  wird  dadurch  die  Annahme  bestätigt  dass 
er  dieselbe  nicht  in  Einem  Zuge  niedergeschrieben  habe,  da  das 
Prooemium  den  Schein  annimmt  als  schlösse  es  sich  auch  zeit- 
lich^] unmittelbar, an  die  Bella  an,  deren  achtes  Buch  J.  554  fertig 
wurde  (s,  oben  S.  198).  Auch  folgt  aus  jenem  Datum  dass  die  von 
Theophanes  (T.  I,  p.  366)  und  Haiala  aus  dem  November  des  J.  562 
n.  Chr.  bericlitele  Dürre  und  Wassernolh  {dßQoxia]  nicht  identisch  ist 
mit  der  Anecd.  26  erwähnten.  Wurde  aber  die  Geheimgeschichte  im 
J.  558  {oder  559]  fertig  gebracht?  Dagegen  scheinen  zu  sprechen 
die  oftmaligen  Verweisungen  auf  spatere  Erörterungen  über  Christ* 
licfaes,  sofern  sie  auf  die  Anecd.  zu  beziehen  sind^).  Die  deutlichste 
Verweisung  dieser  Art  ist  Goth.  IV,  25:  in  Ulpiana  entstand  eine 
Volksbewegung  über  dogmatische  Heinungsverschiedenheiten,  über 
die  Fragen  avitsQ  evexa  6ipiaiv  a'&zolq  ot  X^tattavol  Sim- 
(läxovTaif   '^niff  fux  iv  }.6Y0iq  toig  iitlQ  tovretv  y^- 

<)  AgBthias  V,  15.    Theophanes  T.  I,  p.  361  f. 

•)  Anecd.  c.  1 — 5. 

■)  Dahn,  Frokop  S.  464  f. 

*)  Kicht  aber  sie  vollendete.  Damit  erledigen  sieb  die  von  F.  Dahn 
S.  365,  A.  erhobeaen  Einwendungen.  Uebrigens  eutliält  An.  18,  p.  226  le. 
(«S  fiM  (v  tote  fftnflooSt*  Köyott  yiyitaitxai)  eine  Verneisnng  auf 
Aed.  II,  T  (p.  228  S.);  sonaeh  ist  diese  Slelle  nach  dem  J.  658  ge- 
■chrieben  (Dahn  S.  450  f.). 

*}  Denn  Sau  .  .  ttj^i  Bev^o  iwtivif9ii  ftvia9at  zu  Anfang  der 
Anecd.  (s.  oben  S.  211]  hann  nicht,  wie  Dahn,  Prokop  8.  451  A.  2,  «ich 
vorstellt,  beissen:  bis  zu  diesem  Punkte  meiner  ge schieb tlicben  Dar- 
stellung. Und  dass  die  Anecdota  „offenbar  rasch  hingewoifen"  seien 
wäre  erst  zu.  beweisen;  für  das  Gegentheil  spricht  der  Sfanltehe  Fall  bei 
Cicero  (Hörn.  Liter.-Qesab.  175,  5). 

")  Welches  Letztere  Dahn  S,  52.  456  ff.  bestreitet. 


218  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

YQdi)&ßai,  Scheint  damit  auf  eine  eigene  Schrift  hierüber  hin- 
gewiesen, so  heisst  es  dagegen  Anecd.  10,  p.  70:  wie  Jusliuian  die 
62  verschiedenen  christlichen  Parteien  gegen  einander  gehetzt  habe, 
keki^Btai  not  ov  Ttokk^  vdrsQOVy  und  11,  p.  76:  ta  dfL(pl 
totg  XQi0tuzvots  slgyaöfisva  iv  totg  OTtiöd'iv  fiov  köyotg 
kskil^erai^  ebenso  26,  p.  145:  rä  dfig)l  totg  Ibqbvöiv  ctvt^ 
nBXQaypiiva  iv  totg  Sjua^sv  koyoig  kekdl^ßtat^),  endlich 
27,  p.  151,  Theodora  sei  in  dogmatischer  Beziehung  von  Justinian 
abgewichen,  Sg  fiQv  iv  totg  onv0^6v  koyoig  ei^ijösraL^). 
Nach  dem  Sprachgebrauch  überhaupt  und  dem  des  Procop  ins- 
besondere kann  mit  on,  koy.  nur  auf  einen  späteren  Theii  des- 
selben Werkes,  also  hier  der  Anecd.,  verwiesen  sein,  und  damit 
ist  die  Stelle  Goth.  IV,  25  insofern  nicht  unvereinbar  als  Procop 
natürlich  in  dem  für  das  grosse  Publikum  bestimmten  Werke 
die  nähere  BeschafTenbeit  und  den  Inhalt  der  Schrift  in  welcher 
er  diess  abhandeln  wolle  nicht  genauer  angeben  konnte.  Also 
Procop  wollte  in  einem  besondern  Theile  der  Anecd.  auch  Justinian's 
Verhältniss  zur  christlichen  Kirche  näher  erörtern ;  diess  wäre  aller- 
dings eine  wesentliche  und  fast  unerlässliche  Ergänzung  der  Bücher 
De  bellis  gewesen,  und  wir  hätten  daraus  unerwartete  Aufschlüsse 
über  das  Ineinandergreifen  der  Ereignisse  bekommen  müssen. 
Nun  aber  ist  dieser  Tbeil  uns  nicht  erhalten;  wie  kommt  diess? 
Hat  ihn  die  hierarchische  Censur  unterdrückt,  wie  so  manche 
andere  Schrift  aus  dem  Alterthura?  Es  ist  nicht  glaublich;  denn 
weder  bei  Suidas,  der  die  Anecd.  kannte,  noch  sonst  ist  eine  Spur 
dass  etwas  Derartiges  von  Procop  jemals  existiert  habe.  Es  ist 
daher  wohl  anzunehmen  dass  Procop  niemals  zur  Ausführung 
kam,  dass  er  darüber  starb  oder  sonst  daran  gehindert  wurde« 
Wären  also  die  Anecdota  unvollendet?  Ja  und  Nein.  Sie  sind 
vollendet,  sofern  sie  —  abgesehen  von  jenen  Verweisungen  — 
ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  bilden,  in  der  Hindeutung 
auf  Justinian's  Tod  ein  passendes  Ende  besitzen  und  vielleicht^) 

')  Die  beiden  letztem  Verweisungen  sieht  Dahn  8.  458  als  (durdi 
c.  17  u.  27)  erfüllt  an,  emähnt  aber  als  nicht  erfüllte  die  c.  17,  p.  202  Is. 

')  Das  handschriftliche  stfffixcci  festzuhalten  und  iv  totg  onta^Bv 
loyoig  zu  streichen  (Dahn,  Prokop  Q.  457  f.)  ist  unmöglich,  da  die  Ver- 
weisung auf  c  10,  wenigstens  hinsichtlich  der  Wirren  in  Alezandria, 
nicht  zutrifft. 

')  Dean  es  ist  gar  nicht  unmöglich  nsgag  Sotiov  t^  Idya  auch 
in  einem  beschränkteren  Sinne  zu  fassen:  um  die  Erörterung  dieses  (spe- 
ciellen)  Gegenstandes,  gleichsam  um  dieses  Capitel  abzuschliessen  und 


Anecdota.  219 

in  dem  Schlüsse  von  c.  28  eine  Hinweisuog  auf  diesen  Abschluss. 
Sie  sind  es  aber  aucb  nicht»  sorero  jene  Verweisungen  einen 
zweiten  Theii  erwarten  lassen,  mit  besonderer  Bestimmtheit  die 
letzte  derselben ,  die  in  c.  27.  Denn  wenn  hier  auf  eine  spätere 
Fortsetzung  verwiesen  wird,  so  wäre  es  doch  gar  zu  vergesslich 
wenn  gleich  im  folgenden  Capitel  diess  wieder  eludiert  wurde  durch  63 
Ankündigung  des  Abschlusses  des  Werkes.  Auch  i^t  was  gegen- 
wärtig den  Schluss  bildet  zwar  für  eine  solche  Stellung  ganz 
geeignet,  aber  doch  nicht  von  der  Art  dass  es  die  Hinzufugung 
von  Weiterem  ausschlösse.  Uebrigens  ist  nicht  zu  vergessen  dass 
unsere  Textesconstitution  der  Anecd.  auf  einer  sehr  kleinen  Anzahl 
von  Handschriften  beruht*),  dass  auch  diese  von  ungleicher  Voll- 
ständigkeit sind,  dass  namentlich  der  ältere  der  beiden  vaticanischen 
Codd.,  .welcher  dem  jüngeren  als  Quelle  gedient  hat,  den  ab- 
gerundeten Schluss  des  jüngeren  nicht  hat,  so  dass  ganz  wohl 
ursprünglich  dieser  Schluss  entweder  gar  nicht  oder  wenigstens 
noch  nicht  an  dieser  Stelle  gestanden  haben  könnte^  dass  endlich 
Suidas  zwei  Stellen  aus  den  Anecd.  anfährt  welche  in  unserem 
Texte  nicht  zu  ßnden  sind  ^).  Nimmt  man  diess  Alles  zusammen, 
so  muss  man  die  Möglichkeit  offen  lassen  dass  ein  etwaiger  späterer 
Fund  ^)  uns  noch  überraschende  Bereicherungen  der  Anecdota 
und  der  Geschichte  verschaffe. 

lieber  die  Echtheit  der  Anecdota  hätte,  wenn  man  immer 
der  Gesetze  der  Kritik  sich  bewusst  gewesen  wäre ,  nicht  leicht  ein 
Zweifel  entstehen  können.  Wer  anders  als  Procop  selbst  wäre 
im  Stande  gewesen  die  Schrift  so  ins  Einzelnste  hinein  dem  grös- 
seren Werke  anzupassen,  zu  sagen:  hier  habe  ich  diess  ausgelassen, 

zu  einem  neuen  überzugehen.  Ja  diese  Erklärung  wird  beinahe  zur 
Nothwendigkeit  durch  das  unmittelbar  vorher  gegebene  Versprechen 
einer  Fortsetzung  (c.  27,  p.  151). 

')  Die  beiden  von  Alemann  benützten  vaticanischen,  ausserdem  eine 
des  Kanzlers  Seguier,  und  eine  Mailänder,  welche  Maltretus  verglichen  hat. 

^)  Vgl.  oben  S.  210,  A.  1.  Sie  gehören  in  den  arg  zerrütteten  An- 
fang der  Anecd. 

^)  Man  weiss  noch  von  zwei  Handschriften  die  bis  vor  wenigen 
Jahrhunderten  existiert  haben,  nun  aber  verschollen  sind:  1)  eine  des 
Joh.  Lascaris,  von  Constantinopel  an  den  mediceischen  Hof  gebracht, 
von  wo  sie  Katharina  von  Medicis  nach  Frankreich  mitgenommen 
haben  soll;  2)  eine  des  Johannes  Vincentius  Pinellus,  die  bei  Neapel 
im  Schiffbruch  verloren  gegangen  sein  soll,  nachdem  bereits  Petrus 
Pithöus  und  Guido  Pancirolus  Einiges  daraus  ezcerpiert  hatten.  S.  Ale- 
mann's  Praef. 


220  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

dort  war  jenes  anders,  und  dieses  Ercigniss  hatte  diese  Grunde?^) 
Ausserdem  ist  in  beiden  Werken  ganz  dieselbe  Weltanschauung, 
derselbe  religiös  -  fatalistische  Pragmatismus,  die  nämliche  Ver- 
knüpfung von  Schuld  und  Strafe^),  derselbe  Aberglauben^);  sodann 
ganz  dieselbe  Darstellung,  die  nämlichen  Wendungen^),  dieselbe 
Jagd  nach  Gemeinplätzen^),  dieselben  Lieblingsausdrucke ^) ,  der- 
selbe Stil,  nui*  etwas  nachlässiger^).  Zu  dem  hin  haben  wir  das 
64  ausdruckliche  Zeugniss  des  Suidas,  beziehungsweise  seiner  Quelle. 
Nur  unkritische,  phantastische,  ihre  subjective  Meinung  oder 
Neigung  allen  objectiven  Zeugnissen  entgegensetzende  Kritiker, 
wie  Fr.  Guyet,  konnten  daher  die  Echtheit  bestreiten.  Besonders 
hartnäckig  und  eigensinnig  zeigten  sich  auch  hier  die  früheren 
Juristen.  Ihr  theurer  Justinian ,  der  Vater  des  herrlichen  Corpus 
Juris  und  damit  indirect  auch  so  vieler  herrlichen  Gommentare  und 
Abhandlungen,  musste  Recht  haben,  und  Procop  war  ein  Lugner 
und  Verleumder.  Den  gründlichsten  Beweisführungen  Alemann's 
zu  Gunsten  Procop*s  setzte  z.  B.  ein  Rupert^)  den  Machtspruch 
seines  Juristen -Herzens  entgegen:  Procopii  auctoritas  apud  me 
.quidem  prorsus  eviluit,  quidquid  tandem  moliatur  eruditissimus 
interpres^).  Heutzutage  aber  wird  die  Echtheit  kaum  mehr  einem 
ernsthaften  Zweifel  unterliegen^^). 


*)  Vgl.  Dahn,  Prokop  S.  344  ff. 

2)  Aus  den  Anecd.  vgl.  p.  29.  35  f.  42.  68  f.  Eine  Reflexion  dieser  Art 
steht  Anecd.  4  extr.  fast  mit  denselben  Worten  wie  Goth.  IV,  12  extr. 

«)  Vgl.  Anecd.  c.  12.  19. 

^)  aXla  Tccvta  fi'^v  äg  nri  iiiäarq)  tpilov  tccvviu  doxf^TO,  c.  4  extr. 
c.  10,  p.  69.    Vgl.  oben  S.  205. 

5)  Z.  B.  c.  7. 

^)  wie  OQQwdsiv,  avccx^f'^^t^f'Vi  nXovzov  fiiycc  XQVl'''^  ^'  ^* 

'')  Vgl.  die  Nachweisungen  von  P.  Dahn,  Prokop  S.  416 — 447. 

^)  Chr.  Ad.  Rupertus  in  observationibus  ad  Synopsin  Besoldianam 
cap.  15:  quemadmodum  aranea  omnia  vertit  in  venenum,  so  habe  diese 
Justiniana  mastix  alle  Thaten  Ju8t.'8  ins  Schwarze  gemalt;  so  z.  B. 
seien  die  fernsten  Nationen  nach  Byzant  gekommen,  um  Justinian  zu 
huldigen  (nämlich  das  denkt  sich  der  Jurist  als  Absicht),  Procop  aber 
sage,  sie  seien  gekommen  um  ihm  Geld  abzupressen. 

^)  Dagegen  ist  es  gleichfalls  ein  Jurist,  F.  Dahn,  welcher  nach  der 
obenstehenden  Abhandlung  die  Echtheit  der  Anecdota  gründlich  gerecht- 
fertigt hat;  8.  dessen  Schrift  über  Prokop  S.  52  ff.  253  ff.  448  ff. 

^^)  J.  H.  Reinkens,  Anecdota  sintne  scripta  a  Procopio  (Breslau  1858), 
mäkelt  zwar  an  den  Gründen  für  die  Echtheit,  ohne  aber  für  die 
Unechtheit  etwas  Haltbares  beibringen  zu  können.  Vgl.  H.  Bckardt,  de 
Anecdotis  Procopii,  Königsberg  1861. 


Anecdota.   Weltanschauung.  221 

Von  besonderem  Interesse  ist  es  noch  die  Weltanschauung 
Procop's  genauer  zu  betrachten;  denn  als  gebildeter  Laie  ist  er 
ein  viel  sicherer  Höhemesser  seiner  Zeit,  gibt  ein  treueres  Bild 
von  dem  geistigen  Standpunkt  derselben  als  die  gelehrtesten  zunft- 
mässigen  Theologen.  Stelleii  die  uns  darüber  Aufschluss  geben 
finden  sich  allenthalben  in  seinen  Werken,  besonders  merkwürdig 
aber  Ist  Goth.  I,  3,  p.  17  f.,  wo  er  ein  förmliches  Glaubens- 
bekenntniss  ablegt.  Er  erzählt  hier  dass  die  Bischöfe  Hypalius 
und  Demetrius  an  den  römischen  Bischof  abgesandt  worden  seien 
doJ^rjg  €V€X€v^  ifv  XQiötiavol  iv  6q>i6iv  avtotg  dvxikiyovOiv 
diiipiyvoovvrsg,  xä  äi  dvtiXsyoiiBva  iya  i^STCiötdiisvog  tag 
TixtOta  i7Ci(JLVi]0oiiai»  dTtovoCag  ydg  (lavicidovg  nvog  tjyovfiai 
Bivav  SisQSVV&ad'ai  f^v  toi)  d'sov  (Christi)  (pvötv  onoia  noxi 
iöXLV.  dv^QcinGi  yaQ  ovSl  xd  dv^Qcineia  ig  x6  dxQtßdg, 
ol^m,  xaxalr^nxd ,  iii]  xoi  yh  diq  xd  ig  d'sov  q>v0iv  {jxovTa. 
(Die  Anfrage  bezog  sich  also  auf  die  monophysitische  Streitigkeit.) 
ifiol  iiiv  ovv  xavxa  dxivSvvwg  aeöiojti/jö&fx)  fiovc)  xä  firj 
dmöx'^öai  xd  xstiptriiiivcc,  iyd  ydg  ovx  äv  ovSh  akko  nsgl 
d'sov  o  XI  äv  sl^noLiii  ij  oxv  dya^og  xs  navxdnaatv  etifi  xal 
^ij^Tcavxa  iv  xy  il^ovöla  xy  avxov  ixsi.  ksyixco  äh  cigTceg 
yivciöxeiv  sxaöxog  vnsQ  aihiSv  otsrai  xal  [egavg  xal  ISicixt^g. 
Alemann  berichtet  dass  in  einer  der  vaticanischen  Handschriften  ^5 
ein  Abschreiber  zu  der  Stelle,  anmerke:  or^fieLCOöaL  bI  oQ^oSoi^og 
iaxLV  6  6vyyQaq)€vg,  und  Eichel  (c.  18)  exciamiert  zu  der  Stelle: 
egregium  Christianum!  nihil,  ait,  ego  de  Christo,  num  Dens  homo, 
num  neuter  an  uterque,  num  pro  humano  genere  passus  morle 
sua  satisfecerit  et  resurrexerit  nobisque  viam  ad  aeternam  beati- 
tudinem  muniverit  necne;  quid  ad  me  ista  aegroti  veteris  somnia? 
viderint  de  hac  re  Christian!,  sufficit  mihi  credere,  Deum  esse 
bonum  et  omnipotentem.  Paganorum  hanc  esse  religionem  quis 
non  videt?  nemo  enim  unquam  veterum  gentillum  vel  Roma- 
norum  vel  Graecorum  paulo  prudentior  negavit  deum  propter 
bonitatem  esse  Optimum,  propter  potenliam  maximum.  Beide 
haben  in  ihrer  Weise  nicht  ganz  Unrecht.  Procop  will  dass  man 
sich  damit  begnüge  dass  er  keinen  positiven  Unglauben  gegen 
das  Dogma  äussere.  Warum  diess?  Weil  er  keinen  positiven 
Glauben  daran  hat,  weil  das  Dogma  für  ihn  wankend  geworden 
ist  Diess  verräth  er  dadurch  dass  er  nicht  einmal  von  den 
menschlichen  Dingen  die  Möglichkeit  einer  sichern  Erkenntniss 
zugeben  will,  geschweige  denn  von  den  göttlichen.     Diess  ist  der 


222  Der  Geschichtedireiber  Prokopius. 

Schlüssel  zu  seiner  Wellanschauung.  Als  Skepüker  verhält  er 
sich  erstens  zur  positiven  Religion  iadifferent.  Er  hassl,  er  ver- 
achtet keine  der  bestehenden  Religionen,  aber  er  hängt  auch 
keiner  an,  denn  jeder  gegenüber  hat  er  Zweifel.  Es  ist  ihm  nur 
ein  Slufenunterschied  zwischen  den  verschiedenen  Religionsfornien. 
Die  crasse  Naturreligion,  die  Anbetung  lebloser  Dinge,  wie  Bauoie, 
bezeichnet  er  Goth.  IV,  3  als  aus  ßaQßaQp  tivl  dtpelsia  hervor- 
'  gegangen;  viel  milder  urteilt  er  Goth.  II,  14  f.  über  diejenige 
Form  des  tfolytheismus  wonach  ^€ovg  xal  daiiiovag  xoliovg 
cißovOLV  ovQccvlovg  TS  xal  äsgiovg^  iyyaCovg  rs  xal  d'alatS" 
öCovg^  xal  &kV  atra  dccv(i6via  iv  vSaCL  TttjyiSv  xs  xal  no/tu- 
fiav  elvai  kayöiievcc.  Den  Hellenismus  vollends  weiss  er  von 
dem  Christenthum  nur  der  Zeit  nach  zu  unterscheiden:  dieses 
ist  der  moderne  Giaube,  jener  r)  nakaia  do^a,  ijv  ä^  —  fügt 
er  vornehm  liinzu,  gleichsam  mit  der  Bitte  hieroit  nicht  seine, 
des  Philosophen,  Ansicht  zu  verwechseln  —  xaloikfcv  ilitiPixiiv 
ol  vvv  av^gcMUH,^),-  Zwar  spricht  er  Pers.  I,  25  von  kofoi, 
ov%  oövoC  xivBg  x^g  nakaiag  Sol^rig^  aber  so  unbestimmt  dass 
keineswegs  gewiss  ist  ob  er  sie  als  hellenisch  und  nicht  vielmehr 
wegen  ihres  Inhalts  mit  diesem  überdiess  milden  negativen  Aus- 
druck bezeichnet;  und  wenn  er  Aedif.  VI,  4  von  der  akkrivixii 
xakovfiivTi  d^sta  spricht,  so  kann  diess  bei  der  eigenthümlichen 
Haltung  dieser  Schrift,  bei  ihrer  durchgängigen  Rücksichtnahme 
auf  den  Kaiser,  für  Procop's  eigene  Ansicht  nichts  beweisen.  Nur 
66  dass  das  Christenthum  die  humanere,  civilisiertere,  gebildetere 
Religionsform ,  i>6  rfii^s^rsQOv  sei  (besonders  wegen  des  Fehlens 
der  Opfer)  pflegt  er  anzuerkennen  (vgl.  Goth.  11,  14.  III,  3. 
Aedif.  III,  6),  und  in  so  fern  ist  ihm  der  Uebergang  zu  ihm  auch 
inl  z6  €'äösßd0r£Qov  ^stazl^ead'ai  (Pers.  I,  15.  Aedif.  V,  7). 
Sonst  denkt  er  vom  Christenthum  vollkommen  deistisch.  Bezeioli- 
nend  ist  in  dieser  Beziehung  ausser  Goth.  I,  3  besonders  Pers.il, 
12,  p.  208:  vjco  zov  xqövov  ixstvov  ^i]0ovg  6  rov  ^ov 
natg  (er  vermeidet  den  gebräuchlichen  Ausdruck  v[6g)  iv  omftMU 
eSv  Toig  iv  nakatetivy  avd'Qcixotg  (OfiikeL^  rc5  zs  jiTjihv 
zo  nccgäxMv  -a^agzalv  xdxozaj  dkkd  xal  zm  laftff* 
Xava  i^aQydis^d'^ai  8iaq>avtog  it^SLXVvfiavog  ozi  ö^  zov 
d'€(yv  natg  t&g  dkij^ag  etri.  Als  solche  Thaten  führt  ^er  dann 
auf:   Todte  erwcdtc^n.   Heilen   von   Blindgebornen ,   von  Aussatz, 


<)  Fers.  I,  20.  *6.  II,  LS,  p.  211. 


Weltanscliauung.  223 

Lähmung,  xal  o6a  akkix  lazQotg  stä^rj  avCaxa  civofiaöfidim 
iiJtP).  Nicblsdesloweniger  schliesst  er  sich  in  ungenauer  Rede  an 
die  populäre  Vorstellung  an ,  wonach  Christus  und  Gott  geradezu 
identificiert  werden,  Christus  der  charakteristische  Gott  des  Ghri- 
slenthums  ist^),  was  die  Consequenz  des  Begriffs  der  ^eotöxog 
(Mutter  Gottes)  war.  So  sagt  er  Pers.  il,  26  von  Chosröes* 
zweitem  Zug  gegen  das  unter  ChrisU  besonderem  Schutz  stehende 
(ib.  12)  Edessa:  avtri  17  igßoltj  .  .  ov  ngog  'lovCttviapov 
xsnoifjraiy  ov  fc^i/  ix^  aXkcsv  dvd'Qdnmv  ovädva,  otv  fti} 
inl  XQv  d'sov  ovTCSQ  XQi0TLapol  öißovtai  ybovov^  nämlich 
Christus;  denn  er  betrachtet  sich  als  n^og  rov  xäv  XQi^riavdv 
^eov  ri06iiii€vogy  sofern  dieser  der  Proteclor  von  Edessa  ist, 
also  von  Christus.  Ebenso  heisst  die  Sophienkirche  Vand.  I,  6 
g.  E.  ro  [bqov  rov  (isydlov  X^rov  rov  ^bov,  und  wird  67 
Aedif.  I,  2  f.  der  Forlschritt  von  den  Kirchen  o0a  rtS  Xqi6%& 
uvi^xsv  'lotHSttvLavog  (worunter  die  Sopliienkircbe)  zu  denen 
t^^g  d-BotoKOv  Ma^Cag  damit  motiviert  Suv^dri  ix  rov  d'sov 
inl  xijfif  avtov  (iritsQa  Itiov.  Als  Gegenstaiid  des  monophysi- 
tiscben  Streites  wird  me  Golh.  I,  3  so  auch  Aneod.  18,  p.  110 
^  tov  d'eov  q)v0vg  angegeben,  und  Aedif.  I,  3  von  Cbiistus 
gesagt:  avd'^&Ttog  rjxsQ  ißovlsto  ysyovdg  6  d'sog.  Dieses 
Anlehnen  an  den  vulgären  Sprachgebranch  beruht  vielleicht  nicht 
weniger    auf  innerer   Gleichgültigkeit^)   als    die   kühle,    fremde, 


^)  Vgl.  hiermit  die  wieder  sich  viel  näher  an  das  Positive  anschlies- 
sende Stelle  De  aedif.  V,  7:  iivivLa  ^Ir^aovi  6  tov  Q-^ov  naig  iv  cm- 
(ICC  ti  mv  Toig  x^Ss  (in  Samaria)  av^Qfonoig  cofi/X«»,  yiyovsv  avt^  ^{fOQ 
yvvatna  xäv  xtvcc  inixo^Q^iov  SttxXoyogy  worin  er  ihr  prophezeite  dass 
später  anf  dem  Berge  Qarizim  avxbv  ot  aXrjd'ivol  ngog'KvviijTccl  n^og'KV- 
vijsovoi.,  xovg  Xgiaxictvoifg  naQaSrjXtoßag.  iysvtxo  xs  nQO'iovxog  xov 
Xifovov  igyov  ri  nqoQq^qcig,  ov  yäq  olov  xs  r^v  (irj  ovx)  drftEvSeiv  tov 
ovxa  Q-Bov. 

*)  Vgl.  z.  B.  Evagr.  IV,  10:  Svo  (pvßsig  inl  XQiatov  xov  &€jov 
"^fiüiv,  ib.  27  extr.  in  Bezug  auf  Chosroes*  Versuch  Edessa  zu  erdbern: 
vjtoxoniiaag  xov  nQog  r^fiav  nQsaßsvofiivov  d'BOv  nsQiiasad'cci.  ib.  36 
heissen  die  Eeste  des  Abendmahls  Syiat  (isgiSsg  xov  A%^ttvtov  coificc- 
tog  Xifiaxov  xov  &eov  '^fitav.  Evagrius  ist  gleichfalls  Laie  (Scholasticus) ; 
aber  auch  in  der  officiellen  Sprache  der  Sjnodalbeschlüsoe,  z.  B.  der 
fünften  ökumenischen  Synode:  xov   (isyäXov  &sov  xal  aatt'^Qog   ^(iwv 

XiflÜtOV  u.  8.   f. 

^)  Am  schroffsten  spricht  sich  diese  Indifferenz  aus  Anecd.  11 ,  p.  75. 
Hier  erzählt  er  die  Wirkungen  welche  Jnstinian^s  Befehl ,  alle  Häretiker 
sollen  zur  orthodoxen  Kirche  übertreten,   an  den  verschiedenen  Orten 


224  Der  Geschichtschreiber  Prokopius, 

objective  Weise  womit  er  sonst  von  allem  specifisch  Christlichen 
spricht.  So  sägt  er  Pers.  I».12:  ovtog  6  Xedg  XQtötiavoC  xd 
slöL  xal  tä  voiiifia  rijg  dol^rig  q)vXu06ov6L  rccvttjgj  nicht 
'^fieriQag;  ib.  18  (vgl.  Vand.  II,  14):  £0^r^  ^  Ttaexalicc^  .  • 
fjv  dl)  cißovrai  XQtCnavol  icaisäv  fLakiOta;  ib.  25:  IsQSvg 
0V7CSQ  nakelv  ngsößvtSQOv  vsvofiixapi;  ib.  II,  9:  ro  tsQov 
o^€Q  ixxXrjClav  xalovöt;  Vand.  II,  21:  ra  XQiötittVfSv  koyia 
ansQ  xaXstv  svayydkia  vsvoiiixaöLV^);  Pers.  I,  7:  rtov  Xqi- 
Crvaväv  of  0(O(pQOvi0taxoi^) ^  ovgjtBQ  xalstv  iiovaxovg  vbvo- 
(lixaöL;  vgl.  Vand.  II,  26:  avSgeg  olg  ta  ig  ro  d;stov  äxgtßcSg 
ijCxriTat  ^ovccxovg  xakelv  rovg dvd'QaTtovg  dsl  vsvoiiixaiisv, 
Wen  dachte  sicli  Procop  als  Leser  wenn  er  solche  Erklärungen 
nöthig  fand?  „Barbaren'*?  Oder  glaubte  er^  sein  Geschichts- 
werk werde  die  christliche  Religion  überleben?  Nicht  unmöglich 
bei  dem  Skeptiker^). 
68  Von  den  positiven  Religionen  weg  zieht  sich  Procop  auf  eine 

allgemeine,  vage  Religiosität,  auf  den  Glauben  an  ein  d'stov 
(Pers.  I,  7.  Vand.  II,  26.  Goth.  IV,  14),  einen  da^^av  (z.  B. 
Anecd.  9,  p.  63),  ein  äaiiiöviov  (Goth.  III,  35  und  oft)  zurück, 
in  dessen  weitem  Mantel  auch  viel  Aberjg[l9uben  Raum  gefunden 
hat.  Je  kleiner  nämlich  für  den  Skeptiker  der  Kreis  dessen  ist 
was  ihm  gewiss  ist  (denn  auch  dass  das  Bestehende  Recht  habe 

gehabt  habe  und  Qagt:  oaoi  sv  rs  Kaiaagsia  xfi  ifiij  ndv  xctig  aXXatg 
noXBaiv  (Samariens)  coxovv  nccgd  g>avXov  riyrjatxfisvoi  Hccmondd^siccv  xiva 
vn\Q  dvoTjTOv  (psQSßd'cci  doyiiaxog  ovofia  Xgiatucvoov  rov  etpiai 
nagovtog  (Sabbatianer  n.  dgl.)  dvtaXXa^d^svoi  tm  ngoaxiiitau  tovrat 
tov  in  Tov  v6[iov  dnoGsiaaad'at  nlvdvvov  taxvaav. 

^)  Vgl.  Goth.  I,  24  g.  £.:  tcav  SißvXXtjg  Xoylanv  xi^v  didvoiav 
i^evQSiv  dvd'QfOTto}  olfiai  dSvvaxcc  slvai.  Ebenso  gebraucht  er  Goth.  II I, 
20  von  den  Evangelien  auch  den  Ausdruck  td  Xqidxov  Xoyia,  vgl. 
Vand.  II,  26  td  d-sia  Xoyicc,  Den  Koheleth  nennt  er  Vand.  II,  9  als 
Theil  von  ^  toiv  ^Eßgc^ioav  ygatp^  und  bezeichnet  ib.  10  den  Moses  als 
ao(p6g  dvrJQ, 

')  Von  diesen  aa}q>QOviüTccxoi  erzählt  er  dann  weiter,  wohl  nicht 
ohne  einen  Anflug  von  Spott:  tovrovg  iogrijv  Ttvce  äynv  iviavaiov 
Tfrvj^i^xey.  ifcsi  ts '^  vv^  insyivitOy  axavtsg^  Sxs  Ttonip  (ilv  noXXa  did 
rqv  navijyvQiv  ofiiXi^itccvxsg  (so  ist  zu  lesen  statt  a/u.£Xif<rttyr8ff) ,  (laXXov 
dl  TOV  eld'iafiivov  cixltav  xs  xcel  noxov  ig  %6gov  iX&ovxBgf  Siivov  tivd 
jjSvv  T£  xal  ngaov  ind^svd'ov, 

^)  F.  Dahn  S.  191,  A.  nimmt  an  dass  Pr.  dadurch  nur  mit  einer 
gewissen  Vornehmheit  sich  über  den  herrschenden  Religionsstil  erhaben 
zeigen  wollte.  Noch  mehr  ist  es  wohl  die  Abneigung  des  Rhetors  gegen 
technische  Ausdrücke. 


Weltanscliauuiig.  225 

ist  ihm  nur  zweifelhaft,  nicht  aber  dass  es  Unrecht  habe  gewiss)^ 
desto  grösser  ist  für  ihn  der  des  Möglichen ;  ruht  der  Skepticismus 
nicht  auf  einer  festen,  klaren  und  sichern  positiven  Grundan- 
schauung, so  irrt  er  in  Bezug  auf  die  Erkenntniss  ohne  Halt  und 
Anker  umher  in  dem  weiten  Reiche  der  Möglichkeit,  in  dem 
hodenlosen ,  nebeligen  Räume  in  der  Mitte  zwischen  A  und  non  A ; 
und  je  weniger  genügend  ihm  die  gewöhnliche  Verknüpfung  von 
Ursache  und  Wirkung  erscheint,  um  so  zugänglicher  ist  er  für 
mystische ,  unfassbare  und  unsagbare  Zusammenhänge.  Wir  dür- 
fen uns  daher  nicht  wundern  bei  unserem  Skeptiker  den  aus- 
gedehntesten Divinations-  und  Wunderglauben  zu  fmden;  denn 
seine  Zeit  und  sein  Geist  war  nicht  so  productiv  dass  er  im  Stande 
gewesen  wäre  aus  den  Trümmern  des  Bestehenden  sich  eine 
neue  Welt  zusammenzubauen;  hatten  sie  ja  doch  auch  nicht  die 
Kraft  das  Bestehende  zu  zertrümmern,  sondern  nur  es  anzu- 
fressen oder  zu  meiden;  es  war  eine  Zeit-  der  blossen  Velleität, 
der  Impotenz  im  Bejahen  und  im  Verneinen.  Von  Wundern 
treffen  wir  bei  Procop  eine  reiche  Auswahl:  Hunnen  die  auf  einen 
Einsiedler  zielen  erstarren  die  Hände  (Pers.  1,7),  eine  Reliquie, 
der  Querbalken  von  Christi  Kreuz ,  wird  von  einem  Heiligenschein 
umgeben  und  bewirkt  dass  die  Stadt  Apamea  mit  einer  Contri- 
bution  davon  kommt,  womit  sich  Chosroes  nicht  begnügt  hätte 
si  itij  ti  d'stov  avtov  ix  rov  i^q)avovg  äiBxcii^vOBV  (ib.  H ,  11); 
Edessa  wird  von  Christus  wunderbar  beschützt:  zweimal  geht 
Chosroes  irre,  bis  er  wirklich  vor  die  Stadt  kommt,  und  wie  69 
er  da  ist  bekommt  er  in  Folge  eines  Rheumatismus  einen  ge- 
schwollenen Backen,  welches  Wunderzeichen  ihn  bewegt  alle  Ge- 
danken an  Eroberung  der  Stadt  aufzugeben  (ib.  12);  ebenso  be- 
schützt Petrus^)  einen  Tbeil  der  Mauer  Roms  (Goth.  I,  23);  bei 
der  Belagerung  von  Dara  durch  Chosroes  elg  ix  rov  Xoöqoov 
CtQaxoniSov  diifpl  i^(idQav  ^iöriv  ay^iCtd  nri  rov  nsQißoXov 
[lovog  dfpixsroj  atxB  ai/d'^conos  fSv  atxB  xl  ukko  ävd'Qci- 
nov  XQBlOOoVj  Solvay  xb  xotg  6q(S6l  naQaCxBxo  ort  Sri  '^^ 
ßiktj  l^vkkdyoi,  anBQ  ix  xov  XBCxovg  ^Pcoiiatot  .  .  snl  xovg 
ivoxXovvxag  ßaQßägovg  dgy^xav  (Pers.  II,  13).  Je  weniger 
in  allen  diesen  Fällen  zu  einer  Retirade  ins  Wunderbare  irgend 
ein  Grund  vorlag,   um  so  mehr  beweist  das  Anstellen  derselben 


1)  tovtov  rov  dnoaroXov  asßovtai  ^Poftatot  icciri  tsd"i]naat  navxfov 
fiäliata,  Goth.  I,  23. 

Tenffel,  Stadien.  15 


226  Der  Geschiclitsclireiber  Prokopius. 

die  grosse  Hinneigung  zu  diesem  Gedankengange.  Von  Prodigien, 
Omina,  Träumen  wimmelt  es  bei  Procop,  vor  der  Wahrsagekunst 
hat  er  allen  möglichen  Respect^),  und  Zauberkünsten  erkennt  er 
Einfluss  auf  den  Willen  Anderer  zu^).  Zwar  spricht  er  auch 
manchmal  Gleichgültigkeit  gegen  Zeichen  und  Wahrsagungen  aus^) 
und  hegt  Zweifel  gegen  solche  Veranstaltungen^);  oder  ist  geneigt 
bei  der  naturlichen  Erklärung  der  Erscheinungen  stehen  zu 
bleiben^).  Aber  noch  entschiedener  spricht  er  sich  gegen  die- 
jenigen aus  welche  Alles  aus  einer  naturlichen  Ursache  erklären 
wollen  und  die  Miene  annehmen  als  könnten  sie  es.  So  sagt  er 
von  der  Pest,  man  solle  nur  ihre  Unbegreiflichkeit  gestehen; 
von  ihr  einen  Erklärungsgrund  anzugeben  iirjx^vij  rig  ovSsiila 
iütl  nkr^v  ys  8r^  oCa  ig  tov  d'sov  avatpigsc^ai  (Pers.  If,  22); 
und  ebenso  ist  er  unschlüssig  ob  er  die  verschiedenen  Erscheinungs- 
weisen und  Verläufe  der  Krankheit  von  der  Verschiedenheit  der 
Constitutionen  ableiten  solle  oder  vom  Willen  des  Urhebers  der 
Krankheit,  nämlich  Gottes  (ib.  p.  252)^).  Alle  die  vielen  Aus- 
drücke wie  ^Bog^  r.6  d'etov^  äaliicav,  ro  äaLiioviov,  ij  trvjrij, 
17  nsTtQCDiidvriy  mit  welchen  Procop  zu  wechseln  pflegt,  sind  nichts 
als  positive  Namen  für  den  rein  negativen  Begriff  der  Unbegreif- 
70  lichkeit.  Auch  Procop  ist  Fatalist,  wie  fast  alle  Historiker  des 
Alterthums,  und  zwar  trägt  er  seinen  Fatalismus  mit  einer  Un- 
ermudlichkeil  zur  Schau  welche  lästig  wird.  Aber  so  sehr  er 
auch  in  der  Ausfuhrung  desselben  an  Herodot  sich  anschllesst, 
so  ist  doch  Beider  Fatalismus  ein  wesentlich  verschiedener.  Der 
des  Herodot  ist  ein  gemütlicher,  kindlicher,  er  ist  des  Kindes 
bescheidene  Resignation  auf  eigenes  Wissen,  weil  es  weiss  dass 
ein  Höheres  und  Weiseres  in  der  Welt  ist,  er  ist  sein  scheues 
Auftreten,  seine  ergebene  Erwartung  nachdem  es  so  oft  in  seinen 


^)  Vgl.  Goth.  IV,  21:  ngö  fqg  jcsigag  asl  Sv^Qentot  tag  jCQOQQijaHg 
q>tXo'oai  xXsva^siv,  Ueber  die  sibyllinischen  Bücher  ib.  I,  24:  täv  2k- 
ßvXXrig  XoyCfov  f^v  diävoiav  ngo  tov  ^gyov  i^svQSiv  av&QtoTeco  olftcii 
aSvvata  slvaf  aCziov  dl'  17  ZCßvXXot  ov%  Sinavza  s^ijs  rä  nffayficcta 
Xiysi  ovd^  agfioviav  tiva  noioviiivrj  tov  Xoyov  u.  s.  w. 

*)  Vgl.  Aneed.  1.  2.  3.  12.  22,  p;  126  f. 

8)  S.  Goth.  III,  29  g.  E. 

*)  Vgl.  Goth.  I,  9. 

5)  Goth.  IV,  15  extr. 

®)  Vgl.  Goth.  IV,  33:  inavatpigatv  ovk  av{$i  h  tov  ^bov  äieavxct, 
SnsQ  xtti  6  dXfiQ'rig  Xoyog  iyivsro. 


WelianschaouDg.   Fatalismus.  227 

schönsten  Preudea  plötzlich  gestört,  seiner  liebsten  Schatze  unver- 
sehens beraubt  worden  ist;  er  ist  das  schweigende  Händefalten  dem 
Walten  einer  böliern  Macht  gegenüber.  Bei  Proeop  dagegen  ist 
er  nnr  eine  Formel  welche  eine  Lwke  im  Verstehen  und  Begreifen 
des  Verfassers  oder  auoh  nur  eine  Trägheit  seines  Denkens,  eine 
Fejgiieit  seines  Willens  bez^hnet.  Je  gegliederter  aber  sein 
Fatalismus,  je  mehr  er  zu  einem  eigentlichen  System  au^ebildet 
ist,  desto  mehr  verdient  derselbe  unsere  Aufmerksamkeit^). 

Ueber  das  Wesen  des  Fatums  und  sein  Vei^altniss  zu  «Gott 
finden  sich  bei  Procop  zwei  Darstellungen.  Nach  der  einen  sind 
beide  Begriffe  verschieden,  nach  der  andern  identiscJi.  Goth.  iU, 
14.  hebt  er  an  den*  Slaven  als  eine  Merkwürdigkeit,  als  einen 
auffallenden  Mangel  hervor  dass  sie  nur  Einen  Gott  haben,  stfut^- 
fiivf^  di  ovts  tiSaöiv  ovze  Skkcag  ofiokoyoikSLv  iv  y$  av^g^onoig 
^onriv  tiva  ^XBiv^  scmdern  durch  Gelübde  auf  den  Willen  Gottes 
Einfluss  üben  zu  können  meinen.  Hienach  dachte  sicli  also  Procop 
das  Fatum  als  eine  Macht  neben  Gott,  unabhängig  von  ihm  und 
seine  Wirksamkeit  beschränkend,  sofern  er  z.  6.  auf  Gelübde 
nur  so  weit  Rücksicht  nehmen  kann  als  dem  Willen  des  Fatums 
gemäss  ist,  also  ohnehin  geschehen  würde.  Eine  ähnliche  An- 
schauung scheint  zu  Grunde  zu  liegen  der  Stelle  Vand.  I,  18: 
ifiol  td  xs  d'sta  xal  tä  ävd'Q4)Stt£ia  .  .  in^i%'S  ^av(Mi0€ci 
oiCG^  6  ftk^  d'aog  xoQQoyd^sv  6(kdi/  rä  ic6yLBva  pmyyQaq>si 
&r«^  sroT^  avt(p  zä  ^ayyiata  äoxsi  äaoßi^^eöd'aL ,  ot  il  &v- 
%f^noi  fi  0tpakK6iuvot  ri  tu  diomu  ßovXsvofievoc  ovx  töaciv 
Ott  latTai^av  tt  .  ,  '^  o^cSg  iÖQaöecv,  %va  y^v^tat  rg  Tv^y 
zQl^g^  ^B^vCa  xdvzfx^g  iid  ta  %q6tb^v  Ssäoyfbivu.  Hier 
ist  die  Tv%Qii  offenbar  identisch  mit  der  stfiaQiLdvri  der  vorigen 
Stelle*^);  ihren  Rathschlüssen  kommt  Unabänderliobkeit  zu,  Gott 
aber  hat  in  Bezug  auf  den  Gang  des  Schicksals  nicht  die  Vor^ 
ausbestimmung,  sondern  nur  die  Voraussicht,  und  auoh  diese 
nicht  untiHiglich  {So9C€t);  von  dieser  Voraussicht  aus  sueht  er  die  71 
Menschen  durch  Winke  aller  Art  (Omina,  Prodigien  u.  s.  w.) 
über  das  Verhältniss  zu  belehren  in  welchem  ihr  Tfaun  zu  dem 
Schlüsse  des  Schicksals  stehe,  ob  es  dazu  passe  oder  nidit;  aber 


1)  Vgl.  zum  Folge»aen  F.  Dahn,  Prokop  S.  217  fiF.  459  ff. 

?)  Ebenso  Vand.  I,  21.  Goth.  I,  24.  II,  8.  26.  III,  19.  IV,  32. 
Anecd.  10,  p.  68.  Als  Wechselbegriff  von  nsnQostfiivri:  Vand.  11,  7:  ovTt 
UV  avTitsivoifii  f^  ^VX^  ovSl  TCQog  xiiv  nsiCQoitftivrjv  ^vyofiMxoCriv. 

15* 


228  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

vergebens:  die  Menschen  verstehen  seine  Winke  nicht  und  trotz 
denselben  geht  des  Schicksals  Schluss  in  Erfüllung.  Gott  ist  also 
hier  in  der  Lage  zum  Besten  der  Mensehen  gegen  den  Schicksals- 
schluss  anzukämpfen,  aber  sein  Bemuhen  iät  umsonst;  also  ent- 
schiedener Dualismus  zwischen  Tvxfi  {stiia^itivrjD  und  d'sog.  In 
vielen  andern  Stellen  dagegen  ist  6  d'sog  ganz  in  demselben  Sinne 
gebraucht  wie  1}  Tvxn ;  vgl.  Pers.  1 ,  25.  II ,  10.  Vand.  l,  2.  19. 
Goth.  II,  9.  IV,  30.  33,  und  Goth.  III,  13  sind  beide  sogar  neben 
einander  zur  Abwechslung  gebraucht.  Dieser  Widerspruch  wird 
einigermassen  gelöst  in  der  Stelle  Goth.  IV,  12  extr.  (wiederholt 
Anecd.  4  extr.),  wo  Procop  sagt:  ovtog  aga  oix  yxsQ  rotg 
ävd'Qcin:oig  äoxst^  dXXä  tyixtovdaov^ony  XQVtavsvataL 
tä  avd'Qcinsia,  S  äfj  Tv%riv  slcid^aai  xaXstvot&vd'QCDTtoi, 
ovx  siSozeg  orov  di)  svexa  tavty  n^osi^i  tä  l^viLßaivovta 
yneQ  avrotg  ivSifika  yCvsxai,  täyäg  nuQaXoyGj  äoxovvti 
elvai.  g)LX€t  to  tilg  ^'^XVS  ngoHxGiQBlv  ovo(ia^). 

Also  weil  und  wo  der  Mensch  den  Grund  nicht  erkennen 
kann  warum  Gott  so  und  nicht  anders  handelt  (und  dass  er  nach 
einem  Grunde  handelt  ist  gewiss,  avrcS  yccQ  ov  d'd^ig  atnatv 
yLTl  oijijL  anavxa  xard  koyov  asl  yiyvsöd'ai,  Pers.  II,  10), 
spricht  er  von  Tvxv^  von  einem  blinden,  grundlosen,  zufälligen 
Walten.  Ssog  und  Tvx^i  sind  demnach  eins  in  dem  Begriffe 
der  at^QiLBVifi ,  denn  jene  beiden  haben  das  mit  einander  gemein 
dass  das  was  von  ihnen  ausgeht  mit  Nothwendigkeit  geschieht, 
beide  aber  sind  darin  von  einander  verschieden  dass  mit  Tvx^l 
diese  Nothwendigkeit  als  eine  grund-  und  planlos  wirkende  be- 
zeichnet wird,  mit  ®a6g  als  nach  einem  Plane  und  mit  gutem 
Grunde  verfahrende.  Dass  aber  zwischen  beiden  unterschieden 
wird^)  hat  seinen  Grund  in  der  Mangelhaftigkeit  der  mensch- 
lichen Erkenntniss;  objectiv  betrachtet  r^  ix  xov  d'sov  ^ony 
jtQvravsvstai  tu  dvdQcinsia^  aber  der  endliche  Verstand  er- 
kennt den  waltenden  loyog  nicht  und  spricht  da  wo  in  Wahrheit 


^)  Vgl.  Goth.  IV,  32  von  der  Tv%7ii  to  naQaXoyov  to  avt^Q 
täiov  xal  TO  tov  ßovXiifiaTos  anqotpaaiazov  inididsinitcti, 

')  Vgl.  Pers.  II,  23,  p.  258,  wo  es  von  der  Pest  heisst  sie  habe 
shs  tv%ri  strs  nQOvoiqt  gerade  die  Schlechtesten  in  Byzantion  verschont. 
Im  Sinne  eines  reinen  Zafalls  im  Gegensatz  zu  (menschlicher)  Wahl  nnd 
Berechnung  steht  es  auch  Goth.  I,  5  extr.:  Belisar  zog  gerade  am  letzten 
Tage  seines  Consulates  in  Syrakus  ein  —  ovn  iisnirridsg  fiivtoi  avx£ 
nsnoirjTO  rovto,  dXXd  rig  rä  avd'ffdnco  ^vvißri  tvxrj. 


Fatalismus.  229 

Weisheit  [Ttgovoia)  ist  von  einem  nagciloyov  und  von  Tv^i]^)'  72 
In  dieser  Fassung  ist  der  Begriff  der  Tvxv  ^^he  daran  mit  der 
ciiristlichen  Vorsehung  auch  formell  zusammenzufallen,  was  auch 
in  dem  Spruche :  Wo  die  Noth  am  grössten ,  da  ist  Gottes  Hülfe 
am  nächsten,  wie  ihn  Procop  Vand.  I,  2,  p.  318  parapbrasiert^), 
hervortritt.  Aber  im  Allgemeinen  hat  Procop  die  hellenische 
Vorstellungsweise  vom  Schicksal  mit  solcher  Vorliebe  und  solcher 
Lebhaftigkeit  ausgeführt  dass  der  christliche  Abschreiber  der 
vaticanischen  Handschrift  nicht  übel  gewittert  hat,  wenn  er  Vand. 
H  einmal  die  naiv  zurechtweisende  Bemerkung  für  Procop  bei- 
schrieb: ovx  ogd'iSg  naQ€iaq)^Q£Lg  tij  tav  XgiCxiaväv  niötsi 
äaiiiovLOv  xal  Tiixtiv  xal  slpMQiievriv  (Alemann ,  in  der  Praef.). 
Man  konnte  sogar  irre  werden  an  der  Aufrichtigkeit  seiner  An- 
lehnung an  das  Christliche  (in  Goth.  IV,  12),  wenn  man  in  der 
Schrift  worin  er  seine  Ansichten  am  rückhaltlosesten  aussprach, 
in  den  Anecd.  10,  p.  68,  ganz  dieselben  Ausdrücke  von  der  Tvxi] 
gebraucht  sieht  die  er  in  der  öffentlichen  Schrift  ausschliesslich 
auf  Gott  bezogen  haben  wollte,  nämlich:  (r^g  '^vx^g  iniäu^LV 
f^g  Swäfiscog  Ttsnoirjiidvrjg)  ^  dij  anavtu  Ttgvtavsvovöy 
tä  avd'QciiCBia  dg  ^xcCta  ^lbXbv  etc.  Doch  kann  man  den 
Grund  dieser  Abweichung  ebenso  gut  darin  finden  dass  der  Natur 
der  Sache  nach  der  Unterschied  zwischen  einem  solchen  Gottes« 
begriff  und  der  Tvxri  ein  so  fliessender  ist  dass  man  ihn  bei 
Mangel  an  ausdrücklicher  Aufmerksamkeit  leicht  aus  den  Augen 
verliert,  —  als  in  etwaigem  Mangel  an  Ernst  und  Wahrhaftigkeit. 
Wir  dürfen  überhaupt  nicht  vergessen  dass  wir  es  hier  nicht  mit 
einem  Philosophen  von  Fach  zu  thun  haben,  der  sein  System 
mit  bewusster  Absicht  und  Consequenz  durchführt,  sondern  mit 
einem  Dilettanten,  der  seine  Reflexionen,  wie  sie  gerade  durch 
die  Ereignisse  hervorgerufen  sind,  an  die  Erzählung  dieser  anreiht 
und  der  im  Stande  ist  die  stärkste  Stelle  über  die  unbeschränkte 


^)  Unbestimmt  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Begriffen,  doch  näher 
bei  ^fOff,  stehen  die  Ausdrücke  ro  Saiiiovtov  (Pers.  II,  30.  Vand.  I,  11. 
II,  14.  Goth.  II,  29)  und  6  dat'ficav  (Anecd.  9,  p.  63).  Mit  stiiaQfiivri 
ist  identisch  17  n€nQ(0(iiv7j  ^  Pers.  I,  24  und  in  der  häufigen  Redensart 
vriv  nsngtofiivrjv  ivinXrias  (vom  Tode),  vgl.  Vand.  1,7.  II,  4.  Qoth.  1, 13. 
II,  21.  IV,  20.  [Nähere  Ausführungen  über  diese  Begriffe  jetzt  bei 
Dahn,  Prokop  S.  248  ff.  vgl.  S.  283  ff.] 

')  ffiXsi  6  9s6g  xoig  ovts  ayx^'''OtS  ovts  tt  oH%o^bv  nrjxaväa&ai 
ototg  TS  oiaiv  riv  firi  novriQol  sUv  äitogoviiivotg  tä  ia%axa  ijHHOvgsiv 


230  Der  Gesohichtschreiber  Prokopius. 

Macht  und  absolute  Wiltkurlichkeit  der  Tvxrj  mit  dem  gedanken- 
losen Refrain  zu  schliessen:  dlXa  tavra  iilv  ony  t^  d's^ 
fpikov  ravtji  exitcD  ts  xal  keyiff^G),  So  ihut  er  z.  B.  eben 
Anecd.  10,  p.  6D,  wo  es  weller  heisst:  (zy  Tvxjf)  dg  ijxiöta 
[leket  ovre  oxag  av  xa  ngccrroiieva  sixota  Btri  ovrs  onrng 
73  tavra  xatä  Xoyov  (vgl.  Goth.  IV,  12)  xotg  dv&Qcinois  ysysv^ö^ai 
doky.  inaiQBi  yovv  tiva  a^antvaiag  dXoyiarp  tivl  il^ovöia 
ig  v^og  ^fya^  pneg  ivavtt€i(iara  [liv  leokkd  ^viiitsxXexd'aL 
doxst^  dvtiötatet  8h  nagd  tt,  igyov  tcSv  navtav  ovdhv,  dX^ 
ayatav  ^f^X^'^O  ^doy  ony  xota  avty  ötaxiraxtai^  anavtav 
aroi^cDg  iivötaiiavcav  xa  xal  vnoxfOQOvvxcov  XQol'ovity  xy  Tvxy- 
dkld  xavxa  u.  s.  f.  Ebenso  entscbieden  behauptet  er  die  un- 
bedingte Rücksichtslosigkeit  und  Ungebundenheit  der  Tvx^  im 
Fassen  und  Ausführen  ihrer  Beschlüsse  Pers.  II,  9:  ßovko^dvi] 
xivd  ^eyav  dal  noialv  ij  Tv%ifi  n^docau  xoig  xad^rjxov0i  ^pdi/ot^ 
xd  do^avxa  ovSavog  xfj  ^vfiy  xijg  ßovktjaaag  dvxi0xaxovvxog, 
ovxa  x6  xov  dvSgdg  äiaöxoTtov^avri  d^va^^y  ovxa  oncag  iiy 
yavrixai  xi  xdiv  ov  daovxtov  koyi^oiiavri ,  ovdi  oxi  ßkaUfprukY^Oov- 
0VV  ig  avxriv  Sid  xavxa  7tol?,obj  —  ovdh  fiAAo  xcSv  ndvxmv 
ovSav  iv  i/p  Ttotovfievri ,  rjv  xd  So^av  avxy  xagaivovxo  (lovov. 
dlkd  xavxa  filv  ony  x(p  ^aä  q>ikov  ixixa.  In  dieser  Stelle 
ist  die  Tv^i?  vollständig  personiGciert,  indem  ihr  nicht  nur  Willen 
beigelegt  wird*)  sondern  auch  Verstand  (dtaöxojtoviiBini ,  koyt- 
^oiiavri,  iv  vfp  ytoioviiivti).  Dass  dies  aber  mehr  als  Figur  sei 
wird  dadurch  wieder  zweifelhaft  dass  als  luhalt  ihres  Willens 
und  Verstandes  das  absolut  Grundlose,  Unvernünflige,  Unberechen- 
bare {x6  xov  ßovXijiiaxog  ditQOtpdeioxov ,  Goth.  IV,  32)  gesetzt 
wird^  Und  doch  sagt  derselbe  Verfasser  auf  der  unmittelbar 
folgenden  Seite  (Pers.  II,  10):  iyio  Ikiyyiä  %d%og  xooovxo 
(Zerstörung  von  Antlochia)  yQdg>iov  .  .  xal  ovx  ixca  alSivai  xi 
Ttoxe  aga  ßovXoiiav€f^  x^  ^B^  Bttj  TtQayybaxa  ^hv  dvägog  ^ 
X(OQiov  xov  ig  vtl^og  inalgaiv ,  av^vg  81  ^Ctcxbiv  xb  avxd  xal 
dfpavi^Biv'^)  i%  ovSayuag  iq(itv  q>aivo(iivrig  aixCag,  avx& 
ydg  ov  d^i^iig  bItcbIv  fiij  ovxl  ditavxa  xaxd  Xoyov 
dal  yiyvB0&ai,  Andrerseits  wird  die  PersoniQcation  so  weit 
geführt  dass  Affecte  als  den   Willen  und  das  Tbuu  der   Tvxv 

^)  ßovXoiiivri  —  ßovliiasmgf  vgl.  Vand.  II,  13:  onfj  Sv  9  fiovlo^ivf/ 
'^i  ^^ZV9  ebenso  Goth.  III,  19.  Oft  to  So^av^  td  didoyfiiva  u.  dgl., 
z.  B.  Vand.  I,  18. 

«)Vgl.  Anecd.  10,  p.  69.  « 


Fatalismus.  231 

bestimmend  gedacht  werden;  namentlich  ist  ihr  Gotfa.  11^  8  ge- 
radezu Neid  zugeschrieben:  r^g  Tv^flS  o  g)d'6vog  ädivsv  iqSri 
ini  ^Pcjfiaiovg,  iicsl  tä  TtQayiiata  sv  xe  xal  xalcSg  0q)C0iv 
i7cCnQO0^Bv  nQOlovra  iaiga.  Als  neidisch  pflegt  s^e  in  den 
Becher  des  Glucks  und  der  Freude  immer  ein  gut  Theil  Schmerz 
zu  mischen  ^) ,  oder  macht  sie  dass  der  Mensch  im  Vollbesitz  des 
Glucks  übermütig  wird  und  frevelt  und  die  Rache  auf  sein  Haupt 
ladet;  sie  kokettiert  mit  den  Menschen,  und  wenn  diese  dann  74 
vertraulich  werden,  so  schlägt  sie  sie  ins  Gesicht^).  Unersättlich  . 
ist  sie  in  ihrem  Grimme^),  aber  nicht  unversöhnlich,  nur  ist  ihre 
Gunst  so  wenig  beständig  und  zuverlässig  wie  ihr  Zürnen^).  Sie 
hat  ihre  Freude  daran  mit  den  Menschen  zu  spielen,  sie  zu 
necken  und  zum  Besten  zu  haben  ^),  indem  sie  immer  das  ihut 
was  die  Menschen  am  wenigsten  erwarten.  Auf  ihr  Thun  kann 
der  Mensch  nur  insofern  einwirken  als  er  durch  Verschuldung 
sie  gegen  sich  aufreizt,   dass  sie  als  Vergeltung  und  Rache  über 

*)  Goth.  II,  8:  xaxcj  Hsgavvvvcci  zivl  tavxa  id-iXovaa.  Pers.  II,  9: 
naXccLog  Xoyog  (vgl.  Herodot),  ort  dri  ovn  aKQtxiq>v^  ta  aya^ä  6  d^sog, 
alXor  TtSQCcvvvcav  avzd  xotg  %aKoCg  slta  xoig  ccv&gtanoig  nagixBtai. 

*)  Pers.  II,  aOextr. :  tpiXst  xo  dcctfioviov  ^  onsg  ig  rovg  av^'ganovg 
(ogai^sad'ai  nitpvKSV  (vgl.  Tvxrj  (ogai^oiisvrj  Vand.  1,  21.  Goth.  IV,  32), 
ano  (isti6v(ov  tb  xal  vtIfriXotsgotv  iXniSmv  ngefidv  otg  drj  ovx  inl  ctsg- 
gag  q>vas(og  trjv  didtvoiav  ^atävai  ^viißaivst.  Neben  dieser  abergläu- 
bischen Form  findet  sich  dieselbe  psychologische  Bemerkung  bei  Procop 
auch  in  der  rationeilen  Fassung:  ot  avd'goanoi  svrj(isgiag  Ix  toh  nciga- 
Xoyov  iniXaßofiEvoi  oi  dvvavtcci,  ttjv  Sidvoiav  ivtavd'a  tatcivai,  alXä 
TiagaSonovai  tcc  ngoam  xal  xaCg  iXniatv  iningoad'sv  ael  xoagovaiVy  Bmg 
nal  xfjg  ov  diov  vnag^dcöjig  avxoig  hidaifLOvlag  cxsgriaovxcci,  Goth. 
in,  31. 

3)  Vand.  II,  14:  ägnsg  ovx  t'Kavd  xavxoc  x<ß  Saifiov^eo  Siccipd'sCgaL 
xd  ^PoDiiaioav  ngdyfiaxa  iv  anovS^  ?x^^'^'" 

*)  Goth.  I,  24:  ov  ydg  ttnoLvta  XQ^^"*^  maxsvHv  rj  Tvxu  y  iytsl  ov8£ 
oiLoLmg  ig  ndvxa  xbv  XQ^^ov  tpigtad'cci  niq>viisv, 

^)  Goth.  IV,  32:  ij  Tvxriy  digai^^ofiivrj  xe  diaq)avsg  *al  äiaavgovaß 
xd  dv^gmnsia,  ib.  33,  p.  631:  ivxavd'd  (loi,  xov  Xoyov  ivvoioc,  yiyovsv 
ovxiva  71  Tvxri  SiaxXsvd^si  xd  dvd'gdTtsia  xgonovj  o^  dsl  %axd  xavxd 
nagd  xovg  dv^gdmovg  lovaa,  ovd\  tooig  avxovg  ofpd'aXfioig  ßXiwovCfx^ 
dlXd  ^v(i(i8xccßaXXo[iEvri  XQ^^^  ^"^^  xonm,  xal  nai^ei  ig  avxovg  n€ti,didv 
xtvttf  nagd  xov  yiaigov  rj  xov  xo^Q^^  V  ^^^  tgonov  diaXXdaoovaa  t^v 
xmv  xaXamoigoav  d^Cav.  dXXd  xavxa  filv  yiyovi  xs  xo  i|  dgxijg  xal  dsl 
iaxai  eoag  iq  avxij  xvxv  dvd'günQig  j.  Vgl.  das  horazische  Fortuna  .  . 
ludum  insolentem  ludere  pertinaz    Od.  1(1,  29,  50. 


232  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

ihn  kommt  ^).  Im  Uebrigen  ist  sie  von  seinem  Willen  und  seinem 
Thun  vollkommen  unabhängig:  olg  ixLn:v€t  i^  ovgiccg  to  xvsviicc 
t^g  tvxTjg  xal  xä   xeCgKSta   ßovkevofisvoig   ovShv  vTcavtia- 

75  0SL  dvOxolov,  dvrcnsQLCcyovtog  avtct  xov  daiyiOvCov  ig  npLV 
^v^fpoQOV  dvögl  dhj  olfiai^j  xaxoxv%ovvxt  svßovkia  avdsiila 
naQECxi ,  TcaQaiQov^ivov  avxov  iitiGxriyLriv  xs  xal  dlrid^  dol^icv 
xov  XQW^''  Jtad^etv  ^v  de  xi  xal  ßovkevOTjxai  noxa  x^v  dsovxfoVj 
äkld  xvsovCa  xp  ßovkavCavxu  «ä'    ivavxtag  e'ddvg  ij  Tiixv 

*  &vxi0XQiq)ev  avx^  xfjv  svßovXiav  inl  xd  novriQOxaxa  xäv 
dTtoßdösmv.  dXkd  xaOxa  [liv  etxs  xavxrj  she  ixBivi]  ixsv  ovx 
fX^  slnslv^).  Wenn  dem  Menschen  Glück  bestimmt  ist,  so 
wird  es  ihm  zu  Theil,  er  mag  so  ungeschickt  handeln  wie  er 
will;  ist  ihm  aber  vom  Schicksal  Unglück  zugedacht,  so  trifft 
ihn  dieses,  auch  wenn  er  gut  und  weise  handelt,  und  es  verkehrt 
sich  für  ihn  auch  das  was  scheinbar  Glück  ist  in  Unglück^). 
Ja  das  Schicksal  übt  auch  positiven  EinOuss  auf  den  Geist  des 
Menschen:  damit  seine  Schlüsse  in  Erfüllung  gehen,  bestimmt 
es  den  Willen  des  Menschen ,  es  treibt  ihn  an  auf  eine  bestimmte 
Weise  zu  handeln,  es  mag  diess  nun  zum  Besten  desselben  dienen 
oder  zu  seinem  Verderben^);   auch  hält  es  ihn  ab  z.  B.  einen 


^)  Pers.  I,  26,  p.  135:  6  ^€09,  oliiai,  ovx  TjveynBv  ig  tovto  xriv 
tiaiv  'ladvv^  dnoHBHQia9ai ,  inl  fisya  te  avtai  rriv  %6Xaaiv  i^riQtvBto, 
Ib.  p.  136:  ido-ati  17  tov  9bov  diUTi  ^oivdg  avtov  t^$  olnov^ivfis  iangazto- 
(iivrj,  Gotb.  IV,  30:  ngbg  tov  d'BOv  diciQQTJdriv  inl  tag  notvag  tmv 
nBnolit6V(ABvtov  ayofiBvoi,  Vand.  1,7:  avtri  BacLllanov  tmv  nBnolitBv- 
fiivmv  naTßiaßs  xiüig,  Gotb.  III,  1  extr.:  avtri  tCaig*IkSlßaSov  nBQiril&B 
xov  (povov,  ib.  IV,  33:  tio  Ovllfpap  ^vvsßri  ttg  tCaig  in  tov  d'BOv 
driXovott  ininBCovaa^  iv  taittp  (läXiata  disfpd'dQd'ai  ta  xtßQtp  tva  Srj 
avtog  tov  Kvngiavov  diBXQijoato,    Vgl.  Anecd.  3  g.  £. 

»)  Gotb.  III,  13. 

^)  Gotb.  IV,  34  in. :  anaaiv  olgnBQ  iSBi  yBvicd'at  Ttanöig  xal  tä 
BvtvxTjfiata  donovvta  Blvai  ig  oXb9'qov  änoHinQttat^  natu  vovv  rc 
analXd^ccvtBg  tamg  t^  toiavtjf  BvrjfiBQiqi  ^vv9tafp9BlQovtcii,.  Vgl.  Menand. 
Prot.  p.  435:  6  d'Bog  'qvina  av  ov  ivvBniXafißavritai  xal  tci  donovvta 
Bv  ßsßovXBvad'at  nBQidyBtai  ig  tovvctvtCov» 

*)  Pers.  I,  24:  17  nBnQ<o(isvrj  riyBV.  Gotb.  IV,  30:  ngog  tov  d^Bov 
SiagQi^driv  inl  tag  notvag  .  .  ayofisvoi,  Vand.  I,  Id:  t^  ''vxtl  '^Q^ßog 
(pigovaa  ndvttog  inl  Ta  SBdoyy^iva,  Gotb.  II,  29,  p.  270:  ifiol  iwoid 
tig  iyivBtOy  .  .  slvai  ri  daifioviovy  onsg  ttov  dvd'Qoinfov  afl  atgitpov 
tag  Siavolag  Ivtav&a  aysi  ov  dri  TtaXvfiri  totg  nBQaioviiBvoig  ovSB^la 
^aiai.  Hieber  gebort  auch  die  sehr  häufige  Wendung:  er  that  oder  er 
onterliess  diess  —  Sdsi  yag  (oder  ovx  i^Bt  oder  XQV^  Y^Q  ^^^f  ov%  tjv 


Fatalisinus.  233 

Gedanken  zu  seiner  Rettung  zu  fassen,  wenn  sein  Untergang 
beschlossen  isl^).  Und  zwar  ist  dieser  Einfluss  ein  absoluter^): 
vergebens  ist  alle  Anstrengung  das  Entgegengesetzte  zu  tbun, 
vergeblich  alles  Widerstreben^),  und  einem  tauben  Ohre  predigt 
wer  den  dem  Schicksal  Verfallenen  durch  Wort  und  Wink  zu 
warnen  versucht^).  Auch  sein  Verstand  ist  in  der  Gewalt  des  76 
Schicksals:  er  darf  nur  so  weit  sehen  als  das  Fatum  ihm  ge- 
stattet, dieses  schlägt  seinen  Sinn  mit  Blindheit  oder  gaukelt 
seinem  geistigen  Auge  Trugbilder  vor,  die  ihn  irre  führen^). 
Die  natürliche  Folge  dieser  völligen  Unterjochung  des  mensch- 
lichen Verstandes  und  Willens  ist  die  Unzurechnungsfähigkeit  des 
Individuums:  Verdienst^)  und  Schuld^)  kommt  auf  Rechnung 
des  Schicksals.  Für  die  Vollziehung  seiner  Schlüsse  wählt  das 
Schicksal    zu  Werkzeugen  nicht   blos  Menschen^)   sondern  auch 


yccQ  ovx)  avrm  yeviad'cci  ncciicog  (oder  dgl.),  vgl.  Pers.  I,  24,  p.  125.  134. 
II,  8.  13,  p.  213.  17.  20.  Vand.  I,  6.  II,  4.  Goth.  I,  4,  p.  22.  I,  9  extr. 
II,  8,  p.  179.  181.  II,  9  g.  £.  III,  13.    Anecd.  9,  p.  65. 

1)  Vgl.  Pers.  II,  8. 

')  Vand.  I,  21:  naQrjv  Idsiv  mgai^OfLivriv  triv  Tvxrjv  xal  noiovfte- 
vrjv  iniSsi^tv  <og  Snavtu  vb  avtijg  si^rj  ical  ovShv  avd'gdnia  iSiov 
yivoiTO. 

3)  Goth.  II,  9  extr.:  ot  ßdgßaQOt  ^yvmaav  mg  o  &s6g  ova  imri.ctptov 
ira  ßovXcvnaTOC  6dm  livai  xorl  di'  avto  ovit  av  nors  ij  nolig  ctpfatv 
aldiaifiog  &t7j.    Vgl.  Pers.  II,  13.    Vand.  II,  7. 

*)  Auch  göttliche  Warnungen  durch  Prodigien  sind  fruchtlos,  vgl« 
Pers.  II,  10. 

*)  Vand.  I,  19:  ovx  ix^  slneiv  o  xi  noxB  nad'mv  rsUpisQ  iv  tatg 
XiQolv  ixmv  x6  tov  noXsfiov  agdtog  id'sXovatog  avzo  zotg  noXepkiotg 
(iBd'fj%€f  nXfjv  sl  firi  ig  tov  d'sov  hocI  vcc  tijg  dßovXiag  ivcttpigsiv  ifstj- 
asi  (dementiae  auctorem  facere  deum) ,  og  rivl%a  ti  dvQ'Qoina  ^vfißrjvai 
ßovXsxai  q)XccvQov  tmv  Xoyiafimv  difxifLSVog  ngmtov  ovn  ia  td  ^vvoi- 
aovta  ig  ßovXrjv  ^gx^cQ-ai.  Vgl.  Goth.  III,  13:  xal  fiot  iSo^ev  ^  B^Xt- 
adgiov  iXia^ai  xd  x^^9^  i^^^  iXQV^  "^oxb  'Pmficcioig  ysviad'ai  xaxebg, 
fj  ßsßovXe'Sad'oti  filv  avxbv  xd  ßsXx^atf  ifinoSiov  Sh  xal  äg  tov  d!s6v 
ysyovivcti  .  .  xal  dn  avxov  xav  ßovXsvfidxmv  xd  ßiXxiaxa  ig  n&v 
xoivavxCov  BeXiaagim  dnoHSKQiad'ai,. 

^)  Qoth.  II,  29,  p.  270:  ifiol  .  .  ivvoid  xig  iyivsxo,  dv^goinav  (thv 
fj  avdgsiqi  ^  nXi^d'et  Jj  x^  SXXtj  dgsxjf  mg  ^maxa  nsgaivsa^'cci  xd  ngaa^ 
dOfLsvay  Blvai  Sb  xi  dcenioviov  u.  s.  w. 

')  Goth.  II,  26:  oaa  fiBiS^  ij  Ttaxd  dv&gmnov  dvvccftiv  iaxi  xorl 
(auch)  xoCg  inxaiHoai  x6  dvBynXijxoig  bIvcci,  z^f^^i^^^^xc ,  xrjg  TvxriQ  ifp' 
iavxrjv  ijtianmfLBVJig  ubI  xä  xmv  nBitQccypLBvmv  iyxliffiftT«.  • 

8)  Goth.  II,  8. 


234  Der  Geschichtsclireiber  Prokopius. 

Dämonen^),  ebenso  Thiere^),  und  auch  leblose  Gegenstände  ver- 
wendet es  für  seine  Zwecke^).  Urkunden  worin  der  Wille  des 
77  Schicksals  in  Bezug  auf  das  Künftige  niedergelegt  ist  sind  die 
sibyllinischen  Bücher^);  nur  ruht  unglücklicherweise  auf  ihnen 
der  Fluch  dass  man  sie  erst  dann  versteht  wenn  es  zu  spät,  dass 
man  die  Identität  des  geweissagten  und  des  eingetretenen  Er- 
eignisses erst  dann  erkennt  wenn  das  Ereigniss  vollendet  ist^). 
Der  Fatalismus  ist  ein  Versuch  die  wichtigsten  Fragen  des 
Lebens  zu  lösen,  dte  Fragen  nach  dem  Grund  und  dem  Zu- 
sammenhang der  Ereignisse,  das  Räthsel  der  Vertheilung  von 
Glück  und  Unglück.  Aber  der  Fatalismus  löst  diesen  Knoten  mit 
dem  Schwerte,  oder  auch  er  löst  ihn  gar  nicht,  sondern  knüpft 
ihn  fesler,  indem  er  alles  Wirkliche  geradezu  als  nothwendig 
und  unabänderlich  setzt,  und  zwar  nicht  als  logisch  nothwendig, 
so  dass  es  dem  Geiste  möglich  wäre  dieser  Nothwendigkeit  nach- 
zugehen ,  sie  in  sich  nachzucrzeugen ,  sondern  als  materiell  noth- 
wendig, als  von  einer  übermächtigen  Gewalt  entweder  ganz  grund- 
los, völlig  willkürlich,  oder  wenigstens  aus  Gründen  die  für  den 
menschlichen  Verstand  nicht  erkennbar  sind,  so  wie  es  ist  ge- 
ordnet. Diese  Lebensanschauung  ist  in  ihrem  Principe  und  in 
ihren  Consequenzen  unsittlich:  in  ihrem  Principe,  sofern  sie  alles 
Denken  aufhebt,  es  in  stumpfes  Brüten  und  Resignieren  ver- 
wandelt; in  ihren  Consequenzen,  sofern  sie  den  Nerv  des  Handelns 
zerstört,  die  Freiheit  vernichtet,  für  Alles  eine  Entschuldigung 
bereit  hält.  Wir  könnten  daher  nicht  begreifen  wie  ein  Mann 
von  Procop's  klarem  Geiste  und  ernstem  Streben  bei  einer  solchen 
Ansicht  sich  sollte  haben  beruhigen  können,   wenn  es  uns  nicht 


^)  Goth.  III,  19^  p.  358:  insl  ovx  ^v  tavta  ßovXofisvjj  xij  Tvxjif 
t03v  Tivog  qf&opBQmv  daniovcav  fiiJZ^^^  yiyovsv  17  ta  'PooftatW  ngay- 
(lata  itp^HQBv. 

')  Von  der  Hirschkuh  welche  die  Hannen  über  den  Don  zu  den 
Gothen  lockte  heisst  es  Goth.  IV,  5:  8o%Bi  fioi  d>g  ov9s  ällov  tov 
SV81IICC  ivtavd'a  itpävTi  oti  firj  tov  ysvsad'ai  xaxeug  xoCg  r^Ss  ^ttrifiivoig 
ßagßdQOig, 

3)  Goth,  JV,  32  wird  Totilas  durch  einen  Pfeil  tödtlich  verwundet 
ovx  £x  nQOVoiag  tov  nipLipavtog ,  .  .  aXXa  trjg  Tvxrig  tavta  ansvtoQOv- 
(isvTjg  tivog  xal  Id-vvccarig  inl  to  tov  avd'Qoijfov  (Tot.)  amiia  tov 
atguHtov. 

^)  Goth.  I9  24,  daher  hier  auch  in  Bezug  auf  das  von  ihnen  Voraus- 
gesagte das  fatalistische  ;(^^r<xt  gebraucht  ist. 

5)  ibid. 


Fatalismus.  235 

die  Zeit  in  der  er  lebte  etwas  erklärlicher  machte.  Das  Fatom 
ist  der  transseendent  vorgestellte  despotische  Kaiser,  seine  Fort- 
setzung im  Jenseits^).  VYie  der  Fragcr  sich  zufrieden  geben 
musste  wenn  sein  Warum?  zur  Antwort  erhielt:  der  Kaiser  hat 
es  befohlen,  so  gewöhnte  sich  das  Gemüt  und  der  Verstand  bei 
den  Fragen  des  Lebens  sich  damit  zu  begnügen  dass  das  Schicksal 
es  so  wollte.  Wie  des  Kaisers  Wille  nicht  weiter  zu  ergründen 
war  und  gegen  seine  Macht  Keiner  aufkam,  so  ist  des  Schicksals 
Schluss  ebenso  unergründlich  als  unwiderstehlich.  Alles  ist  und 
fiihlt  sich  absolut  abhängig  vom  Kaiser  und  vom  Schicksal.  Und 
je  eifersuchtiger  gerade  Justinian  alle  Regierungsthätigkeit  in  sich 
concentrierte,  je  eigenwilliger  er  dareinfuhr,  je  unheimlicher  er 
wühlte,  je  ängstigender  er  lauerte,  um  so  gewisser  musste  sich 
der  geisligen  Atmosphäre  der  Zeit  eine  dumpfe  Stille  und  Er- 
gebenheit mittheilen,  die  Procop  zwar  in  Bezug  auf  das  dies- 
seitige Fatum,  den  Kaiser,  zu  überwinden  suchte,  die  aber  zu 
tiefe  Wurzeln  geschlagen  hatte  im  Geiste  der  Zeit  als  dass  er 
sich  von  ihr  auch  in  Bezug  auf  das  jenseitige  Fatum  ganz  hätte  78 
losreissen  können.  Zwar  schwankt  er  oft  ob  er  wirklich  über  die 
natürliche  Ursache  hinaus  zu  einer  magischen  weiter  gehen  solle  ^); 
'aber  wie  tief  diese  Betrachtungsweise  mit  dem  Bewusstsein  ver- 
wachsen ist  zeigt  sich  darin  dass  Procop,  nachdem  er  ein  Er- 
eignlss  aus  immanenten  Ursachen  vollständig  erklärt  hat,  doch 
nach  transscendenten  greift.  So  führt  er  Vand.  I,  18  eine  lange 
Reihe  von  Umständen  auf,  ohne  welche  der  Krieg  mit  den  Van- 
dalen  ein  anderes  Ende  genommen  hätte,  vergisst  aber  dass  nun, 
da  einmal  diese  Umstände  eingetreten  sind,  dieses  Ende  ganz  < 
natürlich  und  innerlich  nothwendig  war,  und  erkennt  statt  dessen 
in  dem  Gang  der  Ereignisse  das  Walten  der  Tyche.  Ebenso 
verwundert  er  sich  Goth.  II,  29  p.  270  höchlichst  darüber  dass 
Witligis,   obgleich  der  Stärkere,  sich  an  Belisar  ergeben  habe. 


')  Andererseits  bemerkt  Dahn,  Prokop  S.  237  A.  2,  dass  das  Fatum 
auch  die  Flacht  vor  einer  despotischen  Persönlichkeit  sei:  ,,mau  will 
nicht  die  Willkür  und  Grausamkeit  des  irdischen  Herrschers  im  himm- 
lischen wiederfinden;  lieber  unterwirft  man  sich  einem  unpersönlichen 
Gesetz,  wenn  man  sich  im  einzelnen  Falle  nicht  mit  der  unerforsch- 
lichen  Weisheit  Gottes  trösten  kann.**    Vgl.  ebd.  S.  493. 

')  Vgl.  Vand.  II,  14.  20.  Goth.  IV,  6.  14,  wo  überall  gesagt  ist:  sie 
thaten  es  aus  psychologischen,  subjectiven  Gründen  xort  rt  d'svov  avtoug 
SisHoilvasVf  7j  Mal  xi  aixov  d'siov  inivrjaBv,  ^  %ai  rt  avtovg  Saifiovtov 
yiaii^vccyKttaEV  u.  s.  f.     Aehnlich  Goth.  IV,  21. 


236  Der  Geschichtschreiber  Prokopius. 

und  sieht  darin  einen  Beweis  dass  der  Mensch  für  sich  nichts 
ausrichte,  sondern  Alles  von  dem  Schicksal  herrühre,  das  die 
Herzen  seinen  Zwecken  gemäss  bearbeite.  Und  doch  hatte  Procop 
unmittelbar  zuvor,  ausser  der  Ilungersnoth  an  der  die  Gothen 
litten,  angeführt  dass  die  Golhen  sich  deswegen  an  Belisar  er- 
geben haben  weil  dieser  auf  ihr  Anerbieten  ein  weströmisches 
Kaiserthum  für  sich  einzurichten  scheinbar  eingegangen  war. 
Man  kann  sich  des  Verdachts  nicht  erwehren  dass  Procop  dieses 
Motiv  absichtlich  in  Schatten  gestellt  und  dagegen  die  Thätigkeit 
des  Schicksals  in  den  Vordergrund  gedrängt  habe,  weil  er  trotz 
der  lauten  Billigung  von  Belisars  Verfahren  doch  ein  stilles  Ge- 
fühl hat  von  dessen  Treulosigkeit.  Goth.  III,  13  ist  er  unschlüssig 
ob  Beltöar,  vom  Schicksal  geblendet,  eine  falsche  Massregel  er- 
grlÜTen  habe ,  oder  ob  sein  Verfahren  an  sich  zwar  weise  gewesen» 
vom  Schicksal  aber  zum  Schiimmen  gewendet  worden  sei,  wahrend 
er  doch  kaum  zuvor  gesagt  hatte,  Belisar  habe  selbst  eingesehen 
dass  er  einen  Fehler  gemacht  habe.  Ein  anderer  Fall  ist  folgen- 
der (aus  Goth.  IV,  12).  Justinian  hatte  den  alten  watschelnden, 
eben  von  den  Gothen  besiegten  Bessas  zum  Anfuhrer  gegen  die 
Perser  gemacht,  worüber  Jedermann  höhnte.  Aber  unerwarteter 
Weise  siegte  er  hier.  Statt  nun  zu  bemerken  dass  Bessas  eben 
um  seine  frühere  Schande  vergessen  zu  machen  sich  besonders 
angestrengt  habe,  oder  dass  dem  Anfuhrer  selbst  nur  zum  Tbeil 
der  Sieg  zu  verdanken  gewesen  sei  und  dass  also  Justinian's 
Wahl  jedenfalls  doch  ein  Missgrififwar  und  blieb,  —  stellt  Procop 
die  allgemeine  Betrachtung  an,  dass  es  eben  nicht  nach  der 
79  Meinung  des  Menschen,  sondern  allein  nach  Gottes  oder  des 
Schicksals  Willen  zu  gehen  pflege.  So  ist  das  Schicksal  der 
bequeme  Sundenbock  für  einen  Historiker  welchem  der  Druck 
der  Zeit  nicht  gestattet  seinen  Pragmalismus  mit  Olfenheit  und 
Consequenz  durchzuführen^). 

^)  Dahn  S.  218  f.  hebt  hervor  dass  Prokop,  als  ein  spätgeborner 
Sohn  der  Antike,  als  ganz  durchdrangen  von  der  Anschauungsweise 
und  Bildung  der  versinkenden  griechisch-römischen  Welt,  die  mit  dieser 
wesentlich  zusammenhängende  Schicksalsidee  sich  nothwendig  mit  habe 
aneignen  müssen,  und  dass  seine  Schriften  deutliche  Spuren  zeigen  von 
seinem  fortwährenden  Bemühen  diesen  Fatalismus  mit  seinem  Theismus 
zu  vermitteln. 


IX. 


Agathias  aus  Myrine^). 


^Aya%'Cctq  SxokuCtiTtog  ^ACiavbg  MvQivatog,  wie  ihn  die 
Ueberscbrift  in  der  Anthol.  Pal.  IV,  3  nennt,  gibt  *über  seine 
Persönlichkeit  nach  Sitte  der  Gesclüchtschreiber  selbst  an^):  i^oi 
^Aya^Cag  yilv  oi/ofta,  MvQiva  dl  naxQlq,  Msiivoviog  Si  naxiiQ^ 
xi^VTi  8h  tä  ^PcDiiaifDV  vofii^  xal  ol  t(Sv  Sixccöttiqlcjv  ay(Sv6g, 
MvQLvav  dd  g)rjiiL  . .  tiJv  iv  ty  ^Aaia.  Seine  Mutter  verlor  er  als 
dreijähriger  Knabe:  sie  starb  und  wurde  begraben  in  Byzantion^); 
sein  Vater  war  also  kurz  zuvor  dabin  gezogen,  um  hier  als  Lehrer 
der  Beredtsamkeit^)  zu  prakticieren.  Agathias  hatte  einen  Bruder^) 
und  eine  Schwester  Namens  Eugenia^),  die  aber  vor  ihm  starb ^). 
Seine  allgemeine  Vorbildung  erhielt  er  zu  Alexandria,  wo  er  im 
Jahre  554  B%vy%avB  äuctQißcov  naiSsiag  ivexa  ttjg  tcqo  täv 
v6ii(DV^),  aber  bald  nach  dem  Erdbeben  in  diesem  Jahre  nach 


')  Aus  Schneide win*  8  Philologus  I.  S.  495 — 511. 

')  Prooem.  p.  8  f.  der  Bonner  Aasgabe,  nach  welcher  wir  immer 
eitleren:  drjXmtiov  TtQOtsgov  ogtig  rs  sl(ii  mal  od'sVj  tovto  djj  to  roig 
^vyyQaq>Evatv  si^iofiivov  (sofern  Thuk  jdides  z.  B.  beginnt  Qovxvdidrjg 
*Ad'fjvaVog  ^wiyQaips  tov  nolsfiov  tmv  nsXonovvr}<ii<ov  xal  *AQ'qva{(ov\ 
woranf  das  oben  Angeführte  folgt. 

^)  Epigr.  43  lässt  Agathias  seine  todte  Matter  gefragt  werden :  nmg 
di  as  Boanogirj  %axixsi>  %6vig  (nämlich  da  du  doch  i^*AaCrig  bist)?  and: 
nottda  X£iteg7  woraaf  die  Antwort:  XQiitrjqov, 

4)  Ebendas.  heisst  es  sie  sei  yvvii  .  .  avSQog  igCatov^  ('qtogog 
i^  'AaiTig  ovvoiicc  Msfkvoviov. 

B)  Vgl.  das  Epigramm  von  Michael  (In  Niebahr*s  Ausg.  des  Agath. 
p.  xzi),  wonach  die  Myrlnäer  ausser  Agathias  auch  Mfiivoviov  rox^a 
Ttaaiyvrjtov  xs  mit  einer  Bildsäule  ehrten. 

«)  Vgl.  Agath.  Epigr.  53  f. 

0  Hist.  II,  15. 

8)  Hist.  II,  16,  p.  99. 


# 


238  Agathias. 

Byzantion  zurückkehrte^).  Seine  Geburt  mag  daher  ins  J.  536 
fallen.  In  Byzantion  vollendete  er,  da  Berytos  gerade  um  diese  Zeit 
durch  ein  Erdbeben  zerstört  worden  war,  ohne  Zweifel  den  fünf- 
jährigen juristischen  Cursus^);  wenigstens  l>efand  er  sich  im 
J.  558  während  eines  Erdbebens  in  dieser  Stadt  (s.  Hist.  V,  3). 
Nach  Beendigung  dieser  Studien  wurde  er  daselbst  Advokat; 
daher  sein  Beiname  ZxoXaCtvxog,  Diess  war  er  wenigstens  in 
der  Zeit  da  er  seine  Geschichte  verfasste  (vgl.  III;  1,  p.  138); 
aber  es  ist  wahrscheinlich  dass  zwischen  dem  Studium  und  der 
Advokatur  noch  andere  praktische  Wirksamkeit  in  der  Mitte  lag. 
Auch  fällt  in  diese  Zeit  der  erste  Theil  seiner  lilerarisclien  Thätig- 
keit.  Er  sagt  in  dieser  Beziehung  selbst  von  sich^):  itvyxccvov 
ix  aeccidiov  t^  i^po>f9  ^v&iiä  uvsifLdvog  Kcci  [i^s  iJQSöxsv  xä 
ifiv^^ttt  xäv  rijg  TtoLi^ttK'^g  xoitilfsvfiatcüv,  xal  zolvw 
nsxolriftaC  iiol  iv  i^afihQOLg  ßgccxda  axxa  noir^iiaxa  &  d^ 
^atpviaxä  in(»v6fiaffxai,  iivd'ovgxvöl  %Bicoixtki»,iva  igcytixotg 
xal  xäv  xotovvmv  dvänXecc  yorjxsviuixcDv.  ido^s  äi  (loc  Ttgö- 
xsQOv  xdxstvo  H^Uxaivov  xl  alvai  xal  ovx  axaQt  Bfys  xiSv 
intyQa^(iäxc9v  xa  aQxiysv^  xal  vscixega  öiakav^- 
vovxa  ixi  xal  x^^^^  oirtcuöl  Ttaq^  ivioig  vxoi^idvQiißiisva 
dysiQaiitl  xa  dg  olov  ra  alg  xavxov  xal  avaygi'^aifui 
^xaöxa  iv  xciS^co  dxoxaxQiiiava,  xal  ovv  d^  xal  xo&a 
ILOi  axxaxaXaöxai  axaQÜ  xa  TtoXka  dyavla^axa  tov 
li,lv  dvayxalov  X'^Q^'^  ^^  p^dka  acanoLr^iiiva ,  ciXlog  dh  t6mg 
XQogayc^yd  xal  ^akxxijQuc.  Und  Suidas  s.  v.  'Jya&iag  sagt: 
.  .  6  ygail^ag  xrjv  ^axd  Tlgoxomov  UsxoQtav  .  .  .  ovx<ig  Owaxa^a 
xal  axagä  ßißkia  ifi^axgd  xa  xal  xaxaXoyddrjv,  xd  xa 
xakovfiava  da(pviaxa  xal  xov  xvxXov^)  xcSv  vdov  iTCiygaii- 
(idxcov  av  aöxdg  aw^^av  ix  xäv  xaxd  xacQov  noir^xcSv, 
Agathias  hat  demnach,  ehe  er  an  sein  Geschichtswerk  gieog, 
folgende  Schriften  verfasst:  1)  Jaipviaxd,  hexametrisch  in  neun 
Büchern  (vgl.  Epigr.  36:  jdaq)viaxcSv  ßißkav  ^Aya%%ov  ivvadg 
al^t);  2)  eine  Sammlung  von  Epigrammen  seiner  Zeitgenossen; 
3)  viele  andere  (kleinere)  Gedichte,  auch  Prosaisches.  Dieses 
alles  ist  noch  unter  Justinian's  Regierung,  also  im  zweiten  und 


^)  Im  vierten  Jnhre  seines  Studiiuns  bekränzte  er  mit  drei  Com- 
militonen  ein  Bild  des  Erzengels  Afichael  und  verfasste  Epigr.  4  n.  23. 

')  Hist.  prooem.  p.  6. 

^)  lieber  den  Titel  sagt  Schol.  Anthol.  Pal.:  'Aiga^iov  .  .  ov  cti- 
q>avog  dXXa  avvaymyri  vi<ov  intyQuiifidtav. 


Leben  und  Schriften.  239 

dritten  Decennium  von  Agathias'  Leben,  vollendet;  denn  erst  nach 
d«ssen  Tode  Hess  er  sich  bewegen ,  damit  nicht  sein  ganzes  Leben 
mit  nutzlosen  Beschäftigungen  verloren  gebe,  sich  geschichtlichen 
Studien  «nd  Arbeiten  zuzuwenden  ^).  Je  weniger  aber  sein  ganzer 
bisheriger  Studiengang  auf  Historisches  angelegt  war,  je  weniger 
er  von  Anfang  darauf  ausgegangen  war  durch  Beobachtung  der 
Ereignisse  und  handelnden  Personen  sich  auf  den  Beruf  eines 
Geschichtschreibers  vorzubereiten ,  um  so  natürlicher  ist  dass  jetzt, 
nachdem  er  sich  für  dieses  neue  Feld  entschlossen,  die  Vor- 
arbeiten geraume  Zeit  in  Anspruch  nahmen  ehe  von  wirklicher 
Ausführung  die  Bede  sein  konnte.  Und  dass  es  Agalhias  mit 
diesen  Vorarbeiten  ernsthaft  nahm  beweist  der  Umstand  dass  er 
die  persischen  Chronisten  sorgfältig  studierte^),  beweist  auch 
seine  Klage  ^)  dass  es  ihm  unmöglich  sei  die  für  Form  und  Inhalt 
seines  Geschichtswerks  wünschenswerthen  Vorstudien  mit  Müsse 
und  gehöriger  Vollständigkeit  zu  betreiben;  er  müsse  von  Mor- 
gens früh  bis  Abends  über  Acten  sitzen  und  doch  noch  froh  sein 
wenn  er  recht  viel  zu  thun  bekomme,  weil  davon  sein  Lebens- 
unterhalt abhänge.  Er  konnte  diesen  Studien  und  Arbeiten  nur 
seine  Mussestunden  widmen,  so  dass  es  sicher  mehrere  Jahre 
lang  sich  hinzog.  Wir  werden  daher  den  Anfang  des  Nieder- 
schreibens erst  in  das  achte  Jahrzehnt  (J.  570  IT.)  setzen  dürfen. 
Bis  auf  fünf  Bücher  brachte  er  sein  Werk,  dann  schnitt  der  Tod 
die  Forlsetzung  ab.  Diess  erhellt  daraus  dass  Meuander  (Pro- 
tector)  den  Entschluss  zu  seiner  Geschichte  erst  nach  Agathias' 


')  Prooem.  p.  11:  y;,!}  Ttgotfgov  ig  ro  fvyypaqpetv  TtQoijYiiai  i]  (lovov 
i^  otov  ^lovattvog  6  viog  tyjv  avTOHQoitOQa  (istrjX^sv  igxrjv  'lovanvtavov 
xs^vij%6tog, 

*)  Hißt.  II,  29. 

')  Hist.  III,  1:  17  avyyQaq>fj  ,  .  odov  ts  mctl  ßiov  naQBQyov  Ifioi 
yiyvstai  xal  ovx  ivBOxC  fiOL  mg  ijdiata  i(ißid»aai  toig  7to9'oviiivoig. 
Siov  yuQ  tovg  ndlai,  aoq>ovg  axoXaitsgov  oivaXiysa&at  (iiiiija£(og  eyiaxi 
inccvtä  TS  ra  i%a<itaxov  ^v(iq>SQ6fisva  yvtofiazBvsiv  ig  to  dnQißhg^  xat 
dvccnvv9ccv€ad'aL  dvsifiivov  xs  d(iq>l  xavxa  ixsiv  xov  vovv  %otl  ilsv- 
Q'BQOVy  —  dXX'  iymys  ijfi8vog  iv  x^  ßaciXsim  axoa  ßißXldt,a  noXXd  dmmv 
dvdnXsa  nal  ngayfiaxcav  i£  iooQ'tvov  pi'ixQt  k<^^  h  fjXtov  JnaxaSvvxa 
iniieXsxm  xal  dvsXixxm  xat  X£av  fihv  äx^ofiat  xoCg  ivoxXovai4f  ^  dvioificti 
dl  av^'i^g  il  (iri  ivoxXotsv ,  mg  ovx  oUv  xi  fiot  ov  xmv  dvct,y%aC(ov  dno- 
XQfivxmg  i^minXccad'aL  avsv  novov  xol  dvgnctd's£ag.  Vgl.  Menand.  Prot, 
p.  439  Bonn.:  ov  (lot  ^vfLTiQsg  rjv  iv  x^  ßaaiXBCm  axoqi  9afii^Hv  xal 
ftnvoxfjxi  Xoymv  xdg  xmv  ivxvyxotvovxmv  olnsiovad'cii  tpQOvxidag. 


24D  Agathias. 

Tod  gefasst  zu  haben  versichert^),  nachdem  er  unmittelbar  vor- 
her^) gesagt  dass  er  erst  nach  Mauricius' Thronbesteigung  (August 
582)  sich  zu  dem  Werke  entschlossen  habe.  Beide  Data  fallen 
also  der  Zeit  nach  beinahe  zusammen :  Agathias  starb  im  J.  582. 
Dazu  stimmen  auch  alle  sonstigen  Andeutungen.  Das  späteste 
Ereigniss  das  beiläufig  von  Agathias  erwähnt  wird  ist  der  Tod 
des  Chosroes  (IV,  29).  Nun  starb  Chosroes  nach  48jähriger 
Regierung,  nachdem  er  im  fünften  Regierungsjahre  Justinians 
(531)  den  Thron  bestiegen  hatte  ^),  also  im  J.  579.  Auch  heisst 
es  IV,  29,  p.  272  von  dem  nachmaligen  Kaiser  Mauricius:  Mav- 
QixLOs  6  IlavXov  vno  Tißsgtov  K&vötavTlvov  rov  ^Pcofiaitov 
avtoxQccroQog  agxBiv  täv  xatä  tr^v  aco  taypLdtcav  JCQogzetay- 
lidvog.  Der  Beisatz  vno  Tiß.  Kcovav.  wurde  desswegen  gemacht 
weil  der  eigentliche  Lauf  der  Erzählung  noch  lange  nicht  mit 
Justinians  Regierung  zu  Ende  ist,  daher  die  Erwähnung  von 
etwas  unter  Tiberius  Geschehenem  ein  Vorgreifen  ist;  dass  aber 
Mauricius  nicht  als  späterer  Kaiser  prädiciert  wird  beweist  dass 
das  Werk  noch  unter  Tiberius  geschrieben  ist,  zu  einer  Zeit 
wo  Mauricius  noch  nicht  Kaiser  war,  also  vor  dem  J.  582. 
Agathias  ist  demnach  im  besten  Alter,  etwa  46  Jahre  alt,  ge- 
storben. Dieser  Berechnung  scheint  zu  widersprechen  die  Stelle 
des  Evagrius  V,  23:  tä  ixofisvcc  tovrco  (Procop.)  ^Aya%C(p  rp 
QTJTOQL  xaVicodvvy  i^ä  ta  noXity  xal  avyysvst  xad*'  iCgfidv 
tatogritai  ^ixQi  i^ijs  Xocypdov  tov  vsov  TtQÖg  'PtDpiaiovg  tpvy^g 
xal  rrlg  sig  rriv  ai}roi;  ßaöUsiav  anoxataötdöscog ,  MavQixiov 
.  .  vnoSe^apiivov  .  .  ßaöiXixßg  xal  .  .  xatayayövtog ,  h  xal 
liij  n&  hvxov  ixSsSoxorsg.  Denn  da  Evagrius  sein  Werk  im 
J.  593  schrieb  (s.  Fabricius  bibl.  gr.  VII.  p.  432.  not.  mm.  ed. 
Ilarl.),  so  scheint  nach  dieser  Stelle  Agathias  sein  Werk  noch 
nicht  herausgegeben  gehabt  zu  haben  zu  einer  Zeit  wo  er  nach 
unserer  Rechnung  längst  nicht  mehr  lebte.  Niebuhr  sucht  die 
Schwierigkeit  auf  dem  W^ege  der  Interpretation  zu  lösen.  Er  sagt^): 

^)  Er  sagt  (bei  Suidas  s.  v.  MivavdQog):  opftij^i^y  l%l  ti^vSs  avy- 
ygatp^p  aQ^aa^ai  fisra  rrjv  dnoßimaiv  tov  'Ayad'iov  xal  tijg  lexoqCag 
noirlßac^ai  x-qv  aq%r^v,    (Menand.  Prot.  p.  439  Bonn.) 

*)  ib.:  ifCBl  Mavqimog  xo  ßaaiXsiov  9isdi^aaxo  HQcixos  ,  ,  iv  xiß 
xoxs  iymye  .  .  avaXoyiiofisvog  '^v  <ig  ova  ^v  XQsmv  avovrjxä  fis  «cpi- 
voaxstv.  mg  oiv  av  iirj  dia  navtog  Ttsvsfißaxolrjv  ^  mQfii^d'riv  inl  xifvÖB 
xriv  ovyyQUtpriv  xrJl. 

8)  Vgl.  IV,  29,  p.  271.   - 

*)  Vita  Agathiae,  p.  xy,  not.  22. 


Herausgabe  seines  Geschichtswerks.  241 

verba  sl  xal  fi,  it.  ixS.  ad  scriptores  quos  nominaverat  referri 
nou  possunt;  quae  si  Evagrii  mens  esset,  ratione  iubenle  scri- 
psisset  Tvyx^'^ovöLV,  sunt  illa  omnino  mendosa  et  nescio  qua  de 
re  interpretanda  quae  Mauricii  animum  movere  potuerit  ut 
supplici  regi  auxiiium  denegaret.  Das  heisst:  ich  kann  die  Stelle 
nach  ihrer  wörtlichen  Erklärung  nicht  gebrauchen  und  weiss  doch 
auch  keine  andere;  daher  die  abgegriffene  Ausflucht  eine  Tex- 
tescorruption  anzunehmen.  Denn  dass  ixv%ov  vom  Standpunkt  des 
Lesers  aus  gesagt  ist,  wie  in  Briefen  (in  dem  Augenblicke  da  ich 
dieses  schrieb  war  die  Herausgabe  noch  nicht  erfolgt),  liegt  am 
Tage^).  Xü  Wahrheit  ist  nichts  Corruptes  an  der  Stelle,  nur  der 
Ausdruck  ist  ungenau.  Die  Nichtherausgabe  ist  nur  bei  Johannes 
wörtlich  zu  nehmen ,  dessen  Werk  aber  Evagrius  vermöge  seiner 
persönlichen  Verbindung  mit  ihm  im  Manuscript  kannte;  die  Heraus- 
gabe von  Agathias'  Werk  war  durch  den  Tod  des  Verfassers  ver- 
zögert worden  oder  hatte  es  wenigstens  Evagrius  noch  nicht 
erhalten.  Diess  sagt  er  deutlicher  IV,  24:  nanQuxt at  äh  xal 
€t€Qa  Tc5  NaQ0y  .  .  Stcsq  ^Aya%'C(f^ybhv  yiyQaTCxav  t^  qtjtoql, 
ovTtco  Sh  ig  ^(lag  dtptxtai.  Statt  dass  Evagrius  von  dem 
einen  Werk  gesagt  hätte:  es  ist  noch  nicht  erschienen,  von  dem 
andern:  sein  Verf.  hat  es  noch  nicht  herausgegeben,  warf  er 
beides  zusammen  in  einen  Ausdruck.  Dasselbe  hat  er  auch  bei 
den  Worten  a%Qv  u.  s.  f.  gethan ,  die  grösstentheils  ausschliesslich 
von  Johannes  gelten,  da  Agathias  nur  sieben  Jahre  des  Justinian 
beschrieben  hat  und  alles  Weitere  von  da  an^)  Johannes.  Wer 
noch  zweifelte  an  der  Möglichkeit  und  Richtigkeit  dieser  Erklärung, 
die  für  uns  nicht  zweifelhaft  ist^  der  musste  zu  der  Annahme 
seine  Zuflucht  nehmen ,  Agathias  habe  ums  J.  580  die  fünf  Bucher 
herausgegeben,  darauf  noch  lange  weiter  gelebt,  aber,  trotz  seines 
rüstigen  Alters  und  seiner  wiederholt  ausgesprochenen  Absicht 
der  Fortsetzung,  sein  Werk  noch  im  J.  593  nicht  herausgegeben 
gehabt  und  es  auch  nie  gethan,  so  dass  es  ganz  verloren  gieng 
und  Menander  an  die  fünf  ersten  Bücher  anknüpfen  musste,  — 
eine  Annahme  welche  von  Unwahrscheinlichkeiten  wimmeln  würde. 


^)  Vgl.  z.  B,  Evagr.  IV,  29:  ort  zavzGL  (Gegenwärtiges)  ^^a- 
q)Ov  xtI. 

*)  Vgl.  Fragm.  Johannis  Epiph.:  rä  (ihv  oaoc  *Pani>aioC  %b  %al 
M^dot  noXsfiovvTsg  dXXijXots  ^na&ov  xb  Korl  ^ÖQUCav  .  .  y^ygoentat 
'Jyad'ia  kxX. 

Teuf  fei,  Studien.  16 


242  Agatkias. 

Agathias'  Werk  schliesst  sich  unmittelbar  an  das  von  Procop 
De  bellis  an.  Agatbias  erklärt  in  dieser  Beziehung  selbst^):  rd 
TcXstöta  t(ov  xard  tovs  ^Iov0xiviavov  %q6vov^  ysysvriiiav(ov 
BTceiSii  IlQoxonC^  x^  ^toql  Katöagsiad'sv  ig  rd  dxQißhg  dvayi- 
yQajtzatj  naQitiov  ixstva  iyboiye  uxb  Siq  anoxQcivxcag  slQtifLiva, 
xd  öh  [isx^  ixBtvov  (og  olöv  xs  dul^ixiov.  Und  so  übergeht 
er  auch  im  Laufe  seines  Werks  alles  was  schon  Procop  beschrieben 
oder  erzählt  hat,  vgl.  z.  B.  II,  19:  &  Sri  lycyys  itaQiTHic  dito- 
XQdfvxcag  yaQ  nov  IlQOXOTtCfp  xip  qtjxoqi  xd  (lixQt  xävSs  dvayi- 
ygaitxaL,  oder  IV,  15  über  Rhodopolis:  xavxa  ÖTtotov  xiva 
xaxslgyaoxo  xqotcov  ov  ^ot  slgrjösxaL^  {og  ö'^  ÜQOxoitvp  x^ 
^TJxoQi  aaiffDg  dvaysyQaiifisva.  Er  beginnt  daher  mit  Justinian's 
26  Stern  Regierungsjahre  und  fuhrt  die  Geschichte  bis  in  dessen 
32stes,  so  dass  seine  fünf  Bucher  die  sieben  Jahre  552 — 558 
umfassen.  Dass  die  Weiterföhrung  in  der  Absicht  des  Agatbias 
lag  erhellt  ausser  vielen  anderen  Verweisungen  auf  später  zu 
Erzählendes  besonders  aus  dem  letzten  Capitel  (V,  25),  wo  es 
heisst:  dkXd  (xavxa)  v0xbqov  (als  J.  558)  l^vvrjvdx&ri  xaC  pLoi 
aiQfjöBxai  Bxa0xa  TCQogrixovxcag  aQ^io^o^iivp  ag  olov  xs  xfi 
x(Sv  XQOVCDV  bybokoyla.  Aber  nicht  nur  hierin  hat  er  sich  an 
Procop  angeschlossen  sondern  auch  in  der  Darstellung,  zwar 
nicht  ganz  in  der  Anordnung  (denn  Agatbias  hat  mehr  eine  syn- 
chronistische Anlage),  aber  z.  B.  in  dem  episodenreichen  Gange 
und  in  vielen  eigenthumlichen  Wendungen,  wie  dem  häufigen  SSol^i 
liov  ovx  ano  rpojrov  bIvul,  in  der  pathetisch  und  gewählt  sein 
sollenden  Umschreibung  des  verbum  finitum  durch  Zeitwörter 
wie  Syvcj ,  in  der  nachhinkenden  Phrase :  xovxodv  ^ihv  ovv  Tcigi 
Sg  Tttj  Bxdcxip  q>CXov  xyÖB  oIb0%'(d,  Agatbias  spricht  von  Procop 
mit  grosser  Achtung;  im  Vergleich  mit  ihm  nennt  er  sich^  iXd- 
XLiSxa  Bidoxa,  BtyB  aga  diq  xal  ikdxioxa^  und  tritt,  wo  er  mit 
ibm  nicht  unbedingt  übereinstimmt,  bescheiden  auf;  aber  höher 
als  Procop  gelten  ihm  doch  die  eigentlichen  Quellen,  vgl.  IV,  30: 
Bi  xal  TlQOXonlco  xä  qtjxoql  ivia  xäv  ivcl  Kaßddy  dg)fiyfj^svxa)v 
BxiQcag  ditr^yyaXxai^  dXV  '^gitv  dxoXovd^ixdov  xotg  IlBQCixotg 
XQOvoyQdq)OLg  xal  xc5v  iv  avxotg  (pBQO^avov  dg  dXrj&söxdQCDV 
dvxtXfjJCXBOv.  Und  wirklich  kann  sich  Agatbias  mit  Procop  entfernt 


^)  Prooem.  p    11,  vgl.  p.  14:  iym  ig  rd  i%öpLEVct  tavtcav  (das  von 
Procop  Erzählte)  stiii, 
*)  IV,  26. 


Charakter  seines  Creschichtswerkes.  243 

nicht  messen^).  Ihm  fehlt  Procop's  klare  Anschauung,  sein  staats- 
niniiuischer  Blick,  sein  genaues  Abgrenzen  der  Verhältnisse,  seine 
Detailkenntniss.  Zwar  hat  auch  Agathias  anschauliche  Schilde- 
rungen: so  ist  V,  3  die  Wirkung  des  Erdbebens  in  Byzantion 
lebendig,  und  IV,  18  ein  nächtlicher  Ueberfall  ganz  malerisch 
und  spannend  dargestellt;  die  Römer  schleichen  in  der  Dunkel- 
heit sich  leise  heran  und  sehen  von  der  Wache  sieben  Mann  um 
ein  Feuer  herum  schlafend  liegen,  der  Achte  Macht  noch  auf 
den  Ellenbogen  gestutzt,  aber  wackelt  dem  Einschlafen  nahe  mit 
dem  Kopfe;  da  gleitet  ein  Römer  aus  und  fällt  zu  Boden,  — 
vom  Geräusch  erweckt  fährt  die  Wache  auf  und  starrt  hinaus  in 
die  Finsterniss,  regungslos  stehen  die  Römer,  wie  angewachsen 
'  an  den  Boden.  Aber  Stellen  dieser  Art  sind  sehr  selten  bei 
Agathias,  desto  häufiger  dagegen  solche  die  es  zu  fühlen  geben 
dass  der  Verfasser  nicht  selbst  Augenzeuge  war  und  von  der 
Localität  keine  genauere  Kenntniss  besitzt.  So  setzt  er  I,  8  Cumä 
nach  Etrurien  und  sagt  II,  1:  ysöav  .  .  iv  ösl^tä  fihv  i%ovxeq 
ttt  TvQörivixa  xekayri^  ixl  ^dxBQa  Sh  avrotg  TcaQSxizavro  oC 
xov  ^loviov  TcoXnov  ^tjy^tvsg.  Dagegen  macht  sich  im  Materiellen 
wie  im  Formellen  der  Dichter  auf  eine  unerwünschte  Weise  geltend. 
Im  Materiellen ,  sofern  er  mit  seiner  Phantasie  die  Darstellung  des 
Wirklichen  trübt  ^)  und  die  klaren  Umrisse  verwischt  und  ver- 
wäscht. So  stellt  es  Ag.  I,  1  dar  als  ob  nach  Besiegung  des 
Wittigis  die  Gothen  ganz  gemütlich  hingegangen  wären  wohin 
es  jedem  beliebte^),  während  nach  Procop.  Goth.  IV,  35  eine 
ausdrückliche  Ciausel  des  Vertrags  sie  aus  dem  eigentlichen  Italien 
wegwies  und  auf  Oberitalien  beschränkte,  eine  Bestimmung  welche 
freilich  nicht  streng  eingehalten  worden  zu  sein  scheint,  indem 
wir  bald  darauf  z.  B.  in  Cumä  Gothen  finden^}.  Da  wir  indessen 
wenig  Gelegenheit  haben  Agathias'  Angaben  mit  denen  von  andern 
Schriftstellern  zu  vergleichen,  so  bemerken  wir  diese  Eigen- 
thümlichkeit  weniger  deutlich  als  beim  Formellen ,  in  seiner  ganzen 

')  Niebuhfi  Vit.  Ag.  p.  xvn:  quem  si  Procopio  cum  ingenio  tum 
civili  militarique  prudentia  longo  inferiorem  esse  Gibbono  facile  con- 
cesseris,  fatebere  tarnen  eadem  ratione  super  ceteros  omnes  qui  con- 
secuti  sunt  eminere,  virum  autem  multo  meliorem  esse  Procopio. 

«)  Agath.  I,  8. 

^)  Vgl.  z.  B.  seine  Schilderung  des  (letzten)  Siegs  von  Belisar  über 
die  Hunnen  mit  der  nüchternen  des  Theophanes  I.  p.  361  f.  Bonn« 

*)  ig  Tovaniav  xal  Aiyovglav  xal  o  ri  iHccazm  d'viirJQsg  ts  r^v  xal 
sl&iöiiivov  ixtoQOvv. 

16* 


244  Agathias. 

Behandlungs-  und  Darstellungsweise.  Dahin  gehört  schon  sein 
Vorsatz  nach  Kräften  ratg  Mov0aiq  tag  XaQttag  xara^Lyvii- 
vat^),  dem  er  auch  in  seiner  Weise  treulich  nachkommt,  sein 
sentimentales  Verweilen '  bei  idyllisch  anlilingenden  Zuständen  ^), 
sein  häufiges  Einstreuen  poetischer  Blumen  und  Bilder^),  sein 
Anbringen  von  Citaten  aus  Dichtern^),  seine  Vorliebe  für  gesuchte, 
poetische  Ausdrücke^).  Ueberhaupt  ist  sein  Griechisch  so  als 
wäre  es  nicht  seine  Muttersprache,  sondern  hätte  er  es  aus  Buchern 
gelernt,  aus  dem  Lexicon  ungeschickt  zusammengekehrt,  so  ge- 
spickt ist  es  mit  M^orten  und  Wendungen  aus  Homer,  Herodot, 
Pindar  u.  a.  Je  mehr  aber  unter  den  Schriftstellern  dieser 
Geschmack  und  dieser  Stil  einriss,  um  so  grösser  musste  die  Kluft 
zwischen  der  Schrift-  und  der  Volkssprache  werden.  Neben  dieser 
Geschraubtheit  geht  aber  zugleich  eine  affectierte  Nachlässigkeit 
des  Stiles  her:  Anakoluthien  finden  sich  in  Masse  bei  Agathias®}, 
wofern  wir  in  dieser  Erscheinung  nicht  vielmehr  ein  Absterben 
des  grammatischen  Sinnes  und  Verständnisses,  des  feineren 
sprachlichen  Tactes  zu  erkennen  haben.  Ebenso  kommt  das 
Wiederauffassen  der  Construction  nach  dem  kleinsten  Zwischen- 
satze'') so  oft  dass  es  lästig  wird;  die  Darstellung  erhält  dadurch 


i)  III,  1. 

*)  Wie  'I,  2  bei  dem  friedlichen  Vernehmen  der  Franken  unter 
einander,  wo  er  dann  mit  der  höchst  originellen  und  tiefen  Bemerkung 
schliesst:  Smaioavvrj  %al  qnXorrjg  otg  &v  ivrQuq)6^rj  svdocifiovct  r^&rjai 
noXixBCav  %al  [loviiiov. 

3)  Vgl.  I,  15  von  dem  zum  Anführer  einer  Abtheilung  ernannten  Ful- 
karis:  ov  XCav  ocncavaro  t^g  tifi'^g,  dXXd  ßQocxv  ti  svrifieQ'qaag  ägnsQ 
iv  ovsiQatog  svqiQOövvrj  xaxB^av  ^<s%b  }ioc'üaatQoq>'qv  x^g  zs  ocQX^^ 
xcifl  tov  ߣov. 

^)  Wie  aus  Pindar  ukqov  ämtov  II,  30  und  Ttdorjg  daxoXiag  vitig- 
TSQOV  III,  1. 

*)  Z.  B.  düTSittp^g  xal  ddovtitog,  x'^tog  (Mangel),  dovsCv  (=^  %tveCv), 
niavvog,  ^xari,  xiiiccXqtrig  (=  Ttfiiog),  ßovnaig,  dnayXat^oD^  SiaiCQvaiov, 
OQ&QOv  j|;a^(X(r<ro/i'£i'Ov ,  dq)Qoavv7ig  ^^  ^^^  ddmCag  i^vqitaza  %xX.  Eine 
verhältnissmässig  grosse  Zahl  von  Wörtern  kommt  nur  bei  ihm  vor; 
Niebuhr  hat  sie  im  Index  graecus  besonders  bezeichnet. 

^)  II,  3:  TOT£  dl)  Ol  ^Qayyoi  dcBXvSTO  fisv  ccitOLg  ^  naQccta^ig ,  nard 
6q>ag  81  ysvofiEvov  diByCvtoo%ov  mtl. 

')  Z.  B.  JI,  22:  Tovg  lUgaocg  -^  —  dXXd  tovrovg  ys  tovg  IleQattg 
%xX,  III,  18:  Bdßag  6  atgatriyog  Sg  dr]  röov  iv  x^  Kolxt^t  ZfOQOi  tS^v- 
[livoav  iiinXslaxov^Pci}fioi£(ov  '^yBtxo,  dXX'  ovxog  ys  6  Bdßag  %xX.  ib.  21: 
ttt  ((DfiocXnal  Svo  XQioinovxOQOi  ag  9rj  ^imgood'BV  iq)7}V  yLBvdg  dv8q&v 
vno  xoov  nsgaav  dtpr^grfa&ai ,  avrai  Sri  ovv  a£  xqi€C%6vtoqol  hxX, 


Charakter  seines  GescHichtswerkes.  245 

etwas  Gedehntes ,  Geschwätziges  und  zugleich  etwas  Präten- 
tiöses und  Gelecktes,  wie  wenn  sich  Jemand  nach  der  kleinsten 
Verrichtung  die  Hände  wüsche.  In  derselben  wichtigthuerischen 
Manier  ist  die  Gewohnheit  des  Schriftstellers  das  ihm  im  Sinne 
liegende  Positive  durch  Vorausschicken  des  negativen  Ausdruckes 
zu  heben,  z.  B.:  171/  01;  t(Sv  €QQad'V(ii]fiiv(ov  6  UaXXädLog^ 
äXXä  0tQat$vfiarog  iiyetto  ^(Qfiatxov^)  u.  dgl.  Natürlich  lässt 
er  auch  nicht  gern  eine  Gelegenheit  Reden  einzuflechten  un- 
benutzt; z.  ß.  lässt  er  I,  16  den  Narses  eine  ausfuhrliche  kunst- 
gerechte Rede .  halten ,  nachdem  er  unmittelbar  zuvor  gesagt  dass 
Narses  sich  auf  solche  Dinge  gar  nicht  verstanden  habe,  —  womit 
der  eitle  Schriftsteller  andeuten  will  dass  die  Rede  sein  eigen 
Werk,  seine  freie  Schöpfung  sei.  IV,  3  —  10  ergreift  er  die  Ge- 
legenheit des  Processes  über  die  Mörder  des  lazischen  Königs 
Gubazes  um  wortreiche  Gerichtsreden,  der  Ankläger  und  der 
Angeklagten,  anzubringen.  So  hat  er  auch  die  verkehrte  An- 
sicht, die  Zuthat  seiner  Reflexionen  für  etwas  Wesentliches  und 
Nothwendiges  zu  halten.  Er  erklärt  I,  7:  iiioiys  xal  Xiav  agdöxsi 
aitavta  ig  (ii0ov  ayeiv  tä  €yv(o0(idva,  xal  rä  fihv  %QriCxa 
täv  stQay(idtcav  iv  iitaivfp  novBt0%'aiy  xäv  Se  ov%l  xoiävSs 
xcctrjyoQstv  avaq)av8ov  xal  tb  ä*5v(i(poQov  ÖLBkiyxsiv;  denn 
bestände  die  Geschichte  in  nackter  Erzählung  der  Thatsachen, 
wodurch  wurde  sie  sich  von  den  Märchen  unterscheiden  die  man 
zur  Spindel  erzählt?  Er  betrachtet  demnach  die  Geschicht- 
schreibung als  eine  Veranlassung  seine  verschiedenerlei  Kennt- 
nisse und  Gedanken  oder  Einfalle  an  den  Mann  zu  bringen.  Die 
Kritik  der  Ereignisse,  welche  er  zugleich  in  der  Stelle  verspricht, 
hält  sich  sehr  im  Zahmen:  die  Innern  Verhältnisse  des  Staats 
berührt  er  fast  nicht,  und  das  was  nach  aussen  geschah  verstand 
er  nicht  in  dem  Grade  dass  er  ein  solides  Urteil  hätte  darüber  fallen 
können.  So  beschränkt  sich  diese  ganze  Kritik  darauf,  aus  dem 
religiös -humanen  Gesichtspunkt  Auffallendes,  wie  Grausamkeiten, 
zu  rügen'-'),    über  Anderes   seine  Bewunderung    auszusprechen^). 


^)  I,  9,  vgl.  ib.  15:  avS^a  ov  xmv  aatjfKav  Kai  Xavd'o^vovtmv  iXX' 
dvdenotcctov,  ebenso  II,  7. 

«)  Vgl.  IV,  19  extr. 

3)  I,  2:  ccyapkaL  avtovg  (die  Franken)  ig  tä  fidXiata  iyoays  tmv  ts 
aXXatv  iv  ixovaiv  dyad'mv  xal  t^g  ig  dXXijXovg  dtTiaioavvrig  ts  nal 
Ofiovoictg.  Durch  ein  solches  ungesalzenes  äyafiai  avtovg  Syooys  x'^g 
svTioafLiag  verdirbt  er  sich  IV,  18  seine  gelungenste  Schilderung. 


246  Agathias. 

Der  Verfasser  von  Liebesgedichten ,  der  Sammler  der  literarischen 
Kleinigkeiten  seiner  hochgestellten  ZeHgenossen  (z.  B.  des  Silen- 
tiarius  Paulus)  war  auch  am  wenigsten  der  Mann  das  strenge 
Gericht  der  Geschichte  zu  üben.  Indessen  fehlt  es  ihm  keines- 
wegs an  gesundem  Urteil,  wenigstens  ist  ganz  klug  die  Bemer- 
kung^), Procop  habe  den  Schritt  des  Arcadius,  seinen  unmündigen 
Sohn  dem  Perserkönig  Isdigerd  anzuvertrauen,  nur  ex  eventu 
gelobt;  es  sei  Zufall  dass  es  gut  abgelaufen  sei,  ein  ungünstiger 
Erfolg  sei  wahrscheinlicher  und  daher  Arcadius'  Verfahren  jeden- 
falls ein  thörichtes  gewesen.  Auch  von  den  eingestreuten  Reflexionen 
sind  manche  nicht  ohne  Wahrheit  und  Werth^),  noch  mehrere 
aber  trival  und  langweilig^).  Unter  den  Episoden,  die  er  gleich- 
falls für  ein  wesentliches  Erforderniss  und  einen  Schmuck  seiner 
Darstellung  hält^),  zeichnet  sich  aus  die  auf  (freilich  indirecten) 
Quellenstudien  beruhende  Uebersicht  der  persischen  Geschichte 
IV,  24 — 29,  auf  die  er  sich  auch  nicht  wenig  zu  Gute  thut 
und  an  deren  Schlüsse  er  die  naive  Verwunderung  ausspricht 
wie  ihm  dieser  Excurs  so  ausfuhrlich  gerathen  sei;  aber  er  sei 
eben  von  der  Sache  fortgerissen  worden.  Von  sich  selbst  spricht 
unser  Verfasser  besonders  gern,  er  drängt  seine  Persönlichkeit 
auf  eine  Wehe  vor  die  gegen  Procops  stolzbescheidene  Haltung 
unangenehm  absticht.  So  hebt  er  gleich  im  Anfange  seiner  Ge- 
schichte (Prooem.  p.  9)  lärmend  hervor  wie  er  es  ganz  anders  an- 
greifen vverde  als  alle  Historiker  seiner  Zeit,  die  immer  parteiisch 
und  einseitig  seien ;  er  dagegen  wolle  unter  allen  Umständen  die 
Wahrheit  zu  seinem  Grundsatze  machen  ^) ;  aber  es  geht  ihm  dabei 
wie  mit  der  Vollständigkeit,  die  er  ebenfalls  verspricht®),  — der 

1)  IV,  26,  p.  265. 

2)  Vgl.  II,  23  über  die  Relativität  der  sittlichen  Begriffe;  IV,  16 
über  ein  Heer  ohne  Anführer;  V,  5  über  die  Besserung  ans  Angst: 
nuloito  öl  av  71  toiavtTj  OQpLiq  ov  dmaiocvvrj  ag  äXrid'cog  ovSl  'svasßBia 
— ,  ttlXä  iiri%avri  ziq  ärantog  xal  olov  if/,noQitt  atpaXsQoatdtrj  i<p*  ä  xo 
nagov  d^&sv  iyKpvystv  nccl  nagaHQOvsad'oct. 

3)  Vgl.  z.  B.  n,  1  oder  IV,  28  f.  über  das  breitgetretene  Thema  von 
der  Veränderlichkeit  des  Glücks. 

-•)  in,  1. 

^)  Prooem.  p.  10:  i(iol  xo  dXrjd'i^sad'ai.  nsgl  nXsicrov  Butiov  ig  o 

^)  ibid.:  fi^Sfivriaofiai  xmv  oaa  nagd  xs  ^Pafioiiotg  %ctl  xmv  ßagfidgcav 
xotg  nXBlcxoig  ig  xods  xov  Ttocigov  ingdx&ri  aliaqpifyi^Tof  ov  fiovov  vno 
dvdgoov  ixi  ßtovvxcop  xv%ov ,  {laXXov  pihv  ovv  %al  xmv  rjdrj  dnoixofidvtDV, 
xocl  ovSevoxt  nagjjom  xmv  Xoyov  d^imv. 


Charakter  seines  Geschichtswerkes.  247 

Wille  ist  gut,  aber  die  Tbat  bleibt  hinter  dem  Willen  und  dem 
Worte  zurück.  Er  hat  zwar  gewiss  nie  wissentlich  der  Wahrheit 
zuwider  gesprochen,  aber  ebenso  wenig  hat  er  die  ganze  Wahr- 
heit gesagt.  Er  hält  sich  in  Bezug  auf  Justinian  einfach  an  das 
Officielle  und  schiebt  die  Gewaltthätigkeiten  und  Verbrechen  die 
er  berühren  muss  ganz  denen  in  die  Schuhe  die  blos  Werkzeuge 
waren  *).  So  rechtfertigt  er  in  allen  Beziehungen  das  Urteil 
Gibbon's,  der  ihn  im  Unterschiede  von  Procop,  dem  statesman 
und  soldier,  als  poet  and  rhetorician  charakterisiert.  Glaubte 
er  doch  selbst,  es  sei  zwischen  Poesie  und  Geschichtscbreibung 
nur  etwa  ein  Unterschied  wie  zwischen  dem  blauen  Zimmer  und 
dem  rothen  Zimmer,  und  alles  Unterscheidende  bestehe  nur  in 
dem  Metrum;  es  fiel  ihm  daher  nicht  ein  die  Kräfte  und  Eigen- 
schaften die  er  bei  seiner  Versfabrikation  hatte  spielen  lassen 
bei  der  Geschichtschreibung  zu*  dämpfen  oder  zurückzudrängen, 
sondern  denselben  Apparat  den  er  bei  seinem  Dichten  angewendet 
hatte  nahm  er  auch  zur  Geschichtschreibung  mit  sich. 

Das  in  den  fünf  Büchern  Erzählte  fällt  in  eine  Zeit  in 
welcher  Agathias  noch  zu  jung  war  und  noch  zu  sehr  mit  den 
Studien  beschäftigt  als  dass  er  von  dem  was  ausserhalb  Byzantion 
vorgieng  hätte  Kunde  haben  können.  Und  da  er  auch  später 
Byzantion  wenig  verlassen  zu  haben  scheint^),  so  kann  er  nur 
für  das  Erdbeben  in  Alexandria  (U,  15)^  auf  Kos  (II,  16)  und 
in  Byzantion  (V,  3)  als  Augenzeuge  'gelten.  Für  den  grössten 
Theil  des  Erzählten  scheint  er  daher  sich  an  die  mündlichen 
Berichte  von  Augenzeugen  gehalten  zu  haben;  vgl.  III,  4:  ovro 
[ilv  ovv  xbv  Fovßä^fiv  xal  iid  rotgds  (bis  de  caussisj  dvy- 
Q'^öd'aL  fpaöiv  oC  rä  dxQtßsiStata  yiyvdöxetv  7CEiti0xsvii,ivoi^ 
—  woraus  hervorzugeben  scheint  dass  ihm  keine  amtlichen  Quel- 
len zu  Gebot  standen.  Ebenso  sagt  er  II,  10:  iiioC  ttg  tc5v 
i7CLX(xiQC(Xiv  (von  Italien)  iXsystov  xl  äg)tj  yByQdq)%'ai;  und  zwar 
war  dieser  Italiener  in  Byzantion ,  nicht  aber  Agathias  in  Italien, 
wie  daraus  hervorgeht  dass  er  im   sogleich  Folgenden  die  Unge- 

•9, 

wissheit  äussert  ob  die  fraglichen  Distichen  wirklich  eine  Inschrift 
gewesen  oder  nicht  vielmehr  überhaupt  nur  gedichtet  worden 
seien.  Für  die  in  die  Vergangenheit  zurückgreifenden  Einleitungen 
und  die  gelegentlichen  Bemerkungen  und  Excurse  benützte  Agathias 

*)  Vgl.  V,  3  über  Anatolius. 

']  Von  einem  Aufenthalt  in  Trailers  (etwa  bei  Gelegenheit  einer  Keise  in 
seine  Heimat)  II,  17:  tovniygaf/b^a  onsQ  iytoyB  iiiBiae  iXd'cov  dvsle^dfiTjv. 


248  Agathias. 

geschriebene  Quellen.  Als  solche  macht  er  namhaft:  Asinius 
Quadratus^),  Diodor^),  Herodot  und  Xenophon^)»  Berosus,  Athe- 
nokles  und  Symmachiis  ^] ,  Dio,  Alexander  Polyhistor  und  Ktesias^). 
Besonders  aber  benutzte  er  persische  Chroniken.  Die  Perser 
hatten  nämlich,  wie  Agathias  ausfuhrlich  erzählt^),  seinem  Freunde, 
dem  Dolmetscher  Sergius,  mit  grosser  Bereitwilligkeit  alle  Ur- 
kunden verabfolgt  um  die  er  sie  auf  Antrieb  des  Agathias  ersuchte; 
daraus  machte  Sergius  Auszüge  und  übersetzte  sie  für  Agathias 
ins  Griechische.  Hievon  spricht  dieser  mit  seiner  gewöhnlichen 
Eitelkeit  folgendermassen:  i(iol  ro  dxgtßhg  xal  zovrov  nsQi 
dvaXaXixtai,  ix  t(Sv  nagd  aq>iaiv  (den  Persern)  iyys- 
ygaiiiidvcDv  (II,  27),  und:  ol^aC  Sh  kCav  dlrid^  ravtM  xad^s- 
6tdvai  ig  ro  dxQißhg  €XJCS7Covri[iBvcc  j  wg  Stj  ix  täv  RsgCixäv 
ßißXwv  fistttlri^pd'evta.  Aber  die  vermittelte  Weise  auf  welche 
die  Nachrichten  in  Agathias'  Work  kamen  schützte  keineswegs 
vor  Irrthümern  und  Missverständnissen,  an  denen  es  auch  in  dem 
hierauf  Gebauten  nicht  fehlt,  auch  abgesehen  von  dem  was  jene 
Quellen  selbst  in  orientalischer  Weise  übertrieben  haben '^). 

Agathias'  Weltansicht  verdient  schon  um  des  Eigenthüm- 
lichen  willen  was  sie  gegenüber  von  Procop  bietet  eine  nähere 
Betrachtung.  Er  theilt  zwar  dessen  skeptische^)  Grundrichtung, 
oder  richtiger,  er  theilt  die  geistige  Stimmung  jener  ganzen  Zeit, 
diese  Stimmung  der  Müdigkeit,  Abgelebtheit  und  Resignation,  von 
weicher  der  Skepticismus  nur  der  kräftigste  Ausdruck,  die  con- 
sequenteste  und  bewussteste  Darstellung  ist.  Agathias  macht  diese 
Stimmung  geltend  sowohl  gegenüber  von  der  Erkenntniss  der 
Natur  als  in  theologischen  Dingen.  In  ersterer  Beziehung  sagt 
er  II,  15,  p.  98,  nach  Erwähnung  der  arisloteiischen  Ansicht 
vom   Erdbeben:    n(og   av   tig    ig   ro    dxgtßig   xd   dtpav^  xal 


*)  I,  6,  p.  27. 

')  11,   17:  rovTO  dioömgog  xi  tpriciv  6    SiHsXtmtrjg  mal   aXloi   mg 
nXsiatoi  täv  naXaidiv  tatOQLoygdqjoDv.    Vgl.  II,  25. 
3)  II ,  31  in  Betreff  d«r  Parasangen. 
*)  n,  24. 
»)  II,  25. 

6)  IV,  30. 

7)  Z.  B.  IV,  25,  p.  259  über  die  Zahl  der  von  Sapor  Getödteten. 

^)  Agathias  beweist  specielle  Kenntuiss  des  Skepticismus.  Er  sagt 
II,  29,  p.  129  von  Uranios :  i]ßovXsto  xriv  itpSKZiKrjv  naXovfiivrjv  ^rjXovv 
ifinsigiav  nazd  ts  IIvQQmva  xttl  £e^tov  tdg  dno%Qiaug  noieiad'ai  xal 
TsXog  ^%Btv  xriv  dxagci^iav  xa  firidlv  oxtovv  oÜscd'ai  Xjjnxov  nad'eaxdvai. 


Quellen.   Weltanschauung.  249 

vTCSQtSQcc  ÖLayvoLfi;  axöxQ'ri  d}  ^^fv  efys  toöovto  fiovov 
elSsifjiisv  (og  d'atp  vä  xal  ßovX"^  xqblxxovi  anavta  diathaxtat. 
{pv06ag  dh  aQxctg  ocal  mvfjöstg  xal  tag  ixdörov  täv  ytvo- 
lievcov  ahücg  0xox€tv*filv  reo  loyo)  xal  öisQsvvav  ov  nav- 
rskäg  &XQfj(ftO'^j  töcag  ovSh  a%aQV  vo(ii0rdov^  to  ys  fi'^v  ots- 
0^al  xs  xal  neTtoi^ivaL  wg  ive0tvv  iq>ixi0^ai  roi;  ovrog  fii]7tot€ 
dka^ovsla  strj  to  XQfJiia  xal  dyba%'i0teQOv  tilg  SiTtk'^g  ixslvrig 
dyvoCag.  Man  solle  also  immerhin  forschen,  aber  nur  nicht 
glauben  jemals  die  Wahrheit  erreichen  zu  können,  eine  Ansicht 
welche  jedes  tüchtige  Streben  entmutigen,  die  Denkfaulheit  aber 
nähren  muss.  Ebenso  spricht  er  sich  V,  10  über  die  Ursache 
der  Pest  aus,  und  V,  8  meint  er,  A  sei  zwar  möglich,  aber 
non  A  doch  auch  nicht  unmöglich.  Noch  viel  mehr  verzichtet 
er  natürlich  in  Bezug  auf  die  göttlichen  Dinge  auf  jede  sichere 
Erkenntniss.  Er  sagt  II,  29:  ot  TtXetötoi  .  .  q^ölov  tt  i^yovv- 
'  tai  .  .  ^soXoylag  iq>d7ttE6^ai^  JCQayfiatog  ovtm  fiaxaQiov 
XB  xal  dvstpixxov  xal  fisi^ovog  rj  xax^  dvd'QciTtovg  xal  iiovc) 
xä  dyvoste^ai  d'aviia^oiidvov ,  und  V,  5  äussert  er  über  die- 
jenigen welche  bei  dem  Erdbeben  in  Byzantion  im  J.  557  den 
Weltuntergang  prophezeiten:  ixQ^'^9  olfiai,  xal  dosßalag  (psv- 
yeiv  ygatpriv  xovg  xd  xoidds  ovsLQOJCoXovvxag  xal  firidhv 
oxiovv  nkiov  yvciös&g  itiQi  x(p  XQcixxovt  xaxaXiiiTtdvovxag^ 
welche  also  den  specißschen  Unterschied  des  Göttlichen  und  Mensch- 
lichen aufheben  wollen.  Schon  aus  diesen  Stellen  erhellt  wie 
Agathias'  Skepticismus  einen  andern  Verlauf  nimmt  als  der  von 
Procopius;  jener  schliesst  sich  näher  an  die  Beligion  an,  er  hat 
die  dem  Wirklichen  abgesprochene  Erkenntniss  doch  einem  Ideellen 
aufbewahrt,  das  aus  dem  Diesseits  Gestrichene  ins  Jenseits  ge- 
rettet, indem  er  seinem  Gotte  vovg  und  ßovXii  und  vollkommene 
yv(Dötg  beilegt,  während  Procop's  Gott  blind  ist  und  launisch 
und  willkürlich.  Indessen  für  die  positive  Religion  zeigt  Agathias 
trotzdem  nicht  mehr  Interesse  als  Procop.  Zwar  finden  sich  bei 
Jenem  keine  so  directen  Aussprüche  wie  bei  diesem;  aber  das 
(paal  in  III,  5  hat  von  jeher  für  verrätherisch  gegolten^),  sofern 


')  Ztsq>dvov  rov  d'sansaiov  isqov  —  — ,  ov  ^i}  ngmtov  ndlai 
(paülv  vnkq  xmv  Xg^öziecvotg  agieta  donovvtcov  i&sXovTrjv  diamv- 
dvvBvcavzct  imo  x&v  ivavttmv  iiataXevad'rivcci.  Bemerkenswerth  sind 
hier  auch  die  ganz  objectiv  gehaltenen  Ausdrücke  £q.  Soü.  und  ivuvz. 
Vgl.  Voss,  de  bist.  gr.  p.  324  ed.  Westermann:  gentilem  fuisse  praeter 
alia  ostendit  illad  (paalv  quo  libro  III  utitur  cum  sermo  sit  de  martyrio 


250  Agathias. 

es  wenn  auch  nicht  wissenschaftliche  Ueberzeugung  von  der  Un- 
geschichtltchkeit  der  Erzählung,  so  doch  Gleichgültigkeit  und 
Fremdheit  gegen  die  christliche  Tradition  beweist,  was  durch 
die  Kenntniss  des  neutestamentlichen  ^rifiiovcd'at  r^i/  ^i;%i}i/^) 
keineswegs  widerlegt  wird,  indem  er  diese  durchaus  nicht  noth- 
wendig  aus  der  Quelle  selbst  geschöpft  haben  musste,  und  auch 
wenn  sie  es  wäre  hieraus  auf  seine  Orthodoxie  noch  nicht 
geschlossen  werden  könnte.  Au(ih  die  in  jungen  Jahren  (als 
Student)  von  Agathias  vollzogene  Bekränzung  des  Bildes  des  Erz- 
engels Michael^)  beweist  nichts;  denn  wir  wissen  nicht  ob  es 
nicht  blos  ein  ästhetischer  Act  war ,  und  jedenfalls  wärde  hieraus 
nichts  für  die  Ueberzeugung  seiner  reiferen  Jahre  folgen.  Ein 
nicht  triftigerer  Beweis  wäre  die  Identification  von  Gott  und 
Christus,  die  sich  im  Anschluss  an  die  Vorstellung  und  Ausdrucks- 
weise des  Volkes  auch  bei  Agathias  findet').  Hellenist  war  er 
aber  darum  noch  keineswegs^);  im  Gegentheil  schämt  er  sich  der 


b.  Stephani.   Hanke  de  scr.  Byz.  p.  176  sagt  daher  geradezu:  christianis 
sacris  addictus  non  fuit,  während  Balth.  Bonifacius   de  rom.   bist.  scr. 

c.  24  es  wenigstens   für  wahrscheinlicher  erklärt  dass  er  ethnicns  ge- 
wesen sei. 

^)  III,  12,  p.  165:  t£  S\  %fQ8avovfi8v  Sna<sccv  x'qv  Uagoida  nQOS- 
Xccfißdvovtsg ,  tag  dl  iffvxoig  i^rjfjLitDiiivoi,;  vgl.  Ev.  Matth.  16,  26:  t£  yag 
<oq>slsttaL   avd'Qtonog  idv   zov    tioofiov  olov  TtSQ^jjaji,   f^v   ds  Tpvxv''' 

avtov  f i?it*tfl>'9'5  5 

«)  Ag.  Epigr.  4. 

3)  So  änsserlich  fasst  noch  Niebuhr  die  Frage  auf,  als  wäre  damals 
plattweg  nnr  Christen thnm  und  Heidenthum  sich  gegenüber  gestanden. 
Er  sagt  Vit.  Ag.  p.  XVIII:  mitem  animum  in  reprehendendis  alienis 
sacris  nisi  improba  sint  atque  immania,  et  indulgentiam  quae  errori  in 
huiusmodi  rebus  utpote  non  voluntario  veniam  tribuit,  inter  saevos 
illius  aevi  furorcs  vix  alibi  exspectares  quam  apud  eos  qui  dominantium 
crudelitate  et  saevitia  vexarentur  ipsi.  (Wir  denken  zu  gut  von  der 
menschlichen  Natur  als  dass  wir  meinten,  in  einer  unmenschlichen  Zeit 
müsse  jeder  ein  Unmensch  sein;  auch  konnte  das  Verfolgtsein  nicht 
gerade  mild  stimmen.)  Itaque(??)  probabile  est.  gentili  patre  procreatum 
graecauicisque  studiis  innutritnm  et  delectatum,  ne  legum  poenis  homi- 
numque  violentiae  obnoxius  esset,  non  opinionis  vi  adductum,  Christianis 
se  adiunxisse. 

^)  V,  9  wird  die  Sophienkirche  6  iisyiatog  rov  &80v  vsmg  genannt 
und  II,  29  heisst  es:  td  Bld'iapksva  Qrjiidtia  xov  Tigsicöovog  (womit 
Agath.  das  Göttliche  zu  bezeichnen  pflegt,  vgl.  z.  B.  II,  30.  III,  22.  IV,  22. 
V,  5)  niQL  .  .  onotov  dj]  ti  avxm  (nicht  avto£g,  wie  Niebuhr  hat)  fj 
T£  qtvaig  iatl  ytal  17  ovala  xal  x6  na&TjTov  xal  t6  d^vyxvtov.  Bekannt- 
lich bezogen  sich  diese  Fragen  auf  die  Person  Christi. 


Weltanschauung.  251 


althellenischen  Mythen  als  einer  svild'sta^),  und  spricht  von  der 
dfiotfig  und  xaxodaifiovia  der  Opfer,  wiewohl  er  es  für  schwer, 
wo  nicht  unihffgiich  erklärt  hievon  zu  überzeugen  ^).  Sehr  unklar 
fährt  er  dann  fort:  iya  (ihv  yctQ  'qyovfiac  iiriSiv  tt  elvat  rd 
'^do^Bvov  ßofiotg  aifiati  ^iiaivo^ivQvg  xal  ^ciayi/  olid'Qp  ßiccto- 
täzfp  *  bI  8i  ys  uqu  xal  OTtovi;  tä  xotAds  7tQogie0%ai  nitpvTtev^ 
äyccd'ov  fihv  ovx  av  stri  ovSh  ij^iegov^  aygtov  di  xi  t6mg  xal 
fiavt&dsg^  Sjcotov  rov  ^etfiov  dvanXärtovöt  fiätriv  of  jcovrixal 
xal  xov  06ßov  ^Evvci  xi  xiva  xaV'Axrjv  xafEQiv.  Das  heisst: 
Opfer  sind  unstatthaft,  weil  es  kein  göttliches  Wesen  gibt  welches 
Gefallen  hätte  an  dem  Blute  unschuldiger  Thiere;  gäbe  es  aber 
ein  solches,  so  musste  das  ein  unfreundliches,  bösartiges  sein  in 
der  Weise  des  Phobos  der  Dichter  u.  s.  w.  Scheint  es  hiefiach 
nicht  dass  Agathias  die  Möglichkeit  eines  solchen  Wesens,  somit 
der  Zweckmässigkeit  der  Opfer,  zugibt?  Sein  Skepticismus  ist 
ihm,  wie  es  scheint,  hier  zur  unrechten  Stunde  beigefallen;  er 
hätte  wenigstens  hinzufügen  sollen  dass  ein  bösartiges  göttliches 
Wesen  undenkbar,  ein  innerer  Widerspruch  sei.  Indessen  fallt 
er  über  solche  Religionsformen  das  tolerante  Urteil:  iXsetiSd'aL 
fiäXXov  rj  %aXBnalvBiS%'av  dlxatoi  äv  bIbv  xal  7tXBi0xtig  fisxa- 
Xay%dvBvv  övyyvcifirjg  S0OL  drj  xov  dXrid'ovg  dia(iaQxävov6iv^). 
Es  scheint  überhaupt  als  ob  die  dogmatische  Intoleranz  schon  in 
dieser  Zeit  ausser  den  beim  Kirchenregiment  unmittelbar'  ße- 
theiligten  nur  den  unteren  Schichten  der  Gebildeten  eigen  ge- 
wesen sei^),  während  die  eigentlich  philosophisch  Gebildeten  mit 


^)  IV,  23  sagt  er,  Marsyas  sei  mit  Recht  von  Apollon  geschunden 
worden  ars  d-^&BVy  st  (itj  Xiccv  svtid'Bg  slnetv,  olmsim  d's^  dvzavXiiaag. 
Folgt  dann  eine  prosaische  Kritik  dieses  Mythus. 

')  I,  7:  Ti)y  tmv  d-vaimv  lOftoTijTa  xal  xaxo^aiftov^af'  oiix  olda  si 
olov  xs  loya  UTiiüccad'aiy  shs  aXösaiv  iniTsXoivto,  SgitBQ  diiiXsi  nagd 
ßaQßdgoig,  stra  xoig  ndXcci  vsvofiiüfiivoig  d-soig,  onotttal  zmv 
'EXXrjvoav  id'iXovciv  dyiatBtat, 

3)  Ibid.  vgl.  Julian.  Ep.  52,  p.  102  Heyler:  iXBBiv  XQ'H  f^&^^ov  ij 
fiiüBiv  tovg  inl  rotg  (iBylctoig  ngdztov-cag  tianmg, 

*)  Vgl.  II,  29  von  dem  philosophischen  Abenteurer  Uranios:  noXXd- 
%ig  Imv  UQO  z^g  ßaaiXBiov  azoag  (wo  sich  Processierende  herumtrieben)  ital 
iv  zoig  zmv  ßißXlmv  i^fiBvog  nmXrjzrjQioig  SisnXrjtiziiEzo  xofl  ipkByctXrjyOQBi 
ngog  zovg  ccvzo^i  dyBigofiivovg  Ttccl  zavza  Sri  "^d  Bid'iüfisva  (i^fidzia 

zov  KQBiüCovog  Tiigi  dva%v%Xovvzotg *  zovzoov  of  nXBtczoi  o'dSl  ig 

yga(ji^fiazi.azov ,  olfiai ,  q)ott'iqaavzBg  ovSl  ff^v  ßltp  dgCazm  indBSi'gzrifiBvoi 
insiza  (d9i6v  zi  ^yovvzai  .  .  ^BoXoyiag  itpanzsad^cci  u.  s.  f.  (Die  ganze 
folgende  Schilderung  dieser  theologischen  Disputanten  gehört  hierher.) 


252  Agaihias. 

dem  orthodoxen  Lehrbegrifl'  entweder  auf  einem  gespannten  Fasse 
standen^)  oder  ihn  sich  möglichst  vom  Leibe  hielten  (wie  Procop 
und  Agathias).  Statt  dessen  hat  Agathias  sich  ein  System  all- 
gemeiner Religiosität  eingerichtet,  so  ziemlich  in  der  Manier  der 
drei  Begriffe  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit.  Den  Begriff 
Gottes  fasst  er  als  den  eines  freundlichen,  milden  Wesens^),  das 
alle  Dinge  geordnet  hat^)  und  noch  jetzt  lenkt  ^),  dessen  Sein 
und  Thun  aber  für  den  endlichen  Verstand  nicht  weiter  als  im 
Allgemeinen  erkennbar  ist^).  Das  Jenseits  ist  ihm  der  Ort  wo 
die  Scheidung  der  Guten  und  Bösen  vorgenommen  wird,  der 
Schauplatz  der  Vergeltung^).  Die  Freiheit  endlich  sucht  er  zu 
wahren  gegen  den  Fatalismus.  Diess  führt  er  gleich  zu  Anfang 
seiner  Geschichte  aus.  Ein  ewiger  Friede  sei  (sagt  er  I,  1) 
unmöglich:  attiov  Sl  olfiat  roiJt(ov  ovx  otcsq  oC  ;roAAo/(?) 
(paCiv  a6xiQ(QV  xe  icoQslag  xal  td  (ispiaQiiivov  (=  eCuaQfiivri) 
Kai  tLvccg  JCaQakoyovg  dväyxag.  aL  yctQ  td  Ttjg  ^eytQcaiistn^g 
iv  nMiv  vtxcitj,  dq)aLQBd'€irj  dh  r(DV  dvd'gdxcav  td  tcqo- 
aiQBtov  xal  ixovöLOv^  TCaQaivitiBig  ^hv  aicdcag  xal  tsp/ag 
xal  ötSa^xaXCag  xsvd  xal  axQrj0ta  vofiLOvpLsv,  oixi]0ovtaL  dh 
q)QOvdoL  xal  axaQitoi  aC  täv  aQiCta  ßcovvtcav  ikjcidsg.  Mit 
anerkennenswerther  Klarheit  überschaut  hier  Agathias  die  prak- 
tischen Consequenzen  des  Fatalismus:  es  sei  damit  die  Willens- 
freiheit und  durch  diese  die  Sittlichkeit  für  das  Bewusstsein  auf- 


0  Vgl.  II,  30:  (ot  ngmtoi)  tmv  iv  x<ü  nad"'  '^iiag  XQOvo)  q)iXoöoq)7J- 
advtcov  y  inuSr^  ctvxovg  ^  nagd  ^Pafiaioig  HQOCtovoct  inl  tm  ngeirtovi 
do^a  ovn  rjgsauev,  äovzo  xb  xiqv  IIsgöiKrtV  nolixsiav  woXlA  slvat  dfiei- 
vova  (und  wanderten  nach  Persien  aus). 

*)  I,  7  (s.  S.  251,  A.  2)  und  I,  1  p.  15.:   ov9\  xo  Q-Hov  atxtov,  äg 

ys  ifil  ytyvmatisiv,   tpovmv  xb  xal  cviinloncov  •qyBieQ'txi  ngogi^uBi,  x6 

yag  dya&ov  i%Btvo  xal  dls^itiaTiov  tpoviov  xb  xal  tpiXonoXBiiov  ovx*  iv 
iyooyB  ^jjffatfti  ovxb  sinovxi  TCiaxsvaaifii, 

»)  II,  15  vgl.  oben  S.  248  f.  ' 

^)  Vgl.  in,  22:  fiLHQOv  yB  anavxBg  avxov  StBtpd'dgriaocv ,  bI  [iij  xig 
avxovg  ixsga  Siiamas  yvoifiri  in  xov  ngBtzxovog  iniggmad'BLacc.  Ib.  24: 
noXsfiogf  .  .  ngctyfia  .  .  ddrjXoxtxxov  .  .,  (idXiOxa  Sb  ndvzmv  d'siag  xivog 
xal  vnsgxsgag  dvdyv,rig  dnrjgxrjfisvov. 

^)  II,  29,  s.  S.  251,  A.  4.  Daher  er  auch  allgemeine  Bezeichnungen, 
wie  x6  ^Btov,  x6  %gBic<50Vf  vorzugsweise  anwendet. 

^)  V,  4,  p.  287:  xr^v  dXfi&Baxdxriv  ßdaavov  xe  xal  dvxiäoaiv  xmv 
ivxavd'a  ßsßKOfiBvcov  ijxig  noxi  iaxiv  inBiüB  iXd'ovxsg  BlaoiiBd'ct, 


Weltanschauung.  253 

gehoben^).  Freilich  ist  diese  Widerlegung  nur  theilweise  eine 
Widerlegung;  denn  gegen  den  Fatalismus  einwenden  dass  er  die 
Freiheit  aufhebe  heisst  über  lion  A  sich  beklagen  dass  es  A 
negiere.  Aber  allerdings  wird  der  Fatalismus  durch  das  Leben 
widerlegt;  denn  wir  sehen  dass  TcaQuivicsis  und  dtdaöxaUat^ 
rechtzeitig  angewandt,  wirklich  bestimmend  oder  umstimmend 
wirken.  Jedoch  was  setzt  Agathias  in  seiner  Weltanschauung  an 
die  Stelle  des  Fatalismus?  Auch  von  Gott  leugnet  er  dass  er  das 
Bestimmende  (zum  Bösen)  sei,  vielmehr  ig  nlsove^iav  xb  ocal 
ddiTiCav  al  raiv  dvd'Qcijccav  '^v%al  av^alQsxa  xatolt^d'ccL- 
vovCai  nokificav  xb  xul  xaQa%^v  aitavxa  i(i(poQov6Lv  ^  ivd'dvde 
XB  okBd'QOi  l^Vfißttivov0L  TCokXol  xal  yivri  dvd'QcSncDV  avaQ- 
utaöxa  ylyvBXccv  xal  (ivq^ul  akkai  todCvovxai  x'^QBg.  Av^al- 
Qsxov  xaxoki6%^alvBvv  ist  eine  contradictio  in  adiecto,  charak- 
terisiert aber  die  Unsicherheit  dieser  Freiheitslehre,  die  sich  doch 
wieder  gern  an  eine  Nothwendigkeit  anlehnen  möchte.  So  kann 
Ag.  auch  seinen  Gottesbegriif  nicht  rein  erhallen  von  fatalistischen 
Zuthaten;  er  fasst  den  Zusammenhang  zwischen  Schuld  und  Strafe 
nicht,  wie  er  consequenterweise  sollte,  als  von  Gott  nach  Ge- 
rechtigkeit gesetzt,  sondern  weil  sein  Gott  keine  feste  Gestalt 
gewinnt,  so  wird  von  dessen  Einfluss  dabei  nur  auf  unbestimmte 
und  unklare  Weise  gesprochen  und  als  das  eigentlich^  Thätige 
die  Nothwendigkeit  genannt,  aber  nicht  die  innere  sachliche, 
wodurch  die  Strafe  mit  der  Schuld  wesentlich  verbunden  ist, 
sondern  eine  äussere,  transscendente,  eine  vTtsgxBQa  dvdyxrj'^). 
Unglück  veranlasst  zu  einem  Rückschlüsse  auf  vergangene  Ver- 
schuldung, zwar  nicht  immer  mit  Grund ,  wie  Agathias  selbst  in 
einer  sehr  verständigen  Stelle^)  beweist,  aber  nichtsdestoweniger 
fast  regelmässig  diese  Folgerung  zieht,  so  dass  es  bei  ihm   zu 


*)  Vgl.  Menand.  Prot.  p.  436:  ij  tmv  ngogSoTiTi&ivziov  avaynij  tov 
ngogöOKcivTCC  gad'VfiOTSQOv  diaxC%'riaLv. 

*)  II,  9.  III,  24.  ßhetorisch  verdeckt  II,  14:  nXi^trstai  Tiaigiav 
— .  7t mg  yccQ  ovn  rjiislXsv  adi^ov  tl  xofl  dyivvlg  eyi^^QW^  dgäoag; 

')  Er  widerlegt  V,  4  die  Yolksmeinung  als  sei  Anatolius  wegen 
seiner  Yergehungen  vor  allen  Andern  vom  Erdbeben  erschlagen  worden; 
da  wäre,  bemerkt  er  treffend,  das  Erdbeben  nichts  Uebles,  wenn  es 
zwischen  Schuldigen  und  Unschuldigen  zu  unterscheiden  wüsste;  aber 
es  seien  damals  viele  noch  Schuldigere  in  Byzantion  gewesen,  die 
nnerschlagen  geblieben-seien.  Uebrigens  erkennt  er  an  dass  diese  Yolks- 
meinung geeignet  sei  Yerbrechern  einen  heilsamen  Schrecken  einzu- 
flössen. 


254  Agathias. 

einem  formlichen  religiösen  Pragmatismus  wird.  So  ist  bei  den 
Franken  und  Allemannen  die  a(>%i}  rs  xal  ävdyxri  der  Seuchen 
und  anderes  Unglücks  ij  adixia  xal  ro  nsQi^vßQiöd'ac  JCQog 
avtäv  td'  t6  d'sta  äq)SLS<Ss  xal  ävd'Qoi^sta  vopufia^);  jenes 
sind  d^eijXatoL  Tcotvalj  und  ebenso  ist  eine  unglückliche  Schlacht 
eine  zCctg  cSv  itvy%avov  i^0ۧrix6rig^).  Ja  Ag.  behauptet  sogar 
dass  die  Strafe  von  der  Schuld  mit  so  mechanischer  Nothwendig- 
keit  nach  sich  gezogen  werde  dass  kein  dazwischenliegendes  Ver- 
dienst ihren  Lauf  hemme  und  die  Verschuldung  vergessen  mache  ^)» 
eine  Vorstellung  welche  an  die  vom  blinden  und  unversöhnlichen 
Fatum  sehr  nahe  anstreift  und  den  Beweis  liefert  wie  tiefe 
Wurzeln  der  Fatalismus  im  Geiste  der  Zeit  geschlagen  hatte. 


i)  II,  3,  vgl.  1. 

')  II ,  6.  Andere  Beispiele  sind:  II,  9:  xmg  ovx  av  tPri  dgidrjXov 
mg  noiväs  vniaxov  tmv  dSitiTjitdtaiv  xal  vnsQxiqct  tig  ccvtovg  (lEt^Xd'ev 
dvccynrj;  III,  8:  nmg  ov  Xlav  dgCSriXov  mg  d^siov  ti  (ii^vtita  tov  dvoaiov 
atnatog  %%axi  %d  'Ptofiaimv  iaqfrjXs  nXi^d"/!;  IV,  19  extr.  (vgl.  V,  25): 
ovüovv  avTOig  ovdh  dnoivl  tovto  i^iidgiritai, 

')  IV,  22:  TjiisXXs  ZQOvq)  vatSQOv  noivdg  fisydXag  '^XUag  dnottv- 
vvvai,  .  . .  ovölv  1}  xov  HQsizTOvog  i^tonsvsro  Sinrj ,  ovdl  ro-vzoig  (durch 
seine  späteren  Verdienste)  insiva  (seine  Verschaldnng)  insTiaXvnTSto, 
iusvs  dlj  olfiai,  iQifSfiovvt«  %al  iqtvXdtrSTO  (lovtiia  xttl  dvdyQanva 
(liXQi  xov  %aiQOv  vov  %oiQ''qiiovxog, 


X. 


Zu    Plautus. 


1.*) 

Den  Ampbitruo  hat  man  lange  darum  besonders  in  Ehren 
gehalten  weil  man  an  ihm  den  einzigen  Ueberrest  einer  fabula 
Rhinthonica  zu  haben  glaubte.  Diese  Auffassung  desselben  hat 
unter  Anderen  Ladewig  (über  den  Kanon  des  Volc.  Sed.  S.  23  ff.) 
bestritten ,  wir  glauben  nicht  mit  zureichenden  Gründen.**)  Rhin- 
thon's  Eigenthümlichkeit  bezeichnet  bekanntlich  Stephanus  von 
Byzanz  und  Eustathius  durch  tu  rQayixd  (letaQQvd'fA^^cDv  sig 
yakolov.  Wäre  das  nun  ausschliesslich  vom  Parodieren  von  Trag- 
ödien zu  verstehen ,  so  hätte  Ladewig  gewonnen  Spiel ;  denn  Paro- 
dien von  literarischen  Erscheinungen  sind  nur  da  am  Platze 
wo  das  Publikum  mit  den  letzteren  völlig  vertraut  ist;  hätte 
daher  Rhinthon  griechische  Tragödien  parodiert,  so  hätte  seine 
Manier  in  Rom  gewiss  sehr  wenig  Anklang  gefunden,  wie  auch 
die  einzige  directe  Anspielung  dieser  Art  bei  Plautus  (Rud.  1,  4) 
sicherlich  völlig  kalt  Hess.  Nun  aber  führen  die  Grammatiker 
unter  den  Arten  der  lateinischen  Komödie  die  Rhinthonica  aus- 
drücklich auf  (s.  Neukirch  Fab.  tog.  p.  48),  wir  müssen  also 
doch  wohl  annehmen  dass  sie  einmal  in  Rom  eine  Rolle  gespielt 
hat.  Und  das  konnte  sie  ganz  wohl,  wenn  sie  vielmehr  in  einer 
Parodie  tragischer  Stoffe  bestand,  d.  h.  darin  dass  grosse  Persön- 
lichkeiten, wie  Götter  und  Heroen,  in  kleinen  Verhältnissen  er- 
schienen und  in  die  oft  komischen  Verwicklungen  des  Lebens 
mitverflochten  wurden.  Diese  Auffassung  liegt  auch  dem  Aus- 
drucke xa  tQayixcc  näher  als  die  Beziehung  auf  Tragödien.    Das 


■►)  Aus  dem  Rhein.  Mus.  N.  F.  VIII.   S.  26—34. 
**)  Mit  besseren  J.  Vahlen,  Rhein.  Mus.  XVI.  S.  472  ff. 


25C  Plautus. 

Wort  tragicocomoedia  (prol.  59.  63)  ist  übrigens  woiil  nur  eine 
(vielleicht  witzig  sein  sollende)  Erfindung  des  Proiogschreibers, 
der  tkaQOXQayfpSCa  des  Rhintbon  nachgebildet  und  Ton  Lutatius 
zu  Stal.  Theb.  V,  160  in  gutem  Glauben  als  Termeintlich  plau- 
tinische  Wortbildung  oder  gar  Kunstausdruck  hingenommen  und 
nachgesprochen. 

2. 

lieber  die  Prologe  Tor  den  meisten  plautinischen  Stucken 
hat  Rilschl  Parerga  I.  S.  236  ein  ebenso  gerechtes  als  scharfes 
Urteil  gefällt:  geschwätzige  Breite,  frostige  Witzhascherei,  Ein- 
gehen in  trivialen  Reflexionen  sind  ihre  hervorstechenden  Eigen- 
schaften. Nur  den  zum  Trinummus  hat  Ritschi  von  seinem  Ver- 
dammungsurteil ausgenommen;  wir  möchten  auch  für  den  zur 
Aulularia  und  zum  Rudens  Fürsprache  einlegen.  Diese  drei  haben 
zudem  die  positive  Eigenthumlichkeit  mit  einander  gemein  dass 
sie  alle  einem  göttlichen  Wesen  in  den  Mund  gelegt  werden: 
beim  Trinummus  der  Luxuria  und  Inopia,  beim  Rudens  dem 
Arcturus,  und  in  dem  der  Aulularia  dem  Lar  familiaris.  Diese 
drei  Fictionen  sind  alle  ganz  passend,  da  sie  mit  dem  Inhalte 
des  Stückes  in  leichtverständlichem  Zusammenhange  stehen.  Die 
beiden  letztgenannten  Prologe  haben  vor  dem  zum  Trinummus  über- 
dies den  Vorzug  dass  gegen  sie  keinerlei  directe  Verdachtsgründe 
vorliegen,  wie  bei  diesem  die  Nennung  des  Plautus  und  der  Um- 
stand dass  dem  Trinummus  neben  den  Enthüllungen  in  I,  2  ein 
Prolog  völlig  entbehrlich  ist. 

3. 

Dass  dieBacchides  contaminiert  seien  haben  Ladewig  und 
Fritzsche  behauptet,  ohne  den  Beweis  dafür  anzutreten.  Wahr- 
scheinlich wollen  sie  die  Rolle  des  Lydus  als  aus  einem  anderen 
Stücke  entnommen  darstellen,  was  um  so  weniger  schwer  fallen 
kann  da  der  Grundgedanke  derselben  ja  auch  in  den  Wolken  des 
Aristophanes  vorkommt,  während  doch  sonst  keine  Spur  auf  Be- 
nützung der  alten  Komödie  durch  Plautus  führt.  Ritschi  ist  auf 
diese  Frage  nicht  eingegangen,  so  allseitig  er  auch  das  Stück 
besprochen  hat;  er  mochte  sie  durch  den  Beweis  der  künst- 
lerischen Einheit  des  Stücks  als  von  selbst  erledigt  betrachten. 
Ueberhaupt  scheint  es  mir  als  ob  die  Bedeutung  des  Contami- 
nierens  manchfach  sehr  überschätzt  worden  wäre>  namentlich 
durch  Ladewig,  der  in  seinem  —  übrigens  höchst  gediegenen  — 


Prolocre.    Confamination.    Casina.  257 


'O 


Artikel  Plaotas  io  der  Real-Eocyclopädie  Ton  Pauly  (Bd.  V. 
S.  1728 — 1739)  die  plautinischen  Stücke  in  contaminierte  und 
nichtcontaminierle  scheidet,  was  schon  bei  der  grossen  UnroU- 
standigkeit  der  Urkunden  auf  die  sich  ein  derartiges  Urteil 
gründen  muss  nnzalässig  erscheint,  ich  kann  dieser  ganzen  Frage 
nur  In  so  weit  Erhebh'chkeit  beimessen  als  sie  mit  der  nach  den 
Quellen  des  Plautus  zusammenfallt,  und  ich  glaube  dass  der 
Schluss  aus  der  Aehnlichkeit  einzelner  Stellen  auf  die  Einflech- 
tung  der  Handlung  des  betreffenden  Stücks  ein  viel  zu  rascher 
Ist,  zumal  da  die  bekannte  Stelle  Ton  Terenz  Andr.  prol.  15  ff. 
gar  nicht  berechtigt  das  Contaminieren  als  eine  von  den  römi- 
schen Dramalikern  häufig  befolgte  Sitte  zu  betrachten.  Und 
wenn  Ladewig  so  weit  geht  den  Grundsatz  aufzustellen  (über  den 
Kanon  etc.  S.  28):  „da  wir  wissen  dass  Plautus  zu  contaminieren 
pflegte,  so  ist  ein  Stück  das  contaminiert  sein  kann  wahrschein- 
lich auch  wirklich  contaminiert'',  so  kann  diess  nur  zu  boden- 
losen VermuttSngen  führen,  da  schlechterdings  unerweislich  ist 
dass  das  Contaminieren  eine  Gewohnheit  des  Plautus  gewesen 
sei.  Am  allerwenigsten  aber,  kann  ich  begreifen  wie  man  das 
Contaminieren  als  Beweis  und  Massstab  der  Selbständigkeit  des 
Dichters  auffassen  kann;  denn  je  mehr  derselbe  aus  fremden 
Quellen  geschöpft  hat,  desto  weniger  bleibt  doch  für  ihn  selbst 
übrig.  Ich  halte  es  daher  für  unrichtig  wenn  Ladewig  (a.  a.  0. 
S.  27)  sagt:  „die  contaminierten  Dramen  erforderten  natürlich 
schon  eine  freiere  Behandlung  als  die  nicht  contaminierten",  stimme 
dagegen  demselben  vollkommen  bei  wenn  er  (in  dem  Art.  Teren- 
tius  in  der  Real- Encyclopädie)  darin  dass  Terenz  meistens  con- 
taminierte einen  Beweis  Ton  Mangel  an  ErGndungsgabe  erkennt, 
da  „Plautus  durch  eigene  Zuthaten  die  Zuschauer  zu  ergötzen" 
und  dadurch  den  Wegfall  von  vielem  specifisch  Griechischen  in 
seinen  Vorbildern  zu  ersetzen  verstand. 

4. 

Von  der  Brautnachtscene  In  der  Casina  hat  Ladewig  im 
Rhein.  Museum  IIL  S.  186  ff.  mit  Recht  bemerkt  dass  sie  atellanen- 
artig  sei  und  nicht  von  Dipbilus  herrühren  könne,  sondern  Er- 
findung des  Plautus  sein  werde.  Obscönitäten  von  dieser  Massivität 
und  in  dieser  Ausdehnung  sind  in  der  mitUeren  und  neuen  attischen 
Komödie  unerhört,  überhaupt  mehr  Im  römischen  als  im  grie- 
chischen Geschmacke.   Nur  aber  hatte  Ladewig  Unrecht  diese  Scene 

Ten f fei,  Studien.  17 


258  PlautuB. 

für  den  Schluss  der  Casina  zu  halten  und  hierauf  alle  möglichen 
Verniutungen  über  die  Zusammensetzung  des  Stucks  und  das 
Verhalten  des  Piautus  zu  seinem  diphileischen  Vorbilde  zu  bauen. 
Dass  sie  nicht  die  ursprungliche  Schlussscene  ist  schliesse  ich  schon 
daraus  dass  alsdann  die  eigentliche  Frage,  wem  Casina  fortan 
gehören  solle,  unbeantwortet  bliebe;  ferner  aus  dem  Prologe  und 
dem  Epiloge.  Aus  dem  Prologe,  sofern  dieser  Angaben  enthält 
welche  über  den  Inhalt  des  Stückes,  wie  es  jetzt  uns  vorliegt, 
bedeutend  hinausgreifen,  aber  zugleich  das  Gepräge  der  Wahrheit 
an  sich  tragen,  wie  die  von  der  Aussetzung  der  Casina  und  ihrer 
Erkennung  als  Tochter  der  Murrliina.  Ladewig  meint  nun  zwar, 
der  Prologschreiber  habe  diese  Nachrichten  aus  dem  entsprechen- 
den Stücke  des  Diphilus  entnommen.  Aber  um  zu  einem  Stücke 
des  Piautus  einen  Prolog  zu  schreiben  der  eigentlich  zu  einem 
„in  Anlage  und  Durchführung  gänzlich  verschiedenen"  (Ladewig 
S.  191)  Stücke  des  Diphilus  gehört,  dazu  wäre  doch  ein  Mass 
von  Gedankenlosigkeit  erforderlich  wie  man  es  ohneHriftige  Gründe 
von  einem  gewöhnlichen  Menschen  nicht  wohl  voraussetzen  darf. 
Ferner  aus  dem  Epiloge;  denn  wenn  Piautus  selbst,  statt  die 
Geschichte  zu  Ende  zu  führen,  den  geschürzten  Knoten  zu  lösen, 
sich  begnügt  hätte  den  weitem  Verlauf  in  zwei  Versen  zu  berich- 
ten, so  hätte  er  sich  damit  ein  künstlerisches  Armutszeugniss 
ausgestellt.  Vielmehr  war  der  Verlauf  und  Schluss  des  Stücks 
wohl  ursprünglich  dem  in  den  Klerumenoi  des  Diphilus  ähnlich. 
Der  Inhalt  von  diesen  war  wohl  folgender.  Vater  und  Sohn  hatten 
sich  in  dasselbe  Mädchen  verliebt,  das  in  ihrem  Hause  —  als 
Sklavin  —  auferzogen  und  jetzt  zur  Jungfrau  herangereift  war. 
Um  nun  freie  ßirsch  zu  bekommen,  schob  jeder  von  beiden  einen 
ergebenen  Sklaven  vor,  der  das  Mädchen  heiraten  sollte  (das 
muss  aus  dem  Stücke  des  Diphilus  sein,  denn  auf  den  Gedanken 
von  serviles  nuptiae  wäre  Piautus  von  selbst  nicht  gekommen, 
s.  den  Prolog  v.  67  fT.j.  Die  Frau  des  Hauses  nimmt  entschieden  * 
Partei  für  den  Sohn  und  dessen  Candidaten,  weil  sie  die  geheime 
Absicht  ihres  Gatten  merkt  (denn  so  unverhüllt  wie  bei  Piautus 
wird  er  hei  dem  altischen  Dichter  seine  innersten  Gedanken  nicht 
ausgesprochen  haben).  Die  streitenden  Theile  vereinigen  sich  dahin, 
das  Loos  entscheiden  zu  lassen  (auch  dieser  Zug  ist  für  Diphilus 
wesentlich,  wie  der  Titel  seines  Stücks  beweist).  Es  entscheidet 
für  den  Valer  und  dessen  Strohmann.  Der  Sohn  ist  untröstlich, 
der  Alte  triumphiert,   die  Frau   sinnt  auf  Ränke,   um   die  Sache 


Casina.  259 

dennoch  zu  hintertreiben.  Sie  theilt  sich  einer  Nachbarin  mit, 
und  hei  näherer  Erkundigung  stellt  sich  heraus  dass  das  fragliche 
Mädchen  (die  ausgesetzte  Tochter  der  Nachbarin  und  daher)  gar 
keine  Sklavin  ist,  somit  weder  einer  der  beiden  Sklaven  noch 
der  vermählte  Stalino  sie  zur  Frau  bekommen  kann,  sondern 
einzig  der  Sohn,  dem  sie  denn  auch  zu  Theil  wird.  Dieses  Stück 
des  Diphilus  bearbeitete  Plautus,  aber  im  römischen  Geschmacke 
und  für  ein  römisches  Publikum.  Er  fügte  die  burleske  Ver- 
mählungsscene  ein,  liess  jedoch  dann  das  Stück  schliesscn  wie 
Diphilus,  nämlich  mit  der  Verlobung  von  Casina  und  Euthynikus, 
den  er  zu  diesem  Behuf  am  Schlüsse  eintreten  liess,  wenn  über- 
haupt schon  Plautus  den  Letzteren  im  Stücke  selbst  beseitigt  hat. 
Nun  scheint  aber  bei  den  Aufführungen  zur  Zeit  des  Plautus  der 
Schlussact  weniger  Theilnahme  bei  dem  Publikum  gefunden  zu 
haben,  weil  ihm  derselbe  nach  dem  Hautgout  der  Braulnachtposse 
etwas  fad  und  matt  vorkommen  mochte.  Als  daher  zu  Anfang  des 
siebenten  Jahrhunderts  der  Stadt  das  Stück  wieder  auf  die  Bühne 
gebracht  wurde  (denn  dass  der  Prolog  für  eine  Aufführung  in 
dieser  Zeit  verfassl  wurde  ist  durch  Ritschi,  Parerga  S.  180  ff. 
festgestellt)  gerieth  derjenige  welcher  dasselbe  neu  in  Scene  setzte 
auf  den  Gedanken  dass  mit  jener  pikanten  Scene  da^  Stück  wohl 
viel  effeclvoller  schlösse.  Es  wurde  demgemäss  das  dieser  Nach- 
folgende weggelassen  und  im  Epilog  zu  einem  ganz  kurzen  Be- 
richte zusammengefasst,  auch  im  Vorhergehenden  alles  mit  der 
ursprünglichen  Schlussscene  Zusammenhängende  entfernt.  Jetzt 
erst  wird  die  Rolle  des  Sohnes,  als  nunmehr  entbehrlich,  ge- 
strichen worden  sein ,  trotzdem  dass  der  Prolog  diess  schon  durch 
Plautus  geschehen  lässt:  denn  die  Motivierung  v.  66:  pontem  in- 
terrupit  etc.  klingt  wie  ein  schlechter  Witz,  um  schnell  über  eine 
bedenkliche  Sache  hinwegzuschlüpfen.  Dagegen  mussten,  um  einen 
einigermassen  befriedigenden  Schluss  herbeizuführen,  aus  dem 
ursprünglichen  Schlüsse  eine  Anzahl  Verse  herübergenommen 
werden;  namentlich  die  Versöhnung  des  Stalino  mit  seiner  Frau, 
die  jetzt,  unmittelbar  nach  dem  fatalen  Streich  den  diese  ihm 
gespielt,  unnatürlich  erscheint,  wird  au  ihrer  ursprünglichen 
Stelle,  in  der  wirklichen  Schlussscene,  ihre  zureichende  Begrün- 
dung gehabt  haben.  Da  indessen  hiebei  der  Willkür  und  dem 
Geschmacke  des  Arrangierenden  ein  ziemlich  weiter  Spielraum  blieb 
und  der  eine  mitaufnahm  was  der  andere  wegliess,  so  kam  in 
diese  Schlussscenen  Verv^irrung,   deren  Folge  die  Lückenhaftig- 


260  Plautus. 

keit  ist  in  der  sie  auf  uns  gekommen  sind.  Aus  einem  Versehen 
oder  dem  Zufalle  muss  man  es  dabei  erklären  dass  V,  2,  47 
stehen  blieb:  hanc  ex  longa  longiorem  ne  faciamus  fabulam 
(vgl.  Merc.  V,  4,  47  ff.  Pseud.  I,  3,  134),  was^  auf  das  Stuck 
in  seiner  jetzigen  Gestalt  gar  nicht  passt,  wohl  aber  von  dem 
ursprünglichen  wahr  sein  musste,  da  in  diesem  das  von  Diphilus 
Gebotene  noch  durch  viele  eigene  Zuthaten  vermehrt  war.  Im 
Ganzen  konnte  der  Gedanke,  mit  dem  komischen  Beilager  zu 
schliessen,  bei  den  Theaterunternehmern  nur  Beifall  Ißnden,  und 
so  kam  nur  diese  spätere  Buhnenbearbeitung  auf  uns,  während 
der  Prologschreiber  das  vollständige  Stück  noch  kannte  und  zur 
Erläuterung  des  abgekürzten  benutzte. 

0. 

In  der  Ciste Ilaria  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen  dass 
Windischmann  und  Ritschi  (Parerg.  S.  237.  Anm.)  Recht  haben  I,  2, 
6 — 13  als  unecht  und  aus  1,  3,  42  ff.  wörtlich  entlehnt  aus- 
zuwerfen. Denn  in  der  Recapitulation  I,  3,  3  f.  vgl.  v.  22.  wird 
als  Inhalt  der  Rede  der  Lena  einzig  die  Unterschiebung  des  Kindes 
angegeben ,  dieselbe  hatte  sich  also  auf  ihren  eigenen  Antheil  an 
den  früheren  Vorgängen  beschränkt.  Auch  in  sich  sind  die  Worte 
unhaltbar.  Das  Motiv  der  Trunkenheit  (v.  8)  war  schon  v.  2  f. 
da,  ebenso  die  Worte  quae  hinc  flens  abiit  (v.  13)  in  v.  4,  und 
der  Entschluss  Alles  herzhaft  herauszusagen  (v.  9)  passt  gar  nicht 
zu  y.  11  — 13,  sondern  einzig  zu  dem  Geständniss  dass  sie  zu 
dem  Betrug  mitgeholfen  habe.  Auf  Anderes  hat  Ritschi  a.  a.  0. 
hingewiesen.  Für  die  Ursprüinglichkeit  von  I,  3,  des  durch  das 
Auxilium  gesprochenen  Prologs,  ist  es  übrigens  kein  günstiges 
Zeichen  dass  v.  49  ff.  Doubletten  sind,  nämlich  die  Worte  haec 
res  sie  gesta  est  mit  I,  2,  28,  und  valele  et  vincite  virtute  vera, 
quod  fecislis  antidhac  mit  Gas.  prol.  87  f.,  ferner  dass  v.  52 
augete  auxilia  vostris  iustis  legibus  gesetzt  ist^  ohne  Beziehung 
darauf  dass  dem  Auxilium  die  Worte  in  den  Mund  gelegt  sind, 
endlich  überhaupt  die  Breite  und  Unbeholfenhoit  der  Erzählung 
und  die  Fiction  des  Auxilium,  welche  mit  dem  Inhalt  des  Stückes 
und  des  Prologes  keinen  Zusammenhang  hat  und  völlig  unmotiviert 
dasteht.  Mir  kommt  es  vor  als  wäre  dieselbe  aus  dem  Kopfe 
eines  späteren  Prologschreibers  hervorgegangen,  der  die  Nach- 
hülfe welche  der  Prolog  dem  Versländniss  der  Zuschauer  bietet 
personificierte  und  sich  dabei  gewiss  einbildete  die  Art  des  Plautus 


Cistellaria.  261 

Prologe  einzuführen  (durch  die  Luxuria,  den  Lar  familiaris  und 
den  Arcturus)  sehr  geistreich  nachgeahmt  zu  haben.  Ich  denke 
mir  die  Entstehung  von  I,  2  und  I,  3  folgendermassen.  Ursprung- 
lich plautinisch  ist  I,  2,  1 — 5.  14  —  28,  so  viel  als  für  das  Ver- 
ständniss  des  Folgenden,  namentlich  der  Nachforschung  des  Sklaven 
in  II,  2  wünschenswerth  ist.  Für  eine  nachfolgende  Aufführung, 
nach  dem  Tode  des  Plautus,  wurde  I,  3  hinzugedichtet,  und  noch 
später  schliesslich  I,  2  aus  I,  3  ergänzt  durch  v.  6 — 13.  Mit 
dem  Epilog  scheint  es  sich  ebenso  zu  verhalten  wie  mit  dem  zur 
Casina:  statt  die  wenig  unterhaltende  Verhandlung  wie  Alcesi- 
marchus  statt  der  jüngeren  ihm  verlobten  Tochter  des  Demiphon 
die  ältere,  mit  Phanostrata  erzeugte,  zur  Frau  nimmt  vor  dem 
Publikum  vorzunehmen,  ist  dieser  Theil  des  plautinischen  Stücks 
weggelassen  und  durch  den  kurzen  Bericht  ersetzt,  omnes  intus 
conficient  negotium.  Also  auch  von  diesem  Stücke  hätten  wir 
—  wenigstens  hinsichtlich  des  Schlusses  —  das  Jheaterexemplar, 
nicht  die  ursprüngliche  plautinische  Bearbeitung.  Von  den  übrigen 
Theilen  des  Stücks  ist  wenig  zu  sa^en,  als  dass  sie  höchst  lücken- 
haft sind.  Was  wir  bis  jetzt  besitzen  kann  nicht  die  Hälfte  des 
Ganzen  sein ,  nach  der  Verszahl  der  übrigen  plautinischen  Stücke 
zu  schliessen,  auch  hat  Ritschi  Parerg.  S.  238  Anm.  die  Lücke  auf 
ungefähr  600  Verse  berechnet.  Merkwürdig  ist  in  dem  Stücke 
namentlich  das  Missverhältniss  zwischen  der  Zahl  der  darin  auf- 
tretenden weiblichen  Personen  und  der  Männer,  wiewohl  auch 
jene  nur  eingeführt,  nicht  aber  durchgeführt  werden.  Die  eigent- 
liche Braut  des  AIcesimarchus  schwebt  wie  ein  Schatten  an  uns 
vorüber;  vielleicht  hat  Ladewig  Recht  mit  seiner  Vermutung  dass 
das  Verhältniss  im  Stücke  aufgelöst  wurde  noch  vor  Auffindung 
von  Silenium.  Was  aus  Gymnasium  wird  lässt  sich  nicht  ahnen; 
ein  innigeres  Verhältniss  hat  sie  nickt  (I,  1,  44  ff.),  und  so  wird 
sie  vielleicht  mit  der  Anerkennung  abgespeist  welche  der  Vater 
des  AIcesimarchus  in  den  Mai'schen  Fragmenten  ihren  Reizen  zu 
Theil  werden  lässt,  wofern  sie  nicht  etwa  einem  der  schliesslich 
freigelassenen  Sklaven  zufällt.  Das  männliche  Personal  wird  schon 
durch  Mai's  Veröffentlichung  um  den  Vater  des  AIcesimarchus 
sammt  seinem  Sklaven  vermehrt;  auch  AIcesimarchus  gewinnt 
durch  diese  Bruchstücke  an  Leibhaftigkeit  ein  klein  wenig;  im 
Allgemeinen  aber  ist  auf  dieser  Seite  das  Meiste  untergegangen, 
namentlich  über  die  frühere  Geschichte  des  Demipho  —  wie  sie 
im  Prologe  (I,  3)  dargestellt  wird  —  Alles.    Ehe  jedoch  Ritschi 


262  PlautuB. 

(las  Ergebniss  seiner  Vergieicliung  des  ambrosianischen  Palim- 
psestes  bekannt  gemacht  hat  ist  eine  speciellere  Beurteilung  un- 
möglich und  vergeblich.  Die  vielfache  Aehnlichkeit  welche  dfe 
Handlung  der  Cist.  mit  der  des  Epidicus  liat  (Heiraten  einer  alten 
Liebschaft,  Auffindung  und  nachträgliche  Legitimierung  der  ausser- 
ehlich  erzeugten  Tochter)  macht  wahrscheinlich  dass  zwischen  der 
Abfassung  beider  einige  Jahre  in  der  Mitte  liegen.  Da  nun  der 
Epid.  nachweislich  um  560  d.  St.  verfasst  ist,  so  musste  die  Cist. 
etwa  555  oder  565  geschrieben  sein  (nach  dem  Abstand  zu  schliessen 
in  welchem  das  schon  im  Epidicus  angewendete  Motiv  des  Doppel- 
betruges in  den  ßacchides  wiederholt  ist);  das  Letztere  ist  aber 
darum  das  minder  Wahrscheinliche  weil  die  Cist.  nicht  unter  den 
von  Piautus  im  Aller  verfassten  Stücken  genannt  wird.  Entschei- 
det man  sich  daher  für  die  frühere  Entstehung,  so  hat  man 
vielleicht  hierin  einen  neuen  Erklärungsgrund  der  Beschaffenheit 
unseres  Textes.    . 

6. 

Für  die  Datierung  des  Curculio  hat  man  einen  Anhalts- 
punkt an  der  Erwähnung  des  aurum  Philippeum  (HI,  70),  das 
ajis  chronologischen  Gründen  kein  Dichter  der  neuen  Komödie 
kennen  konnte  und  das  den  Römern  selbst  in  grösserer  Menge 
erst  seit  dem  Triumphe  des  Quintius  Flamininus  im  J.  560  d.  St. 
(Varr.)  bekannt  wurde.  Indessen  so  sicher  ist  dieses  Anzeichen 
nicht  dass  eine  anderweitige  Bestätigung  jenes  Ergebnisses  nicht 
höchst  erwünscht  wäre.  Eine  solche  haben  wir  aber  an  Cure. 
IV,  2,  23  ff.  Hier  heisst  es  von  'den  Wucherern:  rogationes 
plurimas  propter  vos  populus  scivit,  quas  vos  rogatas  rumpitis, 
aliquam  reperitis  rimam.  Diess  erhält  eine  überraschende  Er- 
läuterung durch  die  Worte  des  Livius  (XXXV,  7):  civitas  fenore 
laborabat,  et  cum  multis  fenebribus  legibus  constricta  avaritia 
esset,  via  fraudis  inita  erat  ut  in  socios,  qui  non  tenerentur  iis 
legibus,  nomina  transscriberent.  . .  postquam  professionibus  detecta 
est  magnitudo  aeris  alieni  per  hanc  fraudem  conlracti,  M.  Sem- 
pronius  trib.  pl.  ex  auctoritate  patrum  plebem  rogavit  plebesque 
scivit:  ut  cum  sociis  ac  nomine  latino  pecuniae  creditae  ins  idem 
quod  cum  civibus  romanis  esset.  Die  Verstopfung  dieser  rima 
fallt  ins  J.  561  d.  St.  (Varr.),  und  in  dieses  wird  also  die  erste 
Aufführung  des  Curculio  zu  setzen  sein. 


Curculio.    Menaechmi.  263 

7. 

In  Betreff  des  griechischen  Vorbildes  der  Menaechmi  hat 
Ladewig  in  Schneidewin's  Phiiologus  I.  S.  288  eine  scharfsinnige 
Vermutung  aufgestellt.  Da  nämlich  Athen.  XIV.  p.  658  F.  berich- 
tet dass  ein  dovlog  (idysiQog  in  keiner  Komödie  als  bei  Posi- 
dippus  vorkomme,  und  doch  Men.  I,  3,  35.  I,  4.  II,  2  der  Koch 
Cylindrus  als  Haussklave  der  Erotion  erscheint,  so  hat  Ladewig 
gefolgert  dass  demnach  den  Menächmen  ein  Stück  des  Posidippus 
zu  Grunde  liege,  das  wohl  den  Titel  jdidvfiot  führte.  Indessen 
da  ein  solches  nirgends  genannt  wird  hat  die  Annahme  wenig 
Sicherheit.  Auch  sieht  man  mit  Widerstreben  aus  einem  so  unter- 
geordneten Umstand  einen  Schluss  auf  den  Ursprung  des  ganzen 
Stücks  gezogen.  Dazu  kommt  noch  dass  die  Stellung  des  coquus 
in  den  Menächmen  sehr  leicht  auf  Einmischung  römischer  Sitte 
beruhen  kann;  denn  wenngleich  auch  bei  den  Römern  bis  nach 
dem  Kriege  mit  Perseus  die  Kanstköche  für  ausserordentliche 
Fälle  auf  dem  macellum  gemiethet  wurden  (Plin.  N.  H.  XVIII,  11, 
28),  so  war  doch  ein  coquus  von  jeher  im  Hause,  nur  dass  sein 
Geschäft  ein  einfaches,  ursprünglich  das  Brodbacken,  war  (Plin. 
1.  1.  vgl.  auch  Liv.  XXXIX,  6  g.  E.:  tum  coquus,  vilissimum 
antiquis  mancipium  et  aestimatione  et  usu,  in  pretio  esse).  Und 
da  in  den  Menächmen  die  Zahl  der  Gäste  nur  zwei  ist,  und  auch 
diese  keine  Fremden  sind ,  so  begnügte  sich  Erotion  ihren  coquos 
auf  den  Markt  zu  schicken,  um  das  Nöthige  einzukaufen. 

8.*) 

Der  Prolog  zu  den  Menaechmi  ist  eine  Vereinigung  sämmtlicher 
schlechten  Witze  die  bei  den  verschiedenen  Auffuhrungen  des 
Stückes  ton  den  verschiedenen  Theaterdirectoren  oder  Prolog- 
schreibern gemacht  worden  sind.  Von  v.  1  —  6  hat  schon  Brix 
(S.  6  seiner  Ausgabe)  erkannt  dass  sie  nicht  zu  derselben  Redac- 
tion  gehören  können  wie  v.  7  — 16;  von  v.  41  —  44  glaube  ich 
Jahrb.  1866  S.'  704  ebenso  nachgewiesen  zu  haben  dass  sie  aus 
einer  andern  Fassung  sind  als  ihre  Umgebung  **) ,  und  Aehnlicbes 

♦)  Aus  Flcckeisen's  Jahrbüchern  f.   class.  Philol.  1867,   S.  32—34. 

♦♦)  „Die  Namensändernng  darch  den  avos  ist  drei-  bis  vier  Mal  be- 
richtet (Inmutat  nomen  huic  avos  gemino  alteri;  illias  nomen  indit;  idemst 
ambobus  nomen;  Menaechmo  nomen  facit)  und  für  dieselbe  zweierlei 
einander  ausschliessende  Motivierungen  gegeben:  zuerat  die  Liebe  (dile- 


2M  Plautus. 

wird  vich  wohl  auch  von  v.  51  —  56  glaublich  machen  lasseo. 
IHe  Worte  lauten  dort  so: 

nunc  in  Epidamnum  p^dibus  redeundumst  mihi, 

ut  häno  rem  vobis  i^xamussim  dfsputem.  50 

aiqui0  quid  vottrum  Epidämni  carari  sibi 

velit,  audacter  fmperato  et  dicito; 

aed  Ita  iit  det  unde  cürari  id  possit  sibi. 

nam  nisi  qai  argentum  d^derit  nugas  egerit; 

qui  dt^derit  magis  maidres  nugas  Egerit.  55 

verum  illuo  redeo  unde  dbii,  atque  uno  adsto  in  loco. 

Kpidämnienais  ille  quem  dudom  dfzeram  u.  s.  w. 

Zu  Anfang  spricht  also  der  Verfasser  seine  Absicht  aus  von  der 
vorhergehenden  Abschweifung  auf  Epidamnus  zurückzukommen 
(nach  E.  zurückzukehren)  und  die  Handlung  des  Stückes  haar- 
klein zu  berichten,  thut  diess  aber  doch  nicht,  sondern  macht 
eine  neue  Abschweifung  und  kehrt  erst  von  dieser  zur  Erzählung 
der  Handlung  zurück,  und  zwar  mit  der  gleichen  Wendung 
(redeundumst,  redeo)  und  mit  dem  gleichen  Witze  (pedibus,  uno 
adsto  in  loco).  Streichen  wir  die  sechs  Verse  siquis  quid  bis 
adsto  in  loco,  d.  h.  theilen  wir  sie  dem  Prolog  einer  andern 
Aufführung  zu  als  die  sie  umgebenden  Verse,  so  bekommen  wir 
erst  einen  vernünftigen  Zusammenhang:  nunc  in  Epidamnum  pedibus 
redeundumst  mihi,  ut  hanc  rem  vobis  examussim  disputem.  Epi- 
damniensis  ille  quem  u.  s.  w.  So  kehrt  er  wirklich  zu  Epidamnus 
zurück.  Die  dazwischen  liegenden  sechs  Verse  sind  Witzreisse- 
reien,  veranlasst  durch  die  Art  wie  das  Zurückkommen  auf  Epi- 


xlt)  zu  dem  verlorenen  Enkel  (Kamens.Menaecbmus),  sodann  der  Um- 
stand dass  der  avos  selber  Menaecbmus  hiess  (and  seinen  Namen  in  seinem 
Ge schlechte  nicht  wollte  verloren  gehen  lassen).  Und  während  inmutat 
und  indit,  sowie  nachher  nomen  facit,  den  Standpunkt  des  avos  fest- 
halten, so  hat  das  in  der  Mitle  liegende  idemst  ambobus  nomen  eine 
unpersönliche,  sachliche  Formulierung.  Dazu  kommt  Kleineres,  wieder 
Tempuswechsel  zwischen  inmutat  und  dilexit,  das  unmittelbare  Auf- 
einanderfolgen von  alteri  und  alterum  an  der  gleichen  Versstelle.  Kurz, 
wir  haben  hier  zweierlei  Red&ctionen  für  verschiedene  Aufführungen 
der  Menächmen.  Der  einen  gehören  die  Verse  an:  inmutat  nomen 
huic  avos  gemino  alteri.  Menaechmo  idem  quod  alteri  nomen  facit,  wo 
das  unbestimmte  inmutat  seine  naturgemässe  nähere  Bestimmung  er- 
hält und  die  beiden  Praesentia  sich  auf  einander  beziehen;  aus  einer 
andern  Fassung  aber  sind  die  dazwischen  liegenden  vier  Verse ,  41 — 44, 
falls  man  diese  nicht  selbst  wieder  in  zwei  Redactionen  auseinander- 
legen will." 


Menaechmi  (Prolog).  265 

damnus  ausgedruckt  war ^  eine  Variation  darüber,  eine  Ausführung 
und  ein  Breiltreten  dieses  Witzes.  Nachdem  dasselbe  als  ein 
körperliches  Geben  nach  Epidamnus  bezeichnet  war,  wurde  daran 
von  einem  andern  Verfasser  der  Witz  angereiht:  wer  mir  daher 
eine  Commission  dorthin  mitgeben  will  thue  es  immerhin;  nur 
aber  heisst  es  dort:  „point  d'argent,  point  de  Suisses."  Wer 
mir  daher  kein  Geld  mitgibt  ist  ein  Narr;  wer  mir  aber  Geld 
mitgibt  ist  ein  noch  grösserer  Narr,  denn  er  bekommt  es  nie 
wieder  zu  sehen  (huius  argenti  dam n um  faciet).  Dass  dieser 
Witz  dem  ursprünglichen  Zusammenhange  fremd  ist  wird  auch 
aus  seiner  Wiederkehr  im  Prolog  des  Poenulus  (v.  79  fif.)  wahr- 
scheinlich: er  konnte  jedesmal  angebracht  werden  so  oft  von. 
einem  redire,  revorti  in  Zusammenhang  mit  einem  Ortsnamen 
die  Rede  war,  und  wurde  denn  auch  von  seinem  Urheber  wieder- 
holt angebracht,  im  Prolog  zum  Poenulus  wenigstens  ohne  Störung 
des  Zusammenhangs,  in  dem  zu  den  Menächmen  aber  am  ungeeig- 
neten Orte.  So  ist  noch  ein  anderer  Witz  von  ähnlicher  Sorte, 
die  Berufung  auf  einen  Augenzeugen,  im  Prolog  des  Poenulus 
(v.  62  f.)  mit  dem  Zusammenhange  fest  verwachsen,  in  dem  der 
Menächmen  (v.  22  f.)  ohne  alle  Störung  wegzulassen,  so  dass 
auch  die  letzteren  beiden  Verse  voa  dem  Witzfabrikanten  her- 
zuröhren scheinen  der  den  Poenulusprolog  verfasste  und  der  für 
eine  von  ihm  geleitete  Aufführung  der  Menächmen  den  vorge- 
fundenen älteren  (aber  gleichfalls  nachplautinischen)  Prolog  mit 
seinen  Erfindungen  bereichern  zu  müssen  glaubte.  Aus  derselben 
Fabrik  stammt  wohl  auch  v.  72 — 7$  des  Menächmenprologs; 
wenigstens  haben  die  Verse  ganz  den  gleichen  excurrierenden 
Charakter  und  dieselbe  Nuance  von  \^tz.  Durch  diese  Verse 
ist  wohl  der  ältere  Schluss  verdrängt  Verden,  in  welchem  die 
Handlung  des  Stuckes  weiter  erzählt  war,  mtsprechend  den  Versen 
8  — 10  des  akrostichischen  Argumentum,  tämlich  die  fortwähren- 
den Verwechslungen  welche  die  Ankunft  des  Zwillingsbruders 
herbeiführt  und  deren  schliessliche  Lösung.  Der  Verfasser  dieses 
älteren,  die  Handlung  kurz  (v.  6)  aber  vollständig  darlegenden 
Prologs  hat  gewiss  nicht  für  nöthig  gefunden  nach  allem  Erzähl- 
ten noch  ausdrücklich  zu  sagen  dass  die  Uadt  die  man  sehe 
Epidamnus  sei.  Diese  Bemerkung  rührt  von  demjenigen  Prolog- 
schreiber her  welchem  es  darum  zu  thun  wa\  den  Witz  quando 
alia  agetur,  aliud  fiet  oppidum  u.  s,  w.  anzubringen. 


266  Plautiu. 

9.*) 

Die  Verse  Meo.  152—157  sieben  in  deo  Handschriflen  durchaus 
in  der  richtigen  Ordnung,  und  es  bedarf  weder  der  Umstellung  von 
Ritschi  noch  der  von  Brix.  welche  letzlere  geradezu  unTerständlicli 
ist,  trotz  der  ausführlichen  Erklärung.  Wohl  aber  ist  vor  152  ein 
Vers  ausgefallen.  Der  Parasit  hat  sieb  geweigert  dem  Henächmus 
weitere  Coropliroente  zu  machen,  bis  er  wisse  wozu  und  wofür; 
zumal  da  derselbe  Händel  mit  seinfr  Frau  habe  (und  in  Folge 
dessen  auswärts  esse,  so  dass  für  den  Parasiten  nichts  zu  hoffen 
ist).  Darauf  halte  nun  Menächmus  .den  Parasiten  in  dem  aus- 
gefallenen Verse  beruhigt:  „oh,  was  diess  betrifft  brauchst  du 
dir  keine  Sorgen  zu  machen:  ick  werde  schon  ein  Plätzchen 
finden, 

dam  üzorem  abi  sepdlcram  habeamas,  bdnc  conburamus  diem 

(ganz  nach  Bb,  nur  unter  Streickung  von  atque  vor  hunc,  mit 
Brix):  wo  wir  hinter  dem  Bücken  meiner  Frau,  wenn  der  Tag 
todt  (todtgeschlagen  «»  zu  Ende)  ist,  ihm  einen  Leichenschmaus 
halten  können."  Das  leuchtet  dem  Parasiten  ein,  und  er  treibt 
nun  zur  Eile: 

dge  sane  igittur,  qaindo  aeqium  oras,  qadm  mox  incendö  rogum? 
dies  qaidem  iam  ad  ümbilicanst  dimidiatns  m6rtnos. 

„das  ist  ein  Vorschlag  zur  Güte,  das  lässt  sich  hören:  wann 
machen  wir  aber  damit  dei  Anfang?  Es  ist  höchste  Zeit  dafür 
Vorkehrung  zu  treffen ,  da  es  schon  Mittag  ist"  Darauf  Henäch- 
mus: „am  Aufschub  bist  air  du  selbst  Schuld  mit  deinem  Drein- 
reden": 

t^  morar«,  mfhi  qaom  obloqnere. 

Der  Parasit  beeilt  sich  nun  hoch  und  theuer  zu  versichern  dass 
es  ihm  gewiss  entfernt  licht  einfalle  dem  Menächmus  dreinreden 
zu  wollen: 

öculum  ecfodito  s^moram 
mihi,  Menaechme,  ii  üllam  yerbum  fdxo,  nisi  quod  iüsseria.     - 

So  hängt  alles  ganz  vohl  zusammen. 

10.*) 

In  der  zweiten  Scene  des  dritten  Acts  tritt  Menächmus  II 
aus  dem  Hause  derErotium,  während  der  Parasit  Peniculus  von 


•)  Aus  Fleckeiien'8  Jabrbb.  1867,  S.  33  f. 
♦♦)  Aus  Flecke&cn's  Jahrbb.  1867,  S.  273  f. 


Menaechmi  (v.  152  ff.    478  flP.)-  267 

ihm  ungesehen  auf  der  Buhne  ist.  Die  ersten  drei  Verse  spricht 
Menächmus  noch  ins  Haus  hinein,  laut  Erotium  darüber  beruhigend 
dass  sie  die  palla  bald  wieder,  unkenntlich  gemacht,  zurücker- 
halten  solle ;  nachher  dankt  er  in  gedämpftem  Tone  dem  Himmel 
dass  er  ihm  solche  Beute  in  die  Hände  jage.  Peniculus  sagt 
während  dieser  leiseren  Aeusserungen  nach  B  (v.  478  f.): 

neqaeö  quae  loquitur  ^xaudire  clänciilum. 
satür  nano  loqnitnr  dd  me  et  de  partä  mea. 

Dass  im  letzten  Verse  gleichgültig  ist  ob  man  mit  BDcF  parte 
schreibt  oder  mit  CDaZ  parli,  hat  Bücheier  lat.  DccI.  S.  50  be- 
merkt. Dieser  zweilc  Vers  fehlt  aber  in  A;  und  da  er  ohnehin 
zu  dem  vorhergehenden  sachlich  nicht  passt,  so  ist  es  um  so 
wahrscheinlicher  dass  er  hierher  nicht  gehört  und  nur  wegen 
seiner  Aehnlichkeit  hieher  gerathen  ist.  Darum  aber  seine  Echt- 
heit zu  bezweifeln,  wie  Ritschi  thut,  scheint  mir  ein  zu  rascher 
Schluss.  Ich  halte  es  vielmehr  für  einen  glücklichen  Gedanken 
von  Brix,  dass  derselbe  nach  den  drei  Anfangsversen  dieser  Scene 
zu  setzen  sei.  Nur  darf  man  weder  satur  in  satis  verwandeln 
noch  den  Vers  so  erklären  wie  Drix  thut.  Ich  verbinde  satur 
de  me  et  de  parte  mea.  Der  erste  Gedanke  des  Parasiten ,  wie 
er  den  Menächmus  von  Essen  und  Trinken  geröthet  aus  dem  Hause 
treten  sieht  und  hineinsprechen  hör\,  ist  dass  der  welcher  da 
spreche  sich  auf  seine  Kosten,  vo|  seinem  Antheile  satt  ge- 
gessen habe.  Erst  nachdem  er  seineln  Aerger  darüber  Luft  ge- 
macht geht  er  auf  den  Inhalt  des  Ges|rochenen  ein^  aber  nicht 
ohne  nochmals  auf  jenen  Cardinalpuncl  zurückzukommen: 

pallam  dd  phrygionem  fert  coniecto  prdndio 
vin6qae  expoto,  pdrasito  ezcluä^  foras 

und  blutige  Rache  schwörend: 

non,  h^rcle,  is  sam  qui  siim,  ni  Wnc  iniiiriam 
meqne  ültus  palcre  fdero.   observa  qiifd  dabo. 

Die  letzten  drei  Worte  hat  Brix  gut  gerecUfertigt.  Darauf  folgt 
des  Menächmus  leise  gesprochener  Preis  ^ines  Glückes,  z.  B. 
scortum  accubui,  wovon  Brix  eine  ErkläruA^  gibt  die  wohl  nur 
auf  pädagogische  Richtigkeit  Anspruch  machi^  da  das  Glück  ein 
scortum  „zur  Tischnachbarin''  zu  haben  docil  nicht  gross  genug 
ist  und  Catull  61,  1.67  auf  eine  andere  Auffas)|ing  führt;  sodann 
der  Vers  nequeo  quae  loquitur  exaudire  clan^ulum.  Seine  Be- 
deutung in  diesem  Zusammenhange  hat  Brix  ncht  erkannt;   der 

Parasit  darf  die  vorhergehende  und  nachfolgeniß  Darlegung  des 

\ 


268  Plauius. 

Meoachmus  nichl  hören,  da  er  soo$t  zu  früh  die  Verwechsluog 
enldeckeo  wurde.  Clanculum  bedeutet  „in  meinem  Verstecke, 
von  dem  Redenden  entfernt  und  ungesehen  wie  ich  bin."  Aehn- 
lieh  Asin.  V,  2,  31:  aucupemus  ex  insidiis  chinculum  quam  rem 
gerant.  Wenn  Ritschi  das  Wort  mit  den  folgenden  Worten  des 
Henächmus  verbindet:  clanculum  ait  hanc  dedisse  me  sibi,  so 
kann  diess  nichl  richtig  sein,  da  er  den  Shawl  zwar  seiner  Frau 
clanculum  surrupuit  (vgl.  531  f.  56Q|,  nicht  aber  der  Erotium 
clanculum  gegeben  hat,  sondern  offen  vor  ihrem  Hause  und  vor 
den  Augen  des  Parasiten:  s.  v.  202. 

V.  656  liest  man  bei  Brix  wie.  bei  Ritschi: 

Mbn.  p^r  lovem  deosqne  6miii8  adiaro»  Axor  —  satin*  hoc  ^st  tibi?  — 
n6n  dedisse.    Pa.  immo  h^rcle  vero,  nös  non  falsam  dicere. 

Dazu  gibt  Brix  die  richtige  Erklärung:  nos  adiuramus  nos  non 
falsum  dicere.  Nur  musste  dana  auch  interpungiert  werden: 
immo  hercle  vero  nos,  non  falsum  dicere.  Denn  der  Gegensatz 
liegt  in  den  Personen:  adiuro.  Irnmo  hercle  vero  nos  adiuramus. 
Bei  der  andern  Interpunctionsweise  wäre  zu  erwarten:  immo  vero 
(adiura)/ nos  non  verum  dicere. 

11.*) 

Menaechmi  590  ff.  ist  eine  in  sachlicher  Beziehung  sehr 
merkwürdige  und.  schwierige  Stelle.  Es  ist  darin  von  den  Aedilen 
kurzweg  als  von  einer  richerlichen  Behörde  die  Rede,  von  der 
sponsio  und  dem  praedem  dare.  Sie  ist  daher  auch  schon  manch- 
fach  besprochen  worden.  Nur  haben  die  welche  die  sachliche 
Seite  besprachen  oft  genig  über  die  kritische  Beschaffenheit  der 
Stelle  verworrene  Vorstel\ingen  gehabt,  und  die  welche  den  Text 
festzustellen  unternabmei  waren  nicht  selten  über  die  einschlagigen 
SachverbäUnisse  nicht  fienügend  unterrichtet  oder  giengen  in  Be- 
zug auf  letztere  von  wilkürlichen  unbegründeten  Voraussetzungen 
aus.  Solche  Voraussetzmgen  der  Textgestaltung  zu  Grunde  zu  legen 
ist  im  vorliegenden  Frfle  um  so  weniger  gerechtfertigt  und  um  so. 
gefahrlicher,  je  dunUer  die  betreffenden  Sachverhältnisse  selbst 
sind.  Wenigstens  Dir  haben  die  eingehendsten  Besprechungen 
mit  den  scharfsinngsten  und  kenntnissreicbsten  Romanisten  als 
allersicherstes  Ergemiss  das  festgestellt  dass  nur  so  lange  man 
die  Stelle  aus  sie)  selbst  erklärt  man  festen  Boden  unter  den 


*)  Aas  den)  Rhin.  Mus.  XXH.  S.  461— 4&6. 


Menaechmi  (v.  590  ff.)-  269 

Füssen  hat.  Ich  kann  es  daher  schon  nicht  billigen  dass  Ritschi 
das  überlieferte  aediles  abgeändert  hat  in  aedilem'*'),  noch  weniger 
aber  dass  er  in  seiner  (kleinern)  Textausgabe  den  Vorschlag 
Bothe*s  ut  ne  sponsio  aufgenommen  und  dadurch  die  Worte  in 
ihr  Gegentheil  verwandelt  hat,  trotzdem  dassVahlen,  Rhein.  Mus. 
XVI.  S.  633  f.  diese  Aenderung  als  eine  sichere  behandelt.  Dass 
sie  hiervon  das  Gegentheil  ist  erhellt  aus  ddn  Worten  condiciones 
tetuli  tortas,  confragosas.  Denn  diese  condiciones  bilden  eben 
den  Inhalt  der  sponsio;  diese  hatte  die  Form:  si  (hoc  est,  factum 
est  oder  non  est,  non  factum  est)  spondesne?  sie  bestand  also 
ganz  wesentlich  aus  einer  condicio  oder  mehreren,  und  wenn 
Menächmus  condiciones  telulit,  so  hat  er  unzweifelhaft  eine  sponsio 
beantragt,  nicht  aber  eine  solche  verhindern  wollen.  Aber  suchen 
wir  zuerst  den  Wortlaut  festzustellen. 

lieber  590  und  591  kann  kein  Zweifel  sein  dass  die  Octonare 
so  lauten: 

äput  aediles  pro  ^ias  factis  pliirnmisqne  p^ssnmisque 
dizi  caassam:  condiciones  ti^tnli  tortas,  confragosas. 

Denn  dass  A  vielmehr  detuli  hat  kommt  nicht  in  Betracht.  Die 
Schwierigkeiten  liegen  erst  in  den  zwei  nächsten  Versen.  Hier 
bieten  die  Hdss.  Folgendes: 

aat  plus  aut  minus  quam  opus  iiierat  (so  A,  die  andern  erat) 
mnlto  (Ritschi  nach  Spuren  des  .4^  vielmehr  dicto)  dizeram,  con- 
troversiam  \ 

ut  sponsio  fieret.  ille  qui  praeden^  (so  deutlich  A,  die  andern 
praedam)  dedit.  \ 

Um  mit  dem  letztern  anzufangen,  so  Var  die  Emendation  quid 
ille?  quid?  praedem  dedit  ganz  befriedend.  Da  aber  die  lex 
Thoria  vom  J.  643  d.  St.  noch  die  voll^e  Form  praevides  zeigt, 
so  ist  mehr  als  wahrscheinlich  dass  auqi  Plautus  sie  noch  ge- 
kannt und  angewendet  hat,  und  ßächelei\hat  daher  gewiss  mit 
Recht  quid  ille?  praevidem  dedit  gescbriefipn.  Nachdem  diess  in 
die  spätere  Form  praedem  verwandelt  woi^len  war,  wurde  zur 
Ausfüllung  ein  zweites  quid  hineingesetzt,  ind  dieses  hatte  den 
Ausfall  des  ersten  in  den  Hss.  zur  Folge,    i^  ersten  Vers  ergibt 

\ 

*)  Diess  ohne  Zweifel  wegen  apud  aedilem  v^587,  das  dort  zwar 
nicht  unbedingt  zu  verwerfen  ist  (weil  dann  dr€  Arten  von  Fällen 
unterschieden  werden,  criminelle,  civilistische  und  poizeiliche),  aber  doch 
an  der  Variante  iudicem  eine  gefährliche  Concuri^nz  hat:  vor  dem 
populns,  einem  magistratus,  einem  iudex.  ^ 

\ 

\ 

\ 


270  PlautuB. 

das  was  die  Hss.  bieten  um  zwei  Silben  zu  viel;  Ritsclil  hat 
daher  die  beiden  aut  gestrichen: 

plus  miniiB  quam  opas  foerat  dicto  dixeram  etc. 

Aber  da  Men5chmus  Eile  halte  um  zu  dem  bestellten  Essen  zu 
kommen,  so  wird  er  sich  in  seiner  Rede  gewiss  nur  auf  das 
Nolhwendige  beschränkt  und  genau  nur  so  viel  gesprochen  haben 
als  die  Sache  unumgänglich  verlangte,  nicht  mehr,  aber  —  ge- 
mäss seiner  Pflicht  als  palronus  —  auch  nicht  weniger.  Diess 
heisst  haut  plus,  haut  minus,  und  diess  ist  offenbar  das  was  die  Hss. 
mit  ihren  zwei  aut  meinen,  plus  minus  würde  heissen:  mehr 
oder  weniger,  wie  Capl.  V,  3,  18; 

^heu,  cnr  ego  plus  minusque  fSdci  quam  me  aeqa6m  fuit! 

Warum  hab'  ich  nicht  einfach  das  gelhan  was  meine  Pflicht  er- 
heischte ,  warum  hab'  ich  mich  von  der  Linie  der  Pflicht  entfernt, 
darunter  und  darüber!  Dass  er  sich  in  beiden  Richtungen  in 
seiner  Rede  von  demjenigen  entfernt  habe  quod  opus  fuerat  will 
Menächmus  gewiss  nicht  sagen.  Ich  streiche  daher  lieber  dicto, 
zumal  da  es,  wie  auch  die  Verschreibung  multo  glaublich  macht, 
einer  Glosse  seine  Entstehung  verdanken  kann  und  noch  sehr 
^zweifelhaft  ist  ob  es  wirklich  am  A  eine  Stütze  hat.     Also: 

baut  plus,  haut  minos  qndm  opus  fuerat  dfxeram. 

Folgt  dann  im  A:  CONTCOüERSIAMüT  ||  SPONSIOFIERET. 
Die  deutliche  und  auch  dirch  alle  andern  Hss.  bestätigte  Accu- 
sativform  zeigt  dass  der  Fehler  in  fieret  steckt,  statt  dessen  ein 
transitiver  Verbalbegrifl'  nölhig  ist,  entweder  das  von  Ritschi  in 
seiner  grössern  Ausgabe  gesetzte  finiret  oder  Vahlen's  diferret. 
Dann  fehlt  nur  noch  ean,  das  nach  ut  leicht  ausfallen  konnte, 
wenn  es,  wie  im  A,  an  Schlüsse  der  Zeile  stand.  Somit  ergäbe 
sich  diese  Fassung: 

baut  plus,  baut  minue  quam  opus  fuerat  dfxeram,  controvörsiam 
üt  eam  sponsiö  finiret  (oder  diferret).    quid  ille?  praevid^m  dedit. 

Ritschis  Umstellung  dbr  mittleren  Worte  (in  seiner  grösseren  Aus- 
gabe) in:  ut  eam  spoisio  ||  controversiam  flniret,  gibt  zwar  einen 
unzweifelhaft  gefällij[eren  Vers,  lässt  jedoch  die  Entstehung  der  ' 
handschriftlichen  llsberiieferung  unerklärt.  Nun  ist  aber  noch 
zwischen  finiret  urd  diferret  eine  Entscheidung  zu  treflen.  Diese 
hängt  von  der  Frige  ab  ob  das  Eingehen  einer  sponsio  eine  Ver- 
tagung des  Procoses  ist  oder  ein  Abschluss  desselben.  An  sich 
und  sachlich  geviss  das  Erslere,  sofern  durch  das  Eingehen  der 
Wette  der  Proces  nur  eine  andere  Form  erhält  und  auf  ein  an- 


Menaechmi  (690  ff.).  271 

deres  Gebiet  hinubergespielt  wird.  Aber  Menächmus  hat  Eile, 
er  möchte  vom  Forum  fort,  er  möchte  schlechterdings  der  Ver- 
handlung wenigstens  für  heute  ein  Ende  gemacht  sehen,  damit 
er  zu  seinem  Rendez -vous  sich  begeben  kann;  Alles  in  ihm  ruft 
nach  Schluss;  und  so  ist  gewiss  finiret  das  seiner  Stimmung  ent- 
sprechende Wort,  weit  mehr  als  diferret,  das  die  Fortsetzung 
der  heutigen  Verhandlung  in  unerfreulicher  Perspective  zeigt. 
Durch  die  sponsio  erfolgte  aber  auch  wirklich  ein  finire  eam  con- 
troversiam,  wenigstens  ein  vorläufiges  und  für  die  bisherige  Form 
der  Verhandlung;  es  musste  nun  erst  über  das  Zutreffen  der  den 
Inhalt  der  sponsio  bildenden  Bedingungen  cognosciert  werden, 
und  damit  hatte  es  gute  Weile*).  Neben  dem  aber  dass  sein  eigen- 
stes Interesse  dem  finis  controversiae  zudrängte  durfte  Menächmus 
glauben  mit  der  sponsio  auch  noch  dem  Interesse  seines  dienten 
gerecht  geworden  zu  sein,  da  er  der  Sponsionsformei  eine  solche 
Fassung  gegeben  hatte  dass  sie  für  die  Gegenpartei  Fussangeln 
enthielt  und  dieser  der  Beweis  sehr  erschwert  wurde.  Der  Client 
hätte  also,  nach  der  Meinung  des  Menächmus,  mit  beiden  Händen 
nach  der  vorgeschlagenen  sponsio  greifen  sollen.  Was  that  er  aber 
statt  dessen?  Praevidem  dedit!  Wfis  heisst  diess?  ßrix  erklärt 
es:  „er  drang  hartköpfig  auf  ein  Hrenges  Processverfahren ,  in 
welchem  er  bei  der  Menge  der  ihn  |)elastenden  und  durch  drei 
Zeugen  erhärteten  Thatsachen  nothweni^ig  verurteilt  werden  musste, 
und  erklärte  dazu  einen  Bürgen  stelUn  zu  wollen."  Dieser  Er- 
klärung fehlt  es  nicht  an  der  Autoritär  bedeutender  Kenner  des 
römischen  Rechts,  und  ich  habe  sie  selbst  auch  längere  Zeit 
getheilt;  sie  scheint  mir  aber  nicht  zustimmen  zu  dem  folgen- 
den nee: 

n^c  magis  manuf^stam  ego  hominem  dm^jiam  ullum  ten^ri  vidi; 
6mnibu8  male  fäctis  testes  tr^s  aderant  a^rrumi. 

Bei  Brix'  Erklärung  stände  zu  praevidem  dedit  das  Weitere  in 
einem  Adversativverhältniss;  und  doch  konnte  bei  einem  strengen 
Processverfahren  lediglich  kein  gunstiges  Er^bniss  für  ihn  heraus- 
kommen.    Diess  heisst  aber  nee  nicht,  soii^ern  vielmehr:   und 


*)  Dass  finire  technisch  ist  für  die  Erledigank  eines  Processes  (lis) 
Oder  eines  Streitpunktes  (controversia)  erhellt  ais  Stellen  wie  Plin. 
£p.  VII,  7,  2:  si  alteram  litera  per  iudicem,  ateram,  ut  ais,  ipse 
finieris.  Dig.  IV,  8,  8.  §.  1:  compromissum  .  .  ad^niendas  lites  per- 
tinet.  ib.  19.  §.  1  vom  arbiter:  nisi  omnes  controvVsias  finierit,  non 
videtnr  dicta  sententia.  \ 


272  Plautns. 

ich  habe  auch  wirklich,  in  der  That  niemals  einen  Menschen 
mit  schlechterer  Sache  gesehen;  er  hatte  also,  den  Fall  von  ob- 
jectivem  Gesichtspunkt  betrachtet,  allen  Grund  seine  Sache  für 
verloren  zu  halten  und  aufzugeben.  Für  seinen  Patronus  blieb 
dann  nur  der  Aerger  dass  der  Schlingel  diess  nicht  von  Anfang 
an  gethan»  vielmehr  ihn  ganz  unnötbig  bemuht  und  seine  kost- 
bare Zeit  ihm  gestohlen  habe.  Also  ein  Aufgeben  ^iner  Sache 
finde  ich  in  praevidem  dedit,  und  ich  kann  mich  dafür  gleich- 
falls auf  einen  Juristen  berufen ,  nämlich  auf  Göppert ,  Zur  Lehre 
von  den  praedes,  in  der  Zeitschrift  ffir  Rechtsgeschichte  IV  (Wei- 
mar 1864)  S.  269,  welcher  sagt:.  „Es  könnte  zwar  zweifelhaft 
sein  ob  es  sich  hierbei  vielleicht  cjarum  gehandelt  ob  sacramento 
oder  per  sponsionem  procedlert  werden  sollte.  Aber  darüber 
sind  weitläufige  Verhandlungen  nicht  wahrscheinlich;  die  Sache 
geht  vor  den  Aedilen  vor  und  betrifft  anscheinend  irgend  ein 
Vergehen  gegen  ihre  Edicte.  Plautus  meint  offenbar  den  Gegen- 
satz zwischen  gütlicher  Vergleichung  und  Einlassung  auf  den  Process. 
Menächmus  hat  letzteres  für  seinen  dienten  herbeifuhren  und 
die  Formel  der  einzugehenden  Sponsionen  zu  seinen  Gunsten 
möglichst  verdrehen  wollen;  der  Client  hat  aber  —  und  auch 
mit  Recht,  da  er  vollständig  überführt  worden  wäre  • —  noch  im 
letzte  Moment  eingestanden  und  seinem  Gegner  für  die  Streit- 
summe praedes  gegeben;  freihch  sind  nun  alle  Worte  des  Me- 
nächmus vergebens  gewesen."  Dass  es  sich  um  Delicte  bandelt 
erhellt  aus  factis  pessumis,  manufes(um  teneri,  male  factis;  nur 
will  es  dazu  nicht  recht  stimmen  dass  Göppert  von  einer  „Streit- 
summe "  spricht.  Das  Sfellen  eines  praeves  wird  sich  daher  viel- 
mehr auf  die  Geldstrafe  (multa)  beziehen  mit  der  das  betreffende 
Delicl  bedroht  war  und  zu  deren  Zahlung  der  Beklagte  verpflichtet 
(wenn  nicht  geradezu  condemniert)  war,  nachdem  er  die  Richtig- 
keit der  erhobenen  Klage  zugegeben  hatte.  Das  Delict  war  wohl 
ein  Polizeivergehen,  die  als  solche  vor  das  Forum  der  Aedilen 
gehörten  und  meist  nit  einer  Geldstrafe  bedroht  waren ,  tbeilweise 
so  dass  auf  diese  lon  jedem  ßeliebigen  (quilibet  ex  populo)  ge- 
klagt werden  konnte;  also  eine  multae  petilio  mittelst  einer  actio 
popularis.  Solch«  Klagen  waren  theils  Popularinterdicte  zum 
Schutze  der  Benitzung  der  res  publicae,  theils  Popularactionen 
auf  Geldstrafen  vegen  öfifentlicher  Delicte.  Vergehen  dieser  Art 
waren  sepulcri  nolatio,  albi  corruptio,  effusum  ac  deiectum  und 
andere  Gefährdungen    der    Sicherheit   auf  der   via   publica.    In 


Menaechxni  590  ff.    Miles.  273 

Bezug  auf  das  erstgenannte  Vergehen  hiess  es  z.  B.  in  dorn 
prätorischen  Edict  Dig.  XLVII,  12,  3:  wenn  kein  unmittelbar 
ßetlieiiigter  vorhanden  sei  oder  dieser  nicht  Klage  erheben  wolle, 
quicumque  agere  volel,  ei  cenlum  aureorum  actionem  dabo.  Die 
betreffende  Strafsumme  wurde,  wo  keine  gegentheilige  Bestimmung 
vorlag,  Eigenlhum  des  siegreichen  Klägers.  Vgl.  über  diesen 
ganzen  Gegenstand  G.  ßruns,  die  römischen  Popularklagen,  in 
der  Ztschr.  f.  Bechtsgeschichte  III,  besonders  S.  369  fif.  388  IT. 
405  ff.  Die  Popularinterdicte  sind  die  ältere  Form,  und  bei  allen 
Interdicten  bestand  das  Verfahren  zunächst  stets  in  einem  Spon- 
sionenprocesse.  Der  Magistrat  erjiess  auf  den  Antrag  des  Klägers 
sein  Interdict;  und  wenn  dann  der  Beklagte  die  Bechtmässigkeit 
desselben  bestritt  und  es  nicht  befolgte,  so  schlössen  die  Parteien 
eine  sponsio  mit  restipulatio  auf  Strafen  darüber  ab,  und  daraus 
wurde  dann  beiderseits  geklagt  und  der  Unterliegende  in  die  Strafe 
verurteilt  (Bruns  a.  a.  0.  S.  395).  Unsere  Stelle  aber  bezieht  sich 
auf  eine  populäre  ädilicische  Strafklage,  welche  an  sich  schon 
in  der  Literatur  überaus  selten  sind  —  Bruns  hat  nur  vermutungs- 
weise als  eine  solche  die  aus  dem  Edicte  de  bestiis  (Dig.  XXI, 
1,  42)  bezeichnet  und  sonst  nur  prätotische  dieser  Art  gefunden 
—  und  dann  ist  auch  der  Verlauf  deVselben,  wie  ihn  unsere 
Stelle  zeichnet,  ein  höchst  orgineller  und  durch  die  Anwendung 
der  sponsio  lehrreich  für  die  Geschichte  dieser  Stipulationsform. 
Daher  die  Stelle  der  ferneren  Beachtung  liinserer  Bomanisten  em- 
pfohlen sein  möge. 

12.*) 

Der  Prolog  des  Miles  gloriosus  (U,  1,  8  f.)  enthält  die 
Angabe:  ^Alat^fov  graece  huic  nomen  est  comiediae ,  id  nos  latine 
Gloriosum  dicimus.  Die  Weglassung  des  Namens  des  griechischen 
Dichters  und  der  etwas  schwankende  Ausdruck^^  der  an  sich  auch 
die  Annahme  bioser  Abstraction  aus  dem  lateinischen  Titel  zuliesse, 
könnte  Bedenken  erregen,  wenn  der  Prolog  nipht  sonst  manche 
unverwerfliche  und  werthvolle  Angaben  enthiellp.  Die  Stellung 
dieses  Prologs  weist  allerdings  darauf  hin  dass  ^s  mit  der  Ein- 
gangsscene  eine  besondere  Bewandtniss  habe,  wenngleich  der  Vor- 
wurf der  „Verbindungslosigkeit"  nicht  ganz  gegkindet  scheint; 
vgl.  ly  1,  72  (T.  mit  IV,  1,  2  ff.  Ob  nun  aber  \ene  aus  dem 
Kolax  des  Menander  genommen  ist,   wie  W.  A.  B^keF  meinte, 

*)  Ans  dem  Rhein.  Mus.  VIII.  S.  34—41. 
Teuf  fei,  Stadien.  m 


\ 


274  PlautuB. 

oder  ans  dem  Alifijöiteixrjg  des  Diphilns,  wie  Ritschi  Termotete, 
wird  sich  schwer  entscheiden  lassen;  für  das  Erstere  spräche 
dass  das  was  den  Eingang  von  dem  Folgenden  unterscheidet  die 
Rolle  des  Parasiten  ist,  für  das  Zweite  der  Name  des  Hiles, 
Pyrgopolinices.  In  Bezug  auf  die  Abfassungszeit  des  Stücks  be- 
währt sich  auch  hier  wieder  Vissering's  Bemerkung  wegen  des 
philippischen  Goldes,  das  IV,  2,  69.  72  erwähnt  ist;  denn  anderer- 
seits weist  IV,  2,  28:  cedo  Signum,  si  harunc  Baccharum  es  auf 
eine  Zeit  hin  wo  die  Bacchanalien  zu  Rom  noch  in  vollster  Bläte 
standen,  wenigstens  noch  nicht  verboten  waren.  Das  Stück  fallt 
somit  zwischen  560  und  568,  also  ungefähr  565  d.  St.  (Varr.). 

13. 

Beim  Poenulus  läge  die  Annahme  einer  Gonlaminalion  ziem- 
lich nahe,  wenn  dadurch  etwas  gewonnen  wäre.  Denn  die  zweierlei 
Inlriken  zum  Zwecke  der  Befreiung  der  Adelphasium,  die  völlig 
unvermittelt  und  zusammenhangslos  neben  einander  herlaufen  und 
von  denen  eine  die  andere  überflüssig  macht,  könnten  auf  ur- 
sprüngliches Auseinanderliegen  der  beiden  Theile  hinweisen.  Zudem 
erhält  Adelphasium  I,  2,  159  Aussicht  eine  civis  attica  zu  werden 
(wie  auch  der  Beschreibung  der  Aphrodisien  die  attische  Sitte  zu 
Grunde  liegt),  während  doch  sonst  immer  der  Schauplatz  Aetolien 
(III,  3,  7:  Aetoli  cives;  V,  2,  97),  genauer  Kalydon  (V,  4,  8) 
ist.  Aber  die  Erfindung  und  Anlage  des  Stücks  ist  so  durch  und 
durch  mangelhaft  dass  jene  beiden  Eigenthümiichkeiten  wohl  passen- 
der aus  dieser  allgemeinen  Mangelhaftigkeit  abgeleitet  werden. 
Namentlich  die  erste  Intrike  zeugt  von  einer  Verworrenheit  der 
Rechtsbegriffe  die  an  einem  Römer  unbegreiflich  ist.  Agorastokles 
schickt  einen  seiner  Sklaven  mit  300  Philippsdor  ins  Haus  des 
Leno;  dieser  Sklave  gibt  sich  für  einen  freigeborenen  Spartaner 
aus,  und  scheinbar  glaubwürdige  Zeugen  bekräftigen  seine  An- 
gaben; er  händigt  dem  Leno  das  Geld  für  Gegenleistungen  ein, 
—  und  damit  dass  er  ihn  ins  Haus  aufgenommen,  das  Geld  nicht 
zurückgewiesen  bat,  soll  nun  der  Leno  eines  doppelten  Diebstahls, 
von  einem  Sklaren  und  von  einer  Geldsumme,  sich  schuldig  ge- 
macht haben!  Als  ob  Aneignen  einer  Sache,  wenn  man  nicht 
nur  nicht  weiss  dass  sie  fremdes  Eigenthum  ist,  sondern  von  der 
man  sogar  das  Gegentheil  zu  glauben  zureichende  Gründe  hat, 
irgendiiro'Die&stahl  genannt  würde!  Um  nichts  zu  sagen  von  der 
kolossalen  Plumpheit   dass  Agorastokles   III,    4,    22  erklärt,    er 


Poenulus.  275 

wolle  nach  einem  Sklaven  mit  zweihundert  Dukaten  fragen, 
damit  der  Leno  um  so  eher  eine  verneinende  Antwort  gebe,  weil 
Collybiscus  dreihundert  mitgebracht,  und  dass  die  advocati  lil, 
5,  34  f.  selbst  bekennen:  peristi  leno;  nam  iste  est  huius  vilicus, 
quem  tibi  nos  esse  Spartiatem  diximus!  Ohnehin  ist  von  dieser 
ganzen  Intrike  nicht  abzusehen  wozu  sie  angezettelt  wird,  da  ja 
Agorastokles  selbständig  und  reich  ist  und  jeden  Augenblick  los- 
kaufen könnte;  ebenso  wenig,  warum  sie  nicht  aufgegeben  wird 
nachdem  durch  die  Auffindung  ihres  Vaters  die  Mädchen  in  Frei- 
heil gesetzt  sind,  somit  der  ursprüngliche  Zweck  erreicht  ist  und 
die  Verfolgung  jener  Intrike  nur  noch  die  Bedeutung  einer  be- 
trügerischen Gelderpressung  hat.  Diese  Verstösse  sind  alle  so 
handgreiflich  und  grob  dass  man  vor  ein  Paar  hundert  Jahren 
daraus  die  Unechtheit  des  Stucks  gefolgert  hätte,  wenn  man  auf 
dieselben  aufmerksam  geworden  wäre.  Eine  ebenso  beliebte  und 
gleich  geistreiche  Folgerung  ist:  dass  das  Stück  ein  Jugend verr 
such  oder  umgekehrt  ein  Erzeugniss  der  Altersschwäche  sein 
werde;  als  ob  nicht  auf  jeder  Altersstufe  einem  fruchtbaren, 
wenn  auch  sonst  vortrefflichen  Dichter  einmal  etwas  misslingen 
könnte!  Dass  namentlich  Plautus  noch  im  Alter  Ausgezeichnetes 
zu  leisten  vermochte  beweist  unter  Anderen  der  Pseudulus.  Es 
steht  daher  ausser  allem  Zusammenbog  mit  unserer  Gesammt- 
ansicht von  dem  Stücke  wenn  wir  dsiisselbe  den  letzten  Jahren 
des  Dichters  zuweisen;  vielmehr  bestimmen  uns  hiezu  die  geschicht- 
lichen Andeutungen,  die  bei  dieser  Kon^ödie  ungewöhnlich  zahl- 
reich sind.  Einmal  das  philippische  Gold\ist  darin  nicht  weniger 
als  zehnmal  erwähnt  (1 ,  1,  38.  3,  6.  III,.  1,  55.  2,  22.  3,  57. 
4.  4.  22.  5,  26.  36.  V,  6,  26),  das  Jahr ^60  ist  also  wiederum 
das  früheste  Datum.  Hieraus  erhält  zugleich  Sparta  capitur 
(III,  3,  52)  seine  Beziehung.  Wir  finden  ipo  plautinischen  Zeit- 
alter Sparta  zweimal  erobert:  im  Jahre  22^  v.  Chr.  (532  d.  St.) 
durch  Antigonus,  und  189=565  durch  Phildpömen.  Von  diesen 
beiden  Fällen  ist  demnach  der  letztere  hier\  gemeint ,  und  das 
schroffe  Verfahren  des  Siegers  gegen  die  altberijtimte  Stadt  (Nieder- 
reissen  der  Mauern  u.  s.  w.)  mochte  auch  unter  de^  Menge  so  grosses 
Aufsehen  erregen  dass  der  Dichter  passend  au^  dieses  Zeitereig- 
niss  anspielen  konnte.  Zu  diesem  Datum  stimn^  ferner  die  Er- 
wähnung des  Antiochus  als  noch  lebend ,  da  dieseV  erst  567  d.  St. 
(187  V.  Chr.)  noch  gar  nicht  all  (er  war  im  J.  2B4  v.  Chr.  sehr 
jung  auf  den  Thron  gelangt)  den  Tod  fand;   una  in  re   populi 

\ 
\ 


276  Plautus. 

placida  atque  inlerfeelis  hostibus  (TU,  1,  21)  passte  ganz  gut  auf 
eine  Zeit  wo  vier  Triumphe  hinter  einander  ein  Gefühl  von  Sicher- 
heit verliehen  und  der  eine  Gonsul  (Fulvius)  in  Aetolien  siegte  und 
Frieden  schloss,  der  andere  (Cn.  Manlius)  in  Galatien  mit  solchem 
Erfolge  kämpfte  dass  noch  vor  Beginn  des  Frühjahrs  (566  d.  St.)  ein 
Vertrag  mit  Antiochus  zu  Stande  kam.  Ist  es  hienach  wahrschein- 
lich dass  der  Poenuius  in  demselben  Jahre  wie  die  Bacchides 
(und  der  Miles  glor.?)  verfasst  ist,  so  könnte  man  sagen  dass  der 
Dichter,  durch  die  Hervorbringiing  eines  so  ausgezeichneten  Stuckes 
(oder  gar  mehrerer)  für  eine  Weile  erschöpft,  mit  seinem  nächsten, 
sehr  bald  darauf  verfassten  Drama  wenig  Gluck  gehabt  habe,  — 
wenn  nicht  solches  Pragmatisieren  überhaupt  höchst  mfissig  wäre. 

14. 

Vom  Budens  sollte  man  meinen  er  müsse  nach  der  Cistel- 
laria  und  der  Vidularia  verfasst  sein ;  denn  es  liegt  auf  der  Hand 
dass  nach  seinem  Inhalte  einer  der  beiden  letztern  Namen  für 
das  Stück  weit  passender  und  natürlicher  gewesen  wäre  als  der 
wirklich  gewählte,  und  es  kann  für  die  getroffene  Wahl  kaum 
ein  anderer  vernünftiger  Grund  gedacht  werden  als  der  dass  die 
beiden  näher  liegenden  Tilel  durch  frühere  Stücke  bereits  vor- 
weggenommen waren.  Nur  aber  ist  mit  dieser  Bemerkung  sehr 
wenig  geholfen;  denn  von  der  Vidularia  haben  wir  nur  magere 
Bruchstücke,  und  von  der  Cistellaria  wissen  wir  wenigstens  die 
Abfassungszeit  nicht.  So  müssen  wir  uns  also  nach  andern 
Anhaltspunkten  umsehen.  Einen  solchen  bietet  erstens  wieder 
das  philippische  Gold  (V,  2,  27),  auch  hier  unterstützt  durch 
ein  anderes  Kriterium.  Zweitens  nämlich  beruft  sich  V,  3,  26 
der  Leno  für  die  Ungültigkeit  der  mit  Gripus  abgeschlossenen 
Stipulation  scherzhaft  darauf  dass  er  noch  nicht  25  Jahre  alt  sei. 
Das  ist  die  aus  Pseud.  I,  3,  69  bekannte  lex  quinavicenaria ,  d.  h. 
die  lex  Plaetoria ,  aber  deren  Inhalt  s.  die  Nachweisungen  bei 
Bein  in  Pauly's  ßealEncyclopädie  IV.  S.  990  ff.  Leider  aber  kennen 
wir  Zeit  und  Urheber  dieses  Gesetzes  so  wenig  dass  wir,  statt 
aus  diesen  die  Abfassungszeit  der  beiden  plautinischen  Stucke 
bestimmen  zu  können,  vielmehr  froh  sein  müssen  dass  aus  den 
letzteren  auf  jene  einiges  Licht  fällt.  Indessen  da  auch  in  den 
übrigen  Stücken  Gelegenheit  genug  gewesen  wäre  auf  das  Gesetz 
anzuspielen,  es  aber  nie  geschehen  ist,  und  da  lex  quinavicenaria 
ein  offenbarer  Spottname  ist,   der  auf  frische  politische  Kämpfe 


Rudens.    Stichus.  277 

um  das  Gesetz  hinzudeuten  scheint,  so  ist  es  vielleicht  nicht  zu 

verwegen  wenn  man  annimmt  dass  die  lex  Piaetoria  nicht  lange 

vor  der  Aufführung  des  Pseudulus,  welche  bekanntlich  ins  J.  563 

d.  St.  (Varr.)  fällt,   also  etwa  562  d.  St.,  gegeben  worden   sei. 

In  dieses  Jahr  könnte  man  dann  auch  die  Auffuhrung  des  Hudenss 

setzen. 

15. 

Der  Stichus  ist  ein  räthselhaftes  Stück.  Ich  will  gern 
glauben  dass  es,  wie  Ritschi  Parerg.  1.  S.  280.  A.  angibt,  in  sehr 
unvollständiger  Gestalt  auf  uns  gekommen  ist,  wiewohl  Ladewig 
doch  wohl  des  Guten  zu  viel  thut  wenn  er  meint  das  Vorhandene 
sei  nur  etwa  die  Hälfte  des  ursprünglichen  Ganzen ;  aber  ich  sehe 
nur  nicht  recht  was  das  vollständige  Stück  weiter  enthalten 
haben  soll,  welche  angefangene  Handlung,  welche  eingefädelte 
Intrike  darin  zu  Ende 'geführt  werden  mochte.  Sollte  etwa  das 
ernsthaftere  Herrenmahl  durch  das  Sklavengelage  verdrängt  worden 
sein?  Oder  spielte  darin  besonders  Stichus  eine  Rolle  und  recht- 
fertigte den  gewählten  Titel?  Oder  war  es  darauf  angelegt  dem 
hetzerischen  Alten  mittelst  der  erbetenen  Concubine  eine  Beschä- 
mung zu  bereiten?  Besonders  wahrscheinlich  ist  diess  nicht,  da 
jener  Bitte  ja  schon  iV,  1 ,  66  f.  durch  deren  Reduction  auf  das 
Bedürfniss  einer  Betterwärmung  ihr  Sipchel  genommen  ist.  Die 
letzten  Scenen  sind  allerdings,  wie  Ritschi  sagt,  sehr  flüchtig 
skizziert;  aber  es  scheint  mir  doch  m  ob  darin  eine  gewisse 
Absichtlichkeit  zu  erkennen  wäre,  nämlibh  das  Bestreben  auf  das 
Erscheinen  oder  Wiedererscheinen  der  ^tephanium  zu  spannen. 
Dann  ist  sie  wohl  (im  Gegensatze  zu  V,  \3,  wo  sie  noch  nicht 
auffallend  gekleidet  war)  in  besonderem  P\^tze,  im  Ballstaate  er- 
schienen, vgl.  V,  5,  3  (f.  Ferner  ist  bet^crkenswerth  dass  sie 
bis  zu  Ende  (s.  V,  6,  4)  nicht  zum  Sitzen ^ kommt,  sondern  bis 
zum  Schlüsse  (V,  7,  6)  fortgetanzt  und  gesungen  wird,  was  so 
sehr  der  sonstigen  Gewohnheit  widerstreitet  <f]ass  die  Vermutung 
gerechtfertigt  scheint,  es  liege  eben  in  dieser  Vereinigung  drama- 
tischer und  orchestischer  Darstellung  eine  I^upteigenthümlich- 
keit  des  Stückes  und  sie  bilde  einen  wesentlichen  und  ursprüng- 
lichen Bestandtheil  desselben.  Ein  heiteres  Mah\  mit  Gesang  und 
Tanz  bildete  ohne  Zweifel  die  Schlussscene  in\dem  Menander- 
schen  Stücke  das  dem  Stichus  zu  Grunde  liegt,  n\ir  aber  so  dass 
die  Theiinehmer  daran  die  heimgekehrten  Ehemänner  und  ihre 
Frauen  selbst  waren,   welche  auf  diese  Weise  ihr^  Freude  über 


278  Plautus. 

• 

ihre  gluckliebe  Heimkehr  nach  langer  Abwesenheit  und  über  das 
frohe  Wiedersehen  der  trotz  Anfechtung  treugebliebenen  Gattinnen 
an  den  Tag  legten;  denn  in  Athen,  wo  das  Stuck  spielt,  ist  das 
höchst  naturlich,  da  ja  Alexis  (bei  Athen.  IV.  p.  134  Aj  sagt, 
tovro  yccQ  vvv  idti  6ov  'Ev  tatg  ^A^vaig  tatg  xakatg  ini- 
XdigLOV^Anccvtsg  oqxovvt  svd'vg  äv  otvov  ftdvoi/  'OiSiirjv  tS&^i. 
Dass  ein  solches  Mahl  die  ursprüngliche  Schlussscene  bildete  folgere 
ich  daraus  dass  wir  fortwährend  fon  den  Vorbereitungen  dazu 
hören,  dass  z.  B.  Antipho  sich  IV,  1,  63  auf  Wiedersehen  beim 
Mahle  verabschiedet,  dass  überhaupt  in  diesem  alle  Fäden  zusam- 
menlaufen. Wozu  wäre  der  Parasit  da,  wenn  es  nicht  einmal 
zum  Essen  gienge?  Gewiss  wurde  dieser,  nachdem  er  von  den 
Brüdern  lange  genug  gequält  war  (IV,  2),  endlich  doch  noch 
mit  einer  Einladung  begnadigt  und  zeigte  sich  nun  beim  Essen 
in  seiner  ganzen  Grösse.  Ferner  Antipho,  —  beim  Mahle  wird 
er  gleichfalls  gepaart  gewesen  sein,  wie  seine  Eidame,  nämlich 
mit  der  Flötenspielerin ,  die  er  sich  IV,  1  von  Pamphilus  erbittet, 
nachdem  er  schon  I,  2  seine  Abneigung  gegen  den  einsamen 
Wittwerstand  ausgesprochen  hatte.  So  erhalten  diese  beiden  Zuge 
ihre  Bedeutung  und  Beleuchtung.  Plautus  nun  wollte  einerseits 
den  Tanz  und  Gesang  und  das  Mahl  am  Schlüsse  belassen,  zumal 
da  die  Stimmung  einer  solchen  Scene  der  damaligen  des  Publi- 
kums entsprechen  mochte,  sofern  eben  erst  (553  d.  St.)  dem 
unheilvollen  zweiten  punischen  Kriege  durch  den  Frieden  mit 
Karthago  ein  Ende  gemacht  und  so  auch  nach  langer  Abwesenheit 
Friede  und  Ruhe  in  das  Vaterland  zurückgekehrt  war.  Anderer- 
seits aber  mochte  er  doch  nicht  so  schwer  gegen  die  römischen 
Begriffe  Verstössen  dass  er  Freigeborene  singend  und  tanzend 
eingeführt  hätte.  Er  wählte  daher  den  Ausweg  Letzteres  Sklaven 
thun  zu  lassen,  und  setzte  überhaupt  ein  Sklavengelage  an  die 
Stelle  des  Herrenmahles,  das  er  hinter  den  Coulissen  vor  sich 
gehen  lässt.  In  Folge  dessen  mussten  natürlich  viele  feine  Tisch- 
reden ,  namentlich  wohl  viele  Spässe  von  und  mit  dem  Parasiten, 
wegfallen,  und  die  Schlussscene  bekam  überhaupt  nun  einen  rohe- 
ren, wilderen  Anstrich,  der  zu  dem  Vorhergehenden  nicht  passt. 
Daher  das  Unharmonische,  Abspringende,  Unbefriedigende  des 
Schlusses.  Es  ist  ungefähr  wie  wenn  man  einem  Mannesleibe 
einen  Knabenkepf  aufsetzen  würde.  Und  zwar  sieht  es  aus  als 
ob  Plautus  bis  in  die  Scene  selbst  hin  an  die  Möglichkeit  geglaubt 
hätte  dieselbe  im  Wesentlichen  so  zu  lassen  wie  sie  Menander  gab. 


Stichus.    Truculentus.  279 

und  als  wäre  ihm  erst  bei  dem  wirklichen  Versuche  der  lieber- 
tragung  ihre  absolute  Unvereinbarkeit  mit  der  römischen  Denk- 
weise zum  vollen  Bewusstsein  gekommen;  denn  ohne  einen  solchen 
Hergang  würde  er  wohl  früher  darauf  bedacht  gewesen  sein  dem 
Stücke  eine  andere  Wendung  zu  geben  und  die  Sklaven  zeitiger 
einzuführen.  In  Folge  dieser  Abänderung,  des  Vorschiebens  der 
Sklaven  an  die  Stelle  der  Herrschaften,  bekam  das  Stück  jetzt 
auch  zum  Titel  einen  Sklavennamen.  Die  verhältnissmässige  Kürze 
des  Stückes  hätte  dann  ihren  Örund  in  der  Zeitdauer  welche  der 
Tanz  und  der  Vortrag  eingelegter  Gesangstücke  einnahmen. 

16. 

So  kurz  der  Prolog  zum  Truculentus  ist,  so  reich  ist  er 
an  faden  Witzen ;  dass  er  von  Plautus  selbst  nicht  herrührt  scheint 
hervorzugehen  nicht  nur  aus  der  Art  wie  v.  1  Plautus*  Name 
genannt  ist,  sondern  auch  aus  v.  13  vgl.  mit  20,  dem  Gegensatze 
in  welchen  der  Redende  seine  Zeit  stellt  zu  der  im  Stücke  selbst 
geschilderten ,  welche  Plautus  stillschweigend  und  durch  mancher- 
lei Anspielungen  mit  seiner  eigenen  zu  identificieren  pflegt.  Das 
Stück  selbst  wird  etwa  ins  J.  565  zu  setzen  sein.  Denn  es  wird 
von  Cic.  de  sen.  14,  50  neben  dem  im  J.  563  verfassten  Pseu- 
dulus  als  eine  mit  Liebe  gehegte  Frucht  des  Greisenalters  von 
Plautus  genannt,  weist  ferner  in  diesem  Zeitraum  auf  ein  Jahr 
nach  Beendigung  eines  namhaften  Kriegs  hin,  da  I,  56  der  Vers 
wiederkehrt  re  placida  atque  otiosa,  victis  ^hostibus,  den  wir  schon 
im  Pönulus,  noch  aus  andern  Gründen,  i^uf  das  Jahr  nach  der 
Schlacht  am  Sipylus  bezogen,  und  machll  endlich  durch  Sitten- 
schilderungen wie  I,  1,  45  f.  (nunc  lenonym  et  scortorum  plus 
est  fere  quam  olim  muscarum  est  cum  caletur\maxume)  wahrschein- 
lich dass  es  ziemlich  am  Ende  von  Piautu^  Leben  verfasst  ist. 
Das  dem  philippischen  Golde  (s.  V,  60)  enipommene  Kriterium 
bestände  demnach  auch  hier  die  Probe.  \ 


\ 


\ 

\ 


XI. 


Zu     T  e  r  e  n  z.*) 


1. 

Bei  der  Andria  hat  gewiss  W.  Ihne  das  Richtige  gelrofTen 
wenn  er  (Quaest.  Terenl.  Bonn  1843.  p.  9  (T.)  die  Angabe  des 
Schol.  zu  II,  1,  1:  has  persoaas  (des  Charinus  und  Byrrhia) 
Terentius  addidit  fabulae,  nam  non  sunt  apud  Menandrum  — 
auf  die  ^AvSqIu  des  Letzlern  beschränkt  und  annimmt  dass  beide 
Hollen  dessen  IIsQivd'icc  entnommen  seien.  Die  Gründe  dafür 
sind  schlagend:  die  Undenkbarkeit  dass  Terenz  gleich  in  seinem 
ersten  Stücke  und  nur  in  diesem  so  selbständig  aufgetreten  sein 
sollte  und  dass  Luscius,  der  über  die  kleinere  Freiheit  der  Con- 
tamination  ein  solches  Geschrei  erhob,  hierüber  geschwiegen 
hätte;  ferner  die  Gewohnheit  Donat's,  Stellen  aus  der  ^AvögCa 
einfach  durch  Menander  zu  eitleren ;  endlich  die  Aehnlichkeit  von 
drei  Versen  in  Charinusscenen  mit  solchen  des  Menander  und 
Euripides.  Nur  aber  bat  Ihne  dem  Schol.  Unrecht  gethan,  wenn 
er  dessen  weiteren  Zusatz:  ne  XQayixdtBQOV  fieret  Philumenam 
spretam  relinquere  sine  sponso,  Pamphilo  alium  ducente  —  als 
völlig  albern  hinstelk.  Ist  der  Ausdruck  auch  sehr  ungeschickt, 
so  enthalten  die  Worte  doch  einen  unzweifelhaft  richtigen  Ge- 
danken. Offenbar  ist  nämlich  die  Hinzufügung  der  Rolle  des 
Charinus  ein  Fortschritt.  Zwar  geht  auch  in  der  Cistellaria  des 
Plautus  die  eine  Tochter  des  Demipho  leer  aus,  aber  das  Stück 
ist  so  unvollständig  auf  uns  gekommen  dass  ein  sicherer  Schluss 
nicht  möglich  ist;  und  zudem  bewiese  dieses  Beispiel  nur  die 
Möglichkeit,  nicht  aber  die  Vortrefflichkeit  eines  solchen  Schlusses. 
Durch  die  Rolle  des  Charinus  wurden  nicht  nur  die  interessanten 


*;  Aus  den  Rhein.  Mus.  VIII.  S.  41  —  50. 


Andria.    Eunuchus.  28 1 

Ven/\icklungen  zwischen  den  beiden  Nebenbuhlern,  dem  unfrei- 
willigen und  dem  unglücklichen,  herbeigeführt,  sondern  es  bekam 
auch  der  Schluss  etwas  Befriedigendes,  die  ganze  Handlung  etwas 
in  sich  Abgerundetes.  Ohne  Gharinus  hätte  das  Schicksal  der 
Philumena  für  das  Gerechtigkeitsgefühl  etwas  Verletzendes,  es 
bliebe  im  Zuschauer  die  Empfindung  des  Mitleidens  zurück,  der 
Schluss  wäre  somit  kein  rein  heiterer,  wohlthuender.  Diese 
Härte  wollte  der  Scholiast  durch  sein  TQayiKcitSQOv  ausdrücken. 
Wenn  die  Handlung  der  IlBQiv^Ca  sich  in  diesem  Punkte  von 
der  der  ^AvögCa  unterschied,  so  liegt  die  Vermutung  nahe  dass 
auch  das  Publikum  und  der  Dichter  selbst  jenen  Mangel  fühlten 
und  dass  eben  darum  Menander  den  Stoff  zum  zweiten  Male 
bearbeitete.  An  Terenz  aber  müssen  wir  den  richtigen  Tact 
loben  dass  er  diese  Partie  aus  ^ex  IlBQiv^Ca  aufnahm,  trotzdem 
dass  er  im  Uebrigen  der  Ausführung  der  ^AvSgCa  den  Vorzug  gab. 

2. 

Der  Prolog  zum  Eunuchus  ist  von  grossem  literarhisto- 
rischem Werth  und  Ritschi  hat  ihn  (Parerg.  I.  S.  99  ff.)  aufs 
Scharfsinnigste  ausgebeutet.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  v.  25. 
Terenz  erzählt,  Luscius  habe  einer  Probe  des  Eunuchen  ange- 
wohnt und  dabei  ausgerufen: 

farem,  non  poeUm  fabulam 
dedisse  et  nihil  dedisse  verborum  tarnen: 
25       Colacem  esse  Naevi  et  Plaut!  vetsrem  fabulam, 
parasiti  personam  inde  ablatam  ei  militis. 

Hier  nimmt  sich  nach  der  starken  Behauptung  furem  etc.  die 
historische  Bemerkung  Golacem  esse  etc.  sehr  matt  aus.  Es  ist 
vielleicht  zu  schreiben: 

Colacem  esse  Naevi  et  Plauti,  vetelem  fabulam; 

d.  h.  dieser  angebliche  Eunuchus  Menandri  (v.  20)  ist  vielmehr 
der  Golax  Naevi  et  Plauti,  dieses  angeblich  neue  Stück  ist  viel- 
mehr ein  längst  dagewesenes,  altbackenes.  Der  Trumpf  furem 
etc.  wird  bewiesen  durch  einen  neuen  Trumpf,  die  angebliche 
Identität  mit  dem  Stücke  des  Nävius  und  Plaut^s,  die  dann  erst 
V.  26  ihre  nähere  Erläuterung  erhält.  Das  bei  (er  gewöhnlichen 
Auffassung  störende  Herausfallen  aus  dem  kecken y  übertreibenden 
und  schmähenden  Tone  ist  so  beseitigt,  das  Giftig  des  Vorwurfs 
geschärft;  denn  die  Behauptung  dass  das  Stück  wesentlich  iden- 
tisch sei  mit  einem  früheren  und  dass    der   Dichier   somit  eiq 


282  Terentius. 

altes  Stück  für  ein  neues  sich  habe  bezahlen  lassen ,  griff  diesem 
ans  Leben,  und  wiewohl  sie  sogleich  auf  die  Entlehnung  der 
charakteristischen  Figuren  beschränkt  wurde,  so  musste  sie,  nach 
dem  Satze  semper  aliquid  haeret,  doch  einiges  Misstrauen  gegen 
den  Dichter  und  sein  Stück  erregen.  Die  Folgerungen  welche 
Ritschi  daraus  gezogen  hat  dass  es  weder  et  Naevi  et  Plauti 
heisse  noch  veteres  fabulas,  behalten  auch  so  ihr  volles  Gewicht, 
ja  werden  dann  unabweislich;  denn  identisch  sein  kann  das  Eine 
Stück  nur  mit  Einem  andern.  Das  Verhältniss  der  beiden  Dich- 
ter zu  dem  Einen  Stücke  kann  man  sich  dann  verschieden  denken : 
entweder  als  ein  Zusammenarbeiten  oder  als  ein  Ueberarbeiten. 
Und  zwar  ist  das  Erstere  noch  wahrscheinlicher  als  das  Letztere. 
Denn  hätte  Plautus  den  Colax  des  Nävius  später  überarbeitet,  so 
wäre  das  Natürlichste  gewesen  dass  Terenz  zu  Vertheidigung 
seines  Verfahrens  sich  auch  hier,  wie  im  Prolog  zurAndria,  auf 
den  Vorgang  des  Plautus  berufen  hätte. 

3. 

Dass  die  Rolle  des  Antipho  im  Eunuchus  eine  selbständige 
Erfindung  des  Terenz  sei  hat  man  bis  auf  Ihne  allgemein  ge- 
glaubt. Denn  Donat  sagt  zu  III,  4,  1  ausdrücklich:  bene  inventa 
persona  est  cui  narret  Chaerea,  ne  unus  diu  loquatur,  ut  apud 
Menandrum.  Von  den  letztern  drei  Worten  nun  hat  Ihne  Quaest. 
Ter.  p.  20  ff.  nachzuweisen  gesucht  dass  sie  von  einem  späteren 
Grammatiker  der  ursprünglichen  Bemerkung  des  Donat  zu  deren 
vermeintlicher  Erläuterung  beigefügt  worden  seien.  Zwar  die 
Analogien  die  er  hiefür  beibringt  treffen  nicht  ganz  zu,  indem 
der  spätere  Zusatz  nur  bei  Hec.  V,  3,  27*)  eine  historische 
Notiz  dieser  Art  enthalt;  doch  lässt  sich  auch  noch  Anderes  zu 
Unterstützung  seiner  Vermutung  anführen.  Fürs  Erste  die  ähn- 
liche Anmerkung  zuV,  8,  4:  inventa  persona  est  ad  quam  gesta 


*)  So  sinnlos  vie  Ihne  p.  23  f.  annimmt  ist  hier  die  Bemerkung 
doch  wohl  nicht.  3ie  Worte  nam  in  graeca  haec  aguntor,  non  narran- 
tur  bedeuten  wohl  ursprünglich  diess  dass  bei  ApoUodor  die  Erkennung 
des  Riiigs  am  Finger  der  Bacchis,  durch  Myrrhina,  auf  der  Bühne 
selbst  vor  sich  g^ng,  während  Terenz  sie  hinter  die  Coulissen  verlegte. 
Dieser  Theil  der  Bemerkung  ist  demnach  nur  am  falschen  Orte  ange- 
hängt, wozu  vohl  die  Textworte:  unde  anulum  istum  nactus  Anlass 
gaben,  da  eins  ähnliche  Frage  bei  ApoUodor  Myrrhina  an  Bacchis  ge- 
richtet haben  wird. 


Eunuchus.  283 

haec  narret  Chaerea,  ut  populus  et  miles  instruatur  quid  intus 
gestum  Sit;  denn  auch  hier  ist  der  Ausdruck  so  dass  man  meinen 
sollte  auch  diese  Rolle,  des  Parmeno,  sei  eine  eigene  Schöpfung 
des  Terenz,  was  doch  entfernt  nicht  der  Fall  ist;  ja  nicht  ein- 
mal dass  Parmeno  bei  Menander  nur  in  dieser  Scene  nicht  auf- 
trat kann  aus  den  Worten  Donats  geschlossen  werden,  denn  ein 
Monolog  wäre  hier  unmöglich  gewesen,  da  die  Nachrichten  nicht 
blos  Ghärea  selbst  betreffen.  Auch  diess  ist  bemerkenswerth  dass 
gerade  wieder  bei  einem  Dialog  des  Ghärea  jene  Bemerkung  ge- 
macht wird ,  vielleicht  in  Folge  einer  Ideenassociation ,  weil  schon 
einmal  bei  Ghärea  dazu  Anlass  gewesen  war,  so  dass  der  ursprüng- 
liche Sinn  der  ersten  gewesen  sein  könnte  wie  der  der  zweiten, 
also  beidemal  eine  Bemerkung  über  die  Oekonomie  des  Stückes 
überhaupt,  nicht  über  das  Verhältniss  der  terenzischen  Bearbeitung 
zum  menander'schen  Originale.  Ebenso  ist  zu  III,  5,  1  ganz 
allgemein,  ohne  Unterscheidung  von  Terenz  und  Menander,  ge- 
sagt: cui  (exennti  Ghaereae)  obvia  persona  obicitur  sub  cuius 
occasione  spectatoribus  gesta  narrabuntur.  Wäre  wirklich  eine 
Gegenüberstellung  der  Nachahmung  und  des  Vorbildes  in  Bezug 
auf  diese  Scene  im  ursprünglichen  Sinne  Donat's  gelegen,  so 
hätte  er  wohl  auch  hier  einen  bestimn^teren  Ausdruck  gewählt  als 
obicitur.  Endlich  würd^  Terenz,  wenu  er  die  Rolle  des  Antipho 
erst  geschaffen  hätte,  dieselbe  wohl  wetiiger  specifisch  griechisch 
ausgestattet  haben  als  diess  besonders  h  coimus  in  Piraeo  ut  de 
symbolis  essemus  (Ilf ,  4,  1  f.)  der  Fall  i^.  Entbehrlich  war  die 
Rolle  ohnehin  nicht  völlig;  denn  dass  Gliärea  in  seinem  Aufzug 
sein  Vaterhaus  nicht  betreten  konnte  isl  klar;  ebenso  wenig 
konnte  er  sich  in  der  Stadt  umhertreiben,  sondern  er  musste 
an  einem  dritten  Orte  sich  wieder  umzukleiden  suchen,  und  dazu 
war  das  Haus  eines  Freundes  das  geeignetste.  Diesem  musste  er 
dann  natürlich  irgendwie  Aufschluss  über  seiiie  seltsame  Tracht 
ertheilen ,  und  diese  Mittheilung  erfolgte  am  p^sendsten  vor  den 
Zuschauern^  um  diesen  zugleich  Nachricht  von  dem  in  der  Zwischen- 
zeit Vorgefallenen  zu  geben.  Da  sonach  die  Oekonomie  des 
Stückes  selbst  die  Rolle  eines  Freundes  von  Ghätea  nothwendig 
macht,  so  verliert  auch  die  Einwendung  ihr  Gewick  welche  sich 
aus  dem  Eingang  von  III,  5  entnehmen  Hesse,  dass  nämlich  bei 
Menander  Ghärea  in  dieser  Scene  den  Wunsch  und  die  lieber- 
Zeugung  gehabt  habe  völlig  ungesehen  zu  sein  und  in  lubehorch- 
tem  Selbstgespräche   seine   Erlebnisse   und   Thaten   aizudeuten, 


284  TerentiuB. 

womit  auch  v.  13  in  Widerspruch  slände:  oemost  omnium  quem 
ego  nunc  magis  cuperem  videre  quam  te. 

4. 

In  Bezug  auf  die  Adelphi  ist  eine  Hauptschwierigkeit,    zu 
bestimmen  wo  der  Antheil  des  Diphilus  beginnt  und  wo  er  auf- 
hört.   Ihne  p.  27  will  ihn  auf  II,   1»  1  —  42  beschränken,    so 
dass  der  Monolog  des  Sannio,  sowie  die  Verhandlung  zwischen 
diesem   und  Syrus,  dem  Menander  zufiele.     Seine  Gründe  daTur 
sind  aber  ausserordentlich  schwach,  nämlich  einmal  das  berüchtigte 
räthselhafte  Fragment  aiyoötrjeic,  (Donat.  zu  II»  1»  45)»  welches 
nur  beweist  dass  auch  \m  menander'schen  Stücke  Jemand  miss- 
handelt wurde,  nicht  aber  dass  dieser  Jemand  mit  der  Erzählung 
davon  selber  auftrat ;  sodann  die  augebliche  Aehnlichkeit  zwischen 
der  menander'schen  Sentenz:  oQiw   ro  yccQ  a^pvcn  dvctvxatv 
^aviav  xout  mit  Ad.  II,   1,  43:    minime    miror  qui  insanire 
occipiunt  ex  iniuria,   —   als  ob  aq)V(o  öv6tv%stv  und    iniuria 
einander  auch  nur  ähnlich  wären!    Auf  der  anderen  Seite  spricht 
gegen  die  Lostrennung  des  Monologs  von  der  unmittelbar  voraus- 
gegangenen Scene  der  Umstand  dass  jener  dann  unmotiviert  da- 
stände,   und    die  Verhandlung   zwischen   Syrus    und   Sannio   ist 
wesentlich  um  die  gewaltsam   begonnene  Aneignung  der  Hetäre 
zu  vollenden  und  ihr  Dauer  und  rechtlicne  Geltung  zu  verleihen. 
Zwar  folgt  hieraus  zunächst  nur  dass  sowohl  bei  Menander  als 
bei  Diphilus  auf  die  Entführung  ein  Abkaufen  folgen  musste  und 
dass  daher  II,  2  an  sich  sowohl  aus   dem   einen   wie  aus   dem 
andern  Dichter  entnonmcn  sein    könnte.     Indessen  steht  II,  2 
mit  Il>   1  in  so  vielfachem   und   wesentlichem  Zusammenhange 
dass  ohne   triftigen  Grund    eine  Vertheilung  derselben  an  zwei 
verschiedene    Verfaser   unzulässig    erscheint.     Und    ein    solcher 
Grund  ist  um  so  veniger  vorhanden   da  man  nicht  einmal  weiss 
ob   es  bei  Menander  ein   leno  war  dem   eine  meretrix  entführt 
wurde.     Natürlich  sind  beide  Begriffe  unzertrennlich,  aber  eben 
darum  ist  es  unwahrscheinlich  dass  die  Entführung  bei  Menander 
gerade  auch  vjn    dieser  Art  war,    indem   alsdann   für  Diphilus 
gegenüber  voi  Menander  nichts  Unterscheidendes  bliebe  und  man 
daher  erwarten  sollte  dass  es  im  Prolog  heisse:   auch  in   den 
Zvva%o%'VTiüKOvtSQ  des  Diphilus  adolescens  lenoni  eripit  mere- 
tricem.    ^s  man  dann  von  den  Paar  Worten  denken  mag  welche 
der  Leno  in  II,  4  spricht  ist  ziemlich  gleichgültig;  jedoch   ist 


Adelphi.  285 

• 

das  Natürlichste  sie  gleichfalls  als  dem  Diphilus  entnommen  zu 
betrachten,  da  sie  nirgends  unzertrennlich  mit  dem  specißsch 
Menand^'schen  in  der  Scene  verbunden  sind. 

In  der  Nachlese  welche  dann  Ihne  p.  28  ff.  zu  Grauert's 
Vergleichung  des  terenzischen  Stücks  mit  den  menander'schen 
Fragmenten  anstellt  zieht  derselbe  mit  Unrecht  in  Zweifel  ob 
Menander's  cd  ^axccQLOv  ^\  iyd  yvvatx^  ov  Xa^ßävcj  (wie  er 
verbessert)  den  Worten  Micio's  (I,  1,  18)  entspreche:  et,  quod 
fortunatum  isti  putant,  uxorem  nunquam  habui.  Diese  Milderung 
des  Urteils  ist  ganz  bezeichnend  für  den  römischen  Dichter,  und 
die  Art  wie  Donat  die  griechischen  Worte  einführt  lassen  keinen 
Zweifel  übrig  dass  er  sie  wirklich  als  Original  der  terenzischen 
betrachtet.  Bemerkenswerth  ist  indessen  dass  Terenz  durch  diese 
Abänderung  sich  in  einigen  Widerspruch  setzt  mit  einer  andern, 
zu  V,  8,  15,  wo  Donat  angibt:  apud  Henandrum  senex  de  nup- 
tiis  non  gravatur:  ergo  Terentius  £VQi]tLxc5g.  Was  gravari  be- 
deute geht  klar  hervor  aus  v.  19:  ne  gravere  (Aeschinus  zu  Micio), 
aus  welchem  Donat  seinen  Ausdruck  genommen  zu  haben  scheint. 
Bei  Menander  also  nahm  es  Micio  mit  dem  Heiraten  nicht  so 
schwer,  ergab  sich  leicht  und  schneH  darein,  und  erst  wie  die 
Forderungen  des  Demea  gar  kein  Ende  nehmen  wollten  wuchs 
sein  Widerstand.  Menander  blieb  sich  bIso  darin  consequent  den 
Micio  als  einen  gutmütig  und  aufopfernd  nachgiebigen  Charakter 
zu  schildern;  Terenz  dagegen  zog  es  v(\r  ihn  in  seinem  Hage- 
stolzenthum,  seiner  Abneigung  gegen  die  Ehe  consequent  sein  zu 
lassen,  obwohl  er  selbst  den  Ausdruck  dieser  Anschauungsweise 
I,  1,  18  abgeschwächt  hatte.  Hieraus  erhe\lt  zugleich  dass  Ihne*s 
apriorische  Behauptung  ungegründet  ist,  Uicio  (oder  vielmehr 
Lamprias)  habe  schlechterdings  auch  bei  Men\nder  sich  irgendwie 
gegen  die  Zumutung  Demea's  zu  heiraten\  sträuben  müssen, 
nur  werde  Donat  gesagt  haben  dass  er  es  akders  oder  in  ge- 
ringerem Grade  bei  Menander  gethan  habe,  liess  ist  an  sich 
nicht  nothwendig  und  wird  durch  den  Zusatz^  ergo  Terentius 
ev^tixdigj  der  auf  Neuschaffung  dieses  Theils  d^  Scene  deutet, 

unwahrscheinlich.  \ 

5.  \ 

Endlich  noch  über  den  Schluss  der  Adelphi,  \i  Bezug  auf 
welchen  einige  Andeutungen  K.  Fr.  Hermann's  in  seinem  scharf- 
sinnigen Aufsatze   de  Terentii  Adelphis  das   Bichtige^^u  treffen 


s 


scheinen.   Was  Ihne  über  diesen  Theil  des  Stücks  sagt  i^  keines- 


\ 


286  Terentius. 

wegs  genügend;  er  meint,  Deraea  erfahre  hier:  sola  largitate  non 
veros  amicos,  sed  assentatores  parari  (p.  31).    Aber  wo  ist  auch 
nur  eine  Spur  einer  solchen  Unterscheidung?    Wo  wird  ihm  ge- 
schmeichelt? Durch  was  beweisen  ihm  Aeschinus,  Hegio  u.  s.  w.  dass 
sie  keine  wahren  Freunde  von  ihm  sind  ?  Und  was  soll  eine  solche 
Bemerkung   beweisen?  —  Das  Stuck  ist  ein  Tendenzstück:    zwei 
verschiedene  Weltanschauungen  sind  es   die  in    demselben    dar- 
gestellt und  verglichen  werden ;  der  Kampf  der  alten ,  spiessbürger- 
lieh  beschränkten,  aber  tüchtigen  Zeit  mit  dem  neueren  freieren 
Geiste  bildet  den  Inhalt  der  Adelphi.     Die  Vertreter  der  beiden 
Principien  sind  Demea   und  Micio.     Die  Schilderung  des  Ersten 
ist  ein  Beweis  wie  nahe  sich  altgriechisches  und  altrömisches  Wesen 
berühren;  denn  ein  moralisches  Leben,  Arbeitsamkeit  und  Spar- 
samkeit sind  ja  auch  im  Wesen  eines  alten  Römers  Grundzüge. 
Micio  ist  von  dem  Dichter  mit  entschiedener  Vorliebe  gezeichnet, 
offenbar  weil  Menander  wie  Terenz  in  seiner  Denkweise  zugleich 
ihre  eigene  geschildert  haben.  Micio's  Wahlspruch  ist:  leben  und 
leben  lassen !   Seine  Moral  ist  Casuislik  (V,  3,  35  ff.),  seine  Grund- 
anschauung Kosmopolitismus,  das  Princip  seines  Handelns  Huma- 
nität; über  so  viele  Schranken  welche  nationales  Vorurteil  gezogen 
hat  hebt  er  sich  unbefangen  hinweg  (s.  IV,  7,  29  ff.)  und  setzt  seinen 
Stolz  darein  Mensch  zu  sein.     Seinem  engherzigen,  pedantischen 
Bruder  gegenüber  erscheint  Micio  mit  seinem  weiteren  Blicke, 
seinen  neumodisch  elastischen  Grundsätzen  und   seinem   leichten 
Bhite  als  der   geistig  Ueberlegene,   wiewohl  es  an  Pfiffigkeit  und 
klugem  Berechnen  seiies  Vortheils  dem  Demea  nicht  fehlt.   Fast 
Zug  für  Zug  vom  Bilde  des  Micio  entspricht  dem   was  wir  von 
dem  im  Hause  der  Sdpionen  herrschenden  Geist  und  Tone  wissen, 
und  es  ist  daher  gewiss  nicht  unwahrscheinlich  dass  Terenz  die 
l^ä£Xg)ol  des  Menander  darum  sich  zur  Bearbeitung  gewählt  habe 
weil  das  Stück  eine  Apologie  der  in  seinem  Freundeskreise  wal- 
tenden Denkweise  enthielt.     Welches  von  beiden  Systemen  das 
bessere  sei  zeigm  die  Früchte  welche  beide  ziehen,  in  Aeschinus 
und  Ktesipho.    Aeschinus  ist  burschikos,  wild  und  leichtsinnig, 
aber  durch   uad   durch  nobel,    gutartig  und   aufopferungsfahig; 
Ktesipho  ängstlich  den  Schein  der  Ehrbarkeit  wahrend,  nachdem 
er  doch  inierlich  mit  der  Tugend  gebrochen  hat,   dem  Leicht- 
sinn  nicht  unbefangen  nachhängend  wie  sein  Bruder,   sondern 
mit   dem  ßewusstsein  von  dessen  Unerlaublheit  und  daher  auf 
jedem  Schritt  und  Tritt  verfolgt  von  seinem  bösen  Gewissen  und 


Adelphi.  287 

der  Angst  vor  dem  Vater,  und  mit  seinem  schwerlötliigen  Wesen 
zugleich  tiefer  einsinkend  auf  dem  schlammigen  Boden  der  Ge- 
nusssucht; denn  während  der  scheinbar  Lüderliche  das  ehrbare 
Mädchen  zur  Geliebten  hat  und  trotz  ihrer  Armut  sie  zu  seiner 
Frau  machen  will,  so  hängt  sich  der  Duckmäuser  an  eine  Hetäre. 
In  der  hierdurch  hierbeigeführten  Katastrophe  erleidet  Demea's 
System  eine  gründliche  Niederlage;  Nichts  als  Heuchelei  zeigt 
sich  als  seine  Frucht,  wogegen  Micio's  Methode  triumphiert.  Mit 
diesem  Siege  der  neuen  Zeit  über  die  alte  sollte  man  meinen  dass 
das  Stück  schliesse;  aber  diese  neue  Zeit  selbst  ist  sich  in  dem 
giiechischen  Dichter  zu  sehr  ihrer  inneren  Hohlheit,  Nichtigkeit 
und  Unfähigkeit  bewusst  und  empfindet  die  Wirkungen  davon  zu 
oft  und  zu  schmerzlich  als  dass  sie  so  stolz  und  siegsgewiss  auf- 
treten könnte.  Nachdem  daher  in  dem  Stücke  die  neue  Zeit  über 
die  alte  triumphiert  hat,  so  triumphiert  (ähnlich  wie  in  Aristo- 
phanes*  Wespen)  nachträglich  auch  noch  die  alte  über  die  neue: 
Demea,  der  eben  erst  den  Micio  wegen  seiner  Denkart  glücklich 
gepriesen  hat  (V,  3,  66),  der  ganz  zu  dieser  bekehrt  schien  (V,  4), 
unterfängt  sich  den  Micio  ad  absurdum  zu  führen,  ihn  mit  seinen 
eigenen  Waffen  zu  schlagen  (V,  8,  35),  ihn  durch  die  Conse- 
quenzen  seiner  Grundsätze  zu  widerkgen,  von  der  Schädlichkeit 
seines  Verfahrens  zu  überzeugen,  und  den  Beweis  zu  führen  dass 
nicht  wahres  Wohlwollen,  sondern  Schwäche  die  «Triebfeder  von 
Micio's  Handeln  gewesen  sei  und  dase  es  keine  Kunst  sei  auf 
solchem  Wege  die  Liebe  Anderer  zu  gewinnen.  Indem  so  auch 
Demea  zu  seinem  Rechte  kommt  genügt  das  Stück  scheinbar  einer 
Forderung  der  Gerechtigkeit,  in  Wahrheit\aber  entrichtet  es  dem 
Nihilismus  seinen  Zoll  und  bekundet  die^  geistige  und  sittliche 
Erschöpfung,  die  Ausgebranntheit  der  ZeiV  aus  der  es  stammt, 
ihre  ewige  Unfähigkeit  Partei  zu  ergreifen,  lire  blasierte  Stellung 
angeblich  über,  vielmehr  aber  unter  den  Gegensätzen^  ihren  ab- 
soluten Skepticismus.  Hierauf  eben  beruht  6^s  Unbefriedigende 
des  Schlusses ,  der  unreine  Eindruck  den  er  \zurücklässt.  Das 
Ergebniss  das  wir  eben  aus  dem  Stucke  ziehen  wollten  sehen 
wir  plötzlich  wieder  in  Frage  gestellt,  und  was  un\  daher  schliess- 
lich bleibt  ist  das  Gefühl  der  Leere,  ist  —  Nichts.  Auch  die  beiden 
Hauptcharaktere  kommen  hiedurch  ins  Schwanken :  jn  dem  guten 
wohlwollenden  Micio  sollen  wir  auf  einmal  einen  s^bstsüchtigen 
Schwächling  erblicken,  und  dem  vielgefoppten  Polarer  Demea 
Recht  geben;   er,   der  eben  erst  der  Besiegte  war,  süjl  plötzlich 


288  Terent.   Adelphi. 

als  Sieger  dastehen ;  was  uns  so  eben  als  Zeichen  der  Bekehrung 
angekündigt  wurde  (V,  4),  darin  sollen  wir  nunmehr  eine  Hand- 
lung der  Rache  erkennen.  Eine  Schlange  die  in  dem  Augenblicke 
da  ihr  der  Kopf  zertreten  wird  den  Sieger  in  die  Ferse  sticht, 
dass  er  selbst  auch  todt  zu  Boden  sinkt,  —  das  ist,  nur  ins 
Tragische  übersetzt,  der  Ausgang  der  Adelphi.  Wiewohl  indessen 
auch  Demea  als  Sieger  erscheinen  soll,  so  ist  diess  doch  keines- 
wegs in  demselben  Masse  gelungen  wie  bei  Micio.  Nicht  nur 
ist  seine  neue  Grossmut  und  Freigebigkeit  ähnlich  der  des  bekann- 
ten Crispinus,  da  sie  auf  Micio's  Kosten  geübt  wird,  sondeirn  es 
wird  auch  gar  nicht  bewiesen  dass  man  auf  solche  Weise  sich 
wirklich  Liebe  erwerbe,  da  es  zu  keiner  Probe  kommt.  Und 
sollte  endlich  das  Stück  von  der  Einseitigkeit  und  Verwerflichkeit 
der  Extreme  überzeugen  und  davon  dass  die  Wahrheit  in  der 
Mitte  liege,  so  war  diese  Mitte  ja  eben  Micio,  von  welchem  Demea 
bald  Gegenfüssler  bald  Karikatur  ist,  also  nur  selbst  von  einem 
Extrem  ins  andere  überspringt. 


xn. 


Cicero. 


I.  Leben.'*') 

Marcus  TuUius  Cicero  ist  geboren  den  3.  Jan.  648  =  106  v.  Chr. 
auf  seinem  väterlichen  Gute  zu  Arpinum. 

Sein  Vater,  gleiches  Namens,  war  in  Arpinum  ein  angesehener 
und  begüterter  Mann,  der  sich  aber  bei  seiner  schwächlichen 
Gesundheit  von  öffentlichen  Aemtern  fern  hielt  und  sich  ganz  den 
Wissenschaften  und  der  Erziehung  seiner  beiden  Söhne,  Marcus 
und  Quintus,  widmete;  seine  Mutter  war  eine  Helvia,  und  wird 
von  ihren  Söhnen  als  eine  gute  Hausfrau  gerühmt.  Der  Gross- 
vater M.  Tullius  Cicero  hatte  sich  in  seinem  Städtchen  als  eifriger 
Gegner  aller  Wühlerei  namentlich  auch  seinem  Schwager  Gratidius 
gegenüber  gezeigt,  dessen  einer  Sohn  von  einem  Bruder  des  be- 
rühmten Marius  adoptiert  wurde.  Die  Familie  war  von  alter  Zeit 
her  in  Arpinum  ansässig;  einen  Zusammenhi^ng  mit  dem  römi- 
schen König  Servius  Tullius  oder  sonst  einem  Mitgliede  der  gens 
TuUia  behauptete  auch  Cicero  nie  ernsthaft. 

Der  Beiname  Cicero  ist  ohne  Zweifel  von  cicer,  Kicher- 
erbse, abzuleiten  und  bezieht  sich  wohl  auf  die  Ai^pflanzung  dieser 
Frucht  durch  einen  Vorfahren,  wie  die  ähnlichen  Namen  Piso 
(pisum  Erbse),  Fabius,  Lentulus  (lens  Linse?},  auch  Hortensius 
etc.;  ein  Witz  aber  ist  wohl  die  Ableitung  von  eUiem  erbsen- 
ähnlichen Auswuchs  den  ein  Tullius  an  der  Nase  gehabt  (bei  Plut. 
Cic.  1).   Ueberhaupt  Hess  die  geburtstolze  Nobilität  spSiter  es  sich 


*)  Aus  dem  Anhang  zu  Baar*s  Uebersetzung  der  Briefe  O^cero's  ad 
Familiäres,  Stuttgart  1861.  Die  Qaellennachweisnngen  dazu  iti  meinem 
Artikel  M.  Tullius  Cicero,  in  Paulys  Real-Encyklopädie  VI,  5i  (1850). 
8.  2182—2206. 

Teaffel,  Stadien.  19 


290  Cicero. 

angelegen   sein  die  Abkunft  des  sie  verdunkelnden  homo  novus 
durch  allerlei  Erfindungen  lächerlich  und  verächtlich  zu  machen. 

Sein  Geburtsort  Arpinum  war  eine  ursprünglich  volskische 
Stadt  in  Latium,  welche  schon  im  J.  451  d.  St.  das  römische 
Bürgerrecht,  das  Stimmrecht  aber  erst  im  J.  566^=188  v.  Chr., 
also  82  Jahre  vor  Cicero's  Geburt,  somit  zur  Zeit  seines  Gross- 
vaters, erhalten  hatte.  Daraus  erklärt  es  sich  auch  wohl  dass 
erst  Cicero's  Vater,  nicht  schon  sein  Grossvater,  ausdrücklich 
römischer  Ritter  genannt  wird.  Eingetheilt  war  das  Städtchen 
in  die  tribus  Cornelia,  zu  der. daher  auch  Cicero  gehörte.  Arpi- 
num lag  östlich  von  Rom, .  nahe  an  dem  Orte  wo  der  Fibrenus 
in  den  Liris  mündete^  in  einer  gesunden,  fruchtbaren  und  an- 
mutigen Gegend.  Ganz  in  der  Nähe  der  Stadt  war  das  Landgut 
und  Landhaus  (villa)  der  ciceronischen  Familie,  unter  dem  Gross- 
valer  noch  von  alterthümlicher  Einfachheit  und  Beschränktheit, 
von  dessen  Sohn  erweitert,  und  noch  mehr  vom  berühmten  Enkel. 

Die  Geburt  des  Cicero  fiel  in  eine  bewegte  Zeit:  das  Jahr 
648  ist  das  letzte  des  jugurthinischen  Krieges,  das  Jahr  wo  Ju- 
gurtha,  nachdem  er  lange  genug  mit  der  Käuflichkeit  der  römi- 
schen Nobilität  sein  Spiel  getrieben,  der  Wucht  des  Plebejers 
Harius  und  der  diplomatischen  Gewandtheit  von  dessen  Quästor 
Sulla  zum  Opfer  wurde.  So  sind  die  Keime  zu  der  Geschichte 
der  folgenden  Jahrzehnte  in  diesem  einen  Jahre  zusammengedrängt: 
die  Verworfenheit  der  Nobilität,  ihr  Besieger  Marius,  und  ihr 
Rächer  Sulla.  In  die  Kinderjahre  Cicero's  fällt  Marius'  Glanzzeit: 
652  schlug  er  die  Teutonen  bei  Aqua  Sextiae,  653  die  Kimbern 
bei  Verona  und  feierte,  zum  fünften  Male  Consul,  seinen  Triumph 
über  Rom's  gefährhchste  Feinde.  Arpinum's  Stolz  und  der  cice- 
ronischen Familie  durch  Verwandtschaft  näher  gerückt  war  Marius 
natürlich  der  Gegenstand  aller  Gespräche  in  Cicero's  Kreise,  und 
Bilder  des  Kriegs  füllten  die  friedliche  Seele  des  Knaben  und 
führten  seinen  Blick  hinaus  über  sein  enges  Thal  auf  Numidien's 
und  Gallien's  Schlachtfelder  und  die  blutgetränkte  Ebene  am 
Fusse  der  Alpen.  Dem  grössten  Sohne  seiner  Vaterstadt  ähnlich 
zu  werden,  wenn  auch  nicht  als  Krieger  so  doch  an  Ruhm,  auch 
wie  er  aus  dem  Dunkel  sich  emporzuringen  zu  strahlendem  Glänze 
—  diess  war  der  Inhalt  von  Cicero's  Jugendträumen,  und  Marius' 
Beispiel  schien  eine  Rechtfertigung  auch  der  stolzesten  Hofi'nungen. 
Dass  ein  glühender  Ehrgeiz  ihn  schon  in  frühester  Jugend  beseelte 
deutet  er  selbst  gelegentlich  an  (ad  Qu.  fr.  III,  5.  6),  und  dessen 


Leben.  291 

unmittelbarste  Frucht  war  eine  brennende  Lernbegierde,  die  ihn 
bald  allen  seinen  Altersgenossen  überlegen  machte. 

Als  die  Knaben  so  weit  gereift  waren  dass  der  Vater  seinen 
eigenen  Unterricht  nicht  mehr  für  ausreichend  hielt  zog  er  mit 
ihnen  nach  Rom,  wo  er  in  den  Carinen  ein  Haus  besass.  Bei 
griechischen  Lehrern  wurde  hier  der  Unterricht  fortgesetzt,  und 
Marcus  verfolgte  schon  jetzt  das  Ziel  ein  Redner  zu  werden,  indem 
er  keine  Gelegenheit  hierin  sich  auszubilden  unbenutzt  liess,  nament- 
lich auf  dem  Markte  den  Rednern  dieser  Zeit  fleissig  zuhörte,  und 
mit  den  beiden  Ersten  derselben,  L.  Crassus  und  M.  Antonius, 
auch  persönlich  bekannt  zu  werden  suchte,  wie  gleichfalls  mit 
dem  greisen  (dramatischen]  Dichter  L.  Attius  und  den  berühmten 
Schauspielern  Aesopus  und  Roscius.  Nach  Art  der  meisten  be- 
gabten Knaben  versuchte  er  sich  auch  in  Versen,  deren  er  eine 
ziemliche  Anzahl  zu  Tage  förderte,  nachahmende  Bearbeitungen 
griechischer  Stoffe;  so  Alkyone,  das  Schicksal  der  treuen  Gattin 
des  Keyx  besingend,  eine  Elegie  Tamelastis  (?),  Pontius  Glaukus 
in  Tetrametern ;  und  Uebersetzungen  von  Aratus'  ^atvö^sva  und 
^io6i](i€ta^  sowie  homerischer  Stücke  im  Versmass  des  Urbilds, 
endlich  von  Xenophon's  Oekonoroikos. 

Nach  vollendetem  15tem  oder  16tem  Jahre,  also  663  oder 
664  d.  St. ,  trat  Cic.  mittelst  des  Anziehens  der  männlichen  Toga 
ins  öffentliche  Leben  ein  und  tbat  alsbald  einen  Schritt  weiter 
in  seiner  Berufsbildung,  indem  er  das  römische  Recht,  dessen 
Kenntniss  für  den  künftigen  Redner  und  Staatsmann  unentbehr- 
lich war,  zu  studieren  anfleng.  Hiefür  gab*  es  damals  nur  Einen 
Weg,  den  dass  man  den  Rechtsbelehrungen  Welche  ein  ausgezeich- 
neter Rechtsgelehrter  in  seinem  Hause  den  Befragenden  ertheilte 
als  Zuhörer  anwohnte;  und  so  führte  denn  den  jungen  Cicero 
sein  Vater  zu  dem  Augur  Q.  Mucius  Scaevola,  welcher  für  einen 
grossen  Rechtskenner  galt,  damals  aber  schon'  hochbejahrt  war 
(Cos.  637).  Noch  nicht  lange  hatte  er  dessen  Cnterweisung  ge- 
nossen, als  dier  Krieg  gegen  die  aufgestandenen  Bundesgenossen 
(bellum  marsicum)  die  gesammte  römische  Jugend  uiiter  die  V^affen 
rief.  Cicero  diente  im  J.  665  im  Heere  des  Consuls  Cn.  Pom- 
peiusStrabo,  des  Vaters  von  Pompeius  Magnus;  von  seinen  Helden- 
thaten  ist  jedoch  Nichts  bekannt  geworden,  wohl  aber  lässt  er, 
in  späterer  Zeit  den  Atticus  die  homerischen  Worte  (lllas  V,  428) 
sich  zurufen: 

Traun,  nicht  Werke  des  Kriegs  sind  Dir,  mein  Lieber,  bescliieden 

19" 


292  Cicero. 

(ad  Att  XIV,  13,  2),  und  ruft  selber  aus:  ins  Lager  soll  ich? 
Lieber  tausendmal  sterben!  (ebds.  22,  2).  Je  mehr  er  sich  also 
schon  damals  überzeugt  haben  wird  dass  nicht  auf  diesem  Felde 
seine  Lorbeeren  wachsen,  um  so  eifriger  kehrte  er  zu  seinen 
Uebungen  und  Studien  zurück.  Die  juristischen  setzte  er  seit 
dem  Jahre  667,  wo  der  Augur  Scaevola  starb,  unter  noch  vor- 
züglicherer Leitung  fort,  nämlich  unter  dem  Pontifex  Q.  Mucius 
Scaevola  (Cos.  659).  Neben  diesen  hatte  er  schon  sehr  jung, 
etwa  664,  philosophische  begonnen,  bei  dem  Epikureer  Phaedrus, 
sodann  Ton  666  an  mit  mehr  Nutzen  und  Befriedigung  bei  dem 
Akademiker  Philon ,  der  sich,  als  Mithridates  Athen  besetzte,  von 
da  nach  Rom  geflüchtet  hatte.  Zwar  wurde  Rom  selbst  im  J.  667 
der  Schauplatz  blutiger  Ereignisse:  der  verbannte  Marius  kehrte 
an  der  Spitze  eines  Heeres  zurück  und  stillte  mit  dem  Blute  seiner 
Feinde  seinen  Durst  nach  Rache,  und  unter  Andern  fielen  auch 
die  Redner  M.  Antonius,  C.  Caesar  und  Q.  Lutaüus  Catulus  ihr 
zum  Opfer;  aber  auf  die  Fremden  war  das  von  keinem  Einfluss, 
und  so  hörte  Cicero  in  demselben  Jahre  den  berühmten  rhodischen 
Redner  Molon. 

Auch  Cicero  liess  sich  durch  die  Stürme  des  Krieges  in  seinen 
friedlichen  Beschäftigungen  nicht  stören:  unter  der  Herrschaft  der 
Marianer  schirmte  ihn  schon  seine  Verwandtschaft  mit  Marius, 
und  nach  Sulla's  Rückkehr  aus  Asien  (671),  als  dieser  seinen 
Gegnern  ihr  Blutvergiessen  mit  reichen  Zinsen  vergalt,  bewahrte 
ihn  seine  Zurückgezogenheit  und  Dunkelheit  vor  Berührungen  mit 
der  Proscriptionsliste.  Kaum  aber  war  unter  Sulla's  eisernem  Scep- 
ter  Ruhe  und  Ordnung  wiedergekehrt,  so  wagte  auch  Cicero  sich 
hervor  auf  den  Markt ,  um  seine  durch  vieljährige  Uebungen  und 
Arbeiten  erlangte  Redefertigkeit  und  seine  Kenntnisse  in  gericht- 
lichen Vertheidigungsreden  zu  erproben.  Nicht  die  erste  die  er 
gehalten,  aber  die  früheste  der  auf  uns  gekommenen  ist  die  für 
P.  Quintius  vom  J.  673,  wichtig  zugleich  dadurch  dass  mit 
ihr  sich  Cicero  zum  ersten  Male  mit  dem  bis  dahin  anerkannt 
ersten  Redner  Roms,  mit  Q.  Hortensius,  mass.  lieber  den  Erfolg 
schweigt  Cicero,  woraus  wohl  zu  schliessen  ist  dass  derselbe  kein 
günstiger  war.  Desto  glänzender  war  der  seiner  zweiten  erhal- 
tenen Vertbeidigungsrede ,  der  für  Sex.  Roscius  aus  Ameria, 
vom  J.  674,  die  erste  eine  Civilstreitigkeit,  diese  ein  Criminal- 
fall.  Cicero  bewegte  sich  in  ihr  auf  einem  schlüpfrigen  Boden, 
indem  die  Sache  mit  den  Proscriptionen  des  Sulla  zusammenhieng 


Leben.  293 

und  ein  Günstling  des  Sulla,  Chrysogonus,  dabei  wesentlich  be- 
tbeiligt  war,  und  zwar  gegen  Cicero's  Clienten.  Wenn  nun  auch 
nicht  ganz  gewiss  ist  dass  die  in  der  später  herausgegebenen  Rede 
sich  findenden  freimütigen  Aeusserungen  schon  alle  völlig  ebenso 
im. mündlichen  Vortrag  gethan  wurden,  so  gehörte  doch  schon 
zur  Uebernahme  dieses  Processes  ein  gewisser  sittlicher  Mut,  und 
dass  Cicero  seine  Aufgabe  treulich  erfüllt  hat  beweist  die  Frei- 
sprechung seines  Clienten.  Auch  sonst  trug  ihm  diese  Leistung 
reiche  Früchte:  er  sagt  selbst  (Brut.  90  extr.),  er  habe  dadurch 
§ich  so  gut  empfohlen  dass  man  seitdem  ihn  als  jeder  Rechts- 
sache gewachsen  betrachtete;  er  war  dadurch  mit  einem  Male  in 
die  Reihe  der  anerkannten  Redner  eingetreten  und  bekam  noch 
in  demselben  Jahre  den  X.  Varenus  zu  vertheidigen,  sowie  im 
folgenden  (675)  eine  Frau  aus  Arretium,  in  welcher  letzteren  Sache 
er  abermals  gegen  eine  Verfügung  von  Sulla  auftrat.  Gefahr  brachte 
auch  diess  ihm  nicht.  Zwar  begab  er  sich  noch  in  diesem  Jahre 
auf  Reisen,  zunächst  nach  Athen;  aber  auch  hier  hätte  ihn  Sulla's 
Arm  so  unfehlbar  erreicht  als  in  Rom,  wenn  er  gewollt  hätte. 
Indessen  Sulla  war  kein  selbstsüchtiger,  empfindlicher  Tyrann; 
ihm  genügte  es  seiner  Partei  den  Sieg  verschafit,  sie  gerächt  und 
durch  seine  Verfügungen  ihr  Uebergewicht  und  einen  geordneten 
Zustand  wiederhergestellt  zu  haben.  Daher  ist  es  nicht  richtig 
wenn  einige  Alte  als  Beweggrund  von  Cicero's  Reise  Furcht  vor 
Sulla  angeben  oder  gar  dieselbe  mit  der  Vertheidigung  des  Sex. 
Roscius  in  Zusammenhang  bringen.  Vielmehr  genügt  völlig  der 
Grund  welchen  Cicero  selbst  angibt:  sein^  angegriffene  Gesund- 
heit. Durch  seinen  rastlosen  Fleiss  und  seine  damals  noch  über- 
mässige Anstrengung  beim  Vortrag  seiner  Reden  hatte  namentlich 
seine  Lunge  gelitten  und  bedurfte  sehr  der  Erholung.  Diese  Hess 
er  ihr  in  Athen  zu  Theil  werden.  Während  der  sechs  Monate 
die  er  hier  blieb  beschäftigte  er  sich  vorzugsweise  mit  philoso- 
phischen Studien,  indem  er  besonders  den  Akademiker  Antiochus 
von  Askalon,  aber  auch  die  Epikureer  Phaedrus  und  Zenon  hörte 
und  mit  dem  Syrer  Demetrius  Redeübungen  trieb.  Auch  in  die 
eleusinischen  Mysterien  Hess  er  sich  mit  Atticus  einweihen.  Von 
Athen  reiste  er  weiter  in  die  römische  Provinz  Asien  und  setzte 
hier  die  Redeübungen  mit  den  berühmtesten  Rhetoren  fort,  die 
er  im  Brutus  §.  315  namhaft  macht,  begab  sich  von  da  nach 
Rbodus,  wo  er  sich  gleichfalls  ausschliesslich  der  Redekunst  wid- 
mete, unter  dem  dortigen  Meister  Molen,  der  die  Ueberfülle  und 


294  Cicero. 

WeiUchweiflgkeit  zu  der  sich  Cicero  hinneigte  zu  beschränken 
suchte,  im  Atlgenieinen  aber  von  seines  Schulers  Leistungen  so 
befriedigt  war  dass  er  eines  Tages  voll  Verzweiflung  ausrief:  durch 
diesen  Römer  verliere  sein  Volk  den  letzten  Vorzug,  die  Beredt- 
samkeit!  Und  doch  war  es  nicht  einmal  seine  Muttersprache 
deren  sich  Cicero  hiebei  bediente,  sondern  die  griechische. 

Nach  zweijähriger  Abwesenheit  kam  er  im  J.  677  nach  Rom 
zurück,  körperlich  gestärkt  und  geistig  geläutert  und  bereichert, 
vermählte  sich  mit  Terentia,  und  nahm  alsbald  seine  rednerische 
Thätigkeit  wieder  auf.  Glücklich  schwang  er  sich  dadurch  auf 
die  erste  Stufe  der  Ehrenstellen :  einstimmig  wurde  er  im  J.  678 
zum  Qua  stör  gewählt.  Das  Loos  wies  ihm  Sicilien,  und  zwar 
Lilybäum,  als  Wirkungskreis  während  des  J.  679  an.  Sein  Vor- 
gesetzter war  der  Proprätor  Sex.  Peducäus.  Es  war  in  diesem 
Jahre  in  Sicilien  eine  Theurung,  die  auch  auf  Italien  einwirken 
musste;  Cicero  beeiferte  sich  daher  eine  möglichst  grosse  Quantität 
Getreide  nach  Rom  zu  schicken.  Dadurch  wurde  er  zwar  den 
Sicilianern  beschwerlich;  doch  versöhnte  er  sie  wieder  schnell 
mit  sich  durch  die  Gerechtigkeit  und  Uneigennützigkeit  womit  er 
selbst  verfuhr  und  die  Strenge  womit  er  seine  Untergebenen  zu 
denselben  Tugenden  anhielt,  und  so  erwiesen  sie  ihm  denn  bei 
seinem  Abgang  alle  mögliche  Ehre.  Noch  grössere  Anerkennung 
aber  versprach  er  sich  von  Rom.  In  der  Rede  für  Plancius  er- 
zählt er  selbst  mit  Humor  wie  es  ihm  in  dieser  Beziehung  ergangen 
sei.  Er  habe  sich  gedacht,  das  ganze  Jahr  über  habe  man  in 
Rom  von  nichts  Anderem  gesprochen  als  von  dem  ausgezeichneten 
Quästor  Cicero  und  seinen  unsterblichen,  Verdiensten  um  das  rö- 
mische Volk.  Auf  seiner  Heimreise  nun  sei  er  auch  durch  den 
Badeort  Puteoli,  den  Sammelplatz  der  eleganten  Welt,  gekommen 
und  sei  fast  in  Unmacht  gefallen  wie  er  hier  gleich  mit  der  Frage 
begrüsst  worden  sei:  was  es  Neues  in  Rom  gebe?  Er  komme 
aus  der'  Provinz,  antwortete  der  Enttäuschte,  nachdem  er  sich 
gefasst.  Ah,  versetzte  der  Andere,  vermutlich  aus  Afrika?  Nein, 
erwiderte  Cicero  ärgerlich^  aus  Sicilien.  Da  sagte  noch  ein  Dritter, 
der  sich  den  Anschein  geben  wollte  als  ob  er  Alles  wisse,  vor- 
wurfsvoll zum  Zweiten:  weisst  du  denn  nicht  dass  er  Quästor  in 
Syrakus  gewesen  ist?  Für  den  Augenblick  war  diese  Erfahrung 
empfindlich,  doch  zog  sich  Cicero  die  heilsame  Lehre  daraus  dass 
es  beim  Volke  heisse:  weit  aus  den  Augen  weit  aus  dem  Sinn, 
dass  man  darauf  sich  nicht  verlassen  könne  es  werde  von  einem 


Leben.  295 

hören ,  dass  man  yielmehr  selbst  sich  möglichst  oft  ihm  unter  die- 
Augen  bringen  müsse. 

Uebungen  in  der  Beredtsamkeit  hatte  Cic.  auch  in  Sicilien 
nicht  versäumt,  und  mit  dem  ßewusstsein  hierin  jetzt  eine  gewisse 
Reife  erlangt  zu  haben  kehrte  er  nach  Rom  zurück  und  ver- 
theidigte  noch  im  Jahr  680  den  Freigelassenen  Scamander  gegen 
die  Anschuldigung  des  Giftmords,  wiewohl  umsonst,  angeblich  weil 
die  Geschworenen  bestochen  waren.  In  diesem  und  den  nächsten 
Jahren  liess  sich  Cic.  überhaupt  möglichst  oft  auf  dem  Markte 
hören  (vielleicht  ins  Jahr  683  fällt  seine  Vertheidigungsrede  für 
M.  Tullius)  und  war  zu  Hause  Jedem  zu  jeder  Stunde  zugäng- 
lich, um  die  Gunst  des  Volkes  sich  zu  gewinnen  und  zu  erhalten. 
Zwar  die  nächste  Würde,  das  Volkstribunat,  liess  er  bei  Seite: 
es  war  für  ihn  zu  gefahrlich,  er  hätte  Farbe  bekennen  müssen 
und  es  mit -der  einen  oder  mit  der  andern  Partei  verdorben; 
dagegen  um  die  curulische  Aedilität  bewarb  er  sich  im  Jahre  684, 
als  ihm  die  Sicilianer  die  Führung  ihres  Processes  gegen  ihren 
räuberischen  Exprätor  V  er  res  übertrugen.  Auch  dieser  Process 
war  zwar  schwierig,  aber  dafür  auch  um  so  dankbarer.  Verres 
hatte  sehr  angesehene  Gönner  und  Bundesgenossen  unter  der 
Nobilität,  namentlich  drei  MeteUer,  und  zum  Vertheidiger  den 
Hortensius,  der  zu  seiner  Beredtsamkeit  hin  auch  noch  das  Ge* 
wicht  seiner  Stellung  —  er  war  ernannter  Consul  für  685  — 
für  den  Angeklagten  in  die  Wagschale  legte.  Um  so  ruhmvoller 
war  für  Cicero  der  Kampf,  um  so  glänzender  musste  der  Sieg 
für  ihn  werden.  Zuerst  aber  musste  er  s\th  noch  die  Zulassung 
zum  Turnier  erkämpfen.  Verres  stellte  ihm  nämlich  einen  andern 
Ankläger  gegenüber ,  seinen  ehemaligen  Quästor  Q.  Caecilius  Niger, 
der  das  Recht  den  Verres  anzuklagen  für  sich  in  Anspruch  nahm 
und  für  Verres  wegen  seiner  geistigen  Bedeutungslosigkeit  und 
9ls  theilweise  mitschuldig  an  dessen  Vergehen  sehr  wenig  gefähr- 
lich war^  vollends  einem  Hortensius  gegenüber  Das  Spiel  war 
gut  abgekartet,  aber  die  Geschworenen  machten  einen  Strich 
durch  die  Rechnung,  indem  sie  das  Recht  als  Ankläger  des  Verres 
aufzutreten  dem  Cicero  zusprachen,  der  in  der  Divinatio  in 
Caecilium  das  Spiel  aufgedeckt  und  die  Unfähigkeit  des  Caecilius 
glänzend  nachgewiesen  hatte.  Zum  Zwecke  der  HerbeischafTung 
der  Beweismittel  verlangte  der  Ankläger  eine  Frist  von  110  Tagen, 
und  diess  benützte  Verres  zu  einem  neuen  Manoeuvre«  Er  be- 
stellte Jemand   der  ihn  wegen  seiner  Amtshandlungen  in  Achaja 


296  Cicero. 

belangen  sollte  und  der  sich  blos  108  Tage  Frist  erbat,  damit 
dieser  neue  Process  wegen  der  früher  zu  Ende  gehenden  Frist 
die  Priorität  vor  dem  gefährlichen  sicilianischen  erhalte  und  dieser 
somit  verschleppt  werde.  Aber  auch  diesen  Plan  vereitelte  Cicero 
durch  seine  Raschheit.  Er  sammelte  die  Urkunden  und  Zeugen 
so  schnell  dass  er  nach  50  Tagen  bereits  wieder  in  Rom  war 
und  seine  Bewerbung  um  die  Aedilität  fortsetzen 'konnte.  Jetzt 
versuchte  Verres  durch  Bestechung  Cicero  abzubringen  oder  doch 
seinen  Ruf  zu  erschüttern:  vergebens;  dann  bot  er  und  seine 
Freunde  Allem  auf  um  Cicero's  Wahl  zum  Aedilen  zu  hintertreiben: 
das  Volk  wählte  ihn  abermals  einstimmig  und  als  den  Ersten. 
So  blieb  dem  Verres  kein  Ausweg  mehr  als  die  Verhandlungen 
so  in  die  Länge  zu  ziehen  dass  der  Abschluss  vor  den  bevor- 
stehenden längeren  Gerichtsferien  nicht  mehr  möglich  wäre  und 
der  Process  dadurch  in  das  nächste  Jahr  hinubergespielt  wurde, 
wo  die  Umstände  für  ihn  gunstiger  wären.  Aber  Cicero  durch- 
schaute den  Plan  und  zerstörte  ihn  dadurch  dass  er  seinerseits 
das  Verfahren  möglichst  abkürzte.  Am  5.  August  684  wurden 
die  Verhandlungen  eröffnet  durch  Cicero's  Actio  I.,  welche  die 
Einleitung  und  Uebersicht  über  die  Klagpunkte  bildete;  an  den 
folgenden  Tagen  aber  verzichtete  Cicero  auf  nähere  Ausführungen, 
gab  gleichsam  nur  die  Ueberschriften  und  Hess  den  Text  durch 
Zeugenabhör  und  Verlesen  von  Urkunden  sich  von  selbst  bilden. 
So  immer  nur  die  nackte  Thatsache  reden  lassend  entwaffnete 
Cicero  den  Vertheidiger  des  Verres,  der  hiegegen  nicht  aufkommen 
konnte;  und  der  Erfolg  war  ein  so  vollständiger,  überwältigender 
dass  Verres  vom  dritten  Tage  an  sich  nicht  wieder  sehen  Hess 
und  noch  ehe  der  Spruch  erfolgte  aus  der  Stadt  gieng.  Am 
neunten  Tage  war  die  Verhandlung  zu  Ende;  Verres  wurde  zur 
Verbannung  und  zum  Ersätze  des  angerichteten  Schadens,  welchen 
die  klägerische  Partei  auf  40  Millionen  Sestertien  schätzte,  ver- 
urteilt. Daraus  dass  Cicero  in  der  ersten  Verhandlung  (Div.  in 
Caec.  5)  den  Schaden  viel  höher,  auf  100  Millionen,  angeschlagen 
hatte  wollten  bereits  im  Alterthume  Gegner  Cicero's  den  Schluss 
ziehen  dass  derselbe  in  der  Zwischenzeit  gegen  die  Anerbietungen 
des  Verres  doch  nicht  so  ganz  die  Ohren  verstopft  habe;  aber 
schon  Asconius  hat  jenen  Unterschied  völlig  befriedigend  damit 
erklärt  dass  Cicero  bei  dem  ersten  Anschlage  noch  gar  keine 
näheren  Erhebungen  und  Berechnungen  gemacht  hatte  und  die 
Summe  lieber  zu  hoch  griff,  um  die  Wichtigkeit  des  Processes 


Leben.  297 

und  damit  die  Unzulänglichkeit  des  Caecilius  in  ein  um  so  helleres 
Licht  zu  setzen.  —  Indem  Cicero  auf  wiederholten  zusammen- 
hängenden Vortrag  Verzicht  leistete  hatte  er  eine  Entsagung  geübt 
die  ihm  um  so  schwerer  fallen  musste  je  reicher  der  Stoff  war 
und  je  umfassendere  Vorarbeiten  er  gemacht  hatte.  Er  verar- 
beitete daher  sein  Material  zu  den  fünf  Büchern  welche  die  Actio 
secunda  bilden,  die  aber  nur  schriftlich  herausgegeben,  nie  wirk- 
lich gehalten  worden  sind,  obwohl  sich  der  Verfasser  den  An- 
schein gibt  als  wäre  das  Urteil  noch  nicht  gefällt,  sondern  nur 
verschoben  und  sollte  durch  diese  Reden  auf  die  Findung  desselben 
noch  eingewirkt  werden. 

Während  des  Jahrs  685  bekleidete  dann  Cicero  die  Aedi- 
lität,  machte  aber  dabei  nur  massigen  Aufwand;  doch  vertheilte 
er  ein  grosses  Quantum  Getreide,  das  ihn  Nichts  kostete,  da 
es  ein  Geschenk  seiner  dankbaren  dienten,  der  Sicilianer,  war, 
dem  römischen  Volk  aber  um  so  willkommener  erschien  weil 
damals  gerade  die  Preise  hoch  standen.  In  demselben  Jahre 
hielt  er  noch  mehrere  Vertheidigungsreden:  für  M.  Font  eins, 
D.  Matrinius,  A.  Licinius  Caecina,  und  wahrscheinlich  im  fol- 
genden Jahre  (686),  wo  auch  der  Briefwechsel  mit  Atticus  für 
uns  beginnt,  für  den  Schauspieler  Roscius. 

Im  Jahr  687  bewarb  sich  Cicero  um  die  Prä  tu  r,  und  zwar 
mit  solchem  Erfolge  dass  er  wiederum  einstimmig  und  als  der 
Erste  gewählt  wurde.  Zur  Verwaltung  während  des  Jahrs  688 
wies  ihm  das  Loos  die  Rechtspflege  in  der  Stadt  zu,  und  er 
übernahm  den  Vorsitz  in  allen  Erpressungsklagen.  In  dieser  Eigen- 
schaft hatte  er  über  den  von  Livius  oft  ab  Quelle  genannten  ge- 
wesenen Prätor  Licinius  Macer  zu  richten  und  verurteilte  ihn, 
was  diesen  das  Leben  kostete,  den  Cicero  aber,  als  Beweis  seiner 
Unparteilichkeit  und  Strenge,  beim  Volke  beliebt  machte.  Da  er 
überhaupt  von  der  Nobilität  sich  nur  Hemmung,  Schwierigkeiten 
und  Feindschaft  versprechen  durfte,  so  stützte  er  sich  jetzt  noch 
auf  das  Volk  und  dessen  Liebling  Pompeius  und  befürwortete 
daher  lebhaft  den  Vorschlag  des  Manilius,  den  Krieg  mit  Mithri- 
dates  dem  LucuUus  abzunehmen  und  an  Pompeius  zu  übertragen. 
Die  Rede  in  der  er^diess  thut  ist  voll  Gefühl  der  eigenen  Würde, 
voll  Bewunderung  des  Pompeius  und  von  Ausfällen  auf  dessen 
Vorgänger  aus  der  Nobilität,  und  sie  ist  Cicero's  erste  Staatsrede. 
Neben  seiner  öffentlichen  Wirksamkeit  fand  Cicero  noch  Zeit 
zu  Privatreden;    so  vertheidigte  er  während   seiner  Prätur  den 


298  Cicero. 

A.  Cluentius  gegen  die  Anschuidigung  der  Vergiftung  seines 
Vaters,  ein  höclist  zweifelhafter  und  sittlich  widerlicher  Fall,  dessen 
Uebernahme  Cicero  weäig  Ehre  macht;  auch  sprach  er  noch  in 
diesem  Jahre  für  Fundanius  und  Q.  Gallius  (de  arabitu),  und  im 
Jahre  689  für  den  gewesenen  Volkstribunen  Manilius  (wegen  Ver- 
untreuung von  Staatsgeldern),  in  welchem  letzteren  Falle  seine 
Rolle  gleichfalls  eine  zweideutige  war.  Eine  prätorische  Provinz 
nahm  Cicero  nicht  an,  um  fortwährend  in  der  Stadt,  in  den  Augen 
und  damit  im  Gedächtniss  des  Volkes  zu  bleiben  und  zeitig  die 
Bewerbung  um  das  Consulat  beginnen  zu  können. 

Für  diesen  letzten  und  wichtigsten  Schritt  musste  Cicero 
um  so  mehr  alle  seine  Kräfte  anstrengen  je  weniger  er  auf  Unter- 
stützung von  aussen  rechnen  konnte  und  je  grössere  Schwierig- 
keiten er  dabei  zu  überwinden  hatte.  Die  Nobilität  stand  ihm 
entgegen,  entschlossen  dem  Ritter  aus  Arpinum  und  Anhänger 
des  Pompeius  das  Eindringen  in  ihre  wohlverschanzte  Burg  zu 
wehren;  Pompeius,  von  dem  er  Gegendienste  erwarten  dürfte, 
war  im  fernen  Asiefti  beschäftigt;  und  so  war  Cicero  auf  sich 
selbst  gewiesen,  und  überdiess  durch  seine  Grundsätze  in  der 
Wahl  der  Mittel  beschränkt,  da  er  von  dem  allerdings  sonst  gang- 
baren der  Bestechung  keinen  Gebrauch  machen  mochte.  So  blieb 
ihm  Nichts  übrig  als  sich  möglichst  viele  Freunde  zu  erwerben, 
wenn  er  über  seine  Mitbewerber  den  Sieg  davon  tragen  wollte. 
Deren  waren  es  sechs,  nämlich  zwei  Altadelige  (Patricier),  Catilina 
und  Sulpicius  Galba;  zwei  Neuadelige  (nobiles),  C.  Antonius  und 
L.  Cassius;  endlich  zwei  Plebejer.  Freunde  zu  gewinnen  suchte 
Cicero  theils  dadurch  dass  er,  während  es  vor  den  Gerichten 
wenig  zu  thun  gab,  im  Jahr  689  nach  Oberitalien  reiste,  um 
sich  hier  zu  empfehlen,  theils  indem  er  den  Atticus  bat  bei 
Pompeius  und  in  Rom  für  ihn  zu  wirken,  theils  besonders  dadurch 
dass  er  selbst  fortwährend  möglichst  Viele  durch  Führung  ihrer 
Processe  sich  verpflichtete.  So  wissen  wir  v6n  ihm  dass  er  im 
Jahr  689  den  €.  Corneitus,  C.  Orchinius,  und  sogar  seinen  Mit- 
bewerber Catilina  (gegen  eine  Klage  wegen  Erpressungen  die 
er  als  Prätor  in  Afrika  begangen)  vertheidigte,  trotzdem  dass  er 
von  des  Letzteren  Schuld  selbst  vollständig  überzeugt  war ,  einzig 
in  der  Hoffnung  ihn  dadurch  zu  freundschaftlicherem  Auftreten 
bei  der  Bewerbung  zu  bestimmen.  Dieselbe  Rücksicht  bewog  ihn 
auch  einen  Process  abzuweisen  welchen  ein  Oheim  des  Atticus 
ihm  übertragen  wollte.  Seine  Unruhe  wurde  noch  vermehrt  durch 


Leben.  299 

häusliche  Vorfälle:  im  Hochsommer  689  wurde  ihm  ein  Sohn 
geboren ,  und  im  Jahr  690  starb  sein  Vater.  Die  Hoffnung  durch 
seine  Gefälligkeit  den  Catilina  zu  entwaffnen  erwies  sich  eitel; 
denn  er  und  Antonius  übten  nicht  nur  die  frechsten  W^ahlbe- 
stechungen  aus,  sondern  ein  Freund  von  ihnen,  der  Volkstribun 
Mucius  Oresünus,  erklärte  auch  im  Senate  dass  Cicero  des  Con- 
sulats  unwürdig  sei,  was  diesen  zu  seiner  Rede  als  Wahl- 
bewerber veranlasste. 

Indessen  wä^e  der  Erfolg  seiner  Bemühungen  vielleicht  doch 
zweifelhaft  gewesen ,  wenn  nicht  ein  glücklicher  Zufall  dazwischen 
gekommen  wäre.  Catilina  bewarb  sich  nämlich  um  das  Consulat 
nur  um  dann  mit  den  Mitteln  des  Staates  selbst  die  sociale 
Revolution  durchzufuhren  die  er  im  Sinne  hatte.  Schon  zweimal 
hatte  er  sich  desshalb  bewerben  wollen,  für  das  Jahr  689  und 
für  690;  er  musste  davon  abstehen,  weil  er  in  Anschuldigungs- 
stand versetzt  war,  und  freigesprochen  wurde  er  erst  als  die 
Consuln  für  690  längst  ernannt  waren.  Um  so  mehr  setzte  er 
jetzt  alle  Mittel  in  Bewegung,  um  wenigstens  für  691  das  Con- 
sulat zu  erlangen.  Ehrgeizig  und  überschuldet,  die  Morschheit 
der  damaligen  Zustände  erkennend  und  die  Fähigkeit  und  Kraft 
in  sich  fühlend  auf  deren  Trümmern  meinen  Thron  zu  errichten, 
beabsichtigte  Catilina  zunächst  alle  Schulden  für  aufgehoben,  alle 
Verschreibungen  für  null  und  nichtig  zu  erklären.  Um  diesen 
Plan  gegen  den  begreiflichen  Widerstand  der  Besitzenden  durch- 
zuführen warb  Catilina  schon  im  Voraus  \  einen  zahlreichen  An- 
hang unter  der  grossen  Masse  Derer  die  da3  Ihrige  durchgebracht 
oder  nie  etwas  besessen  hatten ,  und  durch  diese  glaubte  er  auch 
—  mit  Hülfe  des  allgemeinen  Stimmrechts  ^  sich  das  Consulat 
verschaffen  zu  können.  Aber  die  Zahl  der  Mitwisser  bewirkte 
zugleich  dass  sein  Plan  zur  ungelegensten  Zeit  bekannt  wurde, 
und  die  Nobilität,  in  ihren  theuersten  Interessen  bedroht,  denen 
des  Geldbeutels,  vergass  Ahnenstolz  und  Vorutieile  und  warf 
sich  zitternd  demjenigen  Bewerber  in  die  Arme  deui  sie  den  Mut 
und  die  Befähigung  zutraute  um  dem  Catilina  d\e  Stirne  zu 
bieten.  Und  da  das  Volk  ohnehin  für  Cicero  war,  so  wurde 
dieser  ohne  Widerspruch,  einstimmig,  ohne  dass  auch  nur  eine 
förmliche  Abstimmung  nöthig  geworden  wäre,  durch  blosen  Zuruf 
an  erster  Stelle  zum  Consul  für  691  =  63  v.  Chr.  gewählt. 

Lange  schwankte  die  Wahl  seines  Amtsgenossen,  da  sich  die 
Stimmen  zersplitterten.     Catilina  erhielt  zwar  trotz  Allem  viele 


300  Cicero. 

Stimmen,  aber  doch  weniger  als  sein  Bundesgenosse  C.  Antonius 
Hybrida,  und  so  wurde  dieser  Consul.  Catilina  war  natürlich 
verstimmt  dass  er  das  viele  Geld  vergeblich  ausgegeben  hatte 
und  seine  Hoffnungen  und  Plane  abermals  zu  vertagen  genöthigt 
war;  doch  ermutigte  ihn  der  Umstand  dass  ihm  zum  Gelingen 
nur  wenige  Stimmen  gefehlt  hatten  zu  einem  wiederholten  fried- 
lichen Versuche,  woneben  er  aber  nicht  versäumte  für  den 
schlimmsten  Fall  auch  die  Mittel  zur  Gewaltanwendung  vorzu- 
bereiten. 

Cicero  seinerseits  suchte  vor  Allem  seinen  Amtsgenossen  von 
Catilina  abzuziehen.  Zu  diesem  Behufe  überliess  er  demselben 
die  ihm  selbst  zugefallene  Provinz  Makedonien,  die  nicht  nur 
Gelegenheit  bot  Kriegsruhm  zu  erwerben,  sondern  besonders 
auch  aus  den  Schulden  herauszukommen  und  für  später  sich  ein 
Sümmchen  zurückzulegen.  Cicero  übernahm  dafür  die  dem  An- 
tonius vom  Loos  zugewiesene  Provinz  Oberitali^n  (Gallien  diesseits 
der  Alpen).  Er  konnte  den  Tausch  um  so  leichter  eingehen  da  er 
von  Anfang  an  entschlossen  war  auch  nach  Abfluss  seines  Amtsjahres 
Rom  nicht  zu  verlassen  und  zu  Führung  eines  Kriegs  weder  Neigung 
noch  Fähigkeit  in  sich  spürte;  zudem  bedang  er  sich  insgeheim 
einigen  Antheil  an  dem  zu  hoffenden  Gewinne  aus.  Antonius 
begieng  die  Indiscretion,  später,  in  Makedonien,  soine  Raubgier 
damit  zu  entschuldigen  dass  er  für  Zwei  sammeln  müsse,  was 
Cicero  zwar  sehr  übel  nahm,  aber  doch  nicht  widerlegen  konnte. 
Vielmehr  enthalten  zwei  Briefe  von  ihm  eine  Bestätigung  der 
Aussage  des  Antonius.  Erstens  ad  Att.  I,  12,  wo  Cicero  sich 
gegen  Alticus  in  geheimnissvoller  Weise  über  die  Saumseligkeit 
des  Antonius  (der  unter  dem  Namen  Teukris  gemeint  ist)  im 
Zahlen  beklagt;  und  sodann  an  Antonius  selbst  (Farn.  V,  5),  in 
welchem  er  seinen  gewesenen  Amtsgenossen  mahnt  und  bedroht, 
abef*  alle  Ausdrucke  so  unbestimmt  und  allgemein  hält  dass  er 
nicht  compromittiert  war  auch  wenn  Antonius  den  Brief  ver- 
öffentlichte; wegen  der  Hauptsache  verweist  er  den  Antonius  an 
die  mündlichen  Eröffnungen  des  Atticus,  der  in  Alles  eingeweiht 
sei.  Diese  Geheimthuerei  ist  sehr  erklärlich.  Zwar  hatte  der 
Handel  an  sich  nichts  Unehrenhaftes,  da  ja  Cicero  ein  Recht  auf 
die  fettere  Provinz  hatte,  und  es  kann  sein  dass  dergleichen  Ver- 
träge unter  Amtsgenossen  oft  vorkamen.  Indessen  Cicero  musste 
hiebei  das  Licht  desshalb  scheuen  weil  er  den  Tausch  von  Anfang 
an  und  fortwährend,  als  einen  uneigennützigen,  aus  Aufopferung 


Leben.  301 

für  das  Staatsinteresse  hervorgegangenen,  sich  zum  Verdienst 
anrechnete.  Ausser  diesem  Tausche  suchte  Cicero  seinen  Amts- 
genossen auch  dadurch  unschädlich  zu  machen  dass  er  denselben 
mit  einem  Kundschafter  umgab,  in  der  Person  von  dessen  eigenem 
Ouästor  Publius  Sestius. 

In  der  politischen  Stellung  Cicero's  bildet  sein  Consulat  den 
Wendepunkt.  Hatte  er  bisher  zur  demokratischen  Partei  gehalten, 
deren  Abgott  Pompeius,  deren  Auswuchs  Catilina  und  deren  ge- 
heimer Leiter  Caesar  war,  so  war  ihm  diese  Stellung  mehr  durch 
die  Umstände  aufgedrängt  worden  als  dass  sie  eine  Frucht  seiner 
eigenen  Neigung  und  Ueberzeugung  gewesen  wäre.  Zurückge- 
stossen  und  befeindet  von  der  Nobilität  hatte  er  keine  andere 
Wahl  als  sich  an  deren  Gegner ;  die  Demokraten,  anzuschliessen, 
wenn  er  nicht  in  der  Vereinzelung  zusehen  wollte  wie  Andere 
zu  lllacht  und  Ehre  gelangten.  Als  er  nun  aber  das  Ziel  seines 
Ehrgeizes  erreicht  hatte  schob  er  die  Leiter  bei  Seite  auf  der 
er  es  erklommen  hatte;  seine  im  Innersten  conservative  und 
arfstokratische  Natur  machte  ihre  Rechte  geltend,  und  immer 
entschiedener  stellte  er  sich  auf  die  Seite  des  Senats  und  seiner 
bisherigen  Gegner,  der  Nobilität.  Ein  Ausfluss  dieser  Frontver- 
änderung ist  der  Widerstand  den  er  vom  ersten  Tage  seines  Con- 
sulats  an  dem  Ackergesetze  des  Volkstribunen  Servilius 
Rullus  entgegenstellte.  Dieser  beantragte  die  Ernennung  von  zehn 
Männern  mit  der  unbegrenzten  Vollmacht  über  die  Mittel  des 
Staates  zu  verfügen,  davon  nach  Belieben  Ländereien  in  Italien 
anzukaufen  und  diese  zuzutheilen  wem  sie  wollen.  Der  Vorschlag 
war  so  masslos  dass  es  Caesar ,  von  weichein  derselbe  dem  Servilius 
eingegeben  war,  selbst  damit  nicht  Ernst  gewesen  sein  kann; 
vielmehr  war  seine  Absicht  dabei  wohl  nur:  seine  eigene  Volks- 
beliebtheit zu  steigern,  zwischen  die  Optimatenund  das  Volk  eine 
weitere  Brandfackel  hineinzuwerfen  und  den  iveuen  Consul  in 
Verlegenheit  zu  bringen,  indem  er  ihn  nöthige  die  demokratische 
Maske  abzulegen  und  damit  zugleich  auf  einen  grossen  Theil 
seines  Einflusses  zu  verzichten.  Diess  gelang  auch  zum  Theile. 
Qcero  hielt  gegen  den  Vorschlag  vier  Reden,  wovon  drei  erhalten 
sind.  In  diesen  gebärdet  er  sich  zwar  noch  möglichst  al&„  Volks- 
freund", spricht  von  der  Nobilität  als  von  seinen  Gegnern,  und 
stellt  sich  an  als  ob  er  nur  im  Interesse  des  Volkes  selbst  den 
Vorschlag  bekämpfe,  eine  Wendung  welcher  auch  der  Erfolg 
der  Reden  —  die  Zurücknahme  des  Vorschlags  —  wohl   zum 


302  Cicero. 

gröMten  Tbeile  beizumessen  ist  Indessen  wenn  es  ihm  auch 
gelang  durch  seine  Beredtsamkeit  den  eigentlichen  Standpunlit 
ffir  den  Augenblick  zu  yerrücken,  so  war  das  Nachhaltige  doch 
die  Thatsache  dass  er  einem  Ackergeselze  das  dem  Volke  grosse 
Vortheile  bot  entgegengetreten  war.  Dieser  Eindruck  war  auch 
auf  Seiten  des  Senats  der  überwiegende:  sie  waren  dem  Cicero 
für  sein  Auftreten  sehr  dankbar  und  sahen  ihn  schon  halb  als 
einen  der  Ihrigen  an,  obwohl  er  auch  in  diesen  Reden  dem 
ihnen  verdächtigen  Pompeius  Weihrauch  streute. 

Ferner  zeigte  sich  Cicero's  Uebergang  ins  conservative  Lager 
darin  dass  er  sich  angelegentlichst  bemähte  seine  eigenen  Standes* 
genossen,  die  Ritter,  theils  vom  Volke  abzuziehen  theils  möglichst 
eng  an  den  Senat  zu  ketten.  Aus  diesem  Grunde  warf  er  sich 
auch  zum  Vertheidiger  des  Lucius  Roscius  und  seines  Gesetzes 
auf.  Dieser  hatte  im  Jahr  687  als  Volkstribun  dem  Ritterstande 
abgesonderte  Sitzplätze  im  Theater  zugewiesen,  eine  Massregel 
die  damals  durchgieng,  jetzt  aber  die  Folge  hatte  dass  das  Volk, 
von  ehrgeizigen  Führern  aufgehetzt,  den  Roscius,  als  er  im 
Theater  erschien,  mit  Zischen  und  Lärmen  empfieng.  Auf  die 
Nachricht  hievon  fand  auch  der  Consul  Cicero  sich  im  Theater 
ein,  ersuchte  die  Zuschauer  ihm  in  den  Tempel  der  Beilona  zu 
folgen,  und  abermals  gelang  es  hier  seiner  Beredtsamkeit  und 
Popularität  das  Volk  zu  beschwichtigen. 

Noch  schärfer  trat  seine  veränderte  politische  Stellung  hervor 
in  seinem  Widerspruch  gegen  die  Aufhebung  der  völlig  unge- 
rechten und  grausamen  Verordnung  des  Sulla  dass  die  Nach- 
kommen der  Geächteten  neben  dem  Verlust  ihres  Vermögens 
überdiess  von  allen  bürgerlichen  Aemtern  ausgeschlossen  sein 
sollen.  Cicero  erkannte  die  Ungerechtigkeit  dieser  Verfügung 
ausdrücklich  an,  widersetzte  sich  aber  ihrer  Umstossung  in  blin- 
dem Interesse  ffir  die  augenblickliche  Ruhe,  und  so  nachhaltig 
war  die  Wirkung  seiner  frühern  Leistungen  und  Parteistellung, 
so  gross  der  Glanz  den  gerade  der  Mangel  an  Ahnen  auf  ihn 
warf  dass  auch  von  diesem  unpopulären  Auftreten  seine  Popularität 
nicht  gründlich  erschüttert  wurde. 

Auch  seine  Privatreden  aus  diesem  Jahre  tragen  die  Farbe  seiner 
neuen  politischen  Richtung:  er  vertheidigte  den  C.  Rabirius 
gegen  die  Anschuldigung  dass  er  den  Saturninus  erschlagen  habe. 
Saturninus  war  ein  Demagog  von  der  niedrigsten  Sorte  gewesen, 
der  im  Jahre  654  durch  seine   Bande  einen  Bewerber  um  das 


Leben.  303 

Consulat  auf  dem  offenen  Markte  hatte  todtschlagen  lassen,  dann 
vom  Senat  zum  Tode  verurteilt  und  von  dem  erbitterten  Volke 
mit  Dachziegeln  todtgeworfen  worden  war.  Trotz  dem  Allem, 
und  obwohl  seitdem  37  Jahre  verflossen  waren,  die  Sache  dem- 
nach völlig  verjährt  erscheinen  musste ,  wurde  Rabirius  auf  Caesar's 
Anstiften  als  angeblicher  Mörder  des  Saturninus  zur  Verantwortung 
gezogen.  Caesar  beabsichtigte  damit  theils  sich  beim  Volke  be- 
liebt zu  machen  theils  den  Senat  einzuschüchtern,  dass  er  nicht 
wieder  wie  damals  zu  ausserordentlichen  Massregeln  greife. 
Rabirius,  bei  Caesar  (als  Duumvir)  angeklagt  und  von  ihm  ver- 
urteilt, appellierte  ans  Volk.  Vor  diesem  führten  Cicero  und 
Hortensius  seine  Sache ;  aber  auch  diese  hätten  seine  Verurteilung 
nicht  zu  verhindern  vermocht,  wenn  nicht  der  Prätor  Q.  Metellus 
mit  einem  Gewaltstreich  ihm  zu  Hülfe  gekommen  wäre.  Ferner 
vertheidigte  Cicero  den  C.  Piso,  der  von  seinem  Consulat  (687) 
her  beim  Volke  verhasst  war  und  jetzt,  nach  Verwaltung  des 
narboneusischen  Gallien ,  gleichfalls  auf  Caesar's  Retreiben,  wegen 
Raub  und  Tödtung  eines  Transpadaners  angeklagt  wurde.  Cicero 
bewirkte  die  Freisprechung  des  unvolksthümlichen  Mannes  durch 
die  Geschwornen ;  aber  auch  Caesar  hatte  seine  Absicht  erreicht. 

Cicero  mochte  das  Redürfniss  fühlen  nach  so  vielen  con- 
servativen  Kundgebungen  auch  etwas  zu  thun  um  seine  Unab- 
hängigkeit dem  Senat  gegenüber  zu  beweisen,  sich  den  Namen 
eines  Volksfreundes  zu  retten,  und  warf  sich  daher  auf  den  Miss- 
brauch der  legationes  liberae.  Diese  bestanden  darin  dass  Senats- 
mitglieder welche  in  einer  Provinz  Privatgeschäfte  zu  besorgen 
hatten  sich  vom  Senate  den  Titel  eines  Legaten  ertheilen  Hessen, 
um  als  officielle  Abgesandte  kostenfrei  reisen  zu  können.  Cicero 
hatte  selbst  eben  erst,  bei  seiner  Rewerbungsreise  nach  Gallien, 
hievon  Gebrauch  gemacht;  jetzt  trat  er  dagegen  auf  und  suchte 
diesem  offenbaren  Unfug  durch  ein  Gesetz  zu  steuern.  Indessen 
erhob  sich  gegen  seinen  Vorschlag  tribunicischerv Einspruch,  und 
Cicero  musste  sich  begnügen  die  Dauer  solcher  Sendungen  auf 
ein  Jahr  zu  beschränken. 

Nicht  viel  mehr  Glück  hatte  er  mit  einem  andern  Gesetzes- 
vorschlag. Die  Rewerber  um  das  Consulat  für  das  nächste  Jahr, 
und  namentlich  wieder  Catilina,  machten  so  schamlose  Gmtriebe 
dass  die  Sache  im  Senate  zur  Sprache  kam  und  namentlich  ein 
ehrenhafter  Mitbewerber,  der  Rechtsgelehrte  Sulpicius  Rnfus, 
darüber  Rcschwerde  führte.    In  Folge  dessen  verschärfte  Cicero, 


804  Cicero. 

im  Auftrage  des  Senats ,  die  bestehenden  gesetzlichen  Verfügungen 
über  die  Wahlbewerbung  (ambitus),  indem  er  theils  den  Begriff 
erweiterte  ]  und  klarer  bestimmte  theils  die  processualischen 
und  Strafbestimmungen  darüber  schärfer  machte.  In  ersterer 
Beziehung  enthielt  diese  lex  Tullia  z.  B.  das  Verbot  des 
Gebens  von  öffentlichen  Spielen  und  Gastmählern  während  der 
zwei  letzten  Jahre  vor  dem  Wahltag,  in  letzterer  die  Bedrohung 
mit  zehnjähriger  Verbannung.  Das  Gesetz,  an  sich  schon  wir- 
kungslos in  einer  so  gründlich  verdorbenen  Zeit,  musste  es  noch 
mehr  dadurch  werden  dass  sein  Urheber  selbst  gleich  den  Ersten 
der  demselben  verfallen  gewesen  wäre  gegen  die  wohlverdiente 
Strafe  desselben  in  Schutz  nahm  und  bei  dieser  Gelegenheit  sein 
eigenes  Gesetz  möglichst  heruntersetzte  und  desavouierte.  £s 
geschah  diess  noch  im  Jahr  691  in  Bezug  auf  L.  Licinius  Murena, 
den  er  durch  seine  witzige  Bede  wirklich  der  Gefahr  entzog. 
Dagegen  äusserte  schon  damals  Cato  sein  Befremden  darüber  dass 
Cicero  so  als  Advokat  wieder  niederriess  was  er  eben  als  Staats- 
mann gebaut  hatte,  und  Juventius  Laterensis  behauptete  später, 
Cicero  habe  jenes  Gesetz  überhaupt  nur  gegeben  um  desto  be- 
weglichere Schlussreden  zu  halten.  Nichts  desto  weniger  wäre 
dasselbe  wohl  seine  einzige  politische  That  während  seines  Con- 
sulats  geblieben ,  wenn  ihm  nicht  sein  Gluck  noch  zu  guter  Letzte 
den  fetten  Bissen  der  catilinarischen  Verschwörung  in  die 
Küche  gejagt  hätte. 

Catilina  hatte  in  diesem  Jahre  seine  Bemühungen  um  das 
Consulat  verdoppelt,  aber  daneben  auch  seine  geheimen  Wühle- 
reien und  Drohungen  unermüdlich  fortgesetzt.  Cicero  erhielt 
sich  durch  seinen  bezahlten  Kundschafter  Curius  fortwährend  auf 
dem  Laufenden  über  alle  Plane  des  Catilina  und  hielt  ihm  die- 
selben in  öffentlicher  Senatssitzung  mit  allen  Einzelnheiten  vor. 
Da  rückte  auch  Catilina  mit  der  Erklärung  heraus:  der  Staat 
bestehe  jetzt  aus  zwd  Leibern,  einem  gebrechlichen  mit  einem 
schwachen  Haupte,  und  einem  starken  ohne  Haupt,  —  er 
werde  diesem  Mangel  abhelfen.  Am  Wahltage  wollte  Catilina 
das  Beispiel  des  Saturnlnus  nachahmen  und  den  lästigen  Consul 
durch  Mord  beseitigen,  um  dadurch  dessen  ganze  Partei  einzu- 
schüchtern und  ohne  Widerstand  das  Consulat  zu  erlangen.  Aber 
Cicero,  durch  seinen  Spionen  von  der  Gefahr  benachrichtigt,  er- 
schien auf  dem  Marsfelde  umgeben  von  einer  starken  Schutzwache 
rüstiger  Männer  (Ritter)  und  mit  einem  grossen,  in  die  Augen 


Leben.  305 

fallenden  Harnisch.  Catilina  musste  daher  seinen  Anschlag  auf 
Cicero  aufgeben  und  fiel  bei  der  Wahl  durch.  Jetzt  betrachtete 
er  alle  Bande  zwischen  sich  und  dem  Staate  als  zerrissen,  die 
Fehde  als  erklärt,  und  entschloss  sich  daher  die  Maske  der  Ge- 
setzlichkeit vollends  ganz  abzuwerfen,  den  Handschuh  aufzunehmen 
den  ihm  die  Gesellschaft  hingeworfen  zu  haben  schien.  Nach 
allen  Theilen  Italiens  zogen  seine  Sendboten  aus,  um  das  ganze 
Land  mder  die  Aristokratie  aufzuwiegeln  und  zu  bewaffnen; 
anonyme  Warnungen  gelangten  an  einzelne  Senatoren,  worin  die 
Schilderhebung  des  Manlius  für  den  27.  October,  ein  allgemeines 
Blutbad  in  Rom  für  den  28.  October  angekündigt  war.  Als  diese 
Briefe  am  21.  October  im  Senate  mitgetheilt  wurden  erfolgte  der 
Beschluss :  die  Consuln  sollen  Acht  haben  dass  der  Staat  nicht  ge- 
fährdet werde,  wodurch  er  die  Consuln  verantwortlich  machte 
für  die  Integrität  des  Staates  und  damit  zu  Ausnahmsmassregeln 
bevollmächtigte.  Rom  war  dadurch  in  den  Belagerungszustand  er- 
klärt. Wie  dann  überallher  Aufstände  und  Ansammlungen  Bewaff- 
neter berichtet  wurden,  da  entsandte  auch  der  Senat  nach  allen  Rich- 
tungen hin  Heerführer,  um  Truppen  auszuheben ;  den  Angebern  der 
Verschwörung  wurden  Belohnungen  zugesichert,  in  Rom  selbst  aus- 
gedehnte Sicherheitsmassregeln  getroffen,  die  aber  mehr  ängstigend 
und  aufregend  wirkten  als  beruhigend,  den  Catilina  dagegen  von 
Nichts  abhielten,  da  Niemand  wagte  ihm  selber  zu  Leibe  zu  gehen. 
Zum  Hohn  auf  die  Zaghaftigkeit  seiner  Gegner  bot  er  sich  selbst 
einem  nach  dem  andern  zu  freier  Haft  an.  Aber  das  in  Etrurien 
gesammelte  Heer  harrte  ungeduldig  seines  Führers  und  des  Los- 
schlagens,  während  in  Rom  eine  unsichtbare  Hand  alle  seine 
Massregeln  vereitelte:  so  entschloss  sich  Catilina  endlich  doch 
seinen  Feinden  den  Gefallen  zu  thun  und  Rom  zu  verlassen.  In 
einer  Versammlung,  in  der  Nacht  vom  6—7.  November,  ver- 
kündete er  diess  seinen  Getreuen,  bestimmte  wer  in  seiner  Ab- 
wesenheit die  namhaftesten  Gegner  zu  ermorden,  wer  die  Haupt- 
stadt anzuzünden  habe  u.  s.  w.,  vor  Allem  aber  drang  er  darauf  dass 
Cicero  noch  zuvor,  noch  in  dieser  Nacht,  beseitigt  werde.  Aber 
wiederum  erfuhr  es  Cicero  bei  Zeit,  Hess  die  Mörder  nicht  ein 
—  wiewohl  dieselben  vorläufig  völlig  unangefochten  blieben  — > 
versammelte  an  demselben  Tage  (7.  November)  den  Senat  im 
Tempel  des  Juppiter  Stator  und  hielt  hier  die  erste  catili- 
narische  Rede.  Catilina  erwiderte  im  Tone  eines  gekränkten 
Unschuldigen ;  als  er  dann  aber  zu  Schmähungen  auf  Cicero  über- 

Te  uff  Ol,  Stadien.  20 


306  Cicero. 

gieng  schrie  Alles  über  ihn  hinein,  und  zornigen  Blickes  verliess 
er  die  Sitzung.  Aus  Rom  gegangen  vikve  er  aber  trotz  dieser 
Rede  wohl  schwerlich,  wenn  ihm  nicht  daran  gelegen  gewesen 
wäre  früher  im  Felde  zu  sein  als  die  Truppen  des  Senats.  Nach- 
dem er  daher  seinen  Genossen  wiederholt  die  getroffenen  Ver- 
abredungen eingeschärft  und  versprochen  hatte  bald  mit  dem 
Heere  vor  Rom  zu  erscheinen  verliess  er  die  Stadt  in  der  Nacht 
vom  7  —  8.  November.  Jetzt  beeilte  sich  Cicero  dem  Volke  von 
den  Vorgängen  im  Senat  und  von  CatiUna's  Abreise  Nachricht  zu 
geben,  schon  am  8.  November,  in  der  zweiten  catilinarischen 
Rede.  Als  dann  die  Kunde  einlief  dass  Catilina  in  Etrurien 
offen  die  Fahne  des  Aufruhrs  aufgepflanzt  habe  wurde  er  und 
sein  Mitanfuhrer  Manlius  vom  Senate  für  Hochverräther  erklärt, 
seinen  Genossen  aber  Begnadigung  zugesagt,  falls  sie  bis  zu 
einem  bestimmten  Tage  die  Waffen  niederlegten;  die  Consuln 
sollten  Truppen  ausheben,  Antonius  den  Oberbefehl  über  sie 
übernehmen,  Cicero  aber  zum  Schutze  der  Stadt  zurückbleiben. 
Fortwährend  umspann  dieser  die  Verschworenen  mit  deinen  Kund- 
schaftern: durch  sie  wusste  er  dass  der  Hauptschlag  zu  Rom  in 
der  Nacht  vom  19 — 20.  December  erfolgen  sollte;  aber  von 
diesen  Mittheilungen  konnte  er  keinen  amtlichen  Gebrauch  machen, 
und  so  fehlte  es  ihm  noch  immer  an  juridischen  Beweismitteln, 
als  der  Zufall  und  die  Kopflosigkeit  der  Verschworenen  ihm  solche 
von  selbst  in  die  Hände  führten.  Die  in  Rom  zurückgebliebenen 
Führer  der  Verschwörung  begiengen  nämlich  die  ganz  unbegreif- 
liclie  Unvorsichtigkeit,  die  ihnen  fast  wildfremden  Gesandten  der 
Allobroger  nicht  nur  ins  Geheimniss  zu  ziehen ,  sondern  denselben 
auch  von  ihnen  unterzeichnete  und  besiegelte  Schreiben  an  Catilina 
und  in  ihre  Heimat  mitzugeben.  Die  Allobroger  aber  waren  ge- 
scheid genug  zu  bedenken  dass  die  Gunst  und  Dankbarkeit  des 
Consuls  und  des  Senates  für  sie  mehr  Werth  habe  als  die  von 
einigen  Abenteurern,  machten  von  der  ganzen  Sache  Anzeige, 
und  Hessen  sich  mitsammt  ihren  Briefschaften  gefangen  nehmen, 
in  der  Nacht  vom  2 — 3.  December.  Nun  beschied  am  3.  December 
Cicero  die  Graviertesten  zu  sich;  vier  davon  entkamen  bei  Zeit, 
die  fünf  anderen  aber  g-iengen  arglos  in  die  Falle.  Sie  wurden 
in  die  Senatssitzung  geführt  und  einzeln  verhört,  und  sehr  bald 
sahen  sie  sich  durch  ihre  eigene  Handschrift,  sowie  durch  die 
mündlichen  Aussagen  der  Allobroger  überwiesen,  und  wurden 
nun  auf  Befehl  des  Senates  als  Hochverräther  verhaftet.  •  Noch  am 


Leben.  307 

Abend  dieses  Tages  erstattete  Cicero  dem  Volke  von  Allem  Bericht 
durch  die  dritte  catilinarische  Rede.  Am  4.  December 
wurden  den  Allobrogern  Belohnungen  zuerkannt  und,  auf  das 
Gerücht  hin  man  wolle  die  Verhafteten  gewaltsam  befreien,  gleich 
für  den  folgenden  Tag  eine  neue  Sitzung  anberaumt.  In  dieser, 
am  5.  December,  wurde  dann  über  die  Bestrafung  derselben 
berathen  und  abgestimmt.  Das  Ergebniss  war  dass  Caesar's  An- 
trag auf  lebenslängliche  Haft  verworfen  und  dagegen  der  durch 
Cicero  —  in  seiner  vierten  catilinarische  Rede  —  und 
Cato  unterstutzte  des  D.  Junius  Silanus  auf  Todesstrafe  ange- 
nommen wurde.  Mit  rascher  Entschlossenheit  liess  Cicero  noch 
an  demselben  Abend  das  Urteil  vollstrecken.  Schon  war  es  Nacht 
als  er  mit  glänzendem  Gefolge  auf  dem  Markte  erschien  und  dem 
in  Spannung  harrenden  Volke  feierlich  verkündete  dass  die  Ver- 
brecher geendet  haben.  Mit  Jubel  wurde  die  Nachricht  aufge- 
nommen, und  im  Triumphzuge  geleitete  die  Menge  den  Consul 
durch  die  festlich  erleuchtete  Stadt.  Damit  war  Catilina's  Sache 
moralisch  vernichtet,  und  nicht  lange  darauf,  zu  Anfang  des 
Jahrs  692,  erfolgte  auch  ihre  physische  Vernichtung. 

So  endete  ein  Unternehmen  das  an  sich,  in  seinem  Ankämpfen 
wider  die  unnatürliche^  ungerechte  und  verdorbene  gesellschaft- 
liche Ordnung,  vollkommen  berechtigt  war,  um  so  weniger  aber 
wenn  man  auf  das  sieht  was  seine  Urheber  an  deren  Stelle  setzen 
wollten,  auf  die  Mittel  die  sie  für  ihre  Zwecke  in  Bewegung 
setzten,  und  endlich  auf  ihren  persönlichen  Beruf  eine  sociale 
Umgestaltung  herbeizuführen.  Es  ist  l^eine  Frage:  die  damalige 
Gesellschaft  und  Verfassung  war  des  Fortbestandes  unwürdig  und 
unfähig;  aber  nicht  einer  Handvoll  Lumpen  und  Verbrecher  sollte 
sie  zum  Opfer  fallen,  die  aus  den  riesigen  Trümmern  nur 
Scherben  zur  Befriedigung  ihrer  niedrigen  Zwecke  und  Gelüste 
aufzulesen  gewusst  und  die  Edelsteine  daran  mit  blödsinniger 
Brutalität  zertreten  hätten;  nur  an  den  sollte  die  Welt  ihre 
Unabhängigkeit  verlieren  der  sie  zu  erobern,  zu  erhalten,  zu 
bewegen  und  zu  beherrschen  verstände.  Und  er  war  schon  auf 
dem  Platze,  dieser  einzig  würdige  Freier;  schon  dämmerte  in 
ihm  die  Ahnung  seiner  weltgeschichtlichen  Bestimmung,  schon 
arbeiteten  in  ihm  dämonisch  die  Ungeheuern  Kräfte  und  Leiden- 
schaften ;  aber  ruhig  stand  er  noch  da  —  der  Schnitter  dem  die 
uncrmessliche  Ernte  zugedacht  war,  und  keine  Sichel  verkündigte 
noch  seine  Absicht  und  seine  Zukunft:  seine  Zeit  war  noch  nicht 

20* 


308  Cicero. 

gekommen;  erst  wenn  sein  Arm  erstarkt  wäre  für  die  schwere 
Arbeit  wollte  er  ihn  erbeben.  So  liatte  die  Welt  vorläuOg  noch 
Ruhe,  und  dem  Cicero  blieb  der  Ruhm  sie  gerettet  zu  haben. 
Freilich  war  es  nur  ein  Knabenanfall  gewesen,  der  Nichts  ver- 
diente  als  die  Gerte;  aber  Cicero  hatte  sich  ins  Zeug  geworfen 
als  sei  die  höchste  Gefahr;  und  wirklich  war  der  Staat  so  morsch 
und  welk  dass  der  Consul  Recht  zu  haben  schien.  So  fasste  es 
besonders  der  Senat  auf,  dessen  Vorrechte  und  Missbräuche  aller- 
dings ernstlich  bedroht  gewesen  waren:  er  bezeigte  dem  Cicero 
seinen  Dank  für  die  Rettung  des  Reiches,  beschloss  ihm  zu  Ehren 
ein  Dankfest  abzuhalten,  ein  Mitglied  erklärte  dass  derselbe  den 
Rurgerkranz  verdiene ,  Andere  nannten  ihn  Vater  des  Vaterlandes. 
Am  lebendigsten  und  tiefsten  aber  war  Cicero  selbst  von  dem  Allem 
überzeugt.  Anfangs  zwar,  namentlich  in  Catil.  III.,  war  er  noch 
aufrichtig  genug  zu  bekennen  dass  er  dem  Zufall  und  der  boden- 
losen Verblendung  der  Verschworenen  das  Meiste  verdanke,  und 
den  Göttern  die  Ehre  zu  geben:  allmählich  aber  redete  er  sich 
so  völlig  in  die  Ueberzeugung  hinein.  Er  habe  Alles  gethan,  dass 
er  ausdrücklich  sich  dagegen  verwahrte  als  hätte  daran  das  Walten 
des  Zufalls  Antheil  und  wäre  es  nicht  ganz  allein  sein  Verdienst. 
Vergl.  z.  R.  Rriefe  an  Atticus  1,  20.  Ueberhaupt,  je  mehr  von 
diesem  Höhepunkte  seines  Lebens  an  sein  Stern  erbleichte,  je 
mehr  er  sich  bald  von  Andern  in  den  Hintergrund  gedrängt  sah, 
desto  unermüdlicher  kehrte  er  immer  auf  jene  Zeit  zurück;  sein 
Consulat  und  insbesondere  der  5.  December  wurde  der  Mittel- 
punkt aller  seiner  Gedanken  und  Reden,  der  Anlass  zu  einer 
Selbstberäucherung  welche  unter  seinen  Schwächen  eine  hervor- 
ragende Stelle  einnimmt.  Vgl.  z.  R.  anAtt.  XVI,  14  a.  E.  (vom 
J.  710).  In  gebundener  und  in  ungebundener  Rede,  in  lateinischer 
und  griechischer  Sprache  wollte  er  sein  Consulat  gepriesen  sehen ; 
wer  ihm  zu  nahe  kam  und  die  Fähigkeit  dazu  besass,  an  den 
stellte  er  dieses  Ansinnen^  an  Archias,  Chilios,  Herodes,  Poseidonios, 
an  Atticus  und  später  an  Lucceius;  und  da  die  Meisten  ablehnten, 
die  Andern  es  ihm  nicht  recht  machten ,  so  entschloss  er  sich  selbst 
darüber  zu  schreiben,  zuerst  in  griechischer  Sprache,  ein  lateinisches 
Werk  sollte  später  hinzukommen,  sowie  ein  Gedicht,  „damit  ja 
keine  Gattung  des  Selbstlobes  von  ihm  übergangen  werde"  (ad 
Att.  I,  19). 

Während  er   aber  die  Ehre  von   diesen  Vorgängen  für  sich 
selbst  und  sich  allein  in  Anspruch  nahm  schob  Cicero  zugleich  die 


Leben.  309 

Verantwortliclikeit  dafür  dem  Senate  zu,  dessen  Beschluss  er  nur 
vollstreckt   haben  wollte  als  der  5.   December   ihm  Anfechtung 
zuzog.  Ein  bedenkliches  Wölkchen,  der  Vorbote  nahender  Stürme, 
stieg  schon  am  Ende  des  Consulatsjahres  auf:   der  neue  Volks- 
tribun Metellus  Nepos,  bisher  Legat  des  Pompeius,  sprach  nach- 
drücklich gegen  die  stattgefundene  Hinrichtung  römischer  Bürger, 
und  vergebens  bemühte  sich  Cicero  durch  Vermittlung  von  Frauen 
ihn  zu  beschwichtigen.     Vielmehr,  als  Cicero  am  letzten  Tage 
seines  Consulats  (31.  December)  die  übliche  Rede  ans  Volk  halten 
wollte,    verwehrte   es  ihm   der  Tribun,    weil  er  auch  die  Ver- 
schworenen ungehört  bestraft  habe;  nur  den  gewöhnlichen  Eid 
nicht  gegen  die  Gesetze  gehandelt  zu  haben  gestattete  er  ihm, 
und  Cicero  schwur  an  dessen   Stelle    dass   er   allein  den   Staat 
gerettet  habe.     Vergebens  sandte  Cicero  abermals  gemeinschaft- 
liche Freunde  an   Metellus,   um   sich  für  die  Zeit  nach  seinem 
Consulate  von  ihm  Ruhe  zu  erbitten :  Metellus  konnte  nicht  mehr 
zurück,   doch   blieb   es  diessmal  noch  bei  blosem  Wortgefechte, 
in  welchem  Cicero  seine  Metellina  hielt,  da  der  Versuch  Cicero 
anzuklagen,  weil  er  römische  Bürger  habe  hinrichten  lassen,  an 
dem  nachdrücklichen  Widerstände  des  Senates  scheiterte.    Aber 
auch  fernerhin  blieb  diess  die  Stelle  wo  Cicero  verwundbar  war» 
da  die  Massregel  wirklich   gesetzwidrige  Seiten   hatte.    Es  war 
eine  alte,  schon  durch  die  zwölf  Tafeln  getroffene  und  durch  ein 
Gesetz  des  jungem  Gracchus  bestätigte  und  verschärfte  Bestim« 
mung  dass  ein  römischer  Bürger  nur   durch  Urteil  des  Volkes 
(in    den    Centuriatcomitien)    am   Leben    gestraft   werden    dürfe. 
Dieses  Gesetz  war  verletzt  worden :  zwar  durch  den  Senat,  indem 
er  theils  den  Consuln  Vollmacht  zu  Ausnahmsmassregeln  verlieh 
theils  die  Verschworenen  zum  Tode  verurteilte,  aber  der  Senat 
als  Ganzes  konnte  nicht  zur  Verantwortung  gezogen  werden,  man 
musste  sich  daher  an  den  Vollstrecker  jenes  Urteils,  an  die  voll- 
ziehende Behörde  halten,   und  man  war  dazu  auch  insofern  be- 
rechtigt als  der  Consul  das  Recht  wie  die  Pflicht  hatte  gesetz- 
widrige Beschlüsse  des  Senats  unvoUzogen  zu  lassen.  Es  war  dess- 
halb  rechtlich  wirkungslos   dass  Cicero   den  Senatsbeschluss   als 
Schild  vor  sich  hinhielt,  wiewohl  aus  jenem  Verhältniss  natürlich 
für  den  Senat  sich  die  moralische  Verpflichtung  ergab  den  Voll» 
zieber  seiner  Beschlüsse  nicht  fallen  zu  lassen. 

Bei  diesem  Bewusstsein  von  den  Blossen  welche  sein  Ver- 
fahren biete  und  von  seiner  Bedürftigkeit   durch   die   factische 


310  Cicero. 

Macht  gestutzt  zu  werden  war  es  für  Cicero  um  so  peinlicher 
dass  derjenige  in  dessen  Besitz  die  letztere  im  Augenblicke  war, 
Pompeius,  mit  seinem  Urteil  über  sein  Verfahren  fortwährend 
zurücichielt,  da  er  der  Stimmung  in  Rom  darüber  nicht  gewiss 
war  und  es  desshalb  mit  keiner  Partei  verderben  mochte.  So 
hieng  das  Schwert  fortwährend  über  Cicero's  Nacken,  und  dieser 
that  noch  überdiess  das  Seinige  um  es  in  recht  wilde,  rück* 
sichtslosc  und  grimmige  Hände  zu  bringen.  Den  Anstoss  dazu 
gab  dass  im  December  692  sich  Clodius  in  Weiberkieldern  in  das 
Haus  des  Caesar  einschlich,  während  die  Frauen  hier  das  Fest 
der  Bona  Dea  feierten,  aber  entdeckt  und  desshalb  angeklagt  wurde. 
Die  Strafe  der  Verbannung  stand  auf  diesem  Frevel,  und  Clodius 
hätte  daher  für  seinen  Leichtsinn  mit  der  Vernichtung  seiner 
politischen  Laufbahn  büssen  müssen.  Um  diess  abzuwenden  setzte 
er  Himmel  und  Erde  in  Bewegung.  Es  war  der  Antrag  gestellt  zu 
Aburteilung  seines  Verbrechens  ein  eigenes  Gericht  niederzusetzen, 
da  die  gewöhnlichen  Geschworenen  bei  der  eingerissenen  Ver- 
derbniss  zu  wenig  Bürgschaft  für  Gewissenhaftigkeit  des  Spruches 
zu  bieten  schienen.  Diess  vor  Allem  suchte  Clodius  zu  beseitigen, 
durch  Bitten,  Bestechung  und  durch  Aufstellung  einer  schlag- 
fertigen Bande,  und  auch  Cicero,  Anfangs  streng  gestimmt,  liess 
sich  erweichen.  Wirklich  gelang  es  dem  Clodius  die  Zurück- 
nahme des  Antrages  durch  den  Senat  zu  bewirken;  aber  eine 
spöttische  Bemerkung  die  er  in  einer  Voiksrede  über  Cicero's 
Allwissenheit  fallen  liess  brachte  diesen  von  Neuem  in  Harnisch, 
und  er  trat  in  dem  Processe  selbst  als  Zeuge  gegen  Clodius  auf, 
indem  er  dessen  vorgebliches  Alibi  Lügen  strafte.  Dennoch  wurde 
Clodius  von  den  bestochenen  Geschworenen  durch  Stimmenmehr- 
heit freigesprochen.  Cicero's  Entrüstung  darüber  war  ebenso 
gross  wie  begründet,  und  er  konnte  nicht  unterlassen  durch  fort- 
währende Angriffe  aller  Art  seinen  Gegner  immer  mehr  zu  er- 
bittern. Um  so  mehr  hatte  er  auch  Anlass  sich  nach  einer  Schutz- 
wehr  gegen  ihn  umzusehen,  zumal  da  gleichzeitig  de^  Bund 
zwischen  Senat  und  Ritterstand  sich  zu  lockern  anOeng.  Einen 
solchen  Schutz  suchte  er  theils  darin  dass  er  sich  f(ft*twährend 
eifrig  mit  gerichtlichen  Vertheidigungen  beschäftigte  theils  in 
möglichst  engem  Anschlüsse  an  den  zurückgekehrten  Pompeius. 
Diesen  machte  der  Wunsch  seine  Verfügungen  in  Asien  durch 
den  Senat  bestätigt  zu  sehen  geneigt  auf  eine  Verbindung  mit 
dem    einflussreichen    Senatsmitgliede    einzugehen;    doch    erfüllte 


Leben.  311 

Cicero  in  dieser  Beziehung  seine  Erwartungen  nicht,  indem  er 
noch  zu  kurz  im  Lager  der  Optinaaten  war  als  dass  er  einen  so 
entschiedenen  Bruch  mit  ihnen  hätte  wagen  können.  So  aber- 
mals in  schwerer  Bedrängniss  half  er  $ich  damit  dass  er  allmählich 
sich  von  der  Politik  zurückzog  und  seine  Müsse  dazu  benützte 
sich  um  so  mehr  in  die  Betrachtung  seiner  einstigen  Grösse  zu 
vertiefen,  indem  er  jetzt  (694)  griechisch  geschriebene  Denkwürdig- 
keiten und  ein  lateinisches  Gedicht  über  sein  Consulat  fertig  machte, 
eine  lateinische  Abhandlung  darüber  wenigstens  begann. 

Im  Jahr  695  =^  59  war  Caesar  Consul  und  schloss  mit  Pom- 
peius  und  Crassus  das  erste  Triumvirat,  ein  gegenseitiges  Schutz- 
und  Trutzbündniss.  Die  Triumvirn  legten  Werth  darauf  auch 
Cicero  in  ihr  Interesse  zu  ziehen,  da  seine  Beredtsamkeit  ihnen 
nützlich  werden  konnte.  Aber  noch  spielte  dieser  den  spröden 
Aristokraten  und  war  wohl  auch  zu  lebhaft  von  dem  Gedanken 
an  seine  eigenen  Leistungen  durchdrungen  als  dass  er  sich  hätte 
dazu  herbeilassen  mögen  die  Triumvirn  durch  seine  Anerkennung 
oder  gar  durch  seine  Dienstleistungen  zu  fördern,  ja  er  ergoss 
sich  bei  Gelegenheit  der  Vertheidigung  seines  ehemaligen  Amts- 
genossen Antonius  in  bittere  Klagen  über  den  schmachvollen  Zu- 
stand des  Staates  und  damit  die  höchst  unbedeutende  Bolle  zu 
der  er  sich  immer  mehr  verdammt  sah.  Noch  an  demselben 
Tage  strafte  Caesar  biefür  ihn  dadurch  dass  er  den  Clodius  gegen 
ihn  loszulassen  drohte,  indem  dieser  jetzt  von  einem  Plebejer 
adoptiert  wurde,  um  Volkstribun  werden  zu  können.  Das  hatte 
gleich  auch  die  Wirkung  dass  Cicero  vor  der  Verhandlung  über 
Caesar 's  Ackergesetz  sich  aufs  Land  flüchtete,  von  Atticus  sich 
mit  der  Zumutung  ein  geographisches  Werk  zu  schreiben  quälen 
Hess,  und  nur  im  Stillen  seiner  Erbitterung  Luft  machte  durch 
eine  geheime,  erst  nach  seinem  Tod  zu  veröfiTentlichende  Ge- 
schichte seiner  Zeit.  Als  jedoch  Caesar  ihm  nach  seiner  Bück- 
kehr nach  Bom  neue  Anträge  machte  kostete  es  ihn  bereits  einigen 
Kampf  sie  abzulehnen;  Caesar  aber  war  endlich  dieser  gütlichen 
Versuche  müde  und  beschloss  sich  den  Bücken  vor  ihm  dadurch 
zu  decken  dass  er  ihn  aus  Bom  entferne,  obwohl  Cicero  im  Augen- 
blicke sich  ruhig  verhielt  und  sich  auf  Vertbeidigungsreden ,  wie 
für  Flaccus,  beschränkte. 

Clodius  war  nämlich  inzwischen  Volkstribun  geworden,  und 
nachdem  er  der  Zustimmung  des  Volks  und  der  Consuln  sich  ver- 
sichert hatte  trat  er  mit  dem  Antrag  auf:  wer  dnen  römischen 


312  Cicero. 

Bürger  ohne  Urteil  und  Recht  gelödtet  habe  solle  mit  dem  Banne 
belegt  werden.   Cicero  war  nicht  ausdrücklich  genannt,  aber  Jeder- 
mann wusste  dass  nur  er  gemeint  sei.   So  legte  er  denn  das  Trauer- 
gewand an  und  flehte  zu  dem  Volke ,  und  auch  der  Senat  beschloss 
seine  Trauer  zu  theilen;  die  Consuln  aber  verboten   die  Ausfüh- 
rung, und  Cicero  und  seine  Freunde  wurden  wo  sie  erschienen 
?on  Clodius  und  seiner  Bande  gehöhnt  und  misshandelt.      Ver- 
gebens flehte  Cicero  den  Pompeius,  vergebens  den  Caesar   um 
Verwendung  und  Schutz  an:   da  sank  ihm  der  Mut,  und  nächt- 
licber  Weile  entwich  er  aus  der  Stadt  (Mitte  des  März  696).   Am 
folgenden  Tage  setzte  Clodius   das  Gesetz    durch,    welches   den 
Cicero  in  die  Acht  erklärte  und  mit  gleicher  Strafe  alle  diejenigen 
bedrohte   die  ihm  Unterschiauf  geben  würden,  was  jedoch   bald 
dahin  gemildert  wurde  dass  er  400  Millien  von  Rom  wegverbannt 
sein  solle.     Die  Städte  meidend  zog  der  Verbannte  über  Vibo, 
Thurii  und  Tarent  Brundisium  zu,  wo  er  am  18.  April  ankam 
und  am  30.  April  unter  Segel  gieng.    In  Epirus  zu  bleiben  oder 
nach  Athen  zu  gehen  getraute  er  sich  nicht,  aus  Furcht  vor  den 
verbannten  Genossen  des  Catilina;  um  so  willkommener  war  es 
ihm  dass  Plancius,  der  Quästor  des  Proprätors  von  Makedonien, 
ihn   in  Dyrrachium  aufsuchte   und   nach  Thessalonich   in   seine 
Wohnung  mitnahm,  wo  sie  am  23.  Mai  anlangten.   Bis  zum  Herbste 
blieb  hier  Cicero  unter  dem  Schutze  des  Quäslors;  als  aber  die 
Nachricht    einlief   dass   Soldaten    seines   Feindes  Piso,    welcbeni 
Makedonien   bestimmt  war,    einrücken  werden,    kehrte  er  nach 
Dyrrachium  zurück,  von  wo  er  am  26.  November  einen  Brief 
schrieb  und  wo  er  vollends  blieb ,  weil  in  Rom  seine  Sache  eine 
günstigere  Wendung   zu    nehmen   anfieng.     Die   neuen   Consuln 
waren  ihm  gewogen,    und  unter   den  Volkstribunen  waren  seine 
eifrigen  Freunde  Sestius  und  Milo,  die  den  Clodius  mit  seinen 
eigenen  Wafl'en   bekämpften,  mit  geworbenen  Banden   und  6e- 
waltthaten;   zudem  war  Pompeius  selbst  auch  über  den  immer 
frecher    gewordenen    Clodius   aufgebracht   und    erlangte    endlich 
Caesar's  Zustimmung  zu  Cicero's  Zurückberufung.   Zwar  am  1.  und 
25.  Januar  697  konnte  diese  noch  nicht  durchgesetzt  werden; 
aber  ein  Senatsbeschluss   empfahl  den  Cicero  allen  Völkern  und 
Provinzialbeamten ,  dankte  dem  Plancius  und  den  Städten  die  ihn 
aufgenommen,    und   forderte   die   römischen    Bürger   ausserhalb 
Roms  auf  bei  der  Berathung  des  Rückberufungsantrages  zahlreich 
sich  einzufinden.     Am  4.  August  kam  derselbe  zur  Abstimmung; 


Leben.  313 

Pompeius  unterstülzle  ihn  durch  Worte,  Milo  durch  Aufstellung 
von  Bewaffneten' gegen  die  Angriffe  der  Clodianer,  die  Bewohner 
der  Municipien  waren  zahbeich  erschienen:  er  gieng  durch,  und 
Cicero  wurde  unbedingt  zur  Räckicehr  ermächtigt.  Auf  die  Nach- 
richt vom  Stande  der  Dinge  war  Cicero  schon  am  nämlichen  Tage 
von  Dyrrachium  aufgebrochen  und  betrat  am  5.  August  bei  Brun- 
disium  wieder  den  heissersehnten  Boden  der  Heimat.  Die  Ent- 
fernung von  ihr  hatte  er  ungefähr  mit  derselben  Fassung  ertragen 
wie  später  Ovid:  seine  Briefe  aus  dieser  Zeit  sind  nicht  viel 
weniger  thränenreich  als  Ovids  Tristien  und  Briefe  aus  dem  Pontus, 
und  Zeitlebens  blieb  ihm  die  Erinnerung  daran  und  stimmte  ihn 
noch  vorsichtiger  und  ängstlicher  als  er  schon  zuvor  gewesen  war. 

Cicero's  Reise  nach  Rom  glich  einem  Triumphzuge,  so  ström- 
ten aus  allen  Städten  die  Bewohner  ihm  jubelnd  entgegen.  Nach 
17 monatlicher  Abwesenheit  zog  er  am  4.  September,  bewillkommt 
von  den  Optimaten  und  umjauchzt  von  dem  Volke,  in  Rom  ein, 
begab  sich  sogleich  auf  das  Capitol,  um  den  Göttern  seinen  Dank 
darzubringen,  worauf  er  am  folgenden  Tage  (5.  Sept.)  bei  dem 
Senat  und  dem  Volke  je  in  einer  Bede  sich  bedankte. 

Die  politischen  Verhältnisse  traf  Cicero  in  Rom  so  wie  er 
sie  am  wenigsten  wünschte:  der  Senat  und  Pompeius  standen 
euiander  in  der  Art  gegenüber  dass  der  Zurückkehrende  sich 
zwischen  ihnen  entscheiden  musste;  und  doch  war  er  Beiden  ver- 
pflichtet, bedurfte  Beider  und  konnte  es  daher  mit  keinem  von 
Beiden  verderben.  Pompeius  hatte  eine  Theuruug  künstlich  her- 
beigeführt, um  sich  unentbehrlich  zu  machen  und  die  XJebertragung 
von  Truppen  und  Schiffen  zu  erzwingen ;  der  Senat  aber  fürchtete 
den  Ehrgeiz  des  Pompeius  und  sträubte  sich  dagegen  ihm  die 
Mittel  zu  dessen  Befriedigung  in  die  Hand  zu  geben.  Auf  welche 
Seite  Cicero  trat,  so  verletzte  er  dadurch  die  Gegenpartei;  er 
gebrauchte  daher  sein  altes  Mittel  —  von  der  Verhandlung  darüber 
wegzubleiben.  Aber  da  Ciodius  vor  dem  Volke  behauptete,  die 
Theuerung  sei  durch  das  Zusammenströmen  der  vielen  Fremden 
aus  Anlass  von  Cicero's  Zurückberufung  herbeigeführt,  so  sahen 
sich  die  Consuln  um  so  mehr  veranlasst  Cicero  zur  Theilnahme  an 
den  Berathungen  über  die  Massregeln  zur  Abhülfe  beizuziehen, 
und  jetzt  stellte  dieser  den  Vermittlungsantrag:  dem  Pompeius 
zwar  nicht  Heer  und  Flotte,  aber  doch  die  Oberaufsicht  über 
das  Getreidewesen  auf  fünf  Jahre  zu  übertragen.  Pompeius 
forderte    und    erhielt    ausserdem    fünfzehn    Legaten,    zu    deren 


314  Cicero. 

Erstem  er  den  Cicero  ernannte»  der  jedoch  die  Ehre  nur  unter 
der  Bedingung  annahm  dass  er  dabei  in  Rom'  bleiben  könne. 
Ganz  zu  Danke  aber  hatte  er  es  durch  seinen  Vorschlag  weder 
dem  Pompeius  noch  dem  Senate  gemacht:  jenem  enthielt  er  zu 
wenig,  diesem  immer  noch  zu  viel,  und  Clodius  behauptete  daher, 
der  Senat  beschuldige  den  Cicero  des  Verraths  und  Abfalls.  Doch 
entzog  ihm  der  Senat  seinen  Beistand  nicht  in  Sachen  seines 
Hauses. 

Clodius  hatte  nämlich  nach  Cicero's  Vertreibung  dessen  Haus 
auf  dem  Palatin  und  seine  der  Stadt  nahe  gelegenen  Villen  zer- 
stört und  den  Erlös  in  die  Staatskasse  gegeben,  einen  Theil  des 
Hausplatzes  weihen  lassen  und  einen  Tempel  der  Libertas  darauf 
errichtet.  Zurückberufen  suchte  Cicero  natürlich  auch  in  den 
Wiederbesitz  seines  Eigenthums  zu  gelangen.  Am  30.  September 
suchte  er  vor  den  Pontifices  in  der  Rede  für  sein  Haus  die 
materielle  und  formelle  Ungültigkeit  der  Weihe  zu  beweisen,  und 
das  Collegium  erkannte:  wenn  der  Weihende  nicht  ausdrücklich 
zum  Weihen  amtlich  bevollmächtigt  gewesen  sei,  so  sei  ein  re- 
ligiöses Hinderniss  der  Zurückgabe  des  Platzes  nicht  vorhanden. 
Ueber  das  Zutreffen  jener  Voraussetzung  hatte  nun  der  Senat  zu 
entscheiden ,  und  am  2.  October  beschloss  dieser  dass  eine  solche 
Vollmacht  nicht  ertheilt  worden  sei,  Cicero  daher  den  Platz  zurück- 
erhalten solle;  und  überdiess  wurden  ihm  für  sein  zerstörtes  Haus 
2  Hillionen,  für  das  Tusculanum  500,000  und  für  das  Cumanum 
250,000  Sest.  Entschädigung  zuerkannt,  welche  Schätzung  Cicero 
theilwelse  knauserig  findet.  Daraufhin  begann  Cicero  sein  Haus 
wieder  aufzubauen;  aber  so  gross  war  die  Anarchie  damals  in 
Rom  dass  am  3.  November  Clodius  die  Bauleute  verjagte  und  am 
11.  November,  gleichfalls  am  hellen  Tage  und  auf  offener  Strafe, 
den  Cicero  überfiel  und  in  ein  Haus  zu  flüchten  nöthigte. 

Ueberhaupt  bildet  in  diesen  Jahren'  der  Kampf  mit  Clodius 
und  die  Furcht  vor  ihm  den  Angelpunkt  in  Cicero's  Denken  und 
Handeln.  Der  Kampfplatz  war  bald  die  Curie,  bald  das  Forum, 
bald  die  Strasse.  Im  Senate  sprach  er  gegen  Clodiius  z.  Bi  Ende 
Decembers  697  und  hielt  Im  Jahre  698  wider  ihn  die  R^e  über 
die  Aussprüche  der  Wahrsager,  da  Clodius  den  Spruch  der 
Seher,  man  verachte  das  Heilige,  darauf  deutete  dass  Cicero  auf 
einem  der  Libertas  gehörigen  Platze  ein  Haus  baue,  wogegen 
Cicero  behauptete,  die  Götter  zürnen  wegen  der  Fre^l  des  Clodius. 
Auf   dem  Forum  vertheidigte  er  im  Februar  698  den  Hilo  und 


Leben.  315 

im  März  den  P.  Seslius  gegen  die  AngrifTä  des  Glodius  und  griff 
selber  den  Vatinius,  der  als  Zeuge  gegen  Sestius  aufgetreten 
war,  in  einer  Rede  an;  auch  bei  der  Vertheldigung  des  M.  Cae- 
lius  in  diesem  Jahre  machte  er  leidenschaftliche  Ausfälle  auf 
Glodius  und  dessen  Schwester.  Ausserdem  wissen  wir  dass  er 
im  J.  698  den  L.  Galpurnius  Bestia,  den  M.  Cispius  und  den 
L.  Sempronius  Atratinus,  sämmtlich  gegen  die  Anklage  auf  Wahl- 
bestechung, wiewohl  die  beiden  Ersten  vergeblich,  vertheidigte. 
Strassenkampf  führte  auch  Cicero  herbei,  indem  er  die  Tafeln 
welche  den  Verbannungsbeschluss  gegen  ihn  enthielten  mit  Ge- 
walt aus  dem  Capitol  entführte;  und  einen  Federkrieg  hätte  er 
dadurch  entzünden  können  dass  er  unter  dem  Namen  des  Voiks- 
tribunen  Racilius  eine  Schrift  gegen  Glodius  schrieb ,  wenn  dieser 
auf  solche  Waffen  sich  hätte  einlassen  mögen. 

Die  Angst  vor  Glodius  trieb  ihn  sich  in  mächtigen  Schutz  zu 
flüchten:  einen  solchen  aber  konnte,  das  sah  Gicero  täglich  mehr 
ein,  der  selbst  machtlose  Senat  nicht  bieten;  immer  näher  rückte 
er  daher  den  Triumvirn.  Unter  diesen  stand  er  mit  Pompeius 
schon  bisher  auf  leidlichem  Fusse;  aber  Pompeius  that  Nichts 
ohne  Gaesar,  und  diesen  musste  daher  Qcero  vor  Allem  sich  zu 
befreunden  suchen.  Schon  im  Jahr  697  hatte  er  für  ungewöhn- 
lich lange  Dauer  des  Dankfestes  aus  Anlass  von  Gaesar's  Siegen 
gestimmt;  aber  am  5.  April  698  machte  er  wieder  einen  Anlauf 
wider  Gaesar:  auf  seinen  Antrag  beschloss  der  Senat  dass  über 
den  Fortbestand  von  Gaesar's  Gesetz  vom  Jahr  695  über  die  Ver- 
theilung  campanischer  Aecker  (an  seine  Veteranen)  —  am  5.  Mai 
berathen  werden  solle.  Bald  darauf  kam  er  jedoch  zu  der  Ein- 
sicht dass  er  ein  „rechter  Esel"  gewesen  sei  auf  den  Senat  sich 
zu  verlassen  und  gegen  die  Triumvirn  anzukämpfen.  Er  fand 
daher  für  gut  nicht  nur  am  festgesetzten  Tage  auf  dem  Lande 
zu  sein,  sondern  sich  auch  während  dieser  Zeil  mit  einer  Lob- 
schrift auf  Gaesar  zu  beschäftigen.  Indessen  mochte  ihn  diess 
Selbstüberwindung  genug  gekostet  haben,  und  um  dafür  sich 
schadlos  zu  halten  setzte  er  nunmehr  dem  Lucceius  mit  der  Bitte 
zu,  eine  Lobschrift  auf  ihn  und  sein  Gonsulat  zu  verfassen,  indem 
er  naiv  genug  hinzufügte:  er  möchte  es  aus  Freundschaft  für  ihn 
mit  der  Wahrheit  und  der  Geschichte  nicht  so  genau  nehmen. 
Auch  verwendete  er  sich  jetzt  eilrig  für  die  Bewilligung  der  von 
Gaesar  verlangten  Summen  (zu  Sold)  und  Legaten ,  und  trug  durch 
seine  Rede  über  die  Gonsularpr<ovinzen  mit  dazu  bei  dass 


316  Cicero. 

die  Absicht  der  Optimalen,  nach  Abfluss  seiner  fünf  Jahre  die 
beiden  Gallien  dem  Caesar  abzunehmen  und  einem  Andern  zu  über- 
tragen, scheiterte;  wie  auch  die  Vertheidigiing  des  L.  Cornelius 
Balbus;  eines  Vertrauten  von  Caesar  und  Pompeius,  mit  dem 
Bestreben  zusammenhieng  sich  die  Gunst  der  Machthaber  zu  ge- 
winnen. 

Das  Frühjahr  und  einen  Theil  des  Sommers  699  brachte 
Cicero  wieder  auf  dem  Lande  zu,  mit  wissenschaftlichen  Arbeiten 
beschäftigt,  und  kam  erst  im  Juni  nach  Rom,  um  Milo  in  einem 
neuen  Reehtshandel  zu  vertheidigen.  Bald  darauf  war  er  selbst 
im  Senate  Gegenstand  eines  Angriffs  von  L.  Piso  Caesoninus,  der 
ärgerlich  darüber  war  dass  er  namentlich  auf  Cicero's  Betreiben 
in  der  Verwaltung  Makedoniens  einen  Nachfolger  erhalten  hatte. 
Cicero  erwiderte  den  Angriff  durch  eine  wütende,  von  Persön- 
lichkeiten der  massivsten  Art  strotzende  Rede  gegen  Piso, 
welche  den  Piso  zu  einer  Replik  in  gleichem  Stile  veranlasste. 
Im  Herbste  d.  J.  hielt  Pompeius,  der  in  diesem  Jahre  (699=55) 
mit  Crassus  Consul  war,  seine  grossen  Spiele,  für  welche  das 
erste  steinerne  Theater  in  Rom  errichtet  wurde,  und  ihm  zu  Liebe 
blieb  Cicero  während  derselben  in  der  Stadt,  so  sehr  er  sich 
sonst  dabei  langweilte,  vertheidigte  auch  auf  den  Wunsch  des 
Pompeius  dessen  Anhänger  Caninius  Gallus.  Mit  dem  andern  Con- 
sul und  Triumvir,  Crassus,  mit  dem  er  schon  lange  auf  gespann- 
tem Fusse  stand,  versöhnte  er  sich  gleichfalls  noch  vor  dessen 
Abgang  nach  Syrien.  Den  November  brachte  er  wieder  auf  dem 
Lande  zu,  und  die  Frucht  seiner  Müsse  in  diesem  Jahre  (699) 
waren  die  drei  Bücher  vom  Redner  und  das  Gedicht  über 
seine  Leidenszeit  (Verbannung,  de  temporibus  meis). 

Das  Jahr  700  war  für  Cicero  wieder  reich  an  Bedrängniss, 
indem  sein  Abhängigkeitsverhältniss  gegenüber  von  den  Triumvirn 
immer  offener  an  den  Tag  kam  und  ihm  Verpflichtungen  und 
Opfer  auferlegte  die  mit  der  Ehre  eines  Mannes  kaum  vereinbar 
waren,  aber  ihm  durch  die  Angst  vor  Clodius  abgepresst  wurden, 
der  für  das  Jahr  702  sich  um  die  Prätur  bewarb.  Zwar  konnte 
diese  Gefahr  ihren  Stachel  dadurch  verlieren  dass  Milo  sich  für 
dasselbe  Jahr  um  das  Consulat  bemühte;  aber  der  Erfolg  von 
dessen  Bemühungen  war  selbst  wieder  grösstentheils  von  den 
Triumvirn  abhängig,  und  so  musste  ihm  an  deren  Gunst  Alles 
gelegen  sein.  Am  besten  stand  er  unter  diesen  damals  mit  Caesar. 
Sein  Bruder  Quintus,  der  sich  als  Legat  Caesar's  in  Gallien  be- 


Leben.  317 

Fand,  diente  hiebe!  als  Verniittler,  und  Caesar  schien  auFCicero's 
Freundschaft  den  grössten  Werth  zu  legen.  Er  erwies  ihm  Auf- 
merksamkeiten aller  Art,  blieb  mit  ihm  in  ununterbrochenem 
Briefwechsel,  sogar  von  Britannien  aus,  nahm  die  von  ihm  Em- 
pfohlenen freundlich  auf,  überhäufte  Quintus  mit  Gunstbezeugungen, 
und  streckte  dem  Bruder  wohl  auch  Geld  vor.  Dafür  trug  denn 
dieser  lebhafte  Begeisterung  für  Caesar  zur  Schau,  begann  ein 
Gedicht  an  ihn  und  übernahm  für  ihn  in  Rom  Privatgeschäfte. 
Weniger  eng  war  sein  Verhältniss  zuPompeius,  der  sich  immer 
unzuverlässiger  benahm,  so  dass  man  nie  recht  wusste  wie  man 
mit  ihm  daran  sei,  und  in  allem  Wichtigen  sich  auf  Caesar's  Ent- 
scheidung bezog.  Zudem  machten  die  allzuhäufig  und  allzusicht- 
bar an  den  Tag  tretenden  Gelöste  nach  der  Dictatur  den  Verkehr 
mit  ihm  unbehaglich  und  unheimlich,  um  so  mehr  da  alsdann 
Milo's  Consulat  unmöglich  wurde.  Ein  schwacher  Trost  hiefür 
war  es  dass  Pompeius  den  Cicero  zu  seinem  Ehrenlegaten  für 
Spanien  ernannte.  So  gering  aber  die  Leistungen  des  Pompeius 
für  Cicero  waren,  so  masslos  waren  seine  Anforderungen  an  ihn. 
Die  drückendste  unter  diesen  war  die  Zumutung  den  Gabinius 
zu  vertheidigen ,  während  doch  Cicero  seinen  tödtlichen  Hass  gegen 
ihn  schon  zu  wiederholten  Malen  bekundet  hatte.  Allein  er  hatte 
ja  kurz  zuvor  seinen  kaum  minder  heftigen  Hass  gegen  Vatinius 
dem  Streben  nach  der  Gunst  der  Machthaber  zum  Opfer  gebracht 
und  hatte  auch  ihn  vertheidigt,  wie  viele  Andere  in  diesem  Jahre; 
warum  sollte  er  dem  Gabinius  den  Beistand  seiner  Beredtsamkeit 
versagen?  Zwar  dem  ersten  Anlaufe  des  Pompeius  widerstand 
er  noch,  und  that  ihm  nur  das  zu  Gefallen  dass  er  auch  nicht 
offen  feindselig  gegen  Gabinius  auftrat,  me  er  am  liebsten  gethan 
hätte;  als  aber  Pompeius  seine  Bitte  dringender  wiederholte  gab 
Cic.  sich  wirklich  zum  Vertheidiger  von  dessen  Werkzeug  Gabinius 
her,  wider  die  neue  Anklage  auf  Erpressung  und  Wahlumtriebe. 
Dass  diese  Vertheidigung  erfolglos  war  und  Gabinius  verurteilt 
wurde  wird  dem  Cicero  selbst  am  wenigsten  leid  gewesen  sein, 
wie  wohl  auch  bei  der  sogleich  nachfolgenden  von  Caesar's  Günst- 
ling Rabirius  Postumus,  der  in  Gabinius' Schuld  mitverflochten 
war.  Aber  durch  dieses  Auftreten  musste  die  Achtung  vor  Cicero's 
Charakter  nothleiden,  seine  Beredtsamkeit  an  Einfluss  verlieren. 
Auch  die  Siege  welche  er  in  diesem  Jahre  auf  dem  Markte 
davontrug  kommen  wohl  zum  kleinsten  Theile  auf  Rechnung  seiner 
Beredtsamkeit.    So  namentlich  der  in  der  Sache  des  Aemiilus 


S18  Cicero. 

Scaurus.  Dieser  war  wegen  Erpressungen  die  er  auf  Sardinien 
begangen  hatte  angeklagt,  und  seine  Schuld  beweisen  schon  die 
grossartjgen  Mittel  welche  Scaurus  zu  seiner  Vertheidigung  auf- 
bot. Neun  Consulare  traten  mit  gunstigen  Aussagen  über  ihn 
auf,  sechs  Vertheidiger  sprachen  für  ihn,  und  unter  diesen  Horten- 
sius  und  Cicero,  welcher  Letztere  gern  die  Gelegenheit  benutzte 
um  auch  die  Partei  des  Senats,  von  der  er  abtrünnig  geworden 
war,  sich  zu  verpflichten,  zumal  da  Scaurus  persönlich  ihm 
nützlich  werden  konnte,  sofern  er  sich  um  das  Consulat  für  das 
Jahr  701  bewarb  und,  wenn  er  Gonsul  wurde,  die  Bewerbung 
des  Milo  für  das  nächste  Jahr  wesentlich  zu  fördern  im  Stande 
war.  Wirksamer  aber  als  alle  Worte  seiner  Vertheidiger  war 
das  Geld  das  Scaurus  mit  vollen  Händen  unter  seine  Richter  ver- 
theilte.  Seipe  Rede  für  Scaurus  veröffentlichte  Cicero,  wie  er 
auch  die  für  Plan cius  in  diesem  Jahre  niederschrieb  und  einige 
Wochen  früher  die  für  Fonteius.  Daneben  arbeitete  er  rüstig 
an  seiner  Schrift  über  den  Staat,  die  jedoch  erst  in  einem  der 
folgenden  Jahre  fertig  gemacht  und  herausgegeben  wurde. 

Im  Jahre  701  wurde  Cicero  auf  den  Vorschlag  von  Pompeius 
und  Hortensius  zum  Augur  gewählt,  an  die  Stelle  des  von  den 
Parthern  erschlagenen  Crassus;  aber  die  für  Cicero  viel  wichtigere 
Unterstützung  der  Wahlbewerbung  Milo's  verweigerte  Pompeius, 
indem  er  sich  selbst  die  Gewalt  zuzuwenden  gedachte.  Die  Strassen- 
kämpfe  zwischen  den  Banden  des  Milo  und  des  Clodius,  welche 
während  dieses  Jahres  besonders  lebhaft  betrieben  wurden  und 
durch  die  auch  Cicero  wieder  in  Lebensgefahr  gerieth,  waren 
dem  Pompoius  erwünscht,  weil  dadurch  Er  nölhig  wurde.  Wirk- 
lich begann  das  Jahr  702  ohne  dass  die  Wahl  von  Consuln  und 
Prätoren  zu  Stande  gekommen  wäre ,  weil  immer  eine  Partei  die 
Wahlen  der  andern  störte.  Doch  schon  am  20.  Januar  702  erhielt 
die  Sachlage  eine  neue  Wendung.  Noch  am  19.  Januar  hatte 
Cicero  mit  Qodius  zusammen  friedlich  an  einer  Testamentsunter- 
zeichnung Theil  genommen,  obwohl  sie  wenige  Wochen  zuvor  im 
Senate  hart  an  einander  gerathen  waren,  wobei  Cicero  die  in 
Bruchstücken  noch  vorhandene  Anfrage  (bei  Clodius)  in  Betreff 
der  Schulden  von  Milo  hielt.  Am  20.  Januar  aber  erfolgte 
bei  fiovillä  der  Zusammenstoss  zwischen  Milo  und  Clodius,  der 
den  Tod  des  Letzteren  zur  Folge  hatte.  Der  Eindruck  den  diese 
„Schlacht  bei  Bavillä"  auf  Cicero  machte  war  zunächst  der  un- 
geschminkter Freude:  des  lange  gefürchteten  Feindes  sah  er  sich 


Leben.  319 

jetzt  entledigt,  er  hdtte  von  nun  an  wenigstens  für  sein  Leben 
nieht  melir  zu  fürchten,  und  von  diesem  Tage  datierte  er  daher 
einen  neuen  Abschnitt  in  seinem  Leben.  Doch  fehlte  es  auch 
nicht  an  Unannehmlichkeiten  für  ihn.  Man  bezeichnete  ihn  öffent- 
lich als  den  intellektuellen  Urheber  von  Clodius'  Ermordung ,  und 
Pompeius  nahm  eine  entschieden  feindliche  Stellung  gegen  Milo 
ein.  Er  that  als  bedrohe  Milo  auch  sein  Leben  und  erlangte 
unter  diesem  Verwände  eine  Leibwache,  und  dass  er  Consul  ohne 
Amtsg^ossen  wurde  gaben  zuletzt  selbst  die  erschrockenen  Op- 
timaten  zu,  in  ihrer  Verblendung  hocherfreut  dass  nur  wenigstens 
die  geförchtete  Dictatur  an  ihnen  vorfibergieng.  Für  die  Ver- 
handlung des  Proceases  von  Milo  gab  Pompeius  ganz  neue  Be- 
stibimiHigen  und  umstellte  am  Entscheidungstage,  den  8.  April  702, 
den  Markt  mit  Bewaffneten.  Deren  Anblick  und  das  Geschrei 
der  Clodianer  machte  den  Cicero,  der  sich  der  Vertheidigung 
Milo's  nicht  bätte  entziehen  können,  so  befangen  dass  er  kurzer 
und  matter  sprach  als  gewöhnlich.  Milo  wurde  verurteilt,  und 
Cicero  gab  nachträglich  zu  dessen  Vertheidigung  eine  Rede  heraus, 
welche  schon  im  AUerthum  als  Meisterstuck  bewundert  wurde. 
Deo  Milo  zu  retten  hätte  aber  diese  so  wenig  vermocht  wie  die 
wirklich  gehaltene,  welche  nachgeschrieben  wurde  und  noch  zur 
Zeit  des  Quintilian  und  AsooniHS  vorhanden  war;  sein  Schicksal 
war  schon  tm  Voraus  beschlossen  und  besiegelt.  Um  die  Schul- 
den zu  decken  welche  Milo  in  Rom  hinterliess  wurden  dessen 
Güter  versteigert,  und  man  viarf  dem  Cicero  vor  dass  er  dabei 
unter  fremdem  Namen  um  billigen  Preis  einen  Theil  für  sich 
erstanden  habe,  wogegen  er  sich  zwar  zu  ve;rtheidigen  suchte, 
aber  auf  Hiebt  ganz  überzeugende  Weise. 

Nachdem  Milo  beseitigt  war  hatte  Pompeius  kein  Interesse 
mehr  deissen  Werkzeuge  gleichfalls  bestraft  zu  sehen;  Cicero  ge- 
lang datier  die  Vertheidigung  des  lü.  Saufeius;  ja  Pompeius 
liess  jetzt  sogar  seine  eigenen  Werkzeuge  fallen,  und  Cicero  er- 
lebte 80  die  Freude  dass  am  Schlüsse  des  Jahres  702  seine  An- 
klage des  gewesenen  Volkstribunen  Munatius  Plauens  dessen  Ver- 
urteilung zur  Folge  hatte. 

Inzwischen  hatte  sich  Cicero 's  Stellung  bedeutend  verschlim* 
meüt.  Durch  seine  letzten  Eribige  kühn  gemacht  versuchte  näm- 
lich i^mpeius  atlmahlich  von  Caeßar  sich  zu  emancipieren  und 
über  ihn  sich  emporzuschwingen.  Auf  Caesar  gemünzt  war  das 
Gesetz  des  Pompeius  dass  Abwesende  sidi  um  kein  Amt  sollen 


320  Cicero. 

bewerben  döfren;  kaum  aber  war  es  gegeben»  so  bereute  Pom- 
peius  selbst  seinen  Mut  und  gab  dazu  einen  Nachtrag,  worin  Ton 
dem  Gesetz  eine  Ausnahme  gemacht  wurde  zu  Gunsten  derer 
welche  besondere  Erlaubniss  dazu  erhalten  hätten»  wie  das  bei 
Caesar  der  Fall  war.  Durch  dieses  Schwanken  des  Pompeius 
gerieth  Cicero  arg  in  die  Klemme,  und  während  er  an  Caesar 
schrieb  er  habe  Alles  gelban  um  die  Ausnahme  zu  seinen  Gunsten 
durchzusetzen  rühmte  er  sich  später  in  den  Philippiken  er  habe 
dagegen  gestimmt.  Nachdem  so  Pompeius  das  Hinderniss  dass 
Caesar  ein  zweites  Consulat  erlange  selbst  wieder  weggeräumt 
hatte  wollte  er  wenigstens  verhindern  dass  derselbe  nach  dem 
Consulate  wieder  eine  Provinz  verwalte,  und  liess  daher  noch 
im  Jahre  702  den  vorjährigen  Senatsbescbluss  erneuern:  dass 
zwischen  der  Bekleidung  des  Consulats  oder  der  Prätur  und  dem 
Antritt  einer  Provinz  ein  Zwischenraum  von  fünf  Jahren  zu  ver- 
messen habe.  In  die  dadurch  für  die  nächste  Zeit  entstehende 
Lücke  sollten  diejenigen  gewesenen  Consuln  und  Prätoren  treten 
welche  bisher  noch  keine  Provinz  verwaltet  hätten.  Unter  diese 
gehörte  auch  Cicero,  und  ihm  wies  das  Loos  Kilikien  zu.  Was 
er  seit  der  Lehre  die  er  nach  seiner  Quästur  empfangen  so  sorg- 
sam zu  vermeiden  gewusst  hatte,  längere  Entfernung  aus  Rom, 
dem  war  also  nicht  mehr  zu  entgehen;  und  obwohl  der  Zeit- 
punkt hiefür  kein  ungünstiger  war,  sofern  ihn  bei  dem  wachsen- 
den Zwiespalt  zwischen  Pompeius  und  Caesar  seine  Abwesenheit 
vor  der  Nöthigung  bewahrte  aus  seiner  Mittelstellung  herauszu- 
treten und  für  einen  von  Beiden  Partei  zu  ergreifen ,  so  war  ihm 
die  Trennung  von  Rom  und  die  Verweisung  auf  einen  verhältniss- 
mässig  engen  und  entfernten  Schauplatz  doch  immerhin  schmerz- 
lich ,  und  unablässig  war  er  daher  bemüht  zu  bewirken  dass  seine 
Amtszeit  wenigstens  nicht  über  ein  Jahr  hinaus  verlängert  werde. 
Nach  dreimonatlicher  Reise  (über  Athen)  kam  Cicero  am 
31.  Juli  703  in  seiner  Provinz,  zu  Laodikeia,  an.  Durch  den 
glänzenden  Empfang  der  ihm  überall  bereitet  wurde  fühlte  er 
sich  höchlich  geschmeichelt,  wogegen  die  Unfreundlichkeit  die 
sein  Vorgänger  Appius  Claudius  an  den  Tag  legte  ihn  einiger- 
massen  verstimmte.  Cicero  hatte  in  der  Provinz  Gelegenheit  sich 
Kriegsruhm  zu  erwerben,  mehr  sogar  als  ihm  lieb  war;  denn 
nicht  vor  lauter  Freude  klopfte  sein  Herz  bei  der  Nachricht  dass 
die  Parther  einen  Einfall  in  seine-  Provinz  unternommen  haben. 
Doch  verzog  sich  die  Gefahr  wieder  glücklich,   und  um  die  Zu- 


Leben.  321 

• 

rüstungen  zum  Kriege  nicht  vergeblich  gemacht  zu  haben  beschloss 
Cicero  nun  einen  Streifzug  gegen  die  räuberischen  Stämme  auf 
dem  Amanusgebirge.  Am  13.  October  703  erstieg  er  ihre  Berge, 
besetzte  die  Ausgänge,  eroberte  und  zerstörte  die  Kastelle  und 
hieb  die  Bewohner  nieder.  Die  Kriegserfahrung  welche  seine 
Legaten,  namentlich  sein  Bruder  Quintus  und  Pomptinius,  be- 
sassen  kam  ihm  trefflich  zu  Statten,  und  er  wurde  in  Folge  des 
glucklichen  Kampfes  von  seinem  Heere  als  Imperator  begrüsst, 
eine  Ehre  welche  in  der  damafligen  Zeit  durth  Missbrauch  be- 
deutend im  Werthe  gesunken  war. 

Der  glückliche  Verlauf  erregte  Lust  nach  Mehr,  und  damit 
es  zum  Triumphe  reiche  griff  Cic.  nun  auch  die  sogenannten  freien 
Kiiikier  an,  die  ihm  Nichts  zu  Leide  gethan  hatten  als  dass  sie 
frei,  d.  h.  noch  nicht  den  Bömern  unterworfen  waren.  Nach 
47tägiger  Belagerung  wurde  am  19.  December  deren  Feste  Pin- 
denissus  erobert  und  ansehnliche  Beute  gemacht,  die  Cicero  den 
Soldaten  überliess  und  nur  die  Gefangenen  und  Pferde  der  Staats- 
kasse vorbehielt.  Hiei*auf  entliess  er  das  Heer  unter  Anfuhrung 
seines  Bruders  in  die  Winterquartiere,  und  begab  sich  selbst 
nach  Laodikeia,  wo  er  sich  bis  1.  Mai  704  den  Geschäften  der 
Verwaltung  und  Rechtspflege  widmete  und  durch  seine  Leutselig- 
keit, Milde  und  Gerechtigkeit  Alles  entzückte,  um  so  mehr  da 
sein  Vorgänger  von  dem  Allem  das  Gegentheil  -bewiesen  hatte 
und  daher  sein  Verdienst  in  um  so  hellerem  Liebte  strahlte. 
Besonders  erfreut  waren  die  Provtnzialen  über  die  Uneigen- 
nutzigkeit  die  Cic.  nicht  nur  selbst  bewährte  sondern  auch  seiner 
Umgebung,  zum  Theil  zu  deren  Verdrusse,  auferlegte,  wie  er 
auch  gegenüber  von  den  Zumutungen  von  Freunden  in  Rom,  be- 
sonders des  grossen  Tyrannenvertilgers  Brutus,  standhaft  blieb  und 
zuletzt  sogar  ärgerlich  wurde.  Zwar  konnte  er  nichtsdestoweniger 
nach  Abfluss  seines  Jahres  das  Sümmchen  von  2,200,000  Sest. 
als  erspart  zurücklegen;  aber  wir  haben  allen  Grund  seiner  Ver- 
sicherung zu  glauben  dass  er  sich  diess  einzig  auf  gesetzmässigem 
Wege  erworben  hatte,  und  können  daraus  nur  auf  die  Summen 
schliessen  welche  minder  gewissenhafte  Provinzialstattbalter  davon- 
tragen mochten.  Auch  das  ist  von  keiner  Erheblichkeit  was 
Drumann  VL  S.  141  bemerkt:  „Seine  Tugend  wurzelte  nicht  in 
dem  Abscheu  gegen  das  Unrecht;  sie  hatte  mit  den  Vergehen 
der  Grossen  über  welche  er  sich  in  der  äussern  Erscheinung  so 
sehr  erhebt  eine  und   dieselbe  Quelle,  in  der  Selbstsucht:  jene 

Tcuffcl,  Studien.  21 


322  Cicero. 

verlangte  nach  Gelde,  und  ihn  nach  Ruhm/'  Aber  eine  Ruhm- 
liebe welche  zu  ehrenhaftem  Handeln  antreibt  ist  selbst  auch 
achtungswerth  und  kann  die  Verdienstlichkeit  eines  solchen  Han- 
delns in  keiner  Weise  mindern.  Dagegen  war  es  allerdings  ein 
Fehler  dass  Cic.  nach  Abfluss  seines  Jahres  die  Provinz  ihrem 
Schicksale  uberliess,  indem  er  nur  darauf  bedacht  war  selbst 
keinen  Tag  über  die  gesetzliche  Frist  in  der  Provinz  zu  bleiben, 
und  sie  daher  einem  Quästor  übergab  von  dessen  Unerfahrenheit 
er  selbst  sich  wenig  Gutes  versprach,  statt  seinem  Bruder  und 
Legaten  Quintus,  der  aber  wenig  Lust  hatte  sie  zu  übernehmen 
und  von  welchem  Cicero  fürchtete  er  möchte  durch  seine  Leiden- 
schaftlichkeit wieder  verderben  was  er  selbst  gut  gemacht  und 
durch  ein  dem  Benehmen  aller  andern  Statthalter  ähnliches  Ver- 
fahren den  Glanz  wieder  auslöschen  den  er  selbst  dem  Namen 
der  Cicero  verschafft  hatte.  Mochte  ein  Anderer  die  Provinz 
misshandeln,  wenn  es  nur  kein  Cicero  war.  Zeigt  sich  darin 
unverkennbar  Selbstsucht  und  beweist  es  dass  es  dem  Cicero 
nicht  um  die  Provinz  selbst  zu  thun  war,  so  ist  andererseits  zu 
bedenken  dass  man  einem  einjährigen  Statthalter  nicht  zumuten 
kann  das  Wohl  eines  Landes  so  auf  dem  Herzen  zu  tragen  und 
sich  damit  so  zu  identificieren  wie  ein  Erbfürst. 

Cicero  eilte  aus  der  Provinz  wegzukommen,  nicht  nur  weil 
er  eine  Art  Heimweh  hatte,  sondern  besonders  auch  weil  er  sich 
hier  doch  eigentlich  nicht  auf  seinem  Posten  fühlte  ^  weil  er  Auf- 
gaben heranziehen  sah  deren  Lösung  er  sich  nicht  gewachsen 
wusste,  wie  namentlich  den  Krieg  mit  den  Parthern.  Schon 
bei  seiner  Abreise  aus  Rom,  dann  auf  der  Reise  und  von  der 
Provinz  aus  bestürmte  er  daher  den  Atticus,  Hortensius,  die 
beiden  Consuln  des  Jahres,  und  wen  er  sonst  von  Einfluss  kannte, 
um  ihre  Verwendung,  dass  er  nicht  über  ein  Jahr  in  Kilikien 
bleiben  müsse ,  und  während  sonst  die  Statthalter  die  Verlängerung 
ihrer  Verwaltungszeit  als  die  höchste  Ehre  und  ein  besonderes 
Glück  betrachteten,  so  wehrte  Cicero  sich  hiegegen  mit  Händen 
und  Füssen  und  zählte  die  Tage  bis  zum  30.  Juli,  dem  Tage 
seiner  Erlösung. 

Daneben  vergass  er  aber  auch  nicht  für  seine  kriegerischen 
Thaten  sich  um  die  Auszeichnung  eines  Dankfestes  zu  bewerben, 
und  er  gieng  in  dieser  Beziehung  die  damaligen  Consuln,  den 
Cato,  alle  seine  Bekannte,  zuletzt  sogar  seine  Feinde  um  ihre 
Fürsprache  an.     Das  Dankfest  wurde  bewilligt,  obwohl  Cato  nicht 


Leben.  323 

dafür  war;  aber  es  war  schon  für  Unbedeutenderes  zuerkannt 
worden,  und  so  that  die  Mehrheit  des  Senates  dem  verdienten 
Manne,  weil  er  einmal  darauf  Werth  legte,  gern  diesen  Gefallen. 
Aber  dem  Dankfest  folgte  meist  der  Triumph;  und  nachdem 
man  dem  Cicero  jenes  verwilligt  hatte  so  gelüstete  ihn  auch  Dach 
diesem.  Lange  verfolgte  er  diesen  Gedanken,  und  gab  ihn  um 
so  weniger  auf  weil  er  als  Candidat  des  Triumphes  auch  nach 
seiner  Ruckkehr  die  Stadt  nicht  betreten  durfte,  und  somit  einen 
erwünschten  Anlass  hatte  von  den  verfänglichen  Senatsverhand- 
lungen welche  den  Ausbruch  des  Krieges  zwischen  Caesar  und 
Pompeius  herbeiführten  ferne  zu  bleiben.  Sogar  noch  als  in  den 
Stürmen  des  Bürgerkrieges  das  Staatsschiff  in  Trümmer  gieng 
hielt  Cicero  diesen  Flitter  krampfhaft  umfasst  und  schleppte  noch 
ein  ganzes  Jahr  lang  die  Lictoren ,  die  Zeichen  seines  Imperium, 
mit  sich  herum,  auf  seiner  Flucht  aus  Italien,  im  Lager  des 
Pompeius,  und  noch  bei  seiner  Rückkehr  aus  Griechenland,  und 
Caesar  köderte  ihn  namentlich  auch  dadurch  dass  er  ihm  erlaubte 
die  Lictoren  noch  länger  fortzubehalten. 

Tief  aufalhmen  mochte  Cicero  als  der  30.  Juli  (704)  anbrach 
ohne  dass  die  gefürchteten  Pariher  einen  Angriff  gemacht  hätten; 
er  übergab  die  Provinz  dem  neuernannten  blutjung#h  Quästor 
M.  Caelius  Caldus  und  trat  die  Rückreise  an.  Am  3.  August 
schiffte  er  sich  zu  Sida  in  Pamphylien  ein,  und  nahm  seinem 
Sohne  und  Neffen  zu  Liebe  den  Weg  über  Rhodus,  wo  er  die 
Nachricht  von  dem  Tode  des  Hortensius  erhielt.  Von  da  über 
Ephesus  weiter  nach  Athen,  wo  er  einige  Zeit  verweilte,  dann 
nach  Akarnanien  und  von  da  nach  Korkyra,  wo  ihn  die  Stürme 
wieder  zu  einigem  Aufenthalte  nöthigten,  so  dass  er  erst  am 
23.  November  aufbrechen  konnte  und  am  25.  November  zu 
Brundisium  anlangte.  Auch  hier  wieder  blieb  er  einige  Zeit  und 
kam  erst  am  6.  December  ins  Sabinische,  hatte  unterwegs  wieder- 
holte Zusammenkünfte  mit  Pompeius,  und  kam  endlich  am  4.  Januar 
705  vor  den  Thoren  Roms  an,  wo  ihm  ein  glänzender  Empfang 
zu  Theil  wurde. 

Cicero  kam  gerade  recht  um  den  Bürgerkrieg  ausbrechen  zu 

sehen.   Am  1.  Januar  705  hatte  der  Senat  das  Anerbieten  Caesar's, 

seine  Provinzen  abzugeben  wofern  auch  Pompeius  auf  die  seinige 

verzichte,  mit  Geringschätzung  verworfen,  und  es  war  damit  der 

Krieg  erklärt  zwischen  den  beiden  Männern  an  die  sich  Cicero 

bisher  gleichmässig  angelehnt  halte;  er  musste  sich  nun  für  einen 

21* 


324  Cicero. 

von  Beiden  entscheiden.  Und  doch  zogen  ihn  Beide  an  sich, 
Beide  betrachteten  und  behandelten  ihn  als  den  Ihrigen,  und  Beiden 
war  er  verpflichtet;  für  den  Einen  sprach  ferner  der  grössere 
Schein  des  Rechtes,  für  den  Andern  die  grössere  Macht  und 
Entschlossenheit:  liurz  —  Cicero  sah  sich  in  tödtiicher  Verlegen- 
heit, und  wünschte  manchmal  er  wäre  noch  in  seiner  Provinz. 
Die  Entscheidung  fiel  ihm  schwer,  und  er  wählte  daher  den  Aus- 
weg sich  nicht  zu  entscheiden,  die  Politik  des  Zauderns,  Zuwartens, 
der  Vermittlungsversuche.  Seine  Briefe  an  Attlcus  aus  dieser 
Zeit  (bes.  Buch  VII.)  liefern  den  Beweis  wie  gross  seine  Unent- 
schlossenheit  in  dieser  schwierigen  Lage  war.  Bald  beschliesst 
er  möglichst  lange  neutral  zu  bleiben,  dann  entscheidet  er  sich 
für  Frieden  mit  Caesar  um  jeden  Preis,  gleich  darauf  spricht  er 
den  Vorsatz  aus  gänzlich  mit  Pompeius  zu  gehen,  dann  wieder 
der  Heerde  der  Optimaten  sich  anzuschliessen  und  mitzulaufen 
wo  diese  hingehen:  und  sein  Benehmen  ist  so  schwankend  dass 
sich  diese  entgegengesetzten  Plane  alle  darin  als  ausgeführt  nach- 
weisen lassen ,  indem  er  heute  nach  dem  einen  und  morgen  nach 
dem  entgegengesetzten  Plane  verfuhr. 

Am  6.  Januar  wurden  alle  im  Amte  stehenden  Behörden  in 
und  aussei  Rom,  also  auch  Cicero,  durch  einen  Senatsbeschluss 
zum  Schutze  des  Staates  aufgefordert,  und  gleich  darauf  ItaUen 
in  Kreise  getheilt  Behufs  der  Herbeischaffung  von  Truppen  und 
Geld.  Auch  Cicero  konnte  sich  nicht  entziehen,  und  er  erhielt 
Campanien  zugewiesen.  Schien  er  damit  für  Pompeius  Partei 
ergriffen  zu  haben ,  so  bemühte  er  sich  sogleich  wieder  diess  auf 
den  blosen  Schein  zu  beschränken,  indem  er  auf  dem  über- 
nommenen Posten  absichtlich  Nichts  tbat  und  von  dieser  seiner 
Unthätigkeit  den  Caesar  in  Kenntniss  setzte.  Um  diese  seine 
Achselträgerei  vor  sich  selbst  zu  rechtfertigen  suchte  er  Alles 
hervor  was  er  an  Pompeius  auszusetzen  hatte:  so  fühlte  er  sich 
verletzt  dass  man  bei  den  Unterhandlungen  mit  Caesar  ihn  nicht 
zuzog  und  rächte  sich  durch  bitteren  Spott  über  die  damit  Be- 
auftragten, nahm  es  ferner  übel  dass  Pompeius  ihm  nicht  mehr 
Aufmerksamkeit  schenke,  seine  Rathschläge  nicht  befolge,  seine 
Plane  ihm  nicht  mittheile,  während  doch  Pompeius  wissen  musste 
wie  wenig  zuverlässig  für  ihn  Cicero  sei.  Ja  dieser  verrieth 
sogar  darüber  Empfindlichkeit  dass  Pompeius  im  grössten  Gedränge 
der  Geschäfte  ihm  nicht  ausführlichere  Briefe  schreibe.  Alles 
dieses  beweist  nur  wie  gern  Cicero  den  Abfall  den  er  thatsächlicli 


Leben.  325 

an  Pompeius  begieng,  während  er  ihm  zu  dienen  schien,  vor 
sich  selbst  und  Andern  begründet  hätte.  Am  20.  Februar  705 
entbot  ihn  Pompeius  zu  sich  nach  Brundisium ,  Cicero  behauptete 
aber  dass  ihm  der  Weg  dahin  von  Caesar's  Truppen  abgeschnit- 
ten sei,  und  kam  nicht;  vielmehr  sprach  er  jetzt,  wo  Caesar 
rasch  und  siegreich  vorrückte,  die  Ueberzeugung  aus  dass  es 
dem  Pompeius  eben  so  wenig  als  dem  Caesar  um  die  Republik 
zu  thun  sein,  dass  Jener  wie  Dieser  selbstsüchtige  Zwecke  ver- 
folge. Er  hütete* sich  daher  nicht  nur  sorgfältig  vor  förmlicher 
Entscheidung  für  Pompeius,  sondern  er  blieb  auch  mit  Caesar 
und  dessen  Anhängern  in  ununterbrochener  brieflicher  Verbindung, 
und  Caesar  wusste  durch  wohlberechnete  Schmeicheleien  ihn  noch 
liefer  in  sein  Netz  hineinzulocken :  auch  ertrug  er,  ohne  Ver- 
druss  zu  verrathen,  Cicero's  fortwährende  Mahnungen  zum  Frieden, 
obwohl  sie  ihm  so  wenig  erbaulich  sein  mochten  wie  sie  es  dem 
Pompeius  waren;  Cicero  aber  rühmte  noch  lange  von  sich  dass 
er  immer  zum  Frieden  geratben  habe.  Und  doch  hatte  ein  solcher 
Rath  wenig  Werth,  wenn  man  nicht  auch  die  Möglichkeit  nach- 
wies ihn  zu  befolgen ;  diese  Möglichkeit  war  aber  ^  nicht  vorhan- 
den, vielmehr  war  die  Republik  so  unwiederbringlich  dem  Unter- 
gange verfallen,  und  die  Machthaber  standen  einander  so  schroff 
und  so  unversöhnlich  gegenüber,  dass  der  Krieg,  als  doch  end- 
lich zu  einem  Ergebnisse,  einem  Ende  der  qualvollen  Spannung 
führend,  eine  wahre  Wohlthat  war,  wie  ein  Gewitter  nach  langer 
Schwüle.  Andererseits  hütete  sich  Cicero  aber  ebenso  ängstlich 
vor  offener  Parteinahme  für  Caesar;  ihm  schwebte  immer  der 
Fall  vor,  der  später  auch  wirklich  seinen  Tod  herbeigeführt  hat, 
dass  nämlich  die  beiden  Gegner  sich  doch  noch  mit  einander 
versöhnen  und  dass  dann  Einer  dem  Andern  seine  Feinde  zum 
Opfer  überlasse.  Dabei  trug  er  noch  fortwährend  Anhänglichkeit 
an  Pompeius  auf  der  Zunge:  in  Italien,  schrieb  er^  wolle  er 
mit  Pompeius  in  den  Tod  gehen  (wiewohl  er  der  Gelegenheit 
dazu  eifrig  aus  dem  Wege  gieng);  aber  mit  ihm  nach  Griechen- 
land zu  ziehen ,  dazu  konnte  er  sich  nicht  entschliessen.  Hundert- 
mal erwog  er  alle  Gründe  für  und  wider,  zählte  sie  dem  Allicus 
vor  und  Hess  sie  von  ihm  sich  vorzählen,  und  that  dann  am 
Ende  doch  Nichts.  Die  unerheblichsten  Ausflüchte  trug  er  mit 
ernsthafter  Miene  vor,  wie  dass  die  Lictoren  ihn  am  Reisen 
hindern,  während  er  doch  jeden  Augenblick  sie  entlassen  konnte, 
wenn  er  auf  die  eitle  Grille  von  dem  Triumphe  verzichten  wollte. 


326  .     Cicero. 

Ueberhaupt  bietet  das  Zappeln  und  Zagen,  das  Schelten  und 
Jammern,  das  Plaudern  und  Fragen  in  den  Briefen  dieses  Jahres 
an  Atticus  (Buch  VII  bis  X)  einen  beklagenswerlhen  Anblick  dar, 
und  es  wäre  für  Cicero's  Ruhm  sehr  zu  wünschen  gewesen  dass 
diese  Ergüsse  seiner  damaligen  Verlegenheit  der  Nachwelt  vor- 
enthalten geblieben  waren. 

Die  zweideutige  Rolle  die  er  spielte  erregte  immer  allge- 
meinere Entrüstung  unter  den  Optimaten ,  und  er  sah  sich  dadurch 
genöthigt  sich  endlich  doch  zur  Abreise  zu  Pompeius  zu  rüsten, 
im  März  705.  Aber  noch  in  demselben  Monat  hatte  Cic.  eine 
Zusammenkunft  mit  Caesar,  der  ihn,  wiewohl  vergebens,  zu 
offener  Lossagung  von  der  Sache  des  Pompeius  zu  bewegen 
suchte.  Wenige  Tage  darauf  begab  sich  Caesar  nach  Spanien,  indem 
er  als  seinen  Stellvertreter  für  Italien  den  M.  Antonins  zurück- 
liess,  und  nun  war  es  bald  das  Abwarten  von  Nachrichten  aus 
Spanien  bald  Anfragen  bei  Caesar  und  Antonius  welche  den  Vor- 
wand zur  Verschiebung  von  Cicero's  Abreise  abgaben ;  dann  ver- 
suchte er  abermals  einen  Mittelweg  einzuschlagen  und  weder  in 
Italien  zu  bleiben  —  weil  darin  eine  Erklärung  für  Caesar  lag  — , 
noch  zu  Pompeius  zu  gehen  —  weil  darin  eine  Erklärung  für  diesen 
lag  — f  sondern  an  einen  neutralen  Ort  sich  zu  begeben,  nach 
Malta.  Aber  auch  diesem  Vorhaben  trat  Antonius  entgegen  und 
liess  den  Cicero  beobachten,  so  dass  ihm  zuletzt  Nichts  übrig 
blieb  als  heimlich  zu  entfliehen,  wenn  er  nicht  seine  Ehre  unheil- 
bar gefährden  wollte.  Endlich  am  7.  oder  11.  Juni  705,  also 
ein  Vierteljahr  nachdem  Pompeius  Italien  verlassen  hatte,  gieng 
Cicero  mit  seinem  Sohne  und  den  Lictoren  an  Bord,  um  dem 
Pompeius  nachzureisen ,  ein  Schritt  wodurch  er  die  neugewonnene 
Gunst  des  Caesar  verlieren  musste  und  die  verlorene  des  Pompeius 
kaum  wieder  gewinnen  konnte. 

Im  Lager  des  Pompeius  bei  Dyrrachium  gab  es  für  Cicero, 
der  sich  auf  den  Krieg  so  gut  wie  nicht  verstand ,  natürlich  sehr 
wenig  zu  thun:  er  fühlte  sich  daher  unbehaglich,  und  machte 
seiner  Stimmung  durch  allerlei  Stichelreden  Luft;  und  wie  er 
Führer  und  Heer  sich  in  der  Nahe  besah  so  wurde  ihm  allmäh- 
lieh  die  Hoffnungslosigkeit  dieser  Sache  zur  völligen  Gewissheit. 
Er  sprach  diese  Ueberzeugung  unverhohlen  aus,  und  rieth  wiederum 
dringend  zum  Frieden,  legte  aber  begreiflicherweise  damit  wenig 
Dank  und  Ehre  ein.  Eifriger  zeigte  sich  sein  Sohn,  der^  obwohl 
erst  16  Jahre  alt,    von  Pompeius   zum  Anführer  eines  Reiter- 


Leben.  327 

geschwaders  ernannt  wurde.  Der  Vater  streckte  dem  Pompeius 
Geld  vor;  an  dem  Rurapfsenale  in  Thessalonich,  an  das  sich  für 
ihn  so  trübe  Erinnerungen  knöpften,  betheiligte  er  sich  jedoch 
nicht.  Noch  weniger  begleitete  er  das  Heer  nach  Thessalien, 
sondern  blieb  mit  Cato  u.  A.  in  Dyrrachium,  und  wohnte  so  der 
Schlacht  bei  Pharsalus  (9.  August  706)  nicht  bei.  Mit  dieser 
war  für  ihn  der  Krieg  zu  Ende,  und  der  Entschluss  die  Waffen 
nicht  nur  niederzulegen,  sondern  wegzuwerfen  stand  für  ihn 
fest.  Indessen  gieng  er  noch  mit  nach  Korkyra  zur  Flotte;  war 
er  ja  doch  hier  schon  näher  bei  Italien.  Als  aber  hier  Cato  den 
wunderlichen  Einfall  hatte  zum  Oberbefehlshaber  den  Cicero  vor- 
zuschlagen, lehnte  dieser  natürlich  die  ihm  zugedachte  Wurde 
entschieden  ab  und  rieth  zum  Aufgeben  des  Kampfes,  was  den 
jungen  Cn.  Pompeius  so  erbitterte  dass  er  ihn  einen  Verrälher 
schalt  und  ihn  ums  Leben  gebracht  hätte,  wenn  nicht  Cato  da- 
zwischen golreten  wäre.  Das  gab  vollends  den  Ausschlag;  und 
während  die  meisten  Pompeianer  sich  nach  Afrika  begaben,  um 
dort  den  Krieg  fortzusetzen,  so  kehrte  Cicero  nach  Italien  zurück. 
In  den  letzten  Tagen  des  Septembers  erreichte  Cicero  Brun- 
dislum  und  war  hier  fast  ein  ganzes  Jahr  gleichsam  confiniert, 
sofern  er  ohne  den  Nachweis  der  nachträglichen  Erlaubniss  Caesar's 
nicht  einmal  in  Italien  hätte  bleiben  dürfen,  geschweige  dass  ihm 
das  Betreten  Rom's  gestattet  gewesen  wäre.  Ein  trübseliges  Jahr 
brachte  er  hier  zu,  verbittert  durch  die  Nachricht  dass  sein 
eigener  Bruder  und  dessen  Sohn  ihn  bei  Caesar  als  ihren  Ver- 
fuhrer anklagen,  durch  die  nachtheilige  Einwirkung  des  Klima's 
von  Brundisium  auf  seine  Gesundheit,  und  durch  Familienunglück : 
den  schlechten  Haushalt  seiner  Frau,  die  Zerrüttung  seines  Ver- 
mögens, und  die  unglückliche  Ehe  seiner  Tochter.  Nicht  einmal 
zum  Studieren  fand  er  sich  hier  in  der  Stimmung;  erst  im  Juni 
707  erfreute  ihn  ein  Besuch  seiner  Tochter,  der  aber  freilich 
zugleich  sein  Leid  vergrösserte,  und  noch  später,  erst  im  August 
707,  erhielt  er  von  Caesar  einen  aus  Alexandria  datierten  Brief,  der 
ihn  das  Beste  hoffen  Hess.  Inzwischen  aber  war  seine  Stimmung 
die  allertraurigste  und  gedrückteste,  und  seine  Briefe  aus  dieser 
Zeit  (ad  Alt.  XI.)  sind  voll  Selbstanklagen,  Zerknirschung  und 
Verzweiflung;  er  bebte  jetzt  vor  einem  Siege  der  Optimalen  noch 
mehr  als  vor  dem  des  Caesar,  da  er  von  jenen  für  seinen  Wan- 
kelmut die  schwerste  Strafe  fürchten  musste.  Endlich  Anfangs 
September  707    landete   Caesar   in   Tarent,    wohin    ihm    Cicero 


328  Cicero. 

entgegeneilte  und  aufs  Freundlichste  und  Schonendste  von  ihoi 
aufgenommen  wurde.  Caesar  gestaltete  ihm  die  Rückkehr  nach 
Rom,  und  Cicero  zögerte  nicht  von  dieser  Erlaubniss  Gebrauch 
zu  machen.  Am  7.  oder  8.  October  wollte  er  auf  seinem  Tus- 
culanum  eintreffen,  Rom  selbst  aber  zugleich  mit  dem  Sieger 
und  dessen  ubermötigem  Heer  zu  betreten  nahm  er  billig  An- 
stand. Erst  gegen  das  Ende  des  Jahres  begab  er  sich  in  die 
Hauptstadt,  in  welche  er  seit  seiner  Abreise  nach  Kilikien,  also 
seit  4V2  Jahren,  den  Fuss  nicht  mehr  gesetzt  hatte. 

Hier  brachte  Cicero  den  Winter  zu  in  völliger  Zurückgezogen- 
heit, in  wissenschaftliche  Arbeiten  vertieft,  in  denen  ihn  der 
afrikanische  Krieg  und  seine  Entscheidung  durch  die  Schlacht 
bei  Thapsus  (6.  April  708)  nicht  störte,  da  er  den  Sieg  Caesars, 
als  für  ihn  das  kleinere  Uebel,  sogar  wünschen  musste.  Die  Frucht 
dieser  unfreiwilligen  Müsse  war  vor  Allem  der  Brutus  (beendigt 
Ende  März  708),  sodann  die  Paradoxen  (April  70i{),  sowie  das 
Werk  über  die  Gesetze  (angekündigt  Yerm.  Br.  IX,  2  E.  und 
Brut.  4,  15.  17.),  das  er  dann  aber  wieder  liegen  liess.  Den 
Mai  und  Juni  brachte  Cicero  auf  dem  Lande  zu,  beschäftigt  mit 
einer  Lobschrift  auf  Cato,  welche  er,  angeblich  auf  das 
Andrängen  von  Cato's  Schwiegersohn  und  Caesar's  Liebling, 
M.  Brutus,  verfasste.  Trotz  dieser  vorbeugenden  Bemerkung 
erregte  der  Inhalt  der  Schrift  doch  das  Missfallen  des  Caesar,  so 
sehr  er  die  formelle  Vorzüglichkeit  derselben  anerkannte.  Aber 
als  angehender  Herrscher  konnte  er  es  natürlich  nicht  gern  sehen 
dass  man  einen  starren  Republikaner  wie  Cato  als  Helden  pries. 
Caesar  veranlasste  daher  zuerst  den  Hirtius  zu  einer  Gegenschrift 
wider  Cicero's  Lobrede  und  schrieb  dann  sogar  selbst  einen  Anti- 
cato.  Nach  dem  Cato  schrieb  Cicero  noch  in  demselben  Sommer 
den  Orator  und  wohl  gleich  darauf  die  Partitiones  oratoriae,  hielt 
daneben  auch  zu  Rom  praktische  üebungen  in  der  Redekunst 
mit  seinem  Schwiegersohne  Dolabelia^  den  beiden  nachmaligen 
Consuln  Hirtius  und  Pansa  und  andern  Caesarianern ,  und  witzelt 
daher  in  Briefen  aus  dieser  Zeit  über  seine  Schulmeisterei,  wie 
über  sein  vergnügliches  Leben,  da  seine  Trauerzeit  um  das  Vater- 
land zu  Ende  sei  und  alles  Abhärmen  doch  Nichts  nützen  würde. 

Nach  Caesar's  siegreicher  Rückkehr  aus  Spanien  hielt  Cicero 
bei  der  von  Caesar  selbst  veranlassten  Berathung  über  die  Zurück- 
berufung des  eigensinnigen  Republikaners  Marcellus  im  Senat  die 
Rede  für  Marcellus,  wobei  er  Gelegenheit  hatte   durch  An- 


Leben.  329 

erkennung  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  bei  den  Gaesarianern 
und  durch  warme  Vertheidigung  eines  Anhängers  der  alten  bei 
der  entgegengesetzten  Partei  sich  zu  empfehlen.  Am  23.  Sep- 
tember bat  er  in  der  AVohnung  des  Dictators  utn  Rückberufung 
des  verbannten  Pompeianers  Ligarius;  aber  so  in  der  Stille, 
und  daher  ohne  politische  Wirkung,  mochte  Caesar  nicht  be- 
gnadigen ,  sondern  veranlasste  eine  öfTentliche  Verhandlung,  wobei 
€icero  wiederum  die  Vertheidigung  des  Angeklagten  übernahm 
und  Caesar  sich  von  dessen  Beredtsamkeit  überwunden  stellte. 
Ueberhaupt  schmeichelten  Caesar  und  seine  Anhänger  dem  Con- 
sularen,  dessen  Name  und  Beredtsamkeit  ihnen  manchfach  nützen 
konnte,  auf  alle  thunliche  Weise,  und  er  benützte  den  Schein- 
einfluss  den  er  besass  auf  die  edelste  Weise,  um  mündlich  und 
schriftlich  für  verbannte  Parteigenossen  sich  zu  verwenden.  So 
sanft  aber  das  Joch  war  welches  Caesar  der  Welt  auferlegte  und 
so  sehr  auch  Cicero  die  Milde  und  Gerechtigkeit  desselben  an- 
zuerkennen genöthigt  war,  so  empfand  er  es  doch  sdimerzlich 
dass  er  jetzt  principiell  und  offenkundig  keinen  politischen  Einfluss 
mehr  hatte,  wiewohl  thatsächlich  diess  schon  über  ein  Jahrzehnt 
mehr  oder  weniger  der  Fall  gewesen  war.  Er  verkroch  sich 
daher  in  seine  Bibliothek,  suchte  aus  Verzweiflung  und  Langer- 
weile seine  philosophischen  Studien  wieder  hervor,  war  sehr  fleissig 
im  Bücherschreiben,  und  suchte  sich  das  Leben  so  angenehm  zu 
machen  als  es  unter  diesen  Umständen  möglich  war.  Doch  warfen 
auch  Geldverlegenheiten  wieder  einen  trüben  Schatten  in  sein 
Leben  herein.  Er  trennte  sich  in  diesem  Jahr  (708)  von  seiner 
vieljährigen  treuen  und  verständigen  Gattin  Terentia,  weil  er  die 
Unordnung  seines  Hauswesens  ihr  zur  Last  legte,  brauchte  nun 
aber  Geld  um  die  Aussteuer  an  sie  zurückzuzahlen,  und  heiratete 
daher  eine  junge  Erbin,  Publilia.  Als  man  sich  über  den 
sechzigjahrigen  Bräutigam  scherzhaft  äusserte  versetzte  dieser: 
morgen  früh  wivd  sie  eine  Frau  sein.  Indess  war  das  neue  Ver- 
hältniss  von  keinem  Bestand:  Cicero  empfand  Abneigung  gegen 
die  ganze  Familie,  wohl  auch  gegen  die  Ansprüche  welche  ;die 
junge  Frau  an  ihn  machte,  und  schon  im  folgenden  Jahre  schied 
er  sich  auch  von  dieser  wieder. 

Auch  sonst  war  dieses  Jahr  (709)  für  ihn  ein  kummervolles: 
zu  Anfang  desselben  starb  seine  talentvolle  Tochter  im  Wochen- 
bette, und  er  richtete  desshalb  an  sich  selbst  eine  Trostschrift 
(Consolatio),    wie   er  überhaupt   fartwährend   seine  unfreiwillige 


330  Cicero. 

Geschäflslosigkeii  zu  um  so  emsigerer  literarischer  Thätigkeit 
benüUle.  Er  vertheidigle  im  October  d.  J.  in  Caesar's  Wohnung 
den  König  Dejotarus  gegen  die  Anschuldigungen  eines  Mord- 
versuches auf  Caesar,  mit  dem  Erfolge  dass  dieser  die  Entscheidung 
bis  zu  seiner  persönlichen  Anwesenheit  in  Galalien  (beim  Parther- 
feldzuge) vertagte.  Sonst  beschäftigte  sich  Cicero  auf  dem  Lande, 
wo  er  den  grössten  Tbeil  dieses  Jahres  zubrachte*  vorzugsweise 
mit  philosophischen  Studien  und  Arbeiten,  um  sich  aufzuheitern 
und  seine  politische  Bedeutungslosigkeit  zu  vergessen.  Um  seine 
BescIiSfligung  mit  der  Philosophie  zu  rechtfertigen  schrieb  er  in 
diesem  Jahre  den  Hortensius,  so  betitelt  weil  dieser  Redner, 
bekannt  als  Verächter  der  Philosophie,  darin  noch  nach  seinem 
Tode  bekehrt  werden  sollte.  Darauf  folgte  die  Schrift  über  das 
höchste  Gut  und  Uebel  (de  finibus  bonorum  et  malorum), 
und  die  akademischen  Untersuchungen,  sowie  für  die 
Tusculanen  und  das  Werk  über  das  Wesen  der  Gottheit  jetzt 
wenigstens  Vorstudien  gemacht  wurden.  Ausserdem  verfasste  Cic. 
noch  eine  Lobschrift  auf  Cato*s  Schwester  Porcia  und  ein  Send- 
schreiben an  Caesar  über  Staatsverwaltung,  das  ihm  aber 
die  Caesarianer  denen  er  es  zuvor  mittheilte  durch  Bemerkungen 
so  verleideten  dass  er  es  nicht  abgeben  Hess.  An  dem  Materiellen 
von  Caesars  Regierung  wusste  Cicero  Nichts  auszusetzen;  nur 
dass  er  regierte  und  dadurch  auch  ihm  den  letzten  Rest  von 
Bedeutung  im  Senate  und  auf  dem  Markte  raubte,  das  konnte 
er  ihm  nicht  verzeihen,  und  sein  Hass  war  um  so  bitterer  und 
unversöhnlicher  je  weniger  er  wagen  konnte  ihn  laut  werden  zu 
lassen. 

Der  15.  März  710  befreite  ihn  von  diesem  Zwange,  und 
Cicero  begrüsste  daher  diesen  Tag  und  diese  That  mit  einem 
Jubel  den  wir  unbedingt  verwerflich  finden  müssen.  Die  Ermor- 
dung Caesar's  wird  hinsichtlich  ihrer  Beweggründe,  der  Weise 
ihrer  Vollstreckung  und  ihrer  Folgen  immer  alsteine  der  wider- 
lichsten Erscheinungen  in  der  Geschichte  betrachtet  werden  müssen. 
Eine  Bande  Menschen,  bestehend  grösstentheils  aus  Schwachköpfen 
und  einigen  Ehrgeizigen,  thut  sich  zusammen  um  den  einzigen 
Mann  der  in  die  heillos  zerrüttete  Welt  Ordnung,  Frieden  und 
Behagen  zu  bringen  im  Stande  war,  am  hellen  Tage,  in  der 
versammelten  Curie,  meuchlerisch  zu  überfallen;  zu  Zwanzig 
stechen  sie  auf  den  wehrlosen  Helden  los,  wie  auf  einen  räudigen 
Hund,  bis  er  todt  zusammensinkt,  lieber  dieses  Abdeckergeschäft 


Leben.  331 

• 

hinaus  reicht  aber  ihre  Fähigkeit  und  ihr  Denken  nicht:  sie 
meinen,  sie  dürfen  nur  den  Herrscher  todtstechen,  so  seien  die 
Sklavenseelen  aus  denen  die  damalige  Zeit  bestand  mit  Einem 
Male  in  Freie  verwandelt.  Sie  waren  daher  hochlich  erstaunt 
wie  die  Leute  gar  nicht  merken  vsoUten  dass  sie  frei  geworden 
seien  und  gar  nicht  dafür  danken,  und  dass  sie  nun  vollends 
mit  der  wunderlichen  Frage  kamen:  was  jetzt  weiter  geschehen 
solle?  Denn  das  wussten  sie  ja  selbst  nicht  und  hatten  noch  gar 
nie  darüber  nachgedacht.  Zwar  fehlte  es  nicht  an  Rathgebern, 
und  unter  diesen  war  namentlich  auch  Cicero,  der  an  diesem 
Tage  in  Rom  und  in  der  Curie  anwesend  war,  welchen  ins  Ge- 
heimniss  zu  ziehen  die  Verschworenen  aber  sich  gehütet  hatten, 
da  man  wusste  wie  wenig  er  ein  Mann  der  That  sei.  Jetzt  aber, 
nach  ihrer  Heldenthat^  lieren  sie  mit  den  blutigen  Dolchen  in 
der  Hand  durch  die  Strassen,  gleichsam  zum  Zeichen  ihrer  Un- 
gefährlichkeit  und  Rathlosigkeit  Cicero's  Namen  ausrufend.  Dieser 
begrüsste  sie  als  Tyrannenmörder,  Befreier,  als  Heroen,  ja  als 
Götter,  wusste  aber  so  wenig  Rath  als  die  Andern,  und  erst 
später,  als  es  sich  zeigte  dass  mit  dem  15.  März  schlechterdings 
Nichts  gebessert  war,  dass  man  dadurch  nur  statt  eines  guten 
Herrschers  einen  schlechten  erhalten  hatte ,  dass  zwar  der  König, 
nicht  aber  das  Königthum  beseitigt  war,  erst  da  pflegte  er  ihnen 
vorzuhalten  was  Er  Alles  gethan  und  gerathen  hätte  wenn  er  ein- 
geweiht gewesen  wäre,  wie  «r  von  dem  Mahle  Nichts  übrig  ge- 
lassen, nicht  blos  Einen  Act,  sondern  das  ganze  Stück  zu  Ende 
gespielt  hätte  u.  s.  w.  Schon  am  15.  März  hatte  er  von  Verhand- 
lungen mit  Antonius,  der  als  Consul  im  Augenblicke  die  höchste 
gesetzliche  Behörde  war,  abgerathen  und  hatte  gewollt  dass  Brutus 
und  Cassius  in  ihrer  Eigenschaft  als  Prätoren  den  Senat  berufen 
sollten;  aber  nachdem  die  Verschworenen  eben  erst  unter  dem 
Vorwande  des  Gesetzes  und  der  Verfassung  Caesar  gemordet  hatten 
konnten  sie  nicht  gleich  selbst  es  grob  verletzen;' sie  traten  daher 
mit  Antonius  in  Verbindung,  und  bald  wusste  es  dieser  dahin  zu 
bringen  dass  die  „Befreier"  vom  Senate  begnadigt,  somit  als 
Verbrecher  anerkannt  wurden,  dass  das  Volk  und  die  Veteranen 
gegen  sie  aufs  Aeusserste  erbittert  waren  und  sie  vor  deren 
Hasse  sich  aus  der  Stadt  zurückziehen  mussten.  Auch  Cicero 
war  unter  denen  welche  für  Antonius'  Antrag  auf  Bestätigung 
von  Caesars  Verfügungen  und  Amnestierung  der  Verschworenen 
sprachen;  er  war  also  selber  in  die  Falle  gegangen  welche  An- 


332  Cicero. 

tonius  gestellt  hatte,  der  jetzt  eine  Verordnung  nach  der  andern 
als  angebliche  Verfugung  Caesar's  veröffentlichte,  so  dass  Cicero 
bald  sich  nach  Caesar  zurücksehnte. 

Die  Wut  welche  seit  Caesar's  Leichenfeier  unter  der  Menge 
gegen  dessen  Mörder  herrschte  Hess  es  auch  dem  Cicero,  als 
einem  Freunde  der  Letzteren,  und  weil  er  seine  Freude  über 
den  Mord  gar  zu  unverhohlen  ausgesprochen  hatte,  räthüch  er- 
scheinen sich  aufs  Land  zurückzuziehen  und  die  dargebotene 
Gelegenheit  zur  Neubefestigung  seines  Einflusses  in  der  Curie 
unbenutzt  zu  lassen.  Auf  dem  Lande  übte  er  wiederum  die 
Caesarianer  Baibus ,  Hirtius  und  Pansa  in  der^  Redekunst  und 
setzte  das  Bucherschreiben  in  grossartigem  Massstabe  fort.  Die 
ausserordentliche  Fruchtbarkeit  welche  er  in  den  letzten  drei 
Jahren  seines  Lebens  an  den  Tag  legte  müsste  völlig  unbegreif- 
lich erscheinen  wenn  man  nicht  durch  ihn  selbst  wusste  einmal 
dass  er  von  jeher  flelssig  gelesen  und  studiert  hatte,  dann  dass 
er  bei  seinen  Schriften  den  Stoff  fast  ganz  von  den  Griechen 
herübernahm  und  selber  beinahe  nur  die  lateinische  Form  dazu- 
gab, in  welcher  er  eine  ungewöhnliche  Leichtigkeit  be'sass.  Es 
wurden  nämlich  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  710  die  Tus- 
culanen  und  die  Schrift  über  das  Wesen  der  Götter  fertig 
gemacht,  die  Abhandlungen  über  das  Greisenalter  und  über 
die  Freundschaft  geschrieben,  darauf  die  Schriften  über  die 
Weissagung,  über  die  Vogelzeichen  und  über  das  Schick- 
sal verfasst,  der  Timaeos  des  Piaton  übersetzt,  ein  Schriftchen 
über  den  Ruhm  abgefasst,  das  Werk  über  die  Pflichten  viel- 
leicht begonnen ,  und  daneben  fortwährend  ein  lebhafter  Brief- 
wechsel, besonders  mit  Atticus,  geführt. 

Aber  auch  in  seine  Einsamkeit  und  in  die  Studjerstube  hinein 
verfolgten  ihn  die  politischen  Verhältnisse:  die  Caesarianer  schreck- 
ten ihn  mit  ihren  Drohungen,  so  dass  er  täglich  Proscriptionen 
erwartete,  und  die  Helden  des  15.  März  fielen  ihm  lästig  mit 
ihren  fortwährenden  Zumutungen ,  ihrem  Ratherholen  bei  ihm  der 
selbst  rathlos  wai^,  und  seine  Briefe  aus  dieser  Zeit  sind  ein 
redendes  Denkmal  der  bodenlosen  Armseligkeit  dieser  Menschen. 
Auch  die  Optimaten,  die  Reste  der  pompeianischen  Partei,  er- 
regten Cicero's  Unzufriedenheit,  er  tadelte  an  ihnen  dass  sie  so 
gleichgültig  seien  und  vor  dem  öffentlichen  Unglück  sich  auf  ihre 
Landgüter  zurückziehen,  d.  h.  es  gerade  ebenso  machen  wie  er 
selbst.   So  war  Cicero  wieder  in  seiner  alten  Lage:  in  der  Schwebe 


Leben»         -  333 

zwischen  allen  Parteien,  alle  bekrittelnd ,  vor  allen  sich  fürchtend. 
Andere  zum  Handeln  vorschiebend  und,  wenn  sie  vorantraten, 
in  Eifersucht  gerathend  und  mit  bitterem  Spott  und  Tadel  sie 
übergiessend.  Es  war  vorauszusehen  dass  es  zum  Kriege  kommen 
werde,  und  nun  entstand  für  ihn  wieder  die  schwere  Frage:  auf 
welche  Seite  treten?  Die  eine  Partei,  die  der  Befreier,  ist  schwach; 
die  entgegengesetzte  hat  eine  schlechte  Sache;  und  neutral  in 
der  Mitte  zu  bleiben  macht  Antonius  unmöglich.  Auch  jetzt  wieder 
ergriff  er  sein  vielbeliebtes  Mittel:  der  Entscheidung  aus  dem 
Wege  zu  gehen.  Als  Vorwand  dazu  benutzte  er  eine  Sendung 
mit  der  er  sich  von  seinem  Schwiegersöhne,  dem  Caesarianer 
Dolabella,  beauftragen  liess,  die  Nichts  zu  thun  gab  und  ihm 
kostenfreie  Reise  verschaffte.  Sein  Ziel  war  Griechenland.  Aber 
die  Rücksicht  auf  das  Gerede  der  Leute  und  seine  eigene  Ab- 
neigung gegen  das  Reisen  bewirkte  Aufschub;  dann  wollte  er 
auf  Brutus  warten,  um  in  dessen  Gesellschaft  noch  weniger  Ge- 
fahren ausgesetzt  zu  sein ;  endlich  aber  brach  er  doch  allein  auf, 
am  17.  Juli  710,  schrieb  unterwegs  auf  dem  Scliiffe  seine  Topica, 
und  kam  am  1.  August  zu  Syrakus  an.  Als  er  von  hier  weiter 
wollte  wurde  er  wiederholt  durch  den  Wind  zurückgetrieben. 
Zugleich  erhielt  er  aus  Rom  beruhigende  Nachrichten  über  den 
Stand  der  Dinge  und  von  mehreren  Seiten  die  Mittheilung  dass 
sein  feiger  Rückzug  in  diesem  Augenblicke  überall  den  schlimmsten 
Eindruck  mache.  Diess  bestimmte  ihn  zu  schleunigster  Rückkehr. 
Am  17.  August  traf  er  zu  Velia  mit  dem  nach  Griechenland  ab- 
reisenden Brutus  zusammen,  und  am  31.  August  war  er  wieder 
zu  Rom ,  das  er  seit  fast  einem  halben  Jahre  nicht  mehr  betreten 
hatte.  Am  folgenden  Tage,  den.  1.  September,  war  Senatssitzung, 
in  welcher  Antonius  ein  stehendes  Dankopfer  für  Caesar  beantragte. 
Seine  Absicht  dabei  war  die  Schwankenden,  besonders  Cicero, 
zu  offener  Parteinahme  für  oder  gegen  die  Caesarianer  zu  nöthigen. 
Aber  Cicero  liess  sich  krank  melden.  Aergerlich  antwortete  An- 
tonius, er  wolle  ihn  mit  Zimmerleuten  aus  dem  Hause  holen, 
liess  sich  aber  zuletzt  besänftigen,  und  sein  Antrag  wurde  ge- 
nehmigt. Am  nächsten  Tage,  den  2.  September»  erschien  nun 
Cicero  im  Senat,  wo  er  aber  diessmal  den  Antonius  nicht  antraf, 
und  hielt  seine  erste  Philippica  oder  Antoniana,  worin  er 
sich  wegen  seiner  langen  Abwesenheit  zu  rechtfertigen  suchte 
und  den  Antonius  wegen  jener  Aeusserung  und  seines  sonstigen 
Verfahrens  angriff,    aber  noch  vorsichtig  und  verhältnissmässig 


334  Cicero. 

schonend,  indem  er  ihn  noch  als  seinen  Freund  bezeichnete,  in 
welchem  Sinne  er  auch  kurz  zuvor  an  ihn  geschrieben  hatte, 
obwohl  er  daneben  in  Briefen  an  Andere  sich  verdriesslich  dar- 
über aussprach  dass  die  „Befreier''  nicht  auch  den  Antonius 
gemordet  hätten.  Die  Rede  erregte  den  Unwillen  des  Antonius 
in  solchem  Grade  dass  er  dem  Cicero  die  Freundschaft  aufkün- 
digte und  auf  den  19.  September  eine  neue  Senatssitzung  an- 
beraumte. In  dieser  erschien  nun  aber  wieder  Cicero  nicht,  unter 
der  Angabe  dass  er  im  Falle  des  Erscheinens  seines  Lebens  nicht 
sicher  wäre.  Antonius  hielt  jetzt  eine  Rede  gegen  ihn,  worin 
er  Cicero's  ganze  politische  Lanfbahn  beleuchtete,  aber  den  Ein- 
druck des  Treffenden  durch  entschieden  Falsches  und  leicht  zu 
Widerlegendes  schwächte.  Cicero  antwortete  darauf  öffentlich 
nicht,  aus  Furcht  die  Veteranen  Caesar's  möchten  die. Replik  für 
Antonius  führen;  wohl  aber  arbeitete  er  in  der  Stille  eine  Gegen- 
rede aus,  welcher  er  die  Einkleidung  gab  al^  sei  sie  auf  der 
Stelle  nach  Antonius'  Angriff  im  Senat  gehalten  worden,  welche 
er  aber  vorläufig  nur  wenigen  vertrauten  Freunden  mittheilte  und 
erst  nach  Antonius'  Entfernung  veröffentlichte  —  die  zweite 
Philippica.  Gleichzeitig  nahm  er  auch  wieder  auf  Atticus' 
Antreiben  seine  Geheimgeschichte,  die  Anekdota,  auf,  ohne  sie 
aber  je  fertig  zu  bringen ;  und  während  des  Octobers  und  Novem- 
bers schrieb  er  auf  dem  Lande  die  Schrift  über  die  Pflichten 
zu  Ende  und  verfasste  vielleicht  jetzt  auch  die  Abhandlungen 
über  die  Tugenden  und  über  die  beste  Art  von  Rednern, 
nebst  der  Uebersetzung  von  Aeschines'  und  Demosthenes'  Reden 
de  Corona. 

Inzwischen  war  in  der  Person  des  Octavianus  ein  neuer 
Parteiführer  auf  den  Schauplatz  getreten.  Der  Gegensatz  zu 
Antonius  trieb  diesen  zunächst  auf  die  Seite  des  Senats,  drängte 
ihn,  den  Adoptivsohn,  Neffen  und  Erben  Caesar's,  zum  wider- 
natürlichen Bunde  mit  dessen  Mördern,  und  Cicero  unterstützte 
daher  den  Octavian  gleichfalls.  Zwar  war  Octavian's  Auftreten 
gegen  den  Consul  Antonius  ein  entschieden  ungesetzliches;  aber 
Cicero  setzte  sich  über  dieses  Bedenken  hinweg,  theils  aus  Hass 
gegen  Antonius,  theils  weil  Octavian  ungefährlich  schien  und 
nützen  konnte,  auch  der  Eitelkeit  des  Cicero  zu  schmeicheln  wusste. 
Als  es  jedoch  zwischen  Antonius  und  Octavian  zum  Bruche  kam 
und  nun  Octavian  von  Cicero  offenes  Ergreifen  seiner  Partei 
verlangte,  so  lehnte  dieser  das  Ansinnen  ab,  weil  er  im  Grunde 


Leben.  335 

auch  den  Octavian  wegen  seines  Verhältnisses  zu  Caesar  nicht 
leiden  konnte  und  fürchtete,  und  weil  er  bei  der  Ungewissheit 
des  Ausganges  sich  nicht  compromittieren  mochte.  Und  doch 
musste  er  andererseits  fürchten  den  Antonius  schon  allzusehr 
erbittert  zu  haben  als  dass  er  von  ihm  Schonung  erwarten  dürfte, 
und  musst^  glauben  eines  Schutzes  gegen  ihn  zu  bedürfen.  In 
dieser  Verlegenheit  wurde  wieder  Atticus  um  Rath  bestürmt,  und 
ganz  aus  der  Seele  seines  Freundes  heraus  rieth  ihm  dieser  zu- 
zuwarten; Andere  dagegen  drängten  ihn  zum  Anschluss  an  Octavian 
und  beschwichtigten  seinen  Zweifel  ob  diess  mit  seinem  Verhält- 
niss  zu  den  „Befreiern"  vereinbar  wäre  durch  die  Hinweisung 
darauf  dass  Octavian  seine  freundlichen  Gesinnungen  gegen  diese 
durch  Casca's  Zulassung  zum  Volkstribunate  thatsächlich  bewiesen 
habe.  Zudem  war  jetzt  Antonius  nicht  mehr  in  der  Nähe  Rom's, 
der  Senat  daher  nicht  mehr  unter  seinem  Banne,  und  für  Cicero 
somit  wieder  Gelegenheit  vorhanden  die  Rolle  eines  Führers  des 
Senats  zu  übernehmen.  So  finden  wir  denn  Cicero  am  9.  Decem- 
ber  710  wieder  in  Rom  und  die  neuen  Volkstribunen  antreibend 
in  Abwesenheit  der  andern  Magistrate  alsbald  den  Senat  zusammen- 
zuberufen,  damit  er  hier  seinen  Feldzug  gegen  Antonius  eröffnen 
könne.  Sie  thaten  es  aber  erst  auf  den  20.  December,  und  an 
diesem  Tage  hielt  nun  Cicero  seine  dritte  Philippica,  von 
welcher  an  er  selbst  eine  neue  Epoche  in  der  römischen  Ge- 
schichte datiert.  Durch  sie  wurde  nämlich  der  Senatsbeschluss 
herbeigeführt  der  den  D.  Brutus,  Octavian  u.  s.  w.  für  ihren  Wider- 
stand gegen  den  Consul  belobte  und  damit  legalisierte j  wodurch 
also  der  Senat  bereits  indirect  gegen  Antonius  Partei  ergriff; 
Cicero  aber  übertrieb  absichtlich  die  Bedeutung  dieses  Beschlusses, 
um  dem  Senat  jeden  Rückweg  und  jede  Versöhnung  mit  Antonius 
unmöglich  zu  machen.  An  demselben  20.  December  hielt  Cicero 
eine  zweite  Rede,  ans  Volk,  die  vierte  Philippica,  worin 
er  die  gefassten  Beschlüsse  der  Versammlung  mittheilte.  Die 
nächste  Senatssitzung  sollte  am  1.  Januar  711  unter  den  Consuln 
Hirtius  und  Pansa  stattfinden,  und  in  dieser  hielt  Cicero  seine 
fünfte  Philippica,  in  welcher  er  beantragte  dem  Octavian 
und  den  übrigen  Führern  gegen  Antonius  Auszeichnungen  zu 
verleihen,  die  ihnen  zugleich  einen  Rechtstitel  zum  Kampfe,  zu 
Aushebungen  u.  s.  w.  gaben,  und  den  Antonius  für  einen  Reichsfeind 
zu  erklären.  Der  erste  Theil  dieses  Antrages  wurde  angenommen, 
der  zweite  aber  nur  insoweit  dass  man  den  Antonius  durch  eine 


336  Cicero. 

Gesandtschaft  zum  Frieden  auffordern  wollte  und  nur  för  den 
Fall  dass  er  diess  abweise  Krieg  gegen  ihn  beschloss.  Dieses  Er- 
gebniss  der  viertägigen  Verhandlung  verkündigte  Cicero  am 
4.  Januar  dem  Volke  in  seiner  sechsten  Philippica,  worin 
er  die  Erfolglosigkeit  der  Gesandtschaft  voraussagte.  Am  5.  Januar 
gieng  die  Gesandtschaft  an  Antonius  ab;  noch  ehe  aber  dieselbe 
zurück  war,  schon  am  Ende  des  Januar,  drang  Cicero  im  Senate 
auf  Krieg  gegen  Antonius  in  der  siebenten  Philippica.  Zu 
Anfang  des  Februar  kehrte  die  Gesandtschaft  zurück,  mit  den 
Gegenforderungen  des  Antonius,  die  aber  so  wenig  annehmbar 
erschienen  dass  der  Senat  zwar  immer  noch  nicht,  wie  Cicero 
von  Neuem  verlangte,  den  Krieg  gegen  ihn  beschloss,  aber  doch 
sein  Unternehmen  als  tumultus  bezeichnete,  ein  Beschluss  welchen 
Cicero  am  nächsten  Tage  in  der  Curie  als  eine  halbe  Massregel 
leidenschaftlich  tadelte,  und  den  neuen  Antrag  stellte  Allen  welche 
bis  zum  16.  März  die  Fahne  des  Antonius  verlassen  würden  Be- 
gnadigung zuzusichern,  —  achte  Philippica.  Den  Antrag  dem 
auf  der  Gesandtschaftsreise  zu  Antonius  gestorbenen  Sulpicius 
Ehrenbezeugungen  zuzuerkennen  unterstützte  Cicero  lebhaft  und 
unter  neuen  Ausfallen  auf  Antonius  durch  die  neunte  Philippica. 
Sodann  die  zehnte  hielt  er  uro  für  die  Eigenmächtigkeiten  welche 
sich  M.  Brutus  in  Makedonien  und  Griechenland  erlaubt  hatte 
nachträglich  die  Bestätigung  des  Senats  zu  erlangen,  und  seinem 
Antrage  gemäss  erhielt  Brutus  wirklich  den  Oberbefehl  über  das 
in  Makedonien  stehende  Heer,  und  Q.  Hortensius  die  Verwaltung 
dieser  Provinz.  Mitte  März  711  gab  die  Hinrichtung  des  Caesar- 
mörders C.  Trebonius  durch  Dolabella  dem  Cicero  Aniass  zur 
eilften  Philippica.  Wahrend  die  Partei  des  Antonius  die 
Bestrafung  des  Dolabella  den  Consuln  übertragen  wollte,  um  diese 
vom  Kampfe  gegen  Antonius  abzuwenden,  wünschte  Cicero,  um 
diess  zu  verhindern  und  dem  Cassius  die  Bestätigung  der  ange- 
massten  Statthalterschaft  in  Syrien  zu  verschaffen,  den  Letzteren 
damit  beauftragt.  Als  Cicero  mit  seinem  Antrage  im  Senate  nicbt 
durchdrang,  so  wandle  er  sich  durch  Vermittlung  d^s  Volks- 
tribunen M.  Servilius  an  das  Volk;  aber  auch  hier  wusste  Pansa  die 
Sache  zu  hintertreiben,  und  nun  redete  Cicero  dem  Cassius  zu,  sich 
um  den  Senat  Nichts  zu  kümmern.  Durch  die  geschickt  verbreitete 
Meinung  dass  Antonius,  durch  einen  Unfall  mürbe  gemacht,  zum 
Frieden  geneigt  sei  Hess  auch  Cicero  sieh  verleiten  nicht  nur  dem 
Antrag   auf  eine   neue  Gesandtschaft   an   denselben   beizutreten, 


Leben.  337 

sondern  selbst  auch  an  dieser  Jheil  zu  nehmen.  Als  die  Täuschung 
an  den  Tag  kam  suchte  Cicero  —  durch  die  zwölfte  Philippicä 

—  die  Zurücknahme  des  ganzen  Beschlusses  oder  doch  seine 
eigene  Entbindung  von  dessen  Ausführung  zu  bewirken,  mit  dem 
Erfolge  dass  gegen  Ende  des  März  Pansa  ohne  Gesandte  zum  Heere 
abgieng.  Schon  am  20.  März  hatte  sich  Cicero  genöthigt  gesehen 
seine  Kriegspolitik  wider  Antonius  im  Senat  zu  vertheidigen  gegen 
die  Friedensmahnungen  von  M.  Lepidus  und  Munatius  Plauens, 

—  dreizehnte  Philippicä.  Die  Antonianer  verbreiteten  in 
Rom  das  Gerücht  dass  Cicero  am  22.  April  sich  selbst  zum  Dic- 
tator  aufwerfen  wolle,  eine  Beschuldigung  gegen  welche  ihn  der 
Volkstribun  Appuleius  am  21.  April  vertheidigte.  An  demselben 
Tage  lief  die  Nachricht  ein  dass  am  15.  April  bei  Forum  Gallorum 
ein  Sieg  über  Antonius  erfochten  worden  sei:  wie  im  Triumphe 
zog  Cicero,  vom  Volke  begleitet ^  auf  das  Capitol,  und  beantragte 
am  22.  April  ein  grosses  Dankfest  und  sonstige  Auszeichnungen 
für  die  siegreichen  Feldherren,  —  in  der  vierzehnten  Phi- 
lippicä. Der  Senat  genehmigte  nicht  nur  diesen  Antrag,  son- 
dern erklärte  nun  endlich  auch  den  Antonius  und  seine  Anhänger 
für  Reichsfeinde.  Nachdem  dann  vor  Mutina  (in  der  zweiten 
Hälfte  des  April)  die  beiden  Consuln  gefallen  waren,  so  war  es 
Cicero  der  in  Rom  Alles  leitete,  den  Briefwechsel  mit  den  Statt- 
haltern fährte,  Steuern  ausschrieb  und  als  Mitglied  des  Zehner- 
ausschusses für  Vertheilung  von  Ländereien  an  die  Krieger  thätig 
war.  Die  Partei  der  Optimaten  überliess  sich  jetzt  der  Sorg- 
losigkeit und  dem  Uebermute:  sie  wollte  wieder  völlig  die  alte 
Ordnung  der  Dinge  einführen  und  den  Octavian,  als  nunmehr 
entbehrlich,  auf  die  Seite  schieben.  Dafür  Hess  dieser  den  An- 
tonius durch  die  Vereinigung  mit  Lepidus  wieder  erstarken,  er- 
zwang sich  selbst  das  Consulat,  und  empfieng  an  den  Thoren 
Roms  Cicero  als  den  „letzten  seiner  Freunde*'.  Ende  Octobers 
errichtete  er  dann  mit  Antonius  und  Lepidus  das  zweite  Trium- 
virat. Um  sich  zu  rächen,  zu  sichern  und  Geld  für  ihre  Heere 
zu  verschaffen  beschlossen  die  Triumvirn  ihre  Feinde  zu  beseitigen, 
und  Cicero,  als  Haupt  der  Gegenpartei,  musste  natürlich  eines 
ihrer  ersten  Opfer  werden.  Zwar  soll  Octavian  für  ihn  Fürsprache 
eingelegt  haben;  aber  die  Todfeindschaft  zwischen  Antonius  und 
Cicero  konnte  einer  solchen  Verwendung  wenig  Erfolg  versprechen, 
und  da  Cicero  von  jeher  aus  seinen  eigentlichen  Gesinnungen 
gegen  Octavian   kein   Geheimniss   gemacht  hatte,   so  mochte  die 

Teuf  fei,  Studien.  22 


338  Cicero. 

Fürsprache  von  Letzterem  nicht  sehr  ernstlich  gemeint  sein :  jeden- 
falls war  sie  ohne  Erfolg ,  und  Cicero  einer  der  Siebenzehn  deren 
Häupter  zu  allererst  fallen  sollten. 

P)och  vor  dem  Einzug  der  Triumvirn  in  Rom  (Ende  Novem- 
ber 711),   auf  die  Nachricht  dass  auf  Befehl  des  Consuls  Pedius 
Hinrichtungen  stattfinden,  hatte  sich  Cicero  auf  sein  Tusculanum 
zurückgezogen,  begab  sich  von  da  auf  sein  Gut  bei  Astura,  um  nach 
Makedonien  zu   entfliehen,    schiffte  von   hier    nach  CircejI,    am 
andern  Morgen    nach  Cajeta,    in  dessen  Nähe   sein  Formianum 
lag,  auf  welchem  er,   von  der  Ungunst  der  Winde  verfolgt,   des 
Fliehens    und    des   Lebens   satt   ausruhte.     Aber   seine   Sklaven 
trieben   ihn   möglichst  schnell   das  Meer  zu  erreichen:   er   süeg 
endlich   in  eine  Sänfte.     Noch  nicht  lange  war  er  weg,    als  der 
Kriegstribun  C.  Popilius  Laenas  und  der  Centurio  Herennius  an- 
langten ,  um  nach  dem  Geächteten  zu  fahnden.   Ein  Freigelassener 
Namens  Philogonus  verrieth  ihnen   den  Weg  welchen  die  Sänfte 
eingeschlagen:  Popilius  besetzte   den  Ausgang   des  Parkes   gegen 
das  Meer  hin,  und  Herennius  eilte  der  Sänfte  nach.     Bei  dessen 
Annäherung    Hess   Cicero    halten  und   mahnte  seine  Diener   von 
Gegenwehr  ab.     Während  er  dabei   aus  der  Sänfte  sich  heraus- 
beugte wurde  er  von  Herennius  getödtet  und  ihm  dann  noch  der 
Kopf  und  die  rechte  Hand   abgeschlagen.     Antonius  Hess  sie  auf 
der  Rednerbühne  aufstellen,  und  dessen  verworfene  Gattin  Fulvia 
soll  die  Zunge  mit  einer  Nadel  durchstochen  haben.     Der  Mörder 
erhielt  von  Antonius  den  zehnfachen  Preis  ausbezahlt. 

Der  Tag  an  welchem  Cicero  seinen  Tod  fand  war  der 
7.  Deceraber  711  (43  v,  Chr.):  Cicero  hatte  somit  sein  63stes 
Lebensjahr  noch  nicht  ganz  vollendet,  als  er  starb.  Dass  diess 
mit  würdiger  Fassung  geschah  bezeugt  selbst  Livius,  so  wenig 
er  sonst  des  grossen  Redners  Haltung  im  Missgeschicke  zu  be- 
wundern vermochte. 

2.  Persönlicher  und  staatsmännischer  Charakter'*). 

Cicero's  persönlicher  Charakter  erscheint  von  der  liebens- 
würdigsten Seite  da  wo  kein  Gefühl  der  Nebenbuhlerschaft  die 
ursprüngliche    Gutherzigkeit    und    Menschenfreundlichkeit    seiner 


*)  Aus    dem  Tübinger  Programm   (Doetorenverzeichniss)  von   1863, 
S.  1  —  5. 


Persönlicher  Charakter.  339 

Natur  tröbt,  in  seinem  Verhalten  zu  Untergebenen  und  zu  jünge- 
ren Freunden.  Wie  ein  Vater  sorgt  er  für  seinen  Tiro^)  und 
hat  ihn  allmählich  aus  einem  Diener  zu  einem  Freunde  werden 
lassen,  wie  ein  Vater  auch  für  seinen  talentvollen  jungen  Freund 
Trebatius^).  Nicht  minder  achlungswerth  war  ferner,  zumal  in 
einer  so  gründlich  verdorbenen  Zeit  und  bei  eigener  Erregbarkeit, 
seine  über  allen  Verdacht  erhabene  Sittenreinheit,  Keuschheit 
und  Massigkeit'),  seine  gewissenhafte  Zeitbenutzung ^),  seine  geistige 
Regsamkeit,  sein  angestrengter  Fleiss,  früher  zum  Zwecke  seiner 
Ausbildung,  später  im  Interesse  seines  Ruhmes,  wohin  besonders 
auch  seine  schriftstellerische  Emsigkeit  gehört^),  sein  unermüd- 
liches Vorwärtsstreben  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Beredt- 
samkeit^).  Daneben  sind  aber  auch  zum  Theil  bedeutende  Schwächen 
und  Fehler  nicht  wegzuleugnen.  Sie  sind  grossentheils  die  Kehr- 
seite von  Tugenden  des  Gemütes,  Ausflüsse  seiner  angeborenen 
Weichheit,  mit  welcher  er  das  Unglück  hatte  in  eine  Zeit  zu 
fallen  welche  stählerner  Charaktere  bedurfte,  Belege  dafür  dass 
seine  Natur  eine  weiblich  nervöse  war.  Weiblich  war  seine  über- 
schwengliche Reizbarkeit,  seine  Abhängigkeit  von  äusseren  Ein- 
drucken und  der  ewige  Wechsel  der  Empfindungen  und  Stim- 
mungen in  ihm,  deren  jede  ihn  ganz  hinnahm  und  sich  mit  über- 
mässiger Heftigkeit  äusserte,  Freude  und  Schmerz,  Furcht  und 
Hoffnung,  Liebe  und  Hass,  aber  um  so  rascher  auch  verlief  und 
der  entgegengesetzten  das  Feld  räumte.  Weiblich  war  ferner 
seine  Unselbständigkeit  gegenüber  vom  Urteile  der  Welt,  seine 
unendliche  Verwundbarkeit,  seine  Zugänglichkeit  für  die  Nadel- 
stiche der  Gesellschaft^),  seine  Unfähigkeit  irgend  welchen  Tadel 
zu  ertragen;  weiblich  sein  Bedürfniss  sich  an  eine  Autorität  an- 
zulehnen,  auf  den  Rath  oder  Vorgang  Anderer  sich  zu  berufen. 


1)  S.  z.  B.  ad  Att.  VI,  7.  Fam.  XVI,  4.  9,  3.  11,  1.  12,  6.  Att. 
IX,  17,  2  und  sonst. 

*)  Vgl.  ad  Fam.  VII,  6  ff.  und  meinen  Commentar  zum  zweiten 
Buch  der  horazischen  Satiren  (Leipzig  1857)  S.  10  f. 

3)  Vgl.  z.  B.  ad  Fam.  VII,  26.   IX,  26,  2.  p.  Süll.  8,  25. 

*)  pro  Areh.  6,  13.  ad  Qu.  fr.  II,  14,  1.  III,  3  in.  pro  Plane.  27,  66. 
Leg.  I,  3,  9.  Phil.  II,  8  extr. 

5)  Vgl.  ad  Att.  XII,  40,  2.  38,  1.  XIII,  26,  2.  Fam.  VII,  28,  2. 
Orat.  30  extr.  43,  148.  Fin.  I,  4,  11.   Top.  I  in.  Off.  III,  1,  3  f. 

6)  Brut.  93,  321.    Orat.  30,  108.   Vgl.  ad  Att.  IV,  15  extr. 

'')  mulierculae,  quas  etiam  parva  movent,  Livius  XXXIV,  7. 

22* 


340  Cicero. 

auf  ihre  Hülfe  zu  warten,  sein  Mangel  an  persönlichem  Mut^),  der 
Werih  den  för  ihn  der  Schein  im  Gegensatze  zur  Sache  hat, 
seine  Gewohnheit  sich  selbst  über  die  Beweggründe  seines  Han- 
delns zu  täuschen,  seine  Unfähigkeit  etwas  bei  sich  zu  behalten, 
sowie  die  Eigenheit  dass  er  immer  das  letzte  Wort  haben  muss 
und  im  Stillen  keift  wenn  zu  offenem  Entgegentreten  es  an  Ge- 
legenheit oder  Mut  fehlt.  Weiblich  war  auch  seine  Rührsamkeit, 
welcher  die  Thränen  immer  zu  Gebote  stehen,  seine  Neugierde, 
sein  Interesse  für  den  Stadtklatsch,  seine  Neigung  zur  Medisance, 
sein  unersättlicher  Durst  nach  Lob  und  Schmeichelei,  seine  Un- 
versöhnlichkeit  wenn  seine  Eitelkeit  verletzt  wurde ,  seine  Gewohn- 
heit als  Massstab  bei  der  Beurteilung  der  Menschen  ihr  Verhält- 
niss  zu  ihm  anzulegen,  ja  sogar  die  Fruchtbarkeit  mit  der  er 
das  eben  erst  in  sich  Aufgenommene  alsbald  wieder  in  Gestalt 
einer  eigenen  Schöpfung  aus  sich  heraussetzt,  und  der  Mangel 
an  scharfer  Logik  und  Consequenz  welcher  wie  in  seinem  Leben 
so  auch  in  seinen  Schriften  zu  Tage  tritt.  Ebenso  gleicht  er  in 
seinem  Hauswesen  einer  schlechten  Hausfrau,  die  alle  Gelüste 
befriedigt  haben  muss  und  Ausgaben  und  Einnahmen  nie  im 
Gleichgewicht  zu  erhalten  weiss.  Cicero  ist  ganz  Receptivität, 
die  Spontaneität  ist  ihm  wie  versagt.  Er  ist  der  Sklave  des  Augen- 
blicks, von  jedem  Windhauche  der  öffentlichen  Meinung  oder  des 
Schicksals  aus  dem  Geleise  gebracht,  voll  feinen  Gefühls  für  das 
Rechte,  aber  ohne  die  Kraft  es  stets  zu  thun.  Die  specißsch 
römische  Eigenschaft  der  gravitas  geht  ihm  gänzlich  ab,  immer 
ist  er  in  Bewegung,  immer  in  Aufregung.  Es  fehlt  ihm  an  einem 
festen  inneren  Halle,  er  hat  den  Schwerpunkt  nicht  in  sich  selbst, 
und  sucht  diesen  Mangel  zu  ersetzen  theils  durch  selbstsüchtige 
Beziehung  alles  Aeusseren  auf  sein  Ich,  theils  durch  endloses 
Selbstlob.  Fortwährend  und  von  allen  Seiten  angezogen  und 
abgestossen,  geschoben  und  gehemmt,  bildet  er  sich  ein  der 
Mittelpunkt  zu  sein  auf  den  sich  Alles  beziehe,  und  sagt  das  sich 
und  Andern  so  oft  und  so  lange  bis  diese  müde  werden  ihm  zu 
widersprechen  und  ihm  die  Freude  lassen  es  für  die  allgemeine 
Ansicht  zu  halten.  Findet  diese  seine  Ruhmredigkeit  auch  einige 
Entschuldigung  darin  dass  er  durch  sich  selbst,  ohne  fremde  Bei- 
hülfe,  sich  emporarbeiten  musste,   und   hat  sie  auch  etwas  Ver- 

^)  ad  Farn.  VI,  14,  1:  si  quisqnam  est  timidus  in  magnis  peri- 
culosisque.  rebus  .  .  is  ego  sum.  Vgl.  IX,  11,  1:  firmitatem  et  con- 
stantiam ,  si  modo  fnit  aliquando  in  nobis. 


Persönlicher  and  staatsmännigcher  Charakter.  341 

söfanendes  durch  die  Offenheit  womit  sie  auftritt  und  die  Ehrlich- 
keit womit  er  sich  zu  ihr  bekennt  ^)^  —  in  seiner  Zeit  musste 
sie  ihm  die  aufrichtige  Theilnahme  Anderer  rauben,  wie  er  durch 
seine  Schwäche  an  ihrer  Achtung  einbusste.  Man  erkannte  seine 
Brauchbarkeit  an  und  benützte  ihn,  und  machte  ihm  Zumutungen 
die  mit  Achtung  kaum  zu  vereinigen  sind.  Wo  mit  der  Zunge 
durchzukommen  ist,  da  war  er  an  seinem  Platze,  da  konnte  er 
sich  furchtbar  machen ,  wiewohl  sein  Witz  ebenso  oft  ihm  selber 
schadete;  galt  es  aber  zu  handeln,  so  suchte  er  Andere  vorzu- 
schieben und  war  dann  eifersüchtig  und  verdrüsslich  wenn  sie 
wirklich  vortraten  und  es  glückte,  und  wusch  seine  Hände  in 
Unschuld  wenn  es  fehlschlug.  Seine  Selbstliebe  und  Aengstlich- 
keit  machte  ihn  Gleichstehenden  gegenüber  zu  einem  unzuver- 
lässigen Freunde  und  unedel  gegenüber  von  Feinden,  vor  denen 
er  sich  verkroch^  wenn  sie  Macht  hatten ,  die  er  mit  einer  Flut 
hässlicher  Schmähungen  übergoss  wenn  sie  nicht  zu  fürchten 
waren,  und  bei  deren  Unglück  er  aus  seiner  Schadenfreude  keinen 
Hehl  machte,  wohin  namentlich  das  „rohe  Freudengeschrei"  ge- 
hört in  das  er  bei  Caesar's  Ermordung  ausbrach^). 

Besonders  auffallend  zeigt  sich  Cicero 's  Weichheit  gegen 
äussere  Eindrücke,  und  besonders  nahe  streift  sie  an  Haltungs- 
losigkeit  in  seinem  Benehmen  als  Staatsmann.  Cicero  erkannte 
die  Einseitigkeiten  und  Fehler  der  verschiedenen  Parteien  und 
konnte  daher  keiner  sich  von  ganzem  Herzen  ergeben,  ohne  aber 
doch  in  sich  die  Kraft  zu  haben  einen  selbständigen  Weg  einzuschlagen 
und  durchzuführen.  So  sehen  wir  ihn  in  einem  fortwährenden 
Schaukeln  und  Schwanken.  Als  Liberaler  begann  er  seine  poli- 
tische Laufbahn,  und  als  Anhänger  des  Volkslieblings  Pompejus. 
In  seinem  Consulat  drängten  ihn  die  Umstände  immer  weiter  auf 
die  Seite  der  Conservativen ,  der  Senatspartei,  woneben  er  aber 
nicht  aufhört  deren  damaligen  Gegner,  den  Pompejus,  zu  be- 
günstigen. Auch  dem  Caesar  diente  er ,  noch  williger  nach  seiner 
Verbannung,  die  ihn  überzeugt  hatte  wie  wenig  verlässigen  Schutz 
der  Senat  gewähre.  Immer  offener  stellte  er  sich  auf  die  Seite 
der  thatsächlichen  Macht.  Als  nun  aber  die  Reibungen  zwischen 
Caesar  und  Pompejus  begannen  und  allmählich  in  offenen  Krieg 


^)  qaoniam  laadis  avidissimi  semper  fuimus,  ad  Att.  I,  15  vgl.  II, 
17,  2  und  Farn.  IX,   14,  2:  sum  avidior  etiam  quam  satis  est  gloriae. 

')  Die  Belege  zu  dieser  Charakterschilderung,  nur  etwas  zu  sehr 
ins  Schwarze  gemalt,  s.  bei  Drumann  Gesch.  Bom's  VI.  §.  112  —  123. 


342  Cicero. 

ausbrachen,  war  Cicero  weder  stark  genug  um  den  Tnumvirn 
entgegenzutreten,   noch  auch  schwach  genug  um  zu  ihnen  über- 
zugehen; ebenso  wenig  kam  er  zu  einer  Entscheidung  zwischen 
Pompejus  und  Caesar,  von  welchen  Beiden  er  sich  ebenso  sehr 
angezogen  als  abgestossen  fühlte.     So  hielt  er  sich  denn  so  lange 
als   nur   irgend    thunlich    war,   ja    noch   länger,   in    der   Mitte 
zwischen  Beiden,  arbeitete  an  ihrer  Versöhnung,  blieb  mit  Beiden 
in  Verbindung ,  und  erst  als  die  öflentliche  Stimme  sich  über  sein 
zweideutiges  Benehmen  mit  offener  Missbilligung  aussprach  Hess 
er  sich  von  ihr  nöthigen  dem  Pompejus  nach  unendlichem  Zögern 
und  Schwanken  nachzureisen.    Aber  kaum  war   er  bei  diesem, 
so  bereute  er  seinen  Schritt  schon  wieder,  vermied  Alles  was 
ihn  bei  Caesar  compromittieren  konnte,  und  unterwarf  sich  diesem 
offen  nach  der  Schlacht  bei  Pharsalus.     Daneben  konnte  er  es 
aber  nicht  unterlassen  durch  Lobpreisung  des  Cato  und  allerlei 
Seufzer  über  die  böse  Zeit  in  seinen  Schriften  mit  den  Republi- 
kanern zu  liebäugeln;   und  als  nun  Caesar   ermordet  war  warf 
er  die  Maske  ab,   wurde  wieder  Republikaner  und  Aristokrat, 
auch  Lobredner  der  „Tyrannenmörder",  von  denen  er  sich  aber 
bald  wieder  zurückzog  als  er  die  Unzulänglichkeit  ihrer  intellec- 
tuellen  und  physischen  flulfsmittel  gewahrte.     Als  Antonius  die 
Stadt  räumte  fand  Cicero  sich  wieder  auf  der  Bühne  ein,  um  in 
dessen  Rücken  gegen  ihn  zu  donnern  und  Octavian  wider  ihn  zu 
benützen;  aber  Octavian  liess  es  sich  nur  so  lange  gefallen  bis 
er  mit  Hülfe    des  Senats   zu   eigener  Macht   gelangt  war,   und 
Cicero's  Blut    besiegelte   seine  Versöhnung  mit  Antonius.     Wie 
Octavian  gegenüber  so  war  Cicero  auch  sonst  in  seinem  poli- 
tischen Leben  der  Getäuschte  wo  er  zu  täuschen   meinte,    das 
Mittel  wo  er  Zweck  zu  sein  wähnte.   Vollkommen  ungeeignet  den 
Ton  anzugeben,  war  er  es  trefflich  zum  Secundieren.     Er  hatte 
ein  entschiedenes  Bedürfniss  sich  anzulehnen,  musste  aber  die 
Erfahrung  machen  dass  der  an  welchen  er  sich  anlehnen  wollte 
bald  zu  schwach  war  um  zur  Stütze  zu  dienen,   bald  zu  stark 
um  sich  ohne  Entgelt  benützen  zu  lassen.     Wer  seiner  Eitelkeit 
zu  schmeicheln  wussle  oder  ihm  Furcht  einflösste,  der  war  sein 
Gebieter;  willenlos  liess  er  sich  gängeln  von  den  Ereignissen  und 
Verhältnissen  und  hatte  noch  überdiess  die  Offenheit  diess   als 
seinen  Grundsalz  zu  bekennen^).     Trat  eine  Verwicklung  oder 


^)  temporibus  assentieudum,  ad  Farn.  I,  9,  21.  vgl.  18. 


Charakter  als  Staatsmann.  343 

Gefahr  ein,  so  hielt  der  Consular  sich  klüglich  entfernt,  schrieb 
Bücher  und  machte  Reisen.  Der  sicherste  Weg  schien  ihm  alle- 
zeit der  beste,  und  die  weiseste  Politik  den  Ausgang  abzuwarten. 
Das  einzige  Bleibende  in  Cicero's  politischer  Richtung  ist  sein 
Anlehnen  an  den  Ritterstand ,  der  aber  selbst  auch  immer  mit 
dem  Winde  segelte,  um  seine  Geldsäcke  zu  retten.  —  Ein  eigent- 
licher Staatsmann  war  Cicero  nach  diesem  Allem  nicht,  so  sehr 
er  sich  es  auch  einbildete :  dazu  fehlte  es  ihm  zu  sehr  an  Weit- 
sichtigkeit, Scharfblick,  an  einem  klaren  Ziel,  an  Festigkeit  des 
Willens  und  an  Mut.  Auch  in  der  Zeit  wo  er  wirklich  am  Ruder 
stand  that  er  Nichts  wodurch  er  gezeigt  hätte  dass  er  eine  klare 
Vorstellung  habe  von  dem  eigentlichen  Zustande  des  Reichs,  von 
der  Wurzel  des  Uebels,  von  der  Noth wendigkeit  einer  Reformation 
an  Haupt  und  Gliedern;  im  Kleinen  am  Staate  flicken  und  die 
dringendsten  Bedurfnisse  des  Augenblicks  befriedigen  war  wie 
bei  der  ganzen  Senatspartei  so  auch  bei  ihm  die  Summe  seiner 
Staatsweisheil. 


xm. 

T  i  b  u  1  1  u  s.*) 


1.  Tibull's  Lebennimstände. 

■ 

1.  Der  Name  unseres  Dichters  istAlbius  Tibullus;  sein 
Vorname  ist  unbekannt;  doch  hat  man  nicht  ohne  Wahrschein- 
lichkeit vermutet  dass  er  Aulus  gewesen  sei  und  die  Gleichheit 
mit  dem  Anfangsbuchstaben  des  Hauptnamens  bewirkt  habe  dass 

m 

derselbe  für  uns  verloren  gieng.  Das  Jahr  seiner  Geburt  ist 
uns  nicht  positiv  überliefert;  denn  wenn  es  El.  III,  5,  17  f. 
heisst: 

Unsem  Geburtstag  sahn  erstmals  eintreten  die  Eltern 
Als  zwei  Consuln  zugleich  raffte  das  Todesgeschick, 

SO  führt  diess  zwar  mit  Sicherheit  auf  das  J.  711,  wo  in  der 
Schlacht  bei  Mutina  die  beiden  Consuln ,  Hirtius  und  Pansa ,  ihren 
Tod  fanden;  indessen  ist  nicht  minder  sicher  dass  das  dritte 
Buch,  in  welchem  jene  Stelle  sich  findet,  von  TibuU  nicht  her- 
rührt, und  die  angeführten  Worte  selbst  sind  mit  ein  Beweis 
davon:  denn  zu  diesem  Geburtsdatum  würde  von  den  andern 
Nachrichten  die  wir  aus  dem  Leben  unsers  Dichters  haben  keine 
einzige  passen.  Einen  allgemeinen  Aufschluss  über  das  Zeitver- 
hältniss  des  Tibull  erhallen  wir  durch  Ovid,  welcher  Trist.  IV, 
10,  51  a.  sagt: 

Nur  noch  zu  sehen  bekam  ich  Virgil,  und  das  neidische  Schicksal 
Liess  dem  Tibull  nicht  Zeit  sich  zu  befreunden  mit  mir. 

Letzterer  war  Nachfolger  des  Gallus,  Propertius'  Vorfahr; 
Vierter,  von  diesen  gezählt,  bin  nach  dem  Alter  ich  selbst. 


*)  Aus    der    metrischen    Uebersetzung    der    tibullischeu    Gedichte, 
Stuttgart  (Metzler)  1853. 


TibuU's  Leben.  345 

Hienach  war  Tibull  auf  dem  Gebiete  der  Elegie  Nachfolger  des 
Cornelius  Gallus,  der  im  Jahr  728  d.  St.  43  Jahre  alt  starb, 
also  im  J.  685  d.  St.  geboren  war^  und  andererseits  Vorgänger 
des  Propertius,  dessen  Geburt  ungefähr  ins  J.  708  d.  St.  fällt, 
sowie  endlich  des  Ovidius,  dessen  Geburtsjahr  711  ist.  Zwischen 
die  Jahre  690  und  705  wird  denn  auch  die  Geburt  des  Tibull 
allgemein  gesetzt,  und  zwar  von  Dousa  u.  A.  ins  J.  690,  von 
J.  H.  Voss  in  695,  von  Paldamus,  Dissen,  Gruppe  u.  A.  ins  J. 
700,  endlich  z.  B.  von  Ayrmann  in  705.  Unter  diesen  Zahlen 
ist  700  diejenige  welche  zu  allen  sonst  bekannten  Daten  am 
besten  stimmt.  Wir  wissen  nämlich  aus  einem  Epigramm  des 
Domitius  Marsus  —  der  selbst  auch  dem  augusteischen  Zeitalter 
angehört  —  dass  Tibull  im  besten  Mannesalter  (als  iuvenis)  starb, 
und  zwar  ganz  kurz  nach  VirgiL    Das  Epigramm  lautet: 

Dich  aach  sandte,  Tibull,   dem  Virgll  zam  Gefährten,   das  Schicksal 
Herb  ins  Elysium  hin  noch  in  der  Blüte  der  Kraft. 

Virgll  starb  nun  aber  am  22.  September  735,  Tibull  also  am 
Ende  desselben  Jahres.  Und  da  er  zur  Zeit  seines  Todes  noch 
im  Alter  eines  iuvenis  stand  —  wesshalb  ihn  ^Ovid  Amor.  HI, 
9,  1  mit  Memnon  und  Achilleus  vergleicht  —  so  kann  er  vor 
dem  Jahre  700  d.  St.  nicht  wohl  geboren  sein.  Dazu  passt  auch 
sein  Altersverhältniss  zu  Messala  und  Horaz.  Wie  Tibull's  Hal- 
tung gegenüber  von  Messala  immer  die  des  Jüngeren  gegen  einen 
Aelteren  ist,  so  stimmt  ebenso  Horaz  in  den  beiden  Gedichten 
die  er  an  Tibull  gerichtet  hat  (Od.  I,  33.  Epist.  I,  4)  ganz 
unverkennbar  den  Ton  eines  älteren  Freundes  an,  —  und  Horaz 
war  geboren  am  8.  December  689,  Messala  aber  ums  J.  690  d.  St. 

2.  Die  Familie  des  Tibull  gehörte  dem  Ritterstande  an  und 
war  ursprünglich  begütert  (El.  I,  1,  41  f.).  Sein  Vater  scheint 
frühe  gestorben  zu  sein,  da  immer  nur  von  der  Mutter  und 
Schwester  die  Rede  wird,  nie  von  seinem  Vater,  und  weil  Tibull 
(nach  IV,  1,  183  ff.)  im  Jahr  713  den  väterlichen  Besitz  schon 
selbst  angetreten  hatte.  Und  dass  der  Dichter  überwiegend  unter 
weiblichen  Einflüssen  ^aufgewachsen  ist  dürfen  wir  ebenso  aus 
dem  weichen,  zarten  und  gefühlvollen  Tone  seiner  Gedichte 
schliessen  als  uns  andererseits  jener  Umstand  ein  Schlüssel  ist 
zu  Erklärung  dieser  Eigenthümlichkeit,  mit  welcher  Tibull  unter 
den  römischen  Dichtern  so  einzig  dasteht.  Der  Wohlstand  von 
Tibulls  Familie   erhielt  einen  harten  Stoss   durch  die  Ackerver- 


346  TibuUus. 

theiiuQgen  des  Jahrs  .713«  die  auch  für  andere  Dichter  dieser 
Zeit  (Virgil,  Horaz,  Propertius  und  den  Verfasser  der  Dirae)  so 
verhängnissvoli  wurden.  Tibuli  bösste  damals  einen  bedeutenden 
Theil  seiner  Erbgüter  ein,  behielt  jedoch  wenigstens  so  viel  um 
die  Kosten  seiner  Ausbildung  bestreiten  und  ein  zwar  bescheidenes, 
aber  doch  sorgenfreies  Leben  führen  zu  können.  Die  Gefahr 
einer  Wiederholung  desselben  Unglüclts  (vgl.  IV,  1,  190)  war  es 
wohl  die  ihn  trieb  sich  in  den  Schutz  eines  Mächtigen  zu  be- 
geben, so  dass  die  äussere  Bedrängniss  auch  ihm  '• —  wie  dem 
Virgii  und  Horaz  —  zum  Bewusstsein  seiner  dichterischen  Fähig- 
keiten verholfen  und  ihn  in  Umgebungen  gebracht  hat  durch 
welche  die  Entfaltung  seiner  Talente  begünstigt  wurde.  Wir 
sehen  ihn  nämlich  zu  Anfang  des  Jahrs  723  d.  St.  einem  der 
Generale  des  Octavian,  dem  M.  Valerius  Messala,  mit  einem 
Lobgedicht  (IV,  1)  sich  nähern  und  ihm  seine  Noth  klagen.  Die 
schüchterne,  verlegene  und  ungewandte  Art  in  welcher  dieses 
geschieht  beweist  ebenso  sehr  die  Jugend  des  Verfassers  als  dass 
er  mit  dem  Angeredeten  bisher  noch  in  keinem  näheren  Ver- 
hältniss  gestanden  ist.  Das  Gedicht  scheint  wirklich  den  ge- 
wünschten Erfol§  gehabt  zu  haben ;  dass  aber  Tibuli  seinen  neuen 
Gönner  noch  in  demselben  Jahre  in  den  Krieg  und  nach  der 
Schlacht  bei  Aktium  nach  Asien  und  Aegypten  begleitet  hätte, 
dafür  lässt  sich  nur  I,  7,  13—22  anführen,  wo  freilich  per- 
sönliche Anwesenheit  in  den  betreuenden  Ländern  weder  (wie 
V.  9)  ausdrücklich  erwähnt  wird  noch  aus  der  Beschreibung  selbst 
mit  Sicherheit  zu  folgern  ist.  Jedenfalls  aber  begleitete  Tibuli 
den  Messala  in  seinen  Feldzug  gegen  die  abgefallenen  Aquitanier, 
welcher  ohne  Zweifel  in  das  J.  726  d.  St.  zu  verlegen  ist,  da 
Messala's  Triumph  über  die  Aquitanier  am  25.  September  727 
gefeiert  wurde.  In  diesem  Feldzuge  soll  Tibuli  —  nach  einer 
Lebensbeschreibung  desselben  welche  sich  in  manchen  Hand- 
schriften findet  —  sich  sogar  kriegerische  Ehrengeschenke  verdient 
haben  (cuius  et  contubernalis  Aquitanico  hello  militaribus  donis 
donatus  est).  Indessen  war  unseres  Dichters  Natur  zu  friedlich 
angelegt  (vgl.  £1.  I,  10)  als  dass  er  am  Kriege  nachhaltig  hätte 
Gefallen  finden  können  (vgl.  Horaz  Ep.  II,  1,  124).  Als  daher 
in  einem  späteren  Jahre  Messala,  —  der  mit  irgend  einer  Sen- 
dung in  Asien  beauftragt  war,  welche  möglicherweise  zu  kriege- 
rischen Verwicklungen  führen  konnte  —  den  Tibuli  abermals  zum 
Mitgehen  aufforderte  lehnte  dieser  die  Einladung  zuerst  ab  (El. 


Lebensumstände.  347 

I,  1),  scbeinl  aber  später  sich  doch  noch  eines  Andern  besonnen 
und  dem  Zuge  angeschlossen  zu  haben.  Wenigstens  finden  wir 
ihn  Eleg.  I,  3  zwar  aus  Rom  allein  abgereist  (v.  9  —  20),  dann 
aber  (etwa  von  Brundisium  an)  in  Gesellschaft  des  Messala  bis 
Corcyra  gesegelt,  auf  welcher  Insel  er  krank  zuruckblieb,  wäh- 
rend Messala  und  dessen  Gefolge  ihre  Reise  durch  das  ägäische 
Meer  (also  nach  Asien  oder  Aegypten)  fortsetzten.  Die  wohl- 
meinende Absicht  in  welcher  Messala  ihn  zu  dieser  Reise  auf- 
gefordert hatte,  um  ihm  Gelegenheit  zu  geben  seine  Vermögens- 
umstände zu  verbessern  (vgl.  1,  1,  1  ff.  49  ff.),  scheint  daher 
wenigstens  auf  diesem  Wege  nicht  erreicht  worden  zu  sein,  da 
Tibull  nach  seiner  Genesung  nach  Rom  zurückgereist  sein  muss. 
Doch  scheint  auch  so  Tibuirs  äussere  Lage  —  wohl  in  Folge 
seiner  Verbindung  mit  Messala  —  eine  ganz  leidliche  gewesen 
zu  sein.  Diess  ersehen  wir  aus  dem  Briefe  des  Horaz  an  Tibull 
(Hör.  Ep.  I,  4),  welcher  vielleicht  schon  aus  dem  J.  725  stammt, 
wo  TibuII's  Lobgedicht  auf  Messala  bereits  seine  Wirkung  gethan 
hatte  und  vom  aquitanischen  Feldzuge  noch  keine  Rede  war.  In 
diesem  Briefe  spricht  Horaz  nicht  nur  von  einem  Landgute  welches 
sein  junger  Freund  bei  Pedum  (2  Meilen  östlich  von  Rom ,  an 
der  lavicanischen  Strasse)  besitze  (v.  2),  sondern  sagt  auch: 

„Dir  schenkten  die  Götter 
Schönheit,  reichen  Besitz^' 

(v.  7)  und 

„ein  behagliches  Sein  bei  nie  leerwerdendem  Beutel^' 

(v.  11).  lieber  die  Person  unseres  Dichters  gibt  derselbe  Brief 
die  Auskunft: 

Hat  es  an  Seele  dir  nie  ja  gefehlt:  dir  schenkten  die  Götter 
Schönheit,  reichen  Besitz,  mit  der  Kunst  ihn  recht  zu  gemessen  — 
Welchem  Beliebtheit,  Rahm  und  Gesundheit  reichlich  zu  Theil  ward. 

(v.  6  f.  u.  10).  Tibull  bezeichnet  selbst  einmal  seinen  Wuchs 
als  schlank  und  schmächtig  (EL  U,  3,  9).  Was  besonders  aus 
den  Worten  des  Horaz  hervorgeht,  dass  Tibull  schön  und  liebens- 
würdig war,  das  ist  von  der  erwähnten  alten  Lebensbeschreibung 
des  Weiteren  ausgeführt  worden,  vielleicht  eben  auf  Grundlage 
der  borazischen  Stelle. 

3.  Mit  solcher  Ausstattung  von  Seiten  der  Natur  und  des 
Schicksals  ward  es  dem  Tibull  nicht  schwer  die  Liebe  zu  finden 
nach  der  sein  warmes,  zärtliches  Herz  so  sehr  verlangte:  Delia 


348  TibuUuB. 

und  Nemesis  sind  die  Mädchen  die  wir  —  neben  Marathus  —  in 
seinen  Gedichten  besungen  finden,  jene  im  ersten,  diese  im 
zweiten  Buche  derselben.  Von  Delia  erfahren  wir  durch  Appu- 
lejus  (Apol.  p.  106  Oud.)  dass  ihr  wahrer  Name  Plania  war.  Die 
römischen  Dichter  hatten  nämlich  die  Gewohnheit  ihre  Liebes- 
gedichte aus  der  unmittelbaren  Wirklichkeit  und  dem  Dunstkreis 
des  Klatsches  dadurch  wegzurücken  dass  sie  die  Namen  der  Be- 
sungenen durch  andere  von  gleicher  Silbenmessung  ersetzten; 
und  zwar  wählten  sie  hiezu  bald  solche  welche  den  betreffenden 
Personen  einen  idealischen  Charakter  verliehen  (wie  CatuU's  Lesbia, 
Propertius'  Cynthia)  bald  solche  die  auf  den  wirklichen  Namen 
oder  sonstige  Eigenthümlichkeiten  der  Geliebten  Bezug  hatten. 
So  kann  Delia  entweder  (wie  Paldamus  annimmt,  Römische  Erotik 
S.  53  Anm.)  auf  den  Dichtergott  Apollo  sich  beziehen,  —  was 
jedoch  etwas  entlegen  und  auch  darum  minder  wahrscheinlich  ist 
weil  Artemis  die  Schwester  (nicht:  die  Geliebte)  des  ApoUon  ist, 
—  oder  (wie  Fr.  Passow  meint,  Verm.  Schriften,  Leipzig  1843, 
S.  147  ff.)  eine  spielende  Uebersetzung  des  lateinischen  Plania 
sein  (planus  =  d^Aog,  etwa  wie  Telephus  bei  Horaz  vielleicht 
den  Proculeius  bezeichnet).  Delia  erscheint  nach  der  Schilderung 
TibulFs  als  eine  freigeborne  Römerin,  wenn  auch  nicht  von  hohem 
Stande  und  ohne  tiefere  Bildung,  abergläubisch,  gutmütig,  sinn- 
lich und  schön ,  ein  Charakter  wie  er  noch  jetzt  unter  den  Röme- 
rinnen der  mittleren  und  unteren  Classen  sehr  häufig  ist.  Bei 
aller  schwärmerischen  Zärtlichkeit  welche  der  Dichter  ihr  gegen- 
über an  den  Tag  legt  lässt  sich  doch  durchfühlen  dass  Delia 
ihm  geistig  nicht  ebenbürtig  ist,  dass  er  sich  zu  ihr  herablassen 
muss.  Aber  der  Lebenskreis  in  dem  sie  sich  bewegt  ist  immer 
noch  ein  reinerer  als  bei  der  habgierigen  und  gemütlosen  Neme- 
sis, einer  frivolen  Hetärennatur,  die  aber  durch  ihre  körper- 
lichen —  und  Mjjhl  auch  geselligen  —  Reize  und  ihre  berechnende 
Koketterie  den  Dichter  zu  fesseln  wusste  und  welcher  gegenüber 
er  ebensoviel  Leidenschaft  entfaltet  als  bei  Delia  Innigkeit.  Der 
Zeit  nach  vertheilen  sich  beide  Verhältnisse  in  der  Art  dass  Delia 
die  frühere,  Nemesis  die  letzte  Liebe  unseres  Dichters  ist.  Vgl. 
Ovid  Amor.  III,  9,  31  f.: 

So  wird  Nemesis  lang,  so  Delia  lange  genannt  sein, 
Jene  die  neueste  Glut,  diese  die  früheste  Lieb. 

Ausser  diesen  beiden  Namen  aber  nennt  Horaz  noch  einen  dritten, 
den  von  Glycera.   Od.  I,  33  heisst  es  nämlich  zu  Anfang: 


Lebensumstände.  349 

Sei  nicht  allzu  betrübt,  wenn  du  bedenkst,  TibuU, 
Wie  sich  Glycer^  hart  zeige,  und  singe  nicht 
Klagend  ab  Elegien,  dass  sie  mit  Treuebruch 
Ziehe  jüngeren  Mann  dir  vor. 

Es  fragt  sich  ob  diese  Glycera  mit  Nemesis  (denn  nur  von  dieser 
kann  diessfalls  im  Ernste  die  Rede  sein)  identisch  oder  aber 
eine  dritte  Geliebte  ist.  Für  das  Letztere  haben  sich  Bissen, 
Gruppe,  Hertzberg  u.  A.  entschieden,  für  das  Erstere  Scaliger, 
Passow,  Weichert,  Dieterich  (de  Tibulli  amoribus,  Marburg  1844). 
Für  die  Identiücierung  von  Glycera  und  Nemesis  spricht  einzig 
das  Zeugniss  des  Ovid,  der  nur  von  zwei  Geliebten  des  Tibull 
weiss.  Indessen  ist  dieses  Zeugniss  l^eine  unüberwindliche  Schranke. 
Der  Nachruf  welchen  Ovid  dem  Tibull  gewidmet  hat  (Amor.  III, 
9)  enthält  ausser  der  einen  Thatsache  dass  Tibull  (in  Rom)  ge- 
storben ist  auch  nicht  das  Geringste  was  beweisen  könnte  dass 
dem  Ovid  noch  andere  Quellen  zu  Gebot  standen  als  auch  uns, 
nämlich  die  tibullischen  Gedichte.  Neben  I,  1  ist  besonders  I,  3 
darin  ausgebeutet,  und  dorther  namentlich  die  Erwähnung  von 
TibuH's  Mutter  und  Schwester  entnommen;  ausserdem  noch  im 
Allgemeinen  die  Elegieen  des  zweiten  Ruchs.  Ueberdiess  sagf 
Ovid  nirgends  dass  Delia  und  Nemesis  die  beiden  einzigen  Ge- 
liebten Tibuirs  gewesen  seien,  sondern  nur  dass  jene  seine  erste, 
diese  seine  letzte  Liebe  war,  und  Reide  durch  seine  Gedichte 
verewigt  worden  seien.  Dass  aber  in  der  Mitte  zwischen  Reiden 
der  Dichter  noch  Andere  liebte  und  besang  —  nur  nicht  so 
eigens,  so  eifrig  und  mit  solchem  Erfolge  —  ist  durch  Ovid's 
Worte  keineswegs  ausgeschlossen,  wie  denn  die  Elegieen  auf 
Marathus,  trotzdem  dass  Ovid  diesen  Namen  in  Am.  III,  9  nicht 
genannt  hat,  unfehlbar  tibuUisch  sind.  Auch  hat  Gruppe  (die 
röm.  Elegie  I.  S.  220)  vollkommen  richtig  bemerkt  dass  für  die 
dramatische  Scene  (am  Grabe  des  Tibull)  welche  Ovid  in  dem 
fraglichen  Gedichte  darstellt  nur  zwei  Geliebten  zu  brauchen 
gewesen  seien,  und  diess  war  Grund  genug  eine  dritte  zu  ver- 
schweigen, selbst  wenn  er  eine  solche  kannte.  So  ist  denn  das 
Gedicht  des  Ovid  kein  Hinderniss  eine  dritte  Geliebte  des  Tibull 
anzunehmen^  falls  eine  solche  Annahme  aus  andern  Gründen 
wünschenswerth  erscheinen  sollte.  Solche  Gründe  sind  in  der 
horazischen  Stelle  allerdings  enthalten.  Diese  sagt  über  das  be- 
treffende  Mädchen  und  die  von  ihr  handelnden  tibullischen  Ge- 
dichte fünferlei  aus.   Einmal  nennt  Horaz  sie  Glycera,  ein  Name 


350  TibuUus. 

welcher  offenbar  gleichfalls  ein  erdichteter  ist  und  es  daher  auf- 
fallend erscheinen  lässt  dassHoraz,  wenn  er  das  gleiche  Mädchen 
meinte,  nicht  bei  dem  von  Tibuil  selbst  gewählten  stehen  blieb, 
und  welcher  überdiess  mit  Nemesis  nicht  völlig  gleiche  Silben- 
messung hat.  Diese  Schwierigkeit  ist  freilich  keine  erhebliche 
und  unüberwindliche,  denn  ebenso  wenig  konnte  Hostia  in  allen 
Fallen  gesetzt  werden  wo  Cynthia  im  Verse  stand  (z.  B.  nicht: 
mea  Hostia ,  für :  mea  Cynthia) ,  und  würde  es  einem  Hergang 
wie  Dieterich  p.  58  —  60  ihn  sich  ausmalt  an  Denkbarkeit  nicht 
fehlen.  Dieterich  nimmt  *  nämlich  an  dass  in  den  betreffenden 
Gedichten  des  Tibuil  —  welche  jetzt  im'  zweiten  Buche  eingereiht 
sind  —  ursprünglich,  vor  der  Veröffentlichung  derselben,  seine 
Geliebte  bei  ihrem  wirklichen  Namen  genannt  gewesen  sei.  Diesen 
las  auch  Horaz,  welchem  als  einem  Freunde  und  Kenner  Tibuil 
diese  Gedichte  in  ihrer  vorläufigen  Gestalt  mittheilte,  ersetzte 
aber  in  der  darauf  bezüglichen  uiid  für  die  Oeffentlichkeit  be- 
stimmten Ode  (I,  33)  den  wirklichen  Namen  durch  den  erdich- 
teten: Glycera,  weil  dieser  der  Quantität  von  jenem  zu  ent- 
sprechen schien.  Vor  der  Vollendung  dieser  Elegieen  wurde  nun 
aber  Tibuil  vom  Tode  ereilt,  und  der  JPreund  der  die  Heraus- 
gabe besorgte  ersetzte  gleichfalls  den  ursprünglichen  Namen  durch 
einen  anderen  von  gleicher  Silbenmessung,  aber  nicht  durch 
Glycera  wie  Horaz,  da  dieser  z.  B.  U,  4,  59  nicht  passte,  sondern 
durch  Nemesis,  welche  [Benennung  zugleich  das  Benehmen  der 
fraglichen  Person  gegen  Tibuil  und  ihren  Einfluss  auf  ihn  rich- 
tiger zu  bezeichnen  schien  als  Glycera.  Horaz  aber  hatte  damals 
seine  Ode  bereits  veröffentlicht  und  konnte  daher  sein  Glycera 
nicht  mehr  mit  Nemesis  vertauschen,  oder  auch  wollte  er  es 
nicht,  da  ihm  sein  Glycera  ebenso  berechtigt  scheinen  mochte 
als  der  von  dem  andern  Freunde  gewählte  Namen  Nemesis.  Diese 
Glycera  nun  bezeichnet  Horaz  zweitens  als  immitis.  Dieses  Merk- 
mal findet  auch  auf  Nemesis  Anwendung  und  stimmt  mit  ser- 
vilium  triste  (H,  4,  3),  saeva  puella  (H,  4,  6)  und  dura  pueila 
(H,  6,  28)  überein  >  wiewohl  Beiwörter  wie  avara,  rapax  u.  dgl. 
für  Nemesis  wohl  noch  bezeichnender  gewesen  wären  (vgl.  H, 
3,  49  ff.  4,  14  ff.  bes.  v.  25.  35.  46).  Drittens  waren  die 
Elegieen  auf  Glycera  nach  Horaz  miserabiles.  Auch  diess  trifft 
bei  denen  auf  Nemesis  zu  (H,  3.  4.  6),  ist  aber  ein  Prädikat 
welches  den  meisten  Elegieen  des  Tibuil  gegeben  werden  kann 
und  überhaupt  der  späteren  Form  der  Elegie  eigen  ist.    Viertens 


Lebensumstände.  351 

war  der  Inhalt  der  Gedichte  auf  Glycera  nach  Horaz  Klage  über 
Verletzung  der  Treue.  Diess  passt  nun  schon  auf  die  Elegieen 
des  zweiten  Buchs  sehr  wenig.  Auf  Treue  konnte  Tibull  bei 
NeiUQsis  keinen  Anspruch  machen,  denn  sie  w^r  eine  Hetäre, 
und  worüber  er  klagt  ist  auch  gar  nicht  dass  sie  die  Treue  gegen 
ihn  verletze,  sondern  dass  sie  spröde  gegen  ihn  sei,  seine  Liebe  so 
wenig  erwidere,  ihm  so  harte  Bedingungen  stelle.  Endlich  aber  das 
Motiv  dass  Glycera  ihm  unti^eu  geworden  sei  weil  sie  einem  Jüngeren 
den  Vorzug  gebe  steht  im  geradesten  Widerspruch  mit  den  von 
Nemesis  handelnden  Elegieen.  Auch  bei  Nemesis  hat  Tibull  einen 
Nebenbuhler,  aber  es  ist  ein  gewesener  Sklave  (II,  3,  59  f.), 
und  er  steht  Jenem  im  Wege  nicht  weil  er  jünger  ist,  sondern 
weil  er  besser  bezahlt  (vgl.  II,  3,  49.  4,  33  f.):  pretio  victus  ist 
der  Dichter  (II,  4,  39).  Nun  hat  zwar  Dieterich  p.  54  f.  sich 
durch  die  Annahme  zu  helfen  gesucht,  Horaz  habe  mit  seinem 
iunior  dem  Tibull  auf  eine  zarte  Weise  zu  verstehen  geben  wollen 
dass  dem  Nebenbuhler  nicht  —  wie  Tibull  meine  —  sein  grösserer 
Reichtbum,  sondern  vielmehr  seine  grössere  Jugendlichkeit  den 
Vorzug  vor  dem  kränklichen  Dichter  verschalTt  habe.  Aber  diese 
Auskunft,  die  ohnehin  einem  gebildeten  Geschmacke  allzu  viel 
zumutet,  ist  durch  die  Worte  des  Horaz  selbst  ausgeschlossen, 
bei  welchem  der  Conjuncliv  praeniteat  vielmehr  andeutet  dass  die 
grössere  Jugendlichkeit  des  Nebenbuhlers  von  Tibull  selbst  in 
den  betreffenden  Elegieen  als  Grund  seiner  Zurücksetzung  ange- 
geben gewesen  sei.  Hat  es  hienach  die  grösste  Wahrscheinlich- 
keit dass  die  elegi  auf  Glycera  von  welchen  Horaz  spriclit  nicht 
die  auf  Nemesis  sind,  so  fragt  sich  wo  denn  jene  hingekommen 
seien?  Sie  sind  verloren  gegangen,- antwortet  W.  Hertzberg  (Hall. 
Jahrb.  1839.  I.  S.  1029),  „weil  Tibull  nie  die  zweite  Hand  an 
sie  gelegt  und  sie  zu  einem  Buche  verbunden  herausgegeben 
hatte."  Aber  Letzteres  war  ja  auch  bei  denen  auf  Nemesis  nicht 
der  Fall,  und  doch  sind  sie  uns  erhalten.  Ueberhaupt  hat  in  die 
tibullische  Gedichtsammlung  so  manches  andere  vereinzelt  Stehende 
und  Unvollendete,  ja  so  vieles  gar  nicht  von  Tibull  Herrührende 
dennoch  Aufnahme  gefunden  dass  der  völlige  Verlust  gerade  jener 
Glycera-Elegieen  etwas  Befremdendes  hätte.  Schon  darum  empfiehlt 
sich  die  Vermutung  von  Gruppe  (d.  röm.  Elegie  S.  223 ff.)*),  dass 


•)  Mit   welcher   sich  W.   Hertzberg,    Zeitschr.    f.   Alt.-Wiss.  1854, 
B.  851,  gleichfalls  einverstanden  erklärt. 


352  TibuUus. 

El.  IV,  13  und  14  Ueberreste  davon  seien,  freilich  solche  in 
welchen  das  was  Horaz  als  Inhalt  der  elegi  auf  Glycera  angibt 
nur  in  den  ersten  Anfängen  sich  angedeutet  findet  (peccare  IV,  14 
vgl.  mit  laesa  pde  des  Horaz),  so  dass  auch  bei  dieser  Ansicht 
der  grössere  Theii  als  verloren  betrachtet  werden  mässte. 

Die  im  dritten  Buche  angeredete  Neära  ist  im  Vorstehen- 
den absichtlich  übergangen,  weil  sie  zu  Tibull  selbst  keinerlei 
Beziehung  hat,  wie  das  Folgende  näher  zeigen  wird. 

2.  TibuU's  Gedichte. 

Die  unter  dem  Namen  Tibuirs  auf  uns  gekommene  Gedicht- 
sammlung ist  in  den  Handschriften  meist  in  vier  Bucher  abgetheilt. 
Innerhalb  dieser  sind  die  einzelnen  Stücke  nur  nach  einer  all- 
gemeinen Ordnung  vertheilt,  so  nämfich  dass  die  von  Delia,  sowie 
die  von  Marathus  handelnden  im  ersten  Buche  stehen,  die  von 
Nemesis  im  zweiten,  (von  Neära  im  dritten)  und  die  von  Sulpicia 
im  vierten.  Bei  der  Anordnung  der  einzelnen  Stücke  selbst  aber 
lässt  sich  —  wenigstens  im  ersten  Buche  —  ein  bestimmter  Plan 
nicht  erkennen.  In  dieses  wirre  Chaos  Licht  zu  bringen  hat 
zuerst  0.  F.  Gruppe. unternommen  in  seiner  Schrift:  Die  römische 
Elegie.  Kritische  Untersuchungen  mit  eingeflochtenen  lieber- 
Setzungen.  Leipzig  1838.  8.  Seine  Ergebnisse  voraussetzend, 
weiterführend  und  abändernd  unterscheiden  wir  in  der  künst- 
lerischen Entwicklung  unseres  Dichters  folgende  Stufen. 

1)  Die  der  jugendlichen  Unreife,  vertreten  durch  das  Lob- 
gedicht  auf  Messala  (IV,  1).  Zwar  haben  Heyne,  Bach, 
Weicherl,  Paldamus,  Bissen,  W.  Hertzberg,  M.  Haupt  (Observ.  critt. 
p.  49)  um  die  Wette  den  tibullischen  Ursprung  dieses  Epos  be- 
stritten. Namentlich  Hertzberg  hat  sich  (in  den  Hall.  Jahrb.  1839. 
I.  S.  1026  f.)  bemüht  zu  zeigen  dass  der  Panegyrist  „ein  von 
Tibull  in  Sitte,  Geist  und  Bildung  gänzlich  verschiedener  Mensch" 
sei,  indem  er  behauptet:  „es  ist  unmöglich  dass  der  Mensch 
welcher  hier  so  erbärmlich  nach  seinem  verlorenen  Gütlein  zagt 
und  klagt  (v.  181  — 188)  und  seinen  Lobgesang  damit  als  einen 
Bettelbrief  an  den  Gönner  stempelt  auch  nur  ein  anständiger 
Mann  sei ,  geschweige  denn  Tibull ,  der  liebenswürdige  Verächter 
gemeiner  Glücksgüter;  es  ist  unmöglich  dass  ein  Mensch  der  so 
gegen  allen  Sinn  und  Verstand  schmeichelt  dass  er  sagt  er  wolle, 
^enn  Messala   es    beföhle    [vielmehr  wenn   es   der  Bettung  von 


Gedichte.   Panegyricus.  353 

dessen  Leben  gelte],  seinen  Leib  —  und  zwar  seinen  kleinen 
Leib  —  in  den  Aetna  stürzen  (v.  196),  der  zum  Schlüsse  sich 
der  aberwitzigea  Vorstellung  bedient  er  werde  seine  angefangenen 
Gedichte  zu  Messala*s  Preis  fortsetzen  auch  nachdem  er  darüber 
gestorben  und  begraben  sei,  möchte  er  nun  bis  zu  seiner  zu 
hoffenden  neuen  Menschwerdung  ein  Pferd,  ein  Ochse  oder  ein 
Vogel  gewesen  sein,  —  es  ist  unmöglich  dass  solch  ein  Mensch, 
dem  jede  Ader  poetischen  Sinnes  gebricht,  nach  vier  Jahren  zu 
einem  Dichter  wie  TibuU  [in  I,  7!]  wird/'  Hertzberg  hebt  dann 
als  das  den  Panegyristen  von  Tibull  Unterscheidende  besonders 
hervor  „die  schleppenden  Perioden,  die  sich  in  langen  Vorder- 
und  Nach-  Sätzen  durch  zehn  und  mehr  hinkende  Verse  hindurch 
quälen  (19—27,  28—38,  ganz  unerträglich  39—49,  65—78, 
82—105),  die  störrige  Unbiegsamkeit  und  Ungleichheit  der  Die- 
tion,  die  zwischen  dogmalisch  ausgekramter  Gelehrsamkeit  und 
rhetorischem  Prunk  zappelt  und  somit  diametral  der  tibullischen 
Aequabilität  zuwiderläuft."  Trotz  dem  Gewichte  welches  Hertzbergs 
Name  für  uns  hat''')  nehmen  wir  doch  keinen  Anstand  uns  auf  die 
Seite  der  Vertheidiger  des  tibullischen  Ursprungs  (Scaliger,  Vulpius, 
Huschke,  und  ganz  besonders  Gruppe  S.  147 — 163,  vgl.  S.  258  f. 
264  f.)  zu  stellen.  Denn  Hertzbergs  Vorwurfe  sind  theils  zu  stark 
aufgetragen  theils  beweisen  sie  nicht  was  sie  sollen.  Was  nament- 
lich den  Schluss  des  Gedichts  betrifft  so  ist  er  ganz  unbestreit- 
bar geschmacklos;  aber  er  ist  nur  eine  Consequenz  der  durch- 
gängigen Manier  einen  abstracten  Gedanken  durch  Zerlegen  in 
eine  Mehrheit  concreter  Beispiele  auszufuhren,  und  man  darf 
dabei  nicht  aus  dem  Auge  verHeren  dass  das  Allerthum  sich  des 
qualitativen  Unterschiedes  zwischen  ^Mensch  und  Thier  nicht  mit 
derselben  Schärfe  wie  wir  bewusst  war;  s.  meine  Anm.  zu  Horaz 
Sat.  n,  1,  20  (S.  19  f.).  Auch  bei  Tibull  tritt  diese  Betrachtungs- 
weise oft  genug  hervor,  nicht  nur  in  den  Ueblichen  Bildern  I, 
1,  31  f.  10,  10,  sondern  schon  gesteigert  in  II,  1,  67  ff.  3,  17  ff. 
und  mindestens  ebenso  geschmacklos  wie  am  Schlüsse  des  Pane- 


*)  Auch  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Alt-Wlsa.  1854,  S.  362  verharrt  Hertz- 
berg in  seiner  Bestreitung  der  Echtheit.  Da  man  aber  dem  Panegy- 
risten in  der  That  Talent  nicht  absprechen  kann,  wohl  aber  Geschmack, 
der  gerade  an  Jugendgedichten  öfters  vermisst  wird  (man  denke  an  die 
von  Schiller),  und  die  Frage  überhaupt  noch  nicht  allseitig  erwogen 
scheint,  so  mag  obiger  Rechtfertigungsversuch  wenigstens  zu  weiterer 
Verhandlung  anregen. 

Teuf  fei,  StudieD.  23 


354  TibuUus. 

gyrikus  auch  am  Schlüsse  von  II,  4  (v.  57  f.).  Ueberhaupt  darf 
man,  um  zu  einem  richtigen  Ergebniss  zu  gelangen,  den  Pane- 
gyrikus  nicht  ausschliesslich  mit  den  vollendetsten  Gedichten  des 
TibuU  vergleichen:  namentlich  das  nächstälteste,  Eleg.  I^  7,  hat 
ganz  dieselben  Fehler  wie  der  Panegyrikus,  nur  in  geringerem 
Masse.  In  beiden  dieselbe  eintönige,  unbehölflich  rhetorische 
Manier,  in  beiden  die  alexandrinische  Auspolsterung  dürrer  Ge- 
danken durch  allerlei  ungehörigen  mythologischen ,  geschichtlichen 
oder  statistischen  Watt,  in  beiden  der  gleiche  Mangel  an  durch- 
gebildetem Geschmacke ,  der  in  beiden  am  Schlüsse  seinen  Gipfei- 
punkt  ersteigt.  Noch  in  den  Marathus-Elegieen  werden  wir  Ueber- 
reste  dieser  Schulmanier  wiederfniden.  Alles  das  zeigt  nur  dass 
Tibuli  kein  einfacher  Naturdichter  ist,  dem  die  Lieder  unbewusst 
entströmen,  ohne  dass  er  dabei  ein  anderes  Verdienst  hätte  als 
das  des  Werkzeuges;  nicht  zu  Tage  lag  für  ihn  das  Gold  der 
Poesie,  dass  er  nur  darnach  zu  greifen  hatte,  sondern  er  musste 
es  durch  Studium  und  Fleiss  allmählich  aus  dem  gemeinen  Stoffe 
losschälen  mit  dem  es  noch  verwachsen  war,  und  die  Schlacken 
abscheiden,  neben  denen  anfänglich  die  Ausbeute  an  echtem 
Golde  so  gering  war.  Indessen  fehlt  es  auch  dem  Panegyrikus 
bei  allen  seinen  grossen  und  in  die  Augen  springenden  Fehlern 
nicht  an  Spuren  von  Talent,  wohin  Gruppe  mit  Recht  eine  ge- 
wisse Schärfe  der  Auffassung  und  Plastik  der  Anschauung,  sowie 
ein  Streben  nach  dem  präcisesten  Ausdrucke  gerechnet  hat.  Sonst 
ist  freilich  Alles  in  hohem  Grade  jugendlich  unfertig,  unklar  und 
unbehülflich.  Eine  völlig  prosaische  Disposition  liegt  zu  Grunde, 
innerhalb  welcher  die  Gedanken  ganz  einförmig  in  die  Breite 
getrieben  sind ,  und  namentlich  eine  unglückliche  Wut  des  Theiiens 
den  Leser  peinigt.  Aber  einen  Beweis  der  Unechtheit  können 
wir  in  dieser  Schülerhaftigkeit  des  Gedichtes  nicht  erblicken,  und 
ein  anderer  Grund  als  dieser  ist  von  den  Gegnern  nicht  bei- 
gebracht worden.^)  Wir  haben  daher  dieses  Epos  unbedenklich 
für   die  Darlegung   von  TibulFs  Lebensumständen   benützt,   für 

*)  Auch  Lachmann  (in  der  Recension  von  Bissen,  S.  254)  sagt  nar: 
„  dass  Tiballas  damals  (723)  nichts  so  Kindisches  dichten  konnte  hätte  nie 
zweifelhaft  sein  sollen  *S  und  meint  es  rühre  von  dem  im  J.  711  gebore- 
nen Verfasser  des  dritten  Buchs  her:  „als  die  Arbeit  eines  Zwölf- 
jährigen wird  es  seinen  Lehrern  in  der  Poetik  nnd  Rhetorik  alle  Khre 
machen.*'  W.  Hertzberg,  Zeitschr.  f.  Alt.-Wiss.  1864,  S.  3ö2,  stimmt 
eventuell  dem  bei,  während  M.  Haupt  (Obss.  critt.  p.  49)  sagt:  hoc 
Carmen  neque  Tibullo  neque  Lygdamo  tribuendum  esse  plerisque  assentior 


Gedichte.   Panegyricus  und  B.  I.  355 

welche   es  werthyoile  und  zu  allem  Uebrigen  vollkominen  stim- 
mende Beiträge  bietet. 

2.  Das  Mittelglied  zwischen  jener  Jugendarbeit  und  den 
späteren  vollendeteren  Gedichten  bildet  die  siebente  Elegie  des 
ersten  Buches,  ein  Gelegenheitsgedicht,  veranlasst  durch  den 
Triumph  des  Messala  im  J.  727  und  gleichfalls  dem  Preise  des 
Messala  gewidmet.  Der  Dichter  war  in  der  unmittelbar  voraus- 
gegangenen Zeit  mit  Messala  im  Felde  (in  Gallien)  gewesen,  und 
hatte  da  begreiflicherweise  für  seine  künstlerische  Ausbildung 
wenig  thun  können.  Daraus  erklärt  es  sich  dass  diese  Elegie, 
trotzdem  dass  sie  volle  vier  Jahre  später  fallt  als  der  Panegyrikus, 
doch  diesem  gegenüber  keinen  sehr  grossen  Fortschritt  der  dich- 
terischen Behandlung  zeigt.  Auch  hier  sucht  der  Dichter  noch 
durch  die  Masse  des  Stoffes  zu  wirken,  statt  durch  die  Schön- 
heit der  Verhältnisse.  Eine  Menge  von  Gegenständen,  zum  Theil 
fruchtbare  und  bei  denen  ihm  eigene  Anschauung  zu  Gebote  stand, 
wird  mit  eintönigen  Wendungen  eingeführt,  mager  abgehandelt 
und  dann  fallen  gelassen,  bis  mit  einem  Male  ein  einzelner  Punkt 
willkürlich  aufgegriffen  und  mit  grosser  Umständlichkeit  und 
mit  Aufgebot  rhetorischer  Figuren  ausgeführt  wird.  Von  der 
Digression  findet  der  Verfasser  nur  mühsam  den  Weg  zu  seinem 
eigentlichen  Gegenstande  zurück,  zu  dem  er  noch  einen  sehr 
fatalen  Nachtrag  macht«  Dazu  im  Einzelnen  Ueberladungen  des 
Ausdrucks  (v.  13  f.),  spielende  Gegensätze  (v.  12),  zweckloses 
Pathos  (v.  44ff.),  ungeschickte  Wendungen  (v.  9  ff.,  13,  15,  17, 
21,  23.  57),  Wiederholungen  (v.  12  u.  14;  30,  33  u.  46;  40  u. 
43;  44  u.  48),  prosodische  Härten  (v.  2,  40,  9j,  entlegene 
mythologische  Anspielungen  (bes.  v.  54),  neben  der  bedenklichen 
Identificierung  des  Osiris  und  Bacchus. 

3.  Seinen  nunmehrigen  Aufenthalt  in  Rom  scheint  der 
Dichter  zu  Studien  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  des  Lebens  son- 
dern besonders  auch  der  Kunst  benützt  zu  haben.  Die  ersten 
Früchte  derselben  liegen  uns  in  den  drei  Marathuselegieen 
vor.  Dass  sie  Tibulls  Lehrjahiren  angehören  und  älter  sind  als 
die  übrigen  erotischen  Elegieen  schliessen  wir  theils  aus  dem 
Vergreifen  im  Stoffe  das  sie  kundgeben  theils  aus  den  Mängeln 
der  Ausführung.  Was  zuerst  den  Stoff  betrifft  so  besteht  er  in 
der  Liebe  zu  einem  Knaben,  welcher  Marathus  genannt  wird. 
Darin  erkennen  wir  einen  Beweis  dass  der  Dichter  selbst  noch 
dem  Jünglingsalter   nahe  ist:    sein   Verhältniss   zu  Marathus   ist 

23* 


356  TibuUufl. 

eigentlich  das  der  Freundschaft,  es  nimmt  jedoch^  gemäss  der 
Richtung  des  Alterthums  überhaupt,  einen  zärtlichen  Anstrich  an. 
Aber  die  Erfahrungen  welche  er  in  diesem  Verhältnisse  machte, 
dass  ihm   der  Geliebte  entfremdet  wird  dadurch  dass  in   diesem 
selbst  die  Liebe  —  zu  einem  Mädchen  —  erwacht,  wiesen   den 
Dichter  von  selbst  auf  den  naturgemässen  Weg,  den  wir  ihn  in 
keinem  der  späteren  Gedichte  mehr  verlassen  sehen.    Dass  diese 
Liebe  zu  Marathus  seinen  anderen  Liebesverhältnissen  vorausgeht 
schliessen    wir    auch    daraus   dass  sich  in    diesen  Elegieen    der 
Dichter  niemals  auf  die  Erfahrungen  beruft  welche  er  selbst  mit 
dem  weiblichen  Geschlechte  gemacht  habe,  so  nahe  ein  solcher 
Gedanke  durch  den   ganzen  Inhalt  dieser  Elegieen  gelegt  wäre: 
aber   er    hat   solche   Erfahrungen    noch    nicht    gemacht.      Auch 
die  für  TibuU  so  charakteristische  Vorliebe  für  das  Landleben, 
der  idyllische  Zug  in  seinem  Wesen,  ist  in  diesen  Elegieen  noch 
nicht  zu  entdecken:   ihr  Boden   ist  die  Weltstadt  mit  ihren  raf- 
finierten Genüssen  und   ihren  Lastern.     Unter   sich   stehen    sie 
in  einem  sachlichen  Zusammenhang   und    stellen    einen    psycho- 
logischen Verlauf  dar,  welchen  zuerst  Gruppe  a.  a.  0.  S.  199 — 206 
nachgewiesen  hat.     Die  erste   unter   denselben  (I,  4)  ist   eine 
Art  Satire,  dem  Inhalt,  zum  Theil  auch  der  Form  nach  nahe 
verwandt  mit  der  wenige  Jahre  zuvor  (724)  erschienenen  fünften 
Satire  des  zweiten  Buchs  von  Horaz.    Wie  dort  die  Kunst  gelehrt 
wird   sich   die  Gunst   kinderloser  Alten  zu  erschleichen,  so   hier 
die  sich  die  Liebe  schöner  Knaben  zu  erwerben,  ein  Gegenstand 
wobei  dem  Dichter  die  Wahrnehmungen  welche  er  in  den  letzt- 
verflossenen  Jahren  im  Kreise  seiner  Altersgenossen  zu  machen 
Gelegenheit  gehabt  hatte  zu  Gute  kamen   und   ihn  vielleicht  mit 
zur  Wahl  desselben  bestimmten.   Wenn  bei  Horaz  die  Mittheilung 
der  betreffenden  Anweisungen  nur   den  Zweck  hat  das  Treiben 
der  Erbschleicher  aufzudecken   und    lächerlich  zu    machen,    ein 
Sittenbild  zu  geben ,  so  ist  diese  Tendenz  bei  TibuU  schon  durch 
die  Natur  der  Kunstgattung  ausgeschlossen  und  auch  persönlich 
dem  Dichter  fremd ;  wiewohl  die»  objective  Wirkung  davon  nicht 
wesentlich  verschieden  ist.     Um  so  mehr  aber  erinnert  wieder 
die  Einkleidung   des  Gedichts  an  Horaz.     Wie  dort  die  ganze 
Lehre  von  der  Erbschleicherei  dem  Tiresias  in  den  Mund  gelegt 
ist,  so  hier  dem  Priapus   (eine  Erfindung   welche  vielleicht  der 
achten    Satire    des    ersten    Buches   von    Horaz    entnommen    ist). 
Freilich  erreicht  hierin  der  Elegiker  bei  Weitem  nicht  die  Kunst 


Gedichte.    Buch  I  (Marathus),  357 

des  Satirikers.  Schon  das  ist  ungeeignet  dass  bei  Tibull  die 
zweite  Person  des  Dialogs  nicht  gleichfalls  eine  mythische  Person 
ist  (wie  bei  Horaz  Ulysses),  sondern  eine  wirkliche  und  der 
Gegenwart  angehörige,  nämlich  der  Dichter  selbst,  neben  welchem 
noch  die  abstracte  Figur  eines  Titius  vorkommt,  welchen  Namen 
die  römischen  Juristen  in  dem  Sinne  von  N.  N.  gebrauchen.  Sodann 
ist  bei  Tibull  der  einmal  gewählten  Einkleidung  viel  zu  wenig 
Folge  gegeben.  Bei  Horaz  ist  (sowohl  Sat.  I,  8  als  II,  5)  die 
Person  des  Redenden  von  wesentlichem  Einfluss  auf  die  Anlage 
und  Haltung  des  Gedichts  und  verleiht  diesem  einen  besonderen 
Reiz;  Tibull  sieht  von  der  speciflschen  Eigenthümlichkeit  des 
Redenden  so  ganz  ab  und  identificiert  sich  selbst  mit  ihm  so 
unverhohlen  dass  er  den  Priapus  sentimental  werden  (I,  4,  35  f.) 
und  die  Dichter  und  die  Dichtkunst  empfehlen  und  preisen  lässt 
(v.  61  ff.).  Die  Behandlung  betreffend,  so  erinnert  diese  Elegie 
noch  beträchtlich  an  die  Schule  und  die  Manier  von  Eleg.  I,  7. 
Nicht  nur  enthält  sie  gleichfalls  sehr  viel  Mythologisches,  —  ein 
Element  das  Tibull  in  den  späteren  Gedichten  immer  mehr  ab- 
gestreift hat,  —  sondern  namentlich  auch  viele  rhetorische  Figuren, 
insbesondere  die  der  Anaphora;  und  die  Fortbewegung  des  Ge- 
dankens ist  einförmig.  Jeder  einzelne  wird  erst  durch  eine 
Mehrheit  von  Beispielen  ausgeführt  ehe  zu  einem  anderen  weiter 
gegangen  wird;  der  Dichter  tritt  immer  eine  Weile  „auf  der 
Stelle"  oder  bewegt  sich  um  sich  selbst  herum  ehe  er  einen 
Schritt  vorwärts  thut.  Daneben  aber  zeigt  diese  Elegie  schon  einen 
bedeutenden  Fortschritt  in  der  Kunst  gegenüber  von  El.  I,  7: 
wenn  auch  die  Anlage  im  Ganzen  noch  Mängel  hat,  so  ist  doch 
die  Ausführung  des  Einzelnen  lebendig,  warm  und  geistreich.*) 
Die  zweite  in  dieser  Elegieenreihe  (I,  9)  hat  zum  Haupt- 
gegenstBud  einen  Gedanken  der  in  der  vorigen  (I,  4,  59  f.)  nur 
beiläufig  ausgesprochen  gewesen  war:  der  Verdacht  der  Untreue 
des  Gellebten  hat  tieferen  Grund  und  festere  Gestalt  gewonnen, 
er  ist  zur  subjectiven  Gewissheit  geworden  und  entflammt  des 
Dichters  Zorn,  in  welchem  er  dem  Verführer  wie  dem  Verführten 
zur  Strafe  anwünscht  dass  sie  die  gleiche  Erfahrung  machen 
möchten.  Der  Gegenstand  ist  somit  eigentlich  ein  schmieriger: 
ein  lüderlicher  Knabe  der  sich  einem  alten  Podagristen  preis- 
gibt,  worüber  nun   der  bisherige  Liebhaber  jammert  und   tobt. 

♦)  Zu  obiger  Ausführung  vgl.  F.  Ritschi,  über  Tibull  I,  4,  in   deu 
Berichten  der  sHchs.  Ges.  der  W.  vom  J.  1866,  20  S, 


358  TibuUus. 

Doch  bat  der  Dichter  aus  diesem  Stoffe  sehr  viel  zu  machen  ge- 
wu88t,  so  dass  man  in  der  Elegie  seihst  jene  Beschaffenheit  des 
Grundgedanl&ens  vergisst.  Denn  die  Behandlung  zeigt  nur  noch 
schwache  Reste  von  dem  Fehler  der  vorigen  Elegie  und  besitzt 
dabei  deren  Vorzuge  in  gesteigertem  Masse.  Hier  zum  ersten 
Hai  begegnen  wir  auch  der  dem  Tibuli  so  charalcleristischeH 
Beweglichkeit  der  EmpOndung,  dem  raschen  und  doch  natürlichen 
Ueberspringen  von  einer  Stimmung  in  die  andere.  —  Die  dritte 
Elegie  (I,  8)  enthält  dann  den  Abschluss  dieses  Verhältnisses  und 
damit  dieser  Reihe  von  Gedichten,  und  In  Bezug  auf  die  un- 
mittelbar vorausgegangene  ebenso  deren  Berichtigung  wie  ihre 
Erfüllung.  Berichtigt  wird  thatsächlich  der  Verdacht  welchen  in 
der  vorigen  die  Eifersucht  ausgesprochen  hat:  nicht  verführt  ist 
der  Knabe,  sondern  er  liebt,  und  liebt  ein  Mädchen,  und  liebt 
ohne  Erwiderung.  Damit  ist  zugleich  der  Fluch  der  vorigen 
Elegie  in  Erfüllung  gegangen,  und  der  Dichter  bat  jetzt  Gelegen- 
heit bekommen  Verzeihung  zu  üben  und  für  den  Ungetreuen 
Fürbitte  einzulegen.  Auch  hier  wieder  ist  aufgenommen  und 
zum  Hauptthenia  gemacht  was  in  der  vorausgegangenen  Elegie 
(I,  9,  39  ff.)  nur  flüchtig  berührt  war;  und  dieser  Zusammen- 
hang macht  es  auch  wahrscheinlich  dass  die  spröde  Pholoe  von 
f,  9  eben  die  uxor  ist  durch  welche  I,  8,  54  ff .  dem  vermeint- 
lichen Verführer  von  Marathus  Rache  angewünscht  wird,  somit 
der  iuvenis  quidam,  für  welchen  sie  sich  mit  unschuldiger  Ge- 
fallsucht schmückt  (1 ,  8 ,  65  —  72) ,  eben  unser  Marathus.  Damit 
dass  der  Geliebte  nun  selbst  zum  Liebenden  geworden  ist  hat 
das  erstere  Verhältniss  sein  natürliches  Ende  gefunden.  Die 
Feinheit  womit  dieser  Uebergang  dargestellt  ist  hat  Gruppe 
(S.  203  —  205)  mit  grosser  Wärme  gepriesen,  und  das  Gedicht 
ist  unleugbar  von  hoher  Vollendung.  Indessen  können  wir  Gruppe 
nicht  beistimmen  wenn  er  die  Marathuselegieen  noch  über  die 
auf  Delia  setzt,  und  S.  206  (vgl.  S.  265  f.)  sagt:  „wir  haben 
hier  Erfindungen  und  Kunstgriffe  welche  denen  im  Buch  Delia 
vollkommen  analog  sind;  allein  im  Marathus  ist  die  Kunst  noch 
viel  feiner  und  kühner  und  mitunter  fast  bis  auf  eine  schwind- 
lige Höhe  getrieben;  auch  ist  das  Colorit  wohl  noch  feuriger, 
und  in  der  Daristellung  der  wogenden  Leidenschaft  fast  noch 
schöner  jenes  stete  Abgleiten  ^u  dem  Gedanken  an  den  Geliebten 
und  das  unruhige  Schwanken  der  Empfindung  zwischen  schmach- 
tendem Verlangen  und  trostloser  Angst,  besonders  aber  ein  noch 


Gedichte.   Buch  I.  359 

schnelleres,  noch  festeres  und  überraschenderes  Einsetzen  in  den 
Uebergängen.*'  Einmal  können  wir  nicht  so  völlig  absehen 
von  der  Beschaffenheit  des  Stoffes,  sodann  finden  wir  dass  auch 
in  dieser  dritten  Elegie  der  Dichter  von  einem  Fehler  seiner  bis- 
herigen Gedichte  noch  nicht  völlig  losgekommen  ist.  Man  darf 
nur  die  Art  wie  der  gleiche  Gegenstand,  die  Macht  von  Zauber- 
mitteln, hier  (I,  8,  19  ff.)  und  me  er  I,  2,  43  ff.  behandelt 
ist  vergleichen  um  die  Deliaelegieen  als  eine  höhere  Stufe  der 
Kunstentwicklung  zu  erkennen.  Während  in  I,  2,  43  ff.  die 
betreffende  Auseinandersetzung  organisch  verwachsen  ist  mit  dem 
ganzen  Gedankengange,  einen  integrierenden  Bestandtheii  dessel- 
ben bildet,  und  in  persönlichster  Weise  gehalten  ist,  so  macht 
sie  in  I,  8  den  Eindruck  eines  Excurses,  der  für  den  Zusammen- 
hang nicht  nur  nicht  unentbehrlich  sondern  eher  störend  ist; 
denn  wenn  Pholoe  so  ganz  durch  sich  selbst  gefallt  (v.  15  f.] ,  so 
braucht  das  weiter  hinzukommende  Mittel  um  so  weniger  mächtig 
zu  sein ,  und  um  so  weniger  also  ist  eine  Ausfuhrung  über  dessen 
Macht  gerechtfertigt. 

4.  Noch  zu  derselben  Kunststufe  rechnen  wir  die  zehnte 
Elegie  des  ersten  Buchs.  Wir  stellen  sie  nach  den  Gedichten 
auf  Marathus,  weil  in  ihr  die  Liebe  nur  in  der  naturgemässen 
Weise  gefassl  ist;  andererseits  aber  halten  wir  sie  für  älter  als 
alle  Deliaelegieen,  weil  in  ihr  von  der  Liebe  erst  im  Allgemeinen 
die  Rede,  dieselbe  noch  nicht  auf  die  Person  des  Dichters  selbst 
bezogen  ist,  und  dessen  Verhalten  zu  ihr  noch  in  der  Sehnsucht 
besteht.  Auch  ist  an  ihr  mehr  nur  das  Aeusserliche,  auf  der 
Oberfläche  Liegende  dargestellt  als  dass  dieses  Gebiet  schon  in 
seiner  ganzen  Fülle  und  Tiefe  aufgeschlossen  wäre.  Auch  die 
übrige  Beschaffenheit  der  Elegie  scheint  zu  dieser  Einreihung  am 
besten  zu  passen.  Die  Manier  ist  die  gleiche  wie  in  den  Mara- 
Ihuselegieen :  auch  hier  die  Neigung  einzelne  Punkte  unverhält- 
nissmässig  auszuführen  und  besonders  stark  zu  beleuchten,  das 
Hineilen  auf  Gedanken  die  sich  zu  rhetorischer  Behandlung  eignen : 
wie  in  den  beiden  letzten  die  Ghrien  über  die  Macht  der  Zeit 
und  die  des  Zaubers,  so  hier  die  über  den  Frieden,  nur  dass 
letztere  dem  Inhalte  der  Elegie  vollkommen  gemäss  ist.  Dass  in 
anderen  Beziehungen  dieselbe  hinter  dem  Glänze  und  der  Manch- 
faltigkeit  der  Marathusgedichte  zurücksteht  erklärt  sich  daraus  dass 
ihr  ein  positives  Pathos  abgeht.  Ihr  Inhalt  ist  eine  Klage  des 
Dichters  darüber  dass  er  in  den  Krieg  müsse,    Wohl  beruht  die 


360  TibuUus. 

Klage  auf  dem  positiven  Grunde  der  Liebe  zum  Frieden  und  Land- 
leben; aber  diese  Liebe  ist  keine  Leidenschaft,  sondern  ein  sanftes 
Gefühl ,  sie  äussert  sich  erwärmend ,  nicht  aber  entflammend.  Den 
idyllischen  Zug  im  Wesen  des  Tibull  gewahren  wir  in  dieser 
Klegie  zum  ersten  Male:  bis  dahin  hatte  er  vor  der  Aufregung 
der  Zeit,  der  Beweglichkeit  der  Jugend,  den  Verpflichtungen 
welche  das  Verhältniss  zu  Messala  mit  sich  brachte,  und  den 
Genüssen  der  Hauptstadt  nicht  zum  Durchbruch  kommen  können. 
Jetzt,  nach  Auflösung  der  Beziehungen  zu  Marathus,  scheint  der 
Dichter  sich  wieder  dem  Schauplätze  seiner  Jugendträume,  dem 
väterlichen  Gute,  zugewendet  zu  haben  (vgl.  die  Anrufung  der 
Laren,  v.  15  ff.  25  ff.),  und  das  stille  Glück  dieses  Lebens 
stimmte  so  ganz  zu  dem  Tone  seines  eigenen  Wesens  dass  er  sich 
unglücklich  fühlte  als  an  ihn  die  Zumutung  ergieng  sich  wieder  am 
Kriege  zu  beiheiligen.  Aus  dieser  Stimmung  heraus  ist  El.  I,  10 
gedichtet,  die  wir  daher  etwa  dem  Jahre  729  zuweisen  möchten. 

5.  Die  erwähnte  Zumutung  führte  den  Dichter  wohl  nach 
Rom  zurück,  und  hier  fand  er  denn  die  Liebe  die  wir  ihn  in 
der  vorigen  Elegie  noch  suchen  sahen:  er  lernte  Delia  kennen. 
Die  Liebe  erschloss  die  Schätze  seines  Innern  und  seiner  Kunst, 
in  der  er  jetzt  den  Gipfel  ersteigt.  Es  beginnen  die  Meisterjahre 
unseres  Dichters,  aus  welchen  die  übrigen  Elegieen  des  ersten, 
sowie  die  des  vierten  Buchs  stammen  (etwa  J.  730 — 734). 

Zunächst  musste  die  neue  Liebe  die  Wirkung  haben  den 
Dichter  um  so  fester  an  den  Frieden  zu  ketten.  Wir  finden 
daher  in  dem  ersten  Gedichte  welches  sich  auf  dieses  Verhält- 
niss bezieht  (I,  1)  —  und  wir  befolgen  bei  ihnen  die  von  Gruppe 
(S.  167  ff.)  verfochtene  Ordnung*)  —  diese  beiden  Gedanken  in 
Beziehung  zu  einander  gesetzt.  Abermals  lehnt  der  Dichter  die 
Aufforderung  in  den  Krieg  zu  ziehen  ab;  nur  wendet  er  sich 
diessmal  nicht  gegen  den  Krieg  im  Allgemeinen,  sondern  gegen 
die  lockende  Seite  desselben,  die  Gelegenheit  sich  zu  bereichern, 
und  es  ist  jetzt  concreter  ein  Krieg  den  er  an  der  Seite  des 
Messala  durchzumachen  hätte.  Als  Grund  der  Ablehnung  wird 
wiederum  zunächst  geltend  gemacht  die  Friedlichkeit  seiner  Natur 
und  seiner  Neigungen,  insbesondere  seine  Begeisterung  für  ein- 
faches genügsames  Landleben;  aber  neu  tritt  nunmehr  als  wirk- 


*)  Lacfamann,  und  nach  ihm  O.  Richter  (Rhein.  Mus.  XXV.  S.  520 
Ms  627)  ordnen:  I,  3.  1.  2,  6,  6, 


Gedichte.    Bueh  I  (Delia).  361 

satnstes  Motiv  hinzu  die  Liebe:  aus  Jen  Armen  seiner  Delia  ver- 
mag er  sich  nicht  loszureissen.  Die  Ausfuhrung  beruht  auch 
hier,  wie  l,  10,  auf  dem  Prineip  des  Contrastes:  beidesmal  wird 
der  Gegensatz  der  den  Ausgangspunkt  bildet,  der  angesonnene 
Krieg,  in  bestimmten  Zwischenräumen  zwischen  die  Bilder  des 
Friedens  und  Glückes  eingeschoben;  s.  I,  10,  1.  13.  33.  49.  65, 
und  I,  1,  25.  49.  75. 

Zeigte  die  vorige  Elegie  den  Dichter  im  ungefährdeten  Be- 
sitze von  Delia's  Liebe,  und  in  dem  ruhigen  Genüsse  seines 
Glückes  einzig  bedroht  durch  die  Aufforderung  deines  Gönners 
und  Freundes,  so  finden  wir  in  der  zweiten  (I,  3)  die  Lieben- 
den getrennt :  den  Vorstellungen  des  Hessala  war  dauernder  Wider- 
stand nicht  entgegenzusetzen  gewesen,  und  nach  langem  innerem 
Kampfe  hatte  sich  der  Dichter  denn  doch  auf  den  Weg  gemacht. 
Aber  unterwegs,  auf  Corcyra,  hat  ihn  eine  Krankheit  ergriffen 
und  an  der  Weiterreise  gehindert.  Der  Tod ,  in  welchen  er  sich 
in  der  ersten  Elegie  hineinphantasiert  hatte,  tritt  ihm  jetzt  in 
leibhafter  Gestalt  nahe,  und  um  so  mehr  beklagt  er  die  Tren- 
nung von  seinen  Lieben  allen.  War  in  den  beiden  vorausge- 
gangenen Elegieen  der  Gejdanke  des  Glücks  die  Grundlage,  an 
welcher  der  zugemutete  Kriegszug  fortwährend  gemessen,  unver- 
einbar gefunden  und  davon  abgestossen  wurde,  so  ist  hier  um- 
gekehrt die  Grundfarbe  eine  dunkle,  der  Schmerz  über  seine 
unglückliche  Lage,  und  zwischen  sie  abermals  in  einer  gewissen 
Regelmässigkeit,  neben  aller  Mancbfaltigkeit,  die  Bitte  um  Schonung 
und  Hülfe  eingestreut  (v.  5  ff.  27  ff.  51  ff.)  Die  Gewährung 
dieser  Bitte  setzt  dann  der  schöne  Schluss  mit  seliger  Gewissheit 
unmittelbar  voraus  und  malt  die  Wonne  der  Heimkehr  und  des 
Wiedersehens.  Auch  im  Uebrigen  ist  der  Bau  dieses  Gedichtes 
bewundernswürdig.  Die  trübe  Gegenwart  ist  der  Mittelpunkt  von 
welchem  aus  der  Dichter  seinen  Blick  zuerst  zurückwendet  in 
die  Vergangenheit,  und  in  dieser  sein  jetziges  Unglück  vorgebildet 
findet  durch  die  Ahnungen  welche  er  wie  Delia  gehabt  habe, 
dann  aber  die  Wurzeln  seines  Leidens  tiefer  zurückverfolgt  in  die 
entfernteste  Vergangenheit,  in  den  Abfall  der  Welt  von  dem 
früheren  Ideale.  Auf  der  andern  Seile  lässt  er  ebenso  sein  Auge 
in  die  Zukunft  schweifen,  wo  gleichfalls  wieder  der  eine  Theil 
einen  mythischen  Charakter  trägt,  der  andere  der  unmittelbarsten 
Wirklichkeit  entnommen  ist.  Und  zwar  ist  die  Stellung  der  ein- 
zelnen Theile  eine  chiastische:  in  der  ersten  Hälfte  zuerst  die 


362  TibuUuä. 

wirkliche,  nahe  Vergangenheit,  dann  die  mythische;  in  der  zweiten 
zuerHt  die  tnythisclie  Zultunft  (in  den  Vorstellungen  von  der  Unter- 
welt), dann  die  wirkliche  (das  Wiedersehen).  In  beiden  Bälfteo 
ist  wiederum  der  Farbenwechsel  zu  beachten :  bei  der  Vergangen- 
heit zuerst  die  traurige  des  Abschieds,  dann  die  schöne  des  gol- 
dmien  Zeitalter«;  noch  reicher  bei  der  Zukunft:  zuerst  die  schöne 
des  Lebens  im  Elysium ,  dann  die  düstere  des  Zuetandes  im  Tar- 
tarus, zuletzt  die  wonnige  des  Wiedersehens.  Auch  dieses  Ge- 
dicht enthält  längere  Beschreibungen,  aber  sie  sind  nicht  ganz 
oder  halb  müssige  Digressionen,  sondern  fort  und  fort  durch- 
woben von  Beziehungen  auf  die  Gegenwart.  Namentlich  die 
Ausmalung  der  Schrecken  des  Tartarus  lässt  uns  von  Weitem 
die  Wolke  der  Eifersucht  erblicken  die  am  Liebeshimmel  unseres 
Dichters  aufgestiegen  ist,  und  welche  in  der  dritten  Elegie  dieser 
Iteihe  den  Hauptgegenstand  ausmacht. 

Diese  dritte  Elegie  (l,  5)  steht  demnach  zu  der  zweiten 
in  demselben  Verhältnisse  wie  diese  zur  ersten.  Wie  der  Gedanke 
des  Todes,  der  in  der  ersten  schon  angeschlagen  war,  in  der 
/weiten  zum  Hauptthema  geworden  ist,  so  ist  eine  Situation 
welche  in  I;  3  nur  von  ferne  angedeutet  und  als  blosse  Möglich- 
keil dargestellt  war  (v.  79 — 84),  die  Untreue  der  Geliebten,  in 
1,  6  als  Gewissheit  und  nach  ihrer  ganzen  Reichhaltigkeit  aus- 
geführt. Der  Dichter  ist  genesen  und  nach  Rom  zurückgekehrt; 
aber  in  seiner  Abwesenheit  hat  Delia  den  Lockungen  Anderer 
Gehör  gegeben.  Wenn  sie  gleich  auch  jetzt  dem  alten  Liebhaber 
Zutritt  gönnt  und  in  einer  Krankheit  sich  seine  Pflege  gefallen 
lässt,  so  ist  sie  doch  nicht  mehr  die  Frühere:  sie  hört  auf  eine 
Kupplerin,  welche  ihr  von  einem  reichen  Liebhaber  vorschwatzt 
und  sie  dem  Dichter  entfremdet.  Anfangs  trotzig  auch  sie  seiner- 
seits aufgebend  fühlt  dieser  doch  bald  wie  tief  er  mit  ihr  ver- 
wachsen ist,  und  sucht  sie  durch  Erinnerung  an  das  was  er  für 
sie  gethan,  durch  reizende  Ausmalung  des  Glückes  das  er  ihr 
zugedacht  gehabt  habe,  und  Darlegung  der  Innigkeit  womit  er 
noch  immer  an  ihr  hänge,  wieder  für  sich  zu  gewinnen.  Die 
Verführerin  verwünscht  er  und  sucht  ihr  gegenüber  zu  zeigen 
dass  ein  armer  Liebhaber  den  Vorzug  verdiene  vor  einem  reichen, 
freilich  ohne  sich  davon  grossen  Erfolg  zu  versprechen.  Durch 
die  Manchfaltigkeit  und  den  lebendigen  Wechsel  der  Stimmungen, 
sowie  die  farbenreiche  Ausführung  jeder  einzelnen  ist  auch  diese 
Elegie  ausgezeichnet  (vgl.  Gruppe  S.  173 — 177). 


Gedichte.    Buch  I  (Delia).  363 

Iq  der  vierten  Elegie  dieses  Cyklus  (I,  2)  finden  wir  den 
reichen  Liebhaber  der  vorigen  nunmehr  als  Gemahl  von  Delia. 
Es  ist  ein  ehemaliger  Soldat,  der  sich  im  Kriege  ein  Vermögen 
erworben  hat,  auf  demselben  Wege  es  zu  vermehren  beabsichtigt, 
und  welcher  einer  Frau  bedarf  damit  in  seiner  Abwesenheit  sein 
Eigenthum  gehütet  sei.  Aeusserlich  wie  das  Verhältniss  bleibt 
bildet  es  für  Delia  keine  Schranke  das  zu  ihrem  alten  Geliebten 
nach  kurzer  Unterbrechung  wieder  aufzunehmen.  In  ausgedehn- 
terem Masse  könnte  dieses  Statt  finden  nachdem  ihr  Gemahl  wirk- 
lich sich  wieder  in  den  Krieg  begeben  hat:  aber  er  hat  ihr 
strenge  Wächter  gesetzt.  Gegen  diese  unerwartete  Schranke 
rennt  der  Dichter  in  dieser  Elegie  an,  indem  er  Delia  zu  be- 
stimmen sucht  dieselbe  mit  List  zu  umgehen,  ein  Thema  bei 
welchem  wir  uns  —  um  nicht  an  unserem  Dichter  irre  zu  werden 
—  vergegenwärtigen  müssen  dass  für  den  Römer  die  Ehe  zunächst 
nur  ein  Rechtsverhältniss  war,  und  dass  in  der  damaligen  Zeit 
des  Sittenverfalls  der  ohnehin  schon  im  Charakter  der  südeuro- 
päischen Völker  liegende  Hang,  das  Bestehen  eines  solchen  Ver- 
hältnisses nicht  als  Hemmniss  für  die  sinnliche  Neigung  zu  be- 
trachten, in  hohem  Grade  genährt  und  gesteigert  worden  war. 
Als  Ausgangspunkt  bei  dem  Gedichte  ist  ein  Gelage  angenommen, 
bei  welchem  der  Dichter  sein  Liebesweh  in  beredten  Worten 
und  namentlich  mit  der  rhetorischen  Figur  einer  Anrede  an 
die  Thüre  darstellt;  doch  wird  diese  Einkleidung  keineswegs 
streng  festgehalten,  sondern  in  die  Situation  welche  die  Ent- 
wicklung der  Gedanken  und  Empfindungen  mit  sich  bringt  so 
lebhaft  eingegangen  dass  die  Elegie  dadurch  ganz  dramatisch 
wird  und  die  ursprüngliche  Einkleidung  dabei  aus  dem  Gesicht 
entschwindet. 

Die  Rathschläge  von  I,  2  blieben  nicht  fruchtlos:  aus  der 
fünften  dieser  Elegieen  (I,  6)  erfahren  wir  dass  der  alte  Lieb- 
haber nicht  nur  Zutritt  erhalten  hat  sondern  dass  das  Verhältniss 
auch  dann  noch  fortgesetzt  wurde  als  der  Gemaiil  wieder  zurück- 
gekehrt war.  Der  Dichter  spielte  da  den  Hausfreund,  den  cavaliere 
servente,  den  cicisbeo,  und  wusste  sich  mit  dem  Manne  auf  einen 
leidlichen  Fuss  zu  setzen.  Aber  einmal  von  der  Bahn  der  Pflicht 
abgewichen  scheint  Delia  immer  tiefer  in  Leichtsinn  gerathen  zu 
sein:  neben  dem  alten  nimmt  sie  nun  auch  neue  Liebhaber  an. 
Diese  Entdeckung  macht  des  Dichters  Zorn  und  Eifersucht  auf- 
flammen :  er  identificiert  jetzt  sein  Interesse  mit  dem  des  Gatten, 


364  TibiilluB. 

will  sich  mit  ihm  in  die  Hut  der  Treulosen  theilen,  deckt  ihm 
alle  die  Schliche  auf  welche  er  selbst  in  Anwendung  gebracht, 
und  sucht  belia  durch  Drohungen  die  auf  ihren  Aberglauben  be- 
rechnet sind  wieder  zu  sich  zurückzuführen,  aber,  wie  es  scheint, 
vergebens,  da  diese  Elegie  die  letzte  ist  welche  von  Delia 
handelt.  Das  bisherige  Verhältniss  zu  dieser  wird  erst  jetzt  vollends 
ganz  klar ;  insbesondere  tritt  nunmehr  in  den  Vordergrund  Delia's 
alte  Mutter,  welche  eine  warme  Freundin  und  Beschützerin  des 
Dichters  ist  und  zum  geheimen  Verkehre  mit  ihrer  Tochter  ihm 
hülfreiche  Hand  gereicht  hat.  Motiv  und  Situation  dieser  letzten 
Elegie  ist  dem  der  vorigen  entgegengesetzt:  die  Schleichwege 
werden  dort  Delia  angegeben,  hier  dem  Manne  verrathen;  dort 
verbindet  sich  der  Dichter  mit  Delia  um  gegen  deren  Mann  zu 
operieren,  hier  mit  dem  Manne  um  gegen  Delia  ins  Feld  zu 
rücken.  Die  Ausführung  ist  wieder  von  hoher  Vorzüglichkeit, 
voll  der  anziehendsten  und  anschaulichsten  Darstellungen.  Der 
Gang  ist  sehr  kunstreich:  die  manchfaltigsten  Windungen  des 
Weges  führen  doch  immer  zu  dem  gleichen  Ziele ,  an  dessen  Er- 
reichung dem  Dichter  besonders  viel  gelegen  ist  (s.  v.  23  und 
37;  55  und  67;  75.  85).  In  Bezug  auf  den  Ton  aber  besteht 
ein  auffallender  Unterschied  zwischen  den  drei  ersten  Elegieen, 
in  welchen  Delia  noch  frei  steht  und  ungehemmt  über  sich  ver- 
fügen kann,  und  den  beiden  letzten,  in  welchen  sie  die  Frau 
eines  Andern  ist.  In  jenen  warm,  gemütlich  und  herzlich,  wird 
er  in  diesen  leidenschaftlich,  bald  ungeduldig  bald  bitter,  und 
dabei  schimmert,  namentlich  durch  eine  gewisse  Ueberspannung 
des  Eifers,  der  Mangel  einer  tieferen  innerlichen  Grundlage  hin- 
durch. Man  glaubt  dem  Dichter  anzufühlen  dass  er  selbst  die 
Schiefheit  seines  jetzigen  Verhältnisses  zu  Delia  von  Weitem 
empfindet,  daher  nicht  mehr  mit  ungetheilter  Seele  und  voller 
Unbefangenheit  bei  der  Sache  ist,  und  um  so  mehr  nun  sich 
künstlich  steigert,  um  sich  und  Anderen  den  Mangel  wirklichen 
Ernstes  zu  verdecken.  Aber  die  Verschrobenheit  der  Situationen 
in  die  er  allmählich  hineingeräth  ist  von  der  Art  dass  man  an 
des  Dichters  Geschmacke  wie  an  seinem  sittlichen  Tacte  ver- 
zweifeln müsste  wenn  er  dieselben  in  ungemindertem  Ernste  zu 
behandeln  vermocht  hätte,  und  nur  der  Anflug  von  Humor,  der 
oft  ganz  unverkennbar  ist  (z.  B.  I,  6,  41  f.),  mit  dec  Frivolität 
des  Gegenstandes  versöhnt.  Mit  diesem  Sachverhältniss  hängt  es 
wohl  auch  zusammen  dass  Messala  s  Name  nur  in  den  drei  ersten 


Gedichte.   Buch  I  u.  IV.  365 

Elegieen  geDaunt  ist:  mit  den  zwei  letzten  und  ihrem  verfäng- 
lichen und  anrüchigen  Inhalte  ist  er  nicht  in  Berührung  gebracht. 
Andererseits  glauben  wir  in  dem  Umstände  dass  das  Verhältniss  zu 
Delia  einen  so  wenig  dramatischen  Ausgang  nimmt  und  eigent- 
lich in  den  Sand  verrinnt  einen  Beweis  zu  erblicken  dass  dieser 
Roman  keine  freie  Dichtung  ist,  sondern  in  seinen  Grundzügen 
wenigstens  Erlebtes  darstellt.  Aber  denselben  mit  den  Auslegern 
ins  J.  723  zu  setzen  hindert  uns  nicht  nur  die  hohe  Kunst- 
voUendung  dieser  Gedichte  sondern  auch  die  Erwägung  dass  dann 
gerade  für  die  reiferen  Jahre  unseres  Dichters,  die  letzten  zehn 
seines  Lebens,  viel  zu  wenig  übrig  bliebe.  In  diese  Periode  ver- 
legen wir  ferner 

6.  die  Sulpiciaelegieen  (IV,  2  ff.),  und  zwar  in  die 
Zeit  nachdem  das  Verhältniss  zu  Delia  gelöst  und  ein  neues 
(Glycera,  Nemesis)  noch  nicht  wieder  begonnen  war.  Denn  der 
Dichter  verräth  in  diesen  Elegieen  einerseits  ein  tiefes  Verständ- 
niss  des  weiblichen  Herzens,  auf  der  andern  Seite  aber  ist  er 
selber  frei  genug  von  Leidenschaft  um  ein  derartiges  Verhältniss 
eines  Andern  mit  künstlerischer  Objectivität  darzustellen.  Diese 
Elegieen  haben  nämlich  zu  ihrem  Gegenstande  die  Liebe  zwischen 
Sulpicia  und  Cerinthus.  Sulpicia  ist  eine  junge,  schöne  und 
hochgebildete  Römerin  aus  edlem  Hause,  dem  altpatricischen 
Geschlechte  der  Sulpicii,  vielleicht  die  Tochter  desjenigen  Servius 
(Sulpicius)  welcher  von  Horaz  (Sat.  I,  10,  86)  als  Angehöriger 
seines  Freundekreises  aufgeführt  wird  und  der  vielleicht  selbst 
wiederum  identisch  ist  mit  dem  Ser.  Sulpicius  welchen  der  jüngere 
Plinius  (Ep.  V,  3,  5.  vgl.  Ovid  Trist.  H,  441)  als  Verfasser  las- 
civer  Gedichte  erwähnt.  Wenigstens  würde  uns  letzterer  Umstand 
den  freien  Ton  und  das  ganze  emancipierte  Gebaren  der  Tochter 
erklärlich  machen.  Dem  Kreise  des  Messala  gehörte  Letztere 
jedenfalls  an;  doch  ist  sie  schwerlich  die  von  Messala  in  Ge- 
dichten besungene  puella  (Virgil.  Catal.  11,  23).  Sulpicia  liebt 
den  schönen  Cerinthus.  Wäre  dieser  Name  der  wirkliche,  so 
würde  er  beweisen  dass  der  Betreffende  ein  Grieche  war.  Der 
Name  kommt  auch  in  einer  räthselhaften  Stelle  des  Horaz  (Sat. 
I,  2,  81)  vor.  Indessen  bei  TibuU  eleg.  II,  2  und  3  haben  die 
Handschriften  Cornute,  und  Gornutus  war  daher,  wie  es  scheint, 
der  wahre  Name  von  Sulpicia's  Geliebtem.  In  den  Kreis  des 
Messala  scheint  dieser  erst  durch  Sulpicia  gekommen  zu  sein ;  sonst 
würde  sich  der  Conflict  in  IV,  8  sehr  einfach  gelöst  haben.  Dessbalb 


366  TibuUuB. 

finden  wir  ibn  auch  ?on  unserm  Dichter  selbst  erst  in  den 
Elegieen  des  zweiten  Buches  angeredet  (II»  2  und  3),  was  zugleich 
eine  Bestätigung  unserer  Datierung  der  Gedichte  des  vierten  Buchs 
ist.  Cerinthus  war  nach  TibuH  nicht  hohen  Standes,  um  so  ge- 
wisser also  wohl  von  hoher  Schönheit  und  durch  geistige  Bildung 
der  Sulpicia  ebenbürtig.  Die  Standesverschiedenheit  war  wohl 
der  Grund  warum  das  Verhftltniss  von  Sulpicia's  Eltern  lange  Zeit 
nicht  geduldet  wurde  und  daher  ein  geheimes  blieb.  Aber  in 
der  Glut  ihrer  Leidenschaft  setzt  sie  sich  über  alle  Schranken 
hinweg.  Sie  ist  es  welche  dem  schüchternen  Geliebten  entgegen- 
kommt, wie  überhaupt  eine  kräftige  Sinnlichkeit  sie  charakterisiert 
So  erscheint  sie  insbesondere  in  den  Elegieen  deren  Verfasserin 
sie  selbst  ist.  Gruppe  hat  nämlich  (S.  47  ff.)  zuerst  mit  Evidenz 
nachgewiesen  dass  die  Sulpiciaelegieen  in  zwei  Reihen  zerfallen, 
IV,  2  —  7  und  8  —  12,  von  welchen  jede  ein  in  sich  abgeschlos- 
senes Ganzes  bildet,  die  zweite  wirkliche  Briefe  von  Sulpicia  selbst 
enthält,  welche  den  Gedichten  des  TibuU  (IV,  2  —  7)  gleichsam 
als  Thema  gedient  haben ,  über  welches  er  nun  seine  Variationen 
abspielt.  Gegen  die  Urheberschaft  von  Sulpicia  lässt  sich  Nichts 
einwenden,  wohl  aber  wird  diese  Annahme  begünstigt  durch  die 
Ueberschrift  Sulpicia  welche  eine  vorzügliche  Handschrift  (F  von 
Lachmann)  vor  der  achten  Elegie  bat,  ferner  dadurch  dass  Sulpicia 
als  docta  puella  bezeichnet  wird,  endlich  durch  gewisse  Eigen- 
thümlicbkeiten  der  Sprache  in  diesen  Elegieen,  durch  welche  sie 
sich  ebenso  von  den  tibuUischen  Gedichten  unterscheiden  als  die- 
selben zu  der  Voraussetzung  einer  weiblichen  Verfasserin  stimmen. 
Dahin  gehört  zuerst  die  Häufigkeit  von  Flickwörtern,  insbesondere 
iam,  das  nur  in  IV,  11  fehlt,  sodann  eine  gewisse  Unsicherheit, 
Ungewandtheit  und  Verschwommenheit  des  Ausdrucks,  ein  Mangel 
an  Schärfe  und  Klarheit  des  Gedankens  oder  der  Darstellung, 
dergleichen  ist  propinque  (8,  6),  die  Auslassung  von  me  (8,  8), 
die  Wendung  iter  ex  animo  sublatum  (9 ,  1) ,  nee  opinanti  (9,  4), 
die  Unbestimmtheit  des  de  me  permiltis  (10,  1),  das  Fehleu 
einer  festen  Ausprägung  des  logischen  Verhältnisses  von  Satz- 
theilen  (10,  3  ff.),  die  Undeuüichkeit  von  10,  5  f.,  der  Plural 
mea  corpora  11,  2  (anders  als  bei  Tibull  I,  9,  73.  8,  52),  die 
knäuelartig  verwickelten  Verse  12,  1  ff.  Fasst  man  Alles  dieses 
zusammen,  so  kann  man  Gruppe  nicht  Unrecht  geben  wenn  er 
von  einem  weiblichen  Latein  dieser  Briefchen  spricht;  nur  dass 
der  Charakter  der  Weiblichkeit  überhaupt  in  der  ganzen  Denk- 


Gedichte. .  Buch  IV  (Sulpicia).  dffJ 

und  Sprechweise  sich  kundgibt.^)  Ihrer  sonstigen  Beschaffenheit 
nach  verrathen  diese  Elegieen  entschiedene  Nachahmung  der  Art 
des  TibuU  und  bieten  ein  nicht  gewöhnliches  literarhistorisches 
und  psychologisches  Interesse.  Die  erste  derselben  (IV,  8)  ist 
an  Messala  gerichtet  und  bittet  in  sehr  lebhaftem  Tone  um  Dis- 
pensation von  der  Beise  aufs  Land ,  wegen  der  Nähe  von  Gerinthus' 
Geburtstag.  Die  zweite  (IV,  9)  gibt  dem  Geliebten  Nachricht 
dass  sie  nun  seinen  Geburtstag  in  Bom  feiern  dürfe.  IV,  10 
ist  ein  eventueller  Absagebrief  an  Cerinthus,  von  glühender  Eifer- 
sucht und  altrömischem  Stolze  eingegeben,  aber,  wie  es  scheint, 
auf  einem  Missverständniss  beruhend,  das  sich  bald  aufhellte. 
Denn  im  vierten  Briefchen  (IV,  11)  finden  wir  die  Liebenden 
völlig  ausgesöhnt:  Sulpicia  ist  krank  und  fragt  ihren  Cerinlhus  mit 
ängstlicher  Dringlichkeit  ob  er  sie  auch  liebe  und  ihre  Genesung 
wünsche,  —  ein  Stück  von  grosser  Wärme  und  Lieblichkeit, 
jedoch  von  Gruppe  S.  Ö3  f.  gar  zu  überschwänglich  gepriesen. 
Im  letzten  dieser  kleinen  Briefe  (IV,  12)  bittet  Sulpicia  den  Ge- 
liebten um  Verzeihung  dass  sie  ihn  bei  einer  heimlichen  Zusam- 
menkunft blöder  Weise  im  Stich  gelassen  habe,  —  bezeichnend 
genug  für  die  glühende  Empflndungsweise  der  Verfasserin. 

Dieser  Beihe  von  wirklichea  Briefen  stehen  dann  also  gegen- 
über die  Elegieen  IV,  2  —  7,  in  welchen  jener  Briefwechsel  zu 
einem  freien  Kunstwerk  ausgeführt  ist.  In  beiden  Beihen  sind 
dieselben  Personen  und  Charaktere:  der  schüchterne  Cerinthus  und 
die  leidenschaftliche  Sulpicia,  wie  auch  die  Schaar  der  Freier 
um  sie  her  (4,  20  vgl.  10,  5).  Auch  derselbe  Verlauf  wieder- 
holt sich  auf  beiden  Seiten:  hier  wie  dort  ein  Liebesverhältniss 
von  steigender  Wärme  und  Offenheit,  hier  wie  dort  Cerinthus' 
Geburtstag  und  Sulpicia's  Krankheit.  In  IV,  7,  7  f.  ist  noch 
überdiess  eine  Art  von  Anspielung  auf  jenen  Briefwechsel  und 
dessen ^Oeffentlichkeit,  als  sollte  damit  erklärt  werden  dass  der 
Dichter  von  demselben  Kenntniss  erhalten  hat.  In  dieser  zweiten 
Beihe  von  Elegieen  hat  die  erste  (IV,  2)  einen  einleitenden 
Charakter:  es  spricht  darin  der  Dichter  und  bringt  die  Heldin 
des  folgenden  Bomans  zur  Anschauung ,  indessen  noch  ohne  directe 
Beziehung   auf  ein  derartiges  Verhältniss.     Aber  eine  —  wenn 


*]  Lachmann  (in  der  Recension  von  Bissen,  S.  254):  „wir  finden 
diese  Gedichte  wahr  und  glühend  gefühlt,  aber  ohne  Poesie  im  Ein- 
zelnen, ohne  Stil,  ungeschickt  und  hart  in  den  Fügungen:  mit  einem 
Worte,  es  sind  die  eigenen  Gedichte  von  Sulpicia/' 


868  TibuUus. 

auch  nur  verineinüiche  —  Gefahr  von  Cerinthus,  auf  einer  Jagd, 
deckt  ihre  ganze  Glut  auf  (IV,  3),  und  eine  Krankheit  von  Sul- 
picia  giht  ebenso  dem  Cerinthus  Anlass  sein  Interesse  für  sie  an 
den  Tag  zu  legen  (IV,  4).  Was  eben  im  Widerschein  der  Gefahr 
sichtbar  wurde,   das  tritt  in  den  beiden  folgenden  Elegieen   in 
milderer  Beleuchtung  zu  Tage,  mittelst  einer  frohen  Feier;  und 
zwar  ist  es,   nach  dem  gleichen  Parallelismus  und  in  derselben 
Ordnung   wie  in  den   beiden   vorausgegangenen,    zuerst  (IV,   5) 
Cerinthus*  und  dann  (IV,  6)  Sulpicia's  Geburtstag  was  den  Gegen- 
stand bildet  und  dazu  dient  Sulpicia's  Empfindungen  darzustellen. 
Von  IV,  6  gehen  dann  zwei  Wege  aus:  der  eine  von  v.  11  f., 
sofern  hienach  die  letzte   leihliche  Vereinigung  der  Liebenden, 
wie  sie  IV,  7  andeutet,  sich  als  nahe  bevorstehend  voraussehen 
lässt;    der  andere   Weg   nimmt  vom   Schlüsse  (v.   19  f.)   seinen 
Ausgangspunkt,    indem  dort  auf  die  Legalisierung  des  Verhält- 
nisses und  das  nächste  Jahr  hinausgeblickt  wird.     In  beiden  Be- 
ziehungen schliesst  sich  hieran  II,  2  unmittelbar  an,  in  welcher 
wir  den  Widerstand  der  Eltern  gebrochen,  Sulpicia  und   (jetzt 
mit  seinem   wahren  Namen)  Cornutus  als  Neuvermählte  treffen, 
gemeinsam   des  Letzteren  Geburtstag   begehend.     Neben   dieser 
sachlichen    und   ästhetischen  Nothwendigkeit   gebietet  aber  auch 
eine  ethische  das  letztgenannte  Gedicht  (II,  2)  an  den  bisherigen 
Cyklus  anzureihen:  eine  so  rückhaltslose  Hingabe  wie  IV,  7  sie 
voraussetzt  erfordert,  um  nicht  unsittlich  zu  sein,  zum  Mindesten 
die  nachträgliche  Sanction  des  thatsächlich  geschlossenen  Bundes 
durch  die  bürgerliche  und  religiöse  Weihe,  und  diese  ist  in  II,  2 
eingetreten.     Dass  dieses  Gedicht,   trotz   seiner  nachgewiesenen 
Unentbehrlichkeit  im  Zusammenhange   der  Elegieen  des  vierten 
Buchs,  doch  in  das  zweite  eingereiht  wurde  mochte  theils  durch 
den  Anfang  von  II ,  3  (wo  gleichfalls  Cornutus  angeredet  ist)  ver- 
anlasst sein,  theils  bestimmte  den  Sammler  dazu  die  scheinbare 
Verschiedenheit  des  beiderseitigen  Namens  (Cerinthus  und  Cornutus) 
und  dass  II,  2  ein  legales  Verhältniss  behandelt,  die  Elegieen  des 
vierten  Buchs  aber  ein  geheimes  und  von  Sulpicia's  Eltern  noch 
bekämpftes,  und  dass  letztere  nach  dem  Briefwechsel  von  Sulpicia 
gearbeitet  und  wohl  mit  einander  entstanden  sind,  II,  2  aber  ein 
etwas  später  durch  das  künstlerische  Bedürfniss  liinzugedichteter 
Abschluss  ist.     Uebrigens   passt  diese  Elegie   auch    schon    nach 
ihrem  äusseren  Umfange  nur  zu  denen  des  vierten,  nicht  unter 
die  des  zweiten  Buchs,  und  ist  an  letztererstelle  uberdiess  sachlich 


Gedichte.   Buch  IV.  369 

störend,  sofern  sie  den  Zusammenhang  zwischen  fl,  1  und  II,  3 
unterbricht  (vgl.  Gruppe  S.  68.  75  f.).  Die  des  vierten  aber 
haben  mit  II,  2  eine  innere  Abgeschlossenheit  und  Abrundung 
welche  ihrer  sachlichen  Grundlage,  den  Briefchen  der  Sulpicia, 
abgeht,  und  sind  auch  damit  gegenüber  von  diesen  Erzeugnissen 
der  Gelegenheit  als  ein  Kunstwerk  bezeichnet.  Andererseits  ist 
^iese  Entstehungsweise,  aus  einem  gegebenen  Thema  und  Muster- 
bilde, wohl  zugleich  eine  Erklärung  der  verhäitnissmässigen  Ein- 
förmigkeit der  Situationen  und  Wendungen  in  diesen  Elegieen. 
Ausserdem  aber  sind  sie  ganz  und  gar  in  TibulFs  Art,  nach 
Sprache  und  Anlage;  namentlich  haben  IV,  4  und  6  ganz  die- 
selbe Gliederung  wie  I,  10  und  1.  Wahrscheinlich  hatte  der 
Verfasser  der  vita  diese  Elegieen  des  vierten  Buchs  im  Auge 
wenn  er  von  kurzen  Liebesbriefen  spricht  welche  Tibull  verfasst 
habe  (epistolae  eius  amatoriae,  quamquam  breves). 

7.  Endlich  gehören  in  diese  Kunstperiode  unseres  Dichters 
noch  Elcg.  IV,  13  und  14.  So  viel  ist  allgemein  zugegeben, 
sowohl  von  denen  welche  sie  auf  das  Verhältnlss  zu  Glycera 
beziehen  als  den  Bestreitern  dieser  Ansicht.  Letztere  (wie  Fr. 
Passow  und  Dielerich,  de  Tib.  amorr.  p.  61  —  63)  nehmen  einen 
Bezug  auf  Delia  an  und  dass  dieselben  bestimmt  gewesen  seien 
ein  neues  Buch  anzufangen  —  weil  die  des  ersten  in  sich  ab- 
geschlossen waren  — ,  aber  nicht  mehr  vollendet  wurden;  und 
da  sie  ebenso  wenig  zu  denen  des  zweiten  Buchs  stimmten,  so 
habe  der  Herausgeber  der  tibullischen  Gedichte  sie  denen  des 
vierten  zugewiesen,  mit  denen  sie  auch  im  äusseren  Umfange 
Aehnlichkeit  haben. ^j  Indessen  ist  psychologisch  unmöglich  dass 
IV,  13  sich  an  I,  6  anschliesse  und  beide  derselben  Person  gelten. 
I,  6  lässt  das  Abbrechen  des  Verhältnisses  zu  Delia  mit  Bestimmt- 
heit voraussehen,  und  in  IV,  13  ist  Nichts  enthalten  was  eine 
Wiederanknupfung  andeutete.  Wurden  sich  die  Gedichte  auf 
Delia  beziehen  so  mussten  sie  vielmehr  aus  der  ersten  Zeit  dieses 
Verhältnisses  sein,  IV,  13  etwa  gleichzeitig  mit  I,  1  und  ein 
freier  lyrischer  Erguss,  selbständig  neben  dem  kunstvoll  ausge- 
arbeiteten Cyklus  hergehend  und  daher  nicht  in  ihn  aufgenommen ; 
das  zweite  (IV,  14)  ein  epigrammatischer  Seufzer  aus  der  Zeit 
zwischen  I,  3  und  I,  5,  in  des  Dichters  hinterlassenen  Papieren 

*)  „Es  scheint  der  Sammler  setzte  sie  ans  Ende,  weil  er  sie  nicht 
unterzubringen  wusste  oder  weil  er  bestimmteren  Deutungen  vorbeugen 
wollte.'*    Lachmann,  Haller  A.  L.  Z.  1836.   Juni  S.  255. 
Tenffel,  Studien.  24 


370  TibuUus. 

gefunden  und  der  Aufnahme  in  die  Sammlung  seiner  Gedichte 
för  würdig  erachtet.  Bei  der  Beziehung  auf  Glycera  fallen  diese 
Elegieen  in  die  Mitte  zwischen  die  auf  Delia  und  die  von  Nemesis 
handelnden,  da  jene  nach  Ovid  (s.  oben  S.  348  f.)  des  Dichters 
erste  Liebe  war,  diese  aber  (vgl.  Amor.  lü,  9,  58)  seine  letzte. 
Zu  dieser  Datierung  aus  der  Meisterperiode  unseres  Dichters 
stimmt  auch  vollkommen  die  innere  Beschaffenheit.  IV,  13  ist 
von  ergreifender  Innigkeit  und  Zartheit,  wie  kaum  ein  zweites 
Erzeugniss  der  römischen  Literatur,  der  Gedankengang  und  Aus- 
druck ebenso  einfach  und  wahr  als  lebendig;  jeder  neue  Vers 
bringt  einen  Fortschritt  des  Gedankens,  der  sich  in  der  grössten 
Klarheit  vorwärts  bewegt.  Den  Inhalt  bildet  das  Gelöbniss  un- 
wandelbarer Liebe  und  Treue,  selbst  wenn  dieses  Gelöbniss  die 
Geliebte  veranlassen  sollte  gegen  ihn  um  so  grausamer  zu  sein. 
IV,  14  ist  dazu  das  Gegenstück,  die  Klage  dass  die  Geliebte 
ihrerseits  die  Treue  nicht  bewahre,  worauf  von  ferne  schon  in 
IV,  13,  5  f.  hingedeutet  war.  Dieser  Zusammenhang  mit  der 
vorigen  macht  wahrscheinlich  dass  auch  hier  der  Dichter  die  Ab- 
sicht hatte  einen  ganzen  Cyklus  von  Elegieen  auszuarbeiten,  aber 
diese  Absicht  —  etwa  in  Folge  der  zeitigen  Auflösung  des  Ver- 
hältnisses —  nicht  ausführte. 

8.  Die  Elegieen  des  zweiten  Buchs,  mit  Ausnahme  der 
zweiten,  beziehen  sich  alle  auf  das  Verhältniss  des  Dichters  zu 
Nemesis  (s.  oben  S.  348  ff.),  die  aber  in  dem  ersten  und 
einleitenden  Gedichte  dieser  Reihe  (II,  1)  noch  nicht  mit  Namen 
genannt  ist.  Der  Dichter  hat  bei  seiner  Geliebten  vorzugs- 
weise mit  ihrer  Habgier  zu  kämpfen,  vermöge  deren  sie  einen 
reichen  Freigelassenen  bevorzugt  und  mit  diesem  auf  seine 
Güter  geht.  Diese  Erfahrung  veranlasst  den  Dichter  zu  einer 
Verwünschung  des  Landlebens  (II,  3),  welche  freilich  so  wenig 
ernsthaft  gemeint  ist  dass  auch  in  diesem  Buche  wieder  das  Land- 
leben dem  Tibuli  die  schönsten  und  wärmsten  Züge  leiht  (bes. 
in  II,  1).  Ueberhaupt  hat  das  ganze  Buch  vielfach  eine  launige^ 
humoristische  Färbung,  und  nimmt  so  ziemlich  den  Ton  wieder 
auf  mit  welchem  das  Verhältniss  zu  Delia  geendet  hat  (in  I,  2 
und  6),  nur  leidenschaftsloser,  freier  und  heiterer:  den  Ton  des 
reiferen  Mannes,  der  in  diesen  Interessen  nicht  mit  seinem  ganzen 
Selbst  untergeht.  Uebrigens  fehlt  diesen  Nemesis -Elegieen  die 
letzte  Feile.  Bei  II,  3  und  5  fällt  diess  schon  bei  oberflächlicher 
Betrachtung    in  die  Augen:    beide    bestehen    aus   Bausteinen   zu 


Gedichte.   Buch  Tl.  371 

einem  Gedichte,  zum  Theil  schon  für  sich  behauen,  aber  noch 
nicht  ineinandergefügt;  die  einzelnen  Bestandtheile  stehen  noch 
nicht  im  richtigen  Verhältniss  zu  einander,  haben  auch  noch 
manche  Unebenheiten,  und  die  Uebergänge  fehlen  noch.  Von 
11,  5  hat  Gruppe  diesen  Sachverhalt  besonders  ausfuhrlich  nach- 
gewiesen (S.  76 — 95).  Es  ist  ein  Gelegenheitsgedicht,  verfasst 
als  Messala's  Sohn,  Messalinus,  die  Würde  eines  Quindecemvir 
sacrorum  erlangte,  als  welcher  er  es  besonders  mit  den  sibyl- 
linischen  Buchern  zu  thun  hatte.  Da  nun  über  die  Person  des 
jungen  Priesters  selbst  und  dessen  Amt  an  sich  wenig  zu  sagen 
war,  so  machte  der  Dichter  den  Orakelgott  Apollo  und  die  Sibylle, 
sammt  deren  Weissagungen,  besonders  über  Borns  künftige  Grösse, 
zu  seinem  Hauptgegenstand,  und  gewann  dadurch  einen  ebenso 
bedeutsamen  als  nationalen  Inhalt.  Die  Ausführung  ist  freilich 
von  der  Vollendung  noch  sehr  weit  entfernt.  Da  aber  doch  ein 
bestimmter  Anlass,  etwa  ein  Familienfest  bei  Messala  zur  Feier 
der  Beförderung  seines  Sohnes,  vorgelegen  sein  muss,  so  ist 
wahrscheinlich  dass  der  Dichter,  ehe  er  das  hiefür  bestimmte 
Gedicht  fertig  hatte,  erkrankte  und  starb,  was  aber  den  Heraus- 
geber seiner  nachgelassenen  Gedichte  nicht  abhielt  auch  dieses, 
in  der  Gestalt  wie  er  es  vorfand,  in  seine  Sammlung  aufzunehmen. 
Wir  haben  also  an  dieser  Elegie  ohne  Zweifel  die  letzte  Arbeit 
Tibuirs,  also  aus  der  zweiten  Hälfte  des  J.  735  d.  St.  Neben 
ihr  muss  H,  3  wegen  ihrer  Unfertigkeit  (vgl.  Gruppe  S.  95 — 99) 
zu  den  spätesten  Gedichten  gehören:  sie  enthält  gleichfalls  eine 
grosse  Manchfaltigkeit  von  Gedanken  und  Wendungen,  und  vieles 
glückliche  Detail ;  aber  die  Lückenhaftigkeit  und  Zusammenhangs- 
losigkeit  ist  hier  wo  möglich  noch  grösser  als  in  H,  5,  in  welcher 
doch  äusserlich  keine  Löcher  wahrzunehmen  sind.  Vollendeter 
sind  El.  H,  4  und  6;  doch  ist  zur  Ehre  unseres  Dichters  anzu- 
nehmen dass  er  die  hässliche  Geschmacklosigkeit  am  Schlüsse 
der  vierten  noch  getilgt  haben  würde  ehe  er  das  Gedicht  ver- 
öffentlicht hätte.  Am  nächsten  steht  der  Vollendung  die  erste 
mit  ihrer  lebendigen  Schilderung  des  Landlebens,  ausgehend  von 
der  Feier  des  Ambarvalienfestes,  und  in  ihrer  Anlage,  nament- 
lich der  Aneinanderreihung  von  Landleben,  Messala  und  Liebe, 
der  ersten  des  ersten  Buchs  vielfach  ähnlich.  Dass  die  einzelnen 
Elegieen  sich  zu  einem  Ganzen  zusammenzuschliessen  bestimmt 
waren  ist  auch  bei  ihrer  jetzigen  unvollendeten  Gestalt  erkennbar : 

an   die  begeisterte  Darstellung  des  Landlebens  iq  H,  i  schliesst 

24  • 


372  Tibullus. 

sich  als  Contrast  II,  3  die  scherzhafte  Verwünschung  desselben 
an,  und  der  Entschluss  mit  welchem  II,  3  endet,  bei  Nemesis 
Sklave  zu  werden,  wird  im  Anfange  von  II,  4  aufgenommen  und 
weitergeführt.  Gemeinsam  ist  diesem  Buch  auch  die  briefartige 
Haltung,  vielleicht  durch  den  Einfluss  der  Episteln  des  Horaz 
veranlasst:  alle  diese  Elegieen  sind  an  Einzelne  gerichtet  und 
ketten  die  persönlichen  Erlebnisse  und  Empfindungen  an  die  eines 
Andern.  SoII^  1  an  Messala,  II,  2  u.  3  an  Cornulus,  II,  5  hat  Mes- 
salinus  zum  unmittelbaren  Gegenstand,  und  II,  6  redet  seinen 
Freund  Aemilius  Macer  an.  Nur  II,  4  macht  hievon  eine  Aus- 
nahme, wiewohl  auch  sie  eigentlich  an  Nemesis  gerichtet  ist. 
Bemerkenswerth  ist  ferner  wie  auch  diese  unvollendeten  Elegieen, 
gleich  den  Gedichten  aus  den  früheren  Jahren  des  TibuU,  den 
Beweis  führen  dass  unser  Dichter  alexandrinische  Neigungen  und 
Schulmanieren  in  sich  zu  bekämpfen  und  zu  überwinden  hatte 
um  zur  reinen  und  getreuen  Darstellung  seiner  Eigenthümlichkeit 
zu  gelangen :  auch  diese  Gedichte  haben  einen  Hang  in  mythische 
Zeiten  zurückzugehen  (1,  37  ff.  67  ff.  3,  11  ff.  69  ff.  4,  55  ff. 
und  5  ganz)  und  sich  auf  einzelne  abstracte  Gedanken  zu  werfen, 
die  dann  mit  unverhältnissmassiger  Rhetorik  ausgeführt  werden, 
wie  die  Lobrede  auf  rus  und  agricola  1,  37  ff.,  die  Ausführung 
über  die  Wirkungen  des  Geldes  3,  36  ff.  und  die  Macht  der 
Hoffnung  6,  21  ff.  Ebenso  erinnert  II,  5  durch  die  ganze  Art 
der  Behandlung  des  Themas  und  die  Sprödigkeit  der  Theile  gegen 
einander  an  El.  I,  7.  Auch  hier  also  finden  wir  die  Wahr- 
nehmung bestäligt  dass  es  sich  der  Dichter  treuen  Fleiss  und 
unverdrossene  Feile  hat  kosten  lassen  um  seine  Gedichte  auf  die 
Stufe  der  Vollkommenheit  zu  bringen  die  wir  in  den  von  Sulpicia 
und  Delia  handelnden  Elegieen  gewahren. 

9.  Nachdem  wir  die  künstlerische  Thätigkeit  des  Tibull  bis 
zu  seinem  Tode  fortgeführt  haben  bleibt  uns  noch  übrig  auch 
denjenigen  Theil  der  auf  uns  gekommenen  Gedichtsammlung  in 
Betracht  zu  ziehen  welcher  Elegieen  enthält  die  nicht  von  Tibull 
herrühren.  Diess  sind  (ausser  den  schon  besprochenen  IV,  8 — 12) 
die  im  dritten  Buche  vereinigten.  Von  den  sechs  Elegieen 
dieses  Buchs  haben  fünf  das  Verhältniss  zwischen  Lygdamus  und 
Neära  zu  ihrem  Gegenstande.  Lygdamus  erscheint  als  ein 
Römer  (s.  1,  2)  von  gutem  Hause  (6,  60),  welcher  mit  Neära, 
wie  es  scheint  hauptsächlich  auf  Betreiben  von  deren  Eltern 
(vgl.  2,  13.  4,  93),  verlobt  gewesen  war,  aber  mit  seiner  warmen 


Gedichte.   Buch  III  (Lygdamus).  373 

Liebe  keine  Erwiderung  gefunden  hatte,  indem  ihm  bei  Neära 
eine  romantische  Neigung  zu  einem  Manne  von  niedrigerer  Stel- 
lung (6,  60)  im  Wege  stand  (vgl.  4,  58 — 60).  In  Folge  dessen 
hatte  sich  die  Verbindung  mit  Lygdamus  wieder  gelöst  (1,  23 
vgl.  2,  4.  30),  und  dieser  sucht  nun  durch  ruhrende  Gedichte 
und  Betheuerung  seiner  fortwährenden  Liebe  das  Herz  seiner 
ehemaligen  Verlobten  zu  gewinnen,  um  eine  Wiederherstellung 
des  alten  Bundes  (reditus  3,  35  vgl.  27)  zu  bewirken.  Dass  dieser 
über  das  Verlöbniss  noch  nicht  hinausgediehen  war  erhellt  daraus 
dass  von  der  Ehe  als  einer  erst  zu  schliessenden,  nicht  aber  zu 
erneuernden,  die  Rede  ist  (vgl.  1,  6  und  26  ff.  3,  7  ff.  und  31  f.) 
und  die  Ausdrucke  vir,  coniux  und  nupta,  welche  von  dem  bis- 
herigen Verhältnisse  wiederholt  gebraucht  werden  (1,  23.  2,  30), 
beweisen  hiegegen  Nichts,  da  diese,  insbesondere  bei  den  Ele- 
gikern,  unzählige  Male  auch  von  den  lockersten  sexuellen  Ver- 
bindungen in  Anwendung  gebracht  werden;  für  diese  Elegieen 
geht  es  überdiess  daraus  hervor  dass  2,  4  coniux  ganz  offenbar 
als  Wechselbegriff  für  das  2,  1  gesetzt  gewesene  puella  gebraucht 
ist  (vgl.  4,  58),  sowie  4,  31  maritus  vom  Bräutigam,  und  v.  52 
vir  vom  Liebhaber,  abgesehen  davon  dass  1,  23  vir  quondam 
ebenso  gut  auf  die  Zukunft  gehen  kann  (s.  Heindorf  zu  Hör.  Sat. 
II,  2,  82)  wie  auf  die  Vergangenheit.  Die  erste  dieser  Elegieen 
nun  (HI,  1)  hat  einen  ähnlichen  Ausgangspunkt  wie  IV,  2:  sie 
dient  den  andern  als  Einleitung  und  Vorwort.  Der  Dichter  über- 
reicht seiner  Neära  als  Neujahrsgeschenk  (zum  ersten  März)  seine 
Gedichte  an  sie  (HI,  1—4)  in  eleganter  Ausstattung  und  trägt 
dabei  sein  Anliegen  vor.  In  der  Elegie  nimmt  die  Beschreibung 
der  äusseren  Ausstattung  des  Buchleins  einen  grossen  Raum  ein, 
und  dass  diese  Buchbindersvorkehrungen  den  Musen  in  den  Mund 
gelegt  sind  ist  nicht  eben  ein  glücklicher  Gedanke.  Wenn  Ovid 
in  der  Dedication  seiner  Tristia  an  August  eine  ähnliche  Be- 
schreibung der  Aussenseite  seines  Buches  gibt,  so  hat  diese  dort 
ihren  vollkommen  passenden  Platz,  indem  dieselbe  als  ein  Abbild 
der  Stimmung  des  Verfassers  dargestellt  ist,  eine  Parallelisierung 
welche  der  Dichter  nach  seiner  Weise  bis  ins  Kleinliche  und 
Spielende  hinein  verfolgt  (vgl.  W.  Herlzberg,  Hall.  Jahrbb.  1839. 
I.  S.  1018).  Bei  unserem  Verfasser  aber  ist  von  einer  solchen 
geistigen  Deutung  keine  Rede,  und  dieses  Aeusserliche  bleibt  so 
sehr  Selbstzweck  dass  v.  18  sogar  den  Musen,  als  ob  sie  nasse 
oder  schmutzige  Hände  hätten ,  anempfohlen  wird  dafür  zu  sorgen 


374  TibuUuB. 

dass  die  Farbe  an  der  Aussenseite  nicht  verwischt  werde.     Diess 
zu  verhüten    beschwört  der  Verfasser  die  Musen    gar    bei  dein 
kastalischen  Lorbeerhain  und  den  pierischen  Seen.     Die  zweite 
Elegie  (III,  2)  spricht  aus  dass  der  Verfasser  die  Trennung  von 
seiner  Neära  nicht  überleben  werde  und  trifft  desshalb  Verfügungen 
wie  es  mit  seiner  Bestattung  gehalten  werden  solle.     Die  Motive 
sind   sämmtlich  aus  Tibull  entlehnt:    der  Anfang  aus  dem  von 
I,  10,  aber  so  dass  dessen  Lebhaftigkeit  bedeutend  abgeschwächt 
ist  nicht    blos  durch   den  nüchternen  Relativsatz    sondern   auch 
durch  das  Herabstimmen  des  ferreus  ille  fuit  zu  einem  matten 
durus  et  ille  fuit.     Sodann  die  Situation  dass  die  Geliebte  am 
Grabe  des  Dichters  weint  ist   aus  I,  1,  62  ff.,  und   ebenso  un- 
passend angebracht  als  ausgeführt.    Bei  Tibull  ist  die  Vorstellung 
berechtigt  und  von  grosser  Wirkung:  denn  dort  herrscht  zwischen 
dem  Dichter  und  Delia  vollkommenes  Einverständnisse  ihre  Liebe 
ist  eine  gegenseitige  und  eben  jetzt  in  schönster  Blüte.   Dagegen 
Neära  verschmäht  den  Lygdamus,  der  sie  mit  seiner  Liebe  ver- 
folgt, und  es  ist  daher  von  diesem  eine  sonderbare  Voraussetzung 
dass  sie   bei  seinem  Tode  so  gar  untröstlich  sein  werde,  noch 
wunderlicher  aber  die  Zumutung  selbst  auf  sein  Grabmal  schreiben 
zu  lassen  dass  sie  an  seinem  Tode  Schuld  gewesen  sei  (v.  29  f.), 
mit  welcher  Grabschrift  abermals  eine  tibuUische  Stelle  (I,  3,  55  f.] 
zur  Unzeit  nachgeahmt  ist.    Ausserdem  sind  die  Leichenfeierlich- 
keiten, welche  Tibull  (1,  3,  6  ff.)  nur  kurz  andeutet,  weise  ver- 
theilt  und  vollständig  beseelt,  hier  wiederum  zu  einer  selbstän- 
digen, umständlichen  Beschreibung  ausgeführt,   in  welcher  sogar 
das  Waschen  der  Hände  und  die  Sorte  von  Leinwand  welche  zum 
Abtrocknen  der  Gebeine  genommen   werden  soll  für  Neära  und 
ihre  Mutter  vorgeschrieben  sind,  sowie  das  Zugiessen  von  Oel  und 
—  Thränen  bestellt  wird.     Die  dritte  Elegie  (IH,  3)  behandelt 
den  Gedanken:  nicht  Reichthum  wünsche  ich  mir,  sondern  deine 
Liebe;  ohne  dich  hat  Alles,  auch  das  Leben,  keinen  Werlh  für 
mich.     Mit  Recht  sagt  Voss  von  dem  Gedicht  es  sei  ein  ewiges 
Rundum  auf  einem  zertretenen  Gemeinplatz,    wobei    einem  der 
Kopf  tummlig  werde.    In  der  Weise  der  unvollkommensten  Crst- 
lingsarbeiten  von  Tibull  ist  ein  abstracter  Gedanke  rein  quantitativ 
ausgeführt,  durch  eine  Reihe  von  Beispielen,  in  der  eintönigsten 
Form  (v.   1.  11.   13.  17),   und  mit  zahlreichen  Wiederholungen, 
Ungeschicklichkeiten  und  Geschmacklosigkeiten  (z.  B.  v.  14.  22. 
23.  25.  26.  29  f.  34.  36).    Um  nicht  Vieles  weniger  schülerhaft 


Gedichte.    Buch  III  (Lygdamus).  375 

ist  die  vierte  Elegie  (III,  4),  worin  gleichralls  mit  äusserster 
Breite  berichtet  ist  dass  dem  Verfasser  Apollo  im  Traume  er- 
schienen sei  und  gesagt  habe  Neära  wolle  ihn  nicht,  doch  solle 
er  darum  noch  nicht  alle  Hoffnung  aufgeben  und  sich  aufs  Bitten 
legen.   Dieser  sehr  magere  Inhalt  ist  in  48  Disticha  ausgesponnen, 
indem  zuerst  —  in  Nachahmung  von  TibulFs  Gewohnheit,   aber 
sehr  ohne  seinen  Geist  —  den  Empfindungen   über  den  Traum 
Worte  gegeben,  sowie  die  Bedeutung  der  Träume  überhaupt  er- 
örtert wird  (v.  1  — 16),  und  dann  erst,   abermals  unter  langen 
Vorbereitungen,  der  Traum  erzählt  wird:  nach  einer  schlaflosen 
Nacht  erschien  mir  gegen  Morgen  .(v.  17 — 22J  Apollo  (v.  23 --41) 
und  sprach  (v.  42  —  80);  ich  kann  aber  nicht  glauben  und  hoffe 
und  wünsche  nicht  dass  seine  Mittheilung  richtig  sei  (81 — 96). 
Auch  im  Einzelnen  ist  Vieles  unbeholfen,  geschraubt  und  unpas- 
send (v.  3.  9.  11  f.  17  f.  26.  36.  39  f.  41.  45  f.  50.  59  f.  68. 
71.  77.84.  85  ff.  87),  die  Erfindung  selbst  aber  eine  sehr  wohl- 
feile und  mit  wenig  Geschick  durchgeführte  (z.  B.  v.  61  f.   im 
Munde  des  Apollo).    Als  gelungen  ist  nur  etwa  das  Bild  v.  33 
hervorzuheben.    Neära  Hess  sich  aber  durch  das  Gewinsel  dieser 
Elegieen  nicht  erweichen ,  und  beharrte  ebenso  in  ihrer  Zuneigung 
zu  dem  ignotus  vir  als  in  ihrem  Entschlüsse  das  Verhältniss  zu 
dem  Verfasser  dieser  Elegieen  nicht  wieder  aufzunehmen.  Dieses 
Ergebniss  hat  das  fünfte  Gedicht  dieser  Reihe  (III,  6)  zur  Vor- 
aussetzung.    Die  Situation  desselben  ist  —  in  Nachahmung  von 
Tibull  (I;  2)  —  ein  Gelage,  bei  welchem  der  Gedanke  an  sein 
Liebesunglück  wiederholt  und  in  mancherlei  Gestalten  auftaucht, 
aber  bekämpft  und  schliesslich  besiegt  wird.     Es  ist  dabei  das 
tibullische  Auf-  und  Abwogen  der  Empfindungen  und  ihr  rascher 
Wechsel  und  Umschlag  nachzumachen  gesucht,   aber  ohne  dass 
die  Uebergänge  psychologisch  begründet  wären  und  es  über  ein 
planloses  Herumfahren  in  verschiedenen  Stimmungen  hinauskäme, 
wobei  der  Zusammenhang  öfters  völlig  ausgeht  (v.  39.  43).    Auch 
sind  es  eigentlich  nur  zweierlei  Gedanken  und  Stimmungen  welche 
einander  fortwährend  ablösen:  die  Heiterkeit,  ausgedrückt  durch 
die  Aufforderung  zum  Trinken,    welche   theils  an  die  Freunde 
Iheils  au  den  Redenden  selbst  gerichtet  wird,  und  der  Schmerz 
über  die  definitive  Zurückweisung  durch  Neära,   welcher  zuletzt 
durch  die  zwar  ganz  verständige,  aber  wenig  poetische  Wendung 
beseitigt  wird:  sei's  drum!  ich  werde  mich  desshalb  nicht  zu  Tode 
grämen.    Mit  dem  Abspringenden  und  Zickzackähnlichen  des  Ge- 


376  TibulluB, 

dankenganges  wollte  der  Verfasser  vielleicht  auch  die  trunkene 
Weinlaune  des  Redenden  zeichnen,  was  jedoch  jedenfalls  nicht 
in  entsprechender  Weise  durchgeführt  wäre.  Im  Einzelnen  ent- 
hält die  Elegie  neben  manchem  Belfallswerthen  (v.  29  f.  53.  56) 
noch  weit  mehr  in  Gedanken  oder  Ausdruck  Verfehltes,  wie  v.  3. 
5.  8.  9.  13.  17.  19.  23.  32.  36.  41  f.  46.  48.  54.  55;  auch 
Wiederholungen  (v.  7.  37.  52)  und  ungehörige  Ausführungen 
(v.  13  ff.),  endlich  viele »Reminiscenzen  aus  Tibull  (v.  If.  =  11, 
5,  121  f.  V.  13f.  =  II,  1,  72.  V.  27  =  IV,  13,  16.  v.  45  =  1, 
4,  15.  V.  60  =  IV,  10,  6.  V.  62  =  1,  2,  1).  Zwischen  die  Be- 
werbungen in  den  vier  ersten  Elegieen  und  das  Schwinden  der 
letzten  Hoffnung,  wie  es  das  letzte  Gedicht  darlegt,  fällt  El.  III,  5, 
in  welcher  von  Neära  nicht  die  Rede  ist.  Dagegen  wiederholt 
sie  ein  anderes  Motiv  von  TibulFs  I,  3,  dass  nämlich  der  Ver- 
fasser krank  zu  Hause  liegt,  während  seine  Freunde  entfernt  von 
ihm  sich  vergnügen.  Und  zwar  sind  diese  in  einem  etruskischen 
Bade,  ohne  dass  jedoch  ihre  Persönlichkeiten  klarer  werden.  Der 
Verfasser  aber  furchtet  seiner  Krankheit  zu  erliegen,  trotzdem 
dass  er  durch  keine  schwere  Sünde  den  Tod  verschuldet  habe  und 
auch  noch  viel  zu  jung  sei  zum  Sterben.  Er  legt  ausführlich  dar 
was  er  Alles  nicht  gethan  habe  und  nicht  sei,  bittet  desshalb  um 
Schonung  und  verabschiedet  sich  von  seinen  Freunden.  Ueber- 
haupt  ist  diese  Elegie  ein  wirklicher  Brief  und  enthält  manche 
gute  Stellen  (bes.  v.  19  f.  30  f.),  daneben  aber  freilich  auch 
wieder  unnöthlge  Weitläufigkeiten  (v.  7  — 14)  und  Wiederholungen 
theils  innerhalb  des  Gedichtes  selbst  (v.  29  f.  ==  v.  1)  theils  gegen- 
über von  anderen  (v.  7  ff.  =  4,  15  f.),  wie  ohnehin  auch  im  Ein- 
zelnen der  Ausführung  viel  Nachgeahmtes  (z.  B.  v.  2u.  8  =  1,  6, 
22.  V.  7  ff.  =  I,  2,  81  ff.  v.28  =  I,  10,  44.  v.  30  =  1,  4,  46). 
Bei  der  Darlegung  dass  der  Verfasser  noch  jung  sei  erfahren  wir 
gelegentlich  dessen  Geburtstag  (v.  17  f.),  dass  er  nämlich  im 
J.  711  d.  St.  geboren  sei,  wodurch  zugleich  Tibull  aufs  Bündigste 
von  dem  Verdachte  befreit  wird  als  ob  er  der  Verfasser  dieser 
sechs  Elegieen  wäre.  Wie  dieser  wichtigste  Theil  der  äusseren 
Verhältnisse  des  Verfassers  nicht  auf  Tibull  passt,  so  auch  nicht 
die  Situation  welche  diesen  Elegieen  zu  Grunde  liegt,  und  noch 
weniger  die  Beschaffenheit  der  Gedichte  selbst.  Tibull  müsste 
sich  selbst  —  und  zwar  durchgängig  verschlechternd  —  nach- 
geahmt haben,  und  es  wäre  zudem  nicht  zu  begreifen  wann  diess 
geschehen   sein   sollte,   da   TibuH's  Leben  so  kurz  war  dass  er 


Gedichte.   Buch  III  (Lygdamus).  377 

nicht  einmal  die  unzweifeihari  von  ihm  herrührenden  Gedichte 
alle  ganz  fertig  brachte.  Indessen  erstreckt  sich  diese  Äehnlich- 
keit  mehr  nur  auf  das  Aeussere,  auf  die  Motive  der  Gedichte 
und  zahlreiche  einzelne  Gedanken  und  Wendungen;  in  allem 
Änderen  aber  besteht  eine  sehr  wesentliche  Verschiedenheit  zwischen 
den  beiderlei  Dichtern  und  Gedichten.  Einmal  in  Beziehung  auf 
den  Stoff  und  den  Gedankenkreis  besteht  kein  Berührungspunkt 
zwischen  Beiden:  keine  Spur  namentlich  von  der  dem  Tibull  so 
eigenthümlichen  sanften  Schwärmerei  für  die  Reize  des  Land- 
lebens findet  sich  im  dritten  Buche  (vgl.  Voss  S.  XV.  Gruppe 
S.  108),  vielmehr  ist  hier  der  Boden  ausschliesslich  die  Stadt, 
die  Bilder  fast  einzig  diesem  Kreise  und  der  Gelehrsamkeit  ent- 
nommen (s.  bes.  El.  3.  4) ,  und  nur  sehr  selten  erinnert  sich  der 
Verfasser  dass  es  auch  ausser  der  Stadt  eine  Welt  gibt,  insbe- 
sondere eine  Natur  (4,  33  f.).  Auch  die  Sinnesart  der  beiden 
Verfasser  ist  eine  grundverschiedene:  während  Tibull  gefühlvoll, 
warm  und  oft  leidenschaftlich  ist,  so  zeigt  sich  der  Verfasser  des 
dritten  Buchs  süsslich  schmachtend  und  weinerlich  und  so  tact- 
verlassen  dass  er  eine  klägliche  Situation,  aus  der  er  sich  je 
eher  je  lieber  reell  hätte  befreien  müssen ,  gar  noch  zum  Gegen- 
stande von  Versen  macht,  seine  Schmach  veröffentlicht,  und  durch 
armseliges  Seufzen  und  Flehen  seine  Manneswürde  so  gründlich 
verleugnet  und  herabwürdigt  dass  wir  schon  darum  Neära's  Ver- 
halten zu  ihm  vollkommen  berechtigt  finden  müssen.  Schon  durch 
diese  Wahl  eines  Stoffes  welcher  poetische  Behandlung  geradezu 
ausschliesst  zeigt  der  Verfasser  seinen  Mangel  an  dichterischer 
Befähigung;  ebenso  ferner  durch  die  gleichmässige  Geschraubtheit 
seines  Tones,  die  Mühsamkeit  womit  er  offenbar  diese  Verse 
zusammengebracht  hat  und  die  namentlich  auch  darin  sich  kund- 
gibt dass  der  beabsichtigte  Gedanke  manchmal  mehr  errathen 
werden  muss  als  dass  er  durch  die  Worte  klar  ausgedrückt  wäre, 
wiewohl  es  dem  Gedanken  selbst  auch  manchmal  an  Schärfe  und 
Richtigkeit  fehlt  (1,  7.  2,  26).  Zu  diesen  Beweisen  von  unzu- 
länglicher Begabung  gehört  weiter  die  Hast  womit  dieser  Dichter 
von  der  traurigen  Gestalt  dem  Fahrwasser  mythologischer  Gelehr- 
samkeit und  der  Beschreibungen  sich  zuzuwenden  liebt,  und  seine 
Abhängigkeit  von  Tibull,  von  dem  er  aber  die  Schwächen  weit 
mehr  sich  zu  eigen  gemacht  hat  als  seine  Vorzüge.  Namentlich 
die  zwecklose  Häufung  desselben  Begriffs  (1,  3.  3,  38.  4,  93), 
die  Sucht  zu  (heilen  (1,  6  und  19.  4,  11  f.),  und  besonders  die 


378  Tibulluß. 

Manie  für  FarbengegeosäUe  (1,  9.  2,  10.  18.  3,  37  f.  4,  30. 
5,  lö«  33  f.)  haben  diese  Elegieen  n)it  den  unvolll&ommensten 
Arbeiten  des  TibuU  (IV,  1  und  I,  7)  gemeinsam.  Ausserdem  ver- 
räth  der  Verfasser  eine  wenig  geschmackvolle  Vorliebe  für  Wort- 
anklänge (4,  10  saliente  sale;  69  f.  sonora —  sonos;  5,  2  unda 
—  adeunda ;  25  f.  senecta — senex).  Sein  Sprachschatz  ist  beschränkt 
und  wiederholt  namentlich  die  Worte  niveus,  candidus,  Yanus, 
sowie  die  Wendung  mit  volo  mit  lästiger  Häufigkeit  (auch  genus 

4,  9.  61.  6,  7;  rubente  4,  32  und  rubent  4,  34);  überdiess 
zeigt  er  gegenüber  von  TibuU  charakteristische  Abweichungen. 
Prosaische  Partikeln  wie  autem  (andererseits),  ergo,  etenim,  quare 
(4,  49)  finden  sich  bei  Tibull  nicht,  wohl  aber  wiederholt  im 
dritten  Buche;  quam  vis  ist  hier  (6,  29)  mit  dem  Indicativ  ver- 
bunden, bei  Tibull  stets  mit  dem  Conjunctiv;  postquam  —  viel- 
leicht —  mit  dem  Plusquamperfect  (4,  41),  bei  Tibull  mit  dem 
Perfectum,  u.  dgl.,  Eigenheiten  welche,  je  unbewusster  sie  her- 
vorzutreten pflegen,  um  so  mehr  Beweiskraft  haben.  Endlich  im 
Bau  der  Verse  hat  das  dritte  Buch,  mit  alleiniger  Ausnahme  von 
zwei  Stellen  (4,  57  und  6,  17),  einförmig  die  Cäsur  nach  dem 
fünften  Halbtheile,  während  Tibull  in  dieser  Beziehung  seinen 
Versen  eine  grosse  Mancbfaltigkeit,  rasche  Bewegung  und  oft 
einen  malerischen  Charakter  zu  geben  weiss;  das  Uebergreifen 
des  Sinnes  und  der  grammatischen  Construction  über  das  Distichon 
findet  sich  im  dritten  Buche  häufig  und  zum  Theil  in  einer  Aus- 
dehnung welche  aller  Kunst  und  allem  Geschmacke  Hohn  spricht 
(vgl.  bes.  3,  1  — 10.  4,  51  —  60);  die  Pentameter  sind  selten 
mit  dem  Hexameter  organisch  verbunden,  wohl  aber  ist  für  sie 
sehr  oft  der  Gedanke  ausgegangen,  so  dass  sie  leer,  wo  nicht 
störend,  nachhinken  (z.  B.  1,  2.  14.  2,  26.  3,  4.  14.  26.  34. 
36.  4,  36.  50.  6,  36.  48). 

Durch  dieses  Alles  wird  es  hinlänglich  festgestellt  sein  dass 
Tibull  der  Verfasser  dieser  sechs  Elegieen  nicht  ist,  und  es  fragt 
sich  nur  noch  wer  denn  sonst  es  sei?    Ovid,  antwortet  Gruppe 

5.  133  If.  Um  dless  wahrscheinlich  zu  machen  hat  Gruppe  in 
Bezug  auf  Lebensverhältnisse,  dichterischen  Charakter  und  Sprache 
eine  Uebereinstimmung  zwischen  beiden  Dichtern  nachzuweisen 
gesucht.  In  ersterer  Beziehung  ist  allerdings  merkwürdig  das 
Zusammentrelfen  beider  im  Geburtsjahre;  denn  auch  Ovid  ist  im 
J.  711  geboren,  ja  er  berichtet  diess  Trist.  IV,  10,  6  eben  mit  den 
Worten  unseres  Verfassers  (5,  18) ;  indessen  kann  diese  Altersgleicb- 


Gedichte.   Buch  III  (Lygdamus).  379 

heil  ebensogut  bioser  Zufall  sein.  Ferner  behauptet  Gruppe,  Neära 
sei  Ovid's  zweite  Frau,  von  welcher  dieser  Trist.  IV,  10,  71  'j  sagt: 

Ganz  untadelig  war  die  welche  darauf  ich  zur  Frau  nahm; 
Doch  nicht  lange  vermählt  sollte  sie  bleiben  mit  mir. 

Diese  Combination  ist  aber  bereits  dadurch  beseitigt  dass  sich 
uns  das  Ergebniss  herausgestellt  hat  Neära  sei  nicht  die  Frau, 
sondern  die  Verlobte  des  Lygdamus  gewesen;  wir  brauchen  uns 
daher  auch  nicht  auf  Gruppe's  unrichtige  Deutung  von  4,  83 
(vgl.  59)  und  anderen  Stellen  einzulassen.  Weiter  soll  aus  1,  2 
hervorgehen  dass  der  Verfasser  des  dritten  Buchs  gleichfalls,  wie 
Ovid;  römischer  Kitter  sei,  während  der  Vers  nur  beweist  dass 
er  römischer  Burger  ist;  und  ebenso  ist  die  Vermutung,  die  in 
III,  5  angeredeten  Freunde  seien  Messala  und  TibuU,  die  sich 
auf  des  Ersteren  Gute  bei  Arretium  (vielmehr  in  einer  etruskischen 
Therme)  beßnden,  ohne  alle  Beweiskraft.  Sodann  die  Ueberein- 
slimmung  des  dichterischen  Charakters  soll  (nach  Gruppe  S.  136) 
darin  bestehen  dass  auch  Ovid  ein  städtischer  Dichter  sei,  was 
aber  z.  B.  auch  Propertius  ist;  dass  sie  gewisse  rhetorische 
Figuren ,  namentlich  Antithesen ,  gemein  haben  (aber  die  Rhetorik 
ist  ein  Gemeingut  aller  römischen  Dichter,  und  überdiess  die 
Zahl  der  rhetorischen  Figuren  des  Ovid  welche  sich  bei  unserem 
Verfasser  nicht  flnden  eine  weit  grössere);  dass  das  dritte  Buch 
die  Rundung,  Ebenheit,  Glätte,  leichte  Grazie  und  spielende 
Eleganz  des  Ovid,  sowie  seine  Unmittelbarkeit  der  Versification 

• 

theile,  —  wovon  wir  nur  das  Gegentheil  zu  entdecken  im  Stande 
sind.  Noch  dürftiger  ist  Gruppe's  Beweisführung  in  Betreff  der 
Gleichheit  der  Sprache  beider  Verfasser  (S.  137),  welche  darin 
besieht  dass  Lygdamus  postquam  mit  dem  Plqpfct  verbinde,  Ovid 
aber  diese  Conjunction  überhaupt  gar  nicht  habe  (welche  letztere 
Angabe  überdiess  vollkommen  grundlos  ist);  Lygdamus  quamvis 
(in  dem  einzigen  Falle  wo  das  Wort  bei  ihm  vorkommt)  mit  dem 
Indicativ  setze,  Ovid  aber  sowohl  mit  dem  Indicativ  als  mit  dem 
Conjunctiv;  dass  auch  Ovid  ergo  oft  (vielmehr  blos  manchmal) 
Im  Anfange  von  Versen  gebrauche  (was  auch  Propertius  thut); 
dass  bei  Lygdamus  viel  weniger  Conjunctionen  sich  finden  als 
bei  Tibull  (nämlich  dum^  quod  und  ubi  fehlen),  wie  auch  Ovid 
hierin  „viel  delicater  und  gewandter '*  sei;  „er  bindet  die  Sätze 
I  lieber  durch  die  Stellung  der  Worte  selbst  und  durch  die  Natur- 

lichkeit  des  Gedankenfortgangs  als  durch  besondere  Conjunctionen" 
(S.  137  f.).    Aber  bei  Lygdamus  hängt  diese  Eigenheit  vielmehr 


380  TibuUus. 

mit  seiner  Spracharmut,  Einförmigkeit  und  aggregaliven  Anein- 
anderreihung der  Gedanken  zusammen.  Endlich  die  Stellen  in 
welchen  Ovid  Wendungen,  Bilder  und  ganze  Verse  des  dritten 
Buchs  uachgeahmt,  beziehungsweise  abgeschrieben  hat  (Gruppe 
S.  127  — 132),  zeigen  nur  dass  Ovid  diese  Elegieen  kannte  und 
sind  ein  Beweis  wohl  von  seinem  ausserordentlichen  Gedächtniss 
und  seiner  Leichtfertigkeit  im  Versemachen,  nicht  aber  seiner 
Identität  mit  dem  Verfasser  derselben.  Ohnehin  hat  W.  Hertzberg 
(a.  a.  0.  S.  1019  f.)  gezeigt  dass  ein  grosser  Theil  der  angeführten 
Beispiele  zu  den  stehenden  Bildern  und  Redeweisen  der  römischen 
Dichter  gehört,  und  auf  diese  Art  sich  die  Identität  des  Lygdamus 
sowohl  als  des  Ovid  mit  jedem  andern  römischen  Elegikev  beweisen 
Hesse.  Auch  benützt  Ovid  nicht  blos  die  Gedichte  des  dritten 
Buchs  —  weil  er  auf  diese  nach  Gruppe  ein  Eigenthumsrecht 
hatte  —  sondern  ganz  ebenso  namentlich  auch  die  des  TibuH, 
und  zwar  keineswegs  so  „verschämt"  und  „hauptsächlich  da  wo 
es  (wie  Amor.  III,  9,  58)  offenbar  dichterische  Absicht  war 
dessen  Worte  zu  geben"  (S.  132  f.).    Denn  z.  B.  A.  A.  III,  447  f. 

O  quater  et  quoties  numero  comprendere  non  est 
Felicem  de  quo  laesa  pnella  dolet! 

ist  doch  wohl  nicht  blos  ein  „  verschämter  Anklang  **  an  die  Worte 
von  TibuU  (1,  10,  63  f.): 

qaater  ille  beatas 
Quo  tenera  irato  flere  puella  potest. 

So  stimmt  auch  der  unglückliche  Ausdruck  vitreo  .  .  madentia 
rore  tempora  noctis  eunt  (Am.  I,  6,  55  f.)  wohl  nicht  zufallig 
zusammen  mit  dem  ebenso  verfehlten  des  Tibull  (II,  4,  12) 
omnia  iam  tristi  tempora  feile  raadent,  und  so  Unzähliges.^) 

Ist  es  hienach  Gruppe  nicht  gelungen  wahrscheinlich  zu 
machen  dass  Ovid  der  Verfasser  des  dritten  Buches  sei,  so  hat 
dagegen  W.  Hertzberg  (a.  a,  0.  S.  1024  f.)  nachgewiesen  dass  eine 
derartige  IdentiGcierung  positiv  unmöglich  ist.  „  Diess  erhellt  vor 
Allem  aus  der  ganz  von  Ovid's  Weise  verschiedenen  Sprache  des 
Lygdamus,  natürlich  innerhalb  der  gemeinsamen  Grenzen  in  denen 
sich  überhaupt  das  römische  Gedicht  und  besonders  das  elegische 
bewegt.  Hier  ist  Nichts  von  Ovid*s  übertriebenen  rhetorischen 
Effecten,  die  in  den  kaum  der  Declamatorschule  entwachsenen 
Jugendgedichten  namentlich  uns  überall  in  spitzigen  Antithesen 

*)  Vgl.  jetzt  A.  Zingerle ,  Ovidias  und  sein  Verhältniss  za  den  Vor- 
gliugem  und  gleichzeitigen  röm.  Dichtern,  Innsbruck  1869.   1871. 


Gedichte.    Buch  III  (Lygdamus).  381 

und  dir  den  künsüichen  Figuren  der  Anaphora,  Epiphora,  Ploke, 
selbst  bis  zu  Wortspielen  gesteigert,  entgegenspringen.  Ovid  zer- 
stückelt die  Perloden  und  geht  höchst  selten  im  elegischen  Masse 
über  die  Grenzen  des  Distichons  hinaus,  was  Lygdamus  so  oft 
thut;  dagegen  würfelt  Ovid  mit  Keckheit  die  Wörter  im  Satze 
durcheinander  bis  zur  Unverständlicbkeit,  Wagnisse  wdvon  der 
bescheidene  Lygdamus  keine  Spur  zeigt.  Im  Versbau  hüpft  und 
tanzt  Ovid  so  dass  sein  Hexameter,  selbst  in  den  ernsteren  Ge- 
dichten (Tristia  und  Fasti),  beinahe  in  der  Hälfle  der  Verse 
lauter  Daktylen  hat,  ausser  wo  nach  der  Hauptcäsur  die  Senkungs- 
länge des  dritten  Fusses  sich  leicht  versteckt,  Lygdamus  aber 
hat  unler  290  Versen  nur  sechs  von  überwiegend  daktylischem 
Gang,  mit  reinen  Daktylen  nur  vier.  Von  dem  Extreme  dagegen, 
dass  der  Hexameter  durch  lauter  Spondeen  (ausser  im  fünften 
Fusse)  gehemmt  und  schwerfallig  wird,  hat  Ovid  unter  den  1582 
Versen  der  zehn  ersten  Herolden  nur  zwölf,  Lygdamus  dagegen 
unter  seinen  290  sechszehn.  Das  sind  aber  lauter  Eigenthüm- 
lichkeiten  welche  gerade  in  der  Jugend  (und  diesem  Alter  des 
Ovid  sollten  nach  Gruppe  die  Lygdamus -Elegieen  angehören)  am 
schärfsten  hervortreten,  wie  denn  auch  gerade  die  Jugendgedichte 
Ovid's  die  reichste  Fundgrube  für  jene  Eigenthümlichkeiten  bilden." 
Wenn  also  Ovid  der  Verfasser  dieser  sechs  Elegieen  ebenso 
wenig  ist  als  Tibull,  so  erneuert  sich  die  Frage:  wer  es  denn 
sonst  sei?  Einen  Namen  wissen  wir  nicht  zu  nennen;  denn  dass 
Lygdamus  der  wirkliche  Name  des  Helden  —  a  non  *lucendd  — 
dieser  Elegieen  (und  damit  zugleich  ihres  Verfassers)  sei'^)  können 
wir  bei  der  unrömischen  Beschaffenheit  dieses  Namens  ebenso 
wenig  glauben  als  wir  eine  Trennung  zwischen  der  Person  des 
unglücklichen  Bräutigams  und  der  des  Verfassers  zulässig  finden 
(was  schon  durch  die  prosaische  Nüchternheit  der  behandelten 
Verwicklung,  sowie  durch  EI.  5  ausgeschlossen  ist)  oder  einer 
der  Vermutungen  beipflichten  können  welche  über  den  hinter 
Lygdamus  versteckten  wirklichen  Namen  aufgestellt  worden  sind 
(Passow,  Dissen  u.  A.:  Lygdamus  sei  Uebersetzung  von  Albius, 
F.  Haase:  von  Lucius,  nämlich  Messalla;  Gruppe:  Publius).     Auf 


*)  So  Hertzberg  S.  1025:  Lygd.  war  „ein  Römer,  gleichviel  welches 
Standes,  dessen  Familie  nach  römischer  Weise  als  Cognomen  den 
Namen  des  ersteh  —  vielleicht  zu  unvordenklichen  Zeiten  freigelassenen 
oder  zu  Born  sonst  in  das  Bürgerrecht  gekommenen  —  griechischen 
Stammherrn  fortführte/* 


382  TibuUas. 

Valgius  würde  die  Sylbenmessung  passen,  sowie  der  Umstand 
dass  er  zum  Kreise  des  Messala  gehörte  (Tib.  IV,  1,  179  f.)  und 
Elegieen  verfasste.  Indessen  gebt  aus  der  angeführten  Steile  des 
Tibull  bervor  dass  Vaigius  zum  Mindesten  ebenso  alt  war  als 
Tibull,  nocb  wahrscheinlicher  aber  älter  als  dieser.  Noch  weniger 
aber  kdnn  der  Verfasser  sein  Cassius  von  Parma  ^  auf  welchen 
Oebeke  gerathen  bat,  einer  der  Mörder  Caesar's  und  daher  viel- 
leicht um  20  Jahre  älter  als  TibulL  Wir  begnügen  uns  daher 
in  Bezug  auf  den  Verfasser  der  fraglichen  sechs  Elegieen  die 
beiden  Merkmale  hervorzuheben  dass  er  ein  jüngerer  Zeitgenosse 
des  Tibull  war  und  wie  dieser  (und  z.  B.  auch  der  Verfasser 
der  Ciris)  zum  Kreise  des  Messala  gehörte.  Was  das  Erste  betriflt 
so  war  er  zwar  jünger  —  wie  sein  Geburtsjahr  und  die  That- 
sache  der  Nachahmung  beweist  —  aber  doch  ein  Zeitgenosse, 
da  schon  Ovid  diese  Elegieen  kannte  und  benätzte,  und  zwar 
nicht  erst  in  seinen  späteren  Werken  (z.  B.  Trist.) ,  sondern  z.  B. 
schon  in  seinen  Amores  und  der  Ars  amandl.  Dass  er  aber  zum 
Kreise  des  Messala  gehörte  erhellt  hauptsächlich  daraus  dass  seine 
Elegieen,  ebenso  wie  die  Briefchen  der  Sulpicia,  der  tibuUischen 
Gedichtsammlung  einverleibt  wurden.  Denn  gewiss  mit  Recht 
hat  F.  Haase  (in  den  Berlin.  Jahrbb.  f.  wiss.  Kritik  1837.  I.  S.  40), 
unter  Zustimmung  von  W.  Hertzberg  (a.  a.  0.  S.  1026),  diese  Samm- 
lung als  eine  Art  von  „Familienbuch"  bezeichnet  „das  im  Hause 
des  Messala  entstanden  ist,  in  einem  um  ihn  sich  sammelnden  Kreise 
gebildeter '  Freunde  von  Geschmack  und  warmem  Interesse  für 
Poesie,  unter  denen  Tibull  ohne  Zweifel  die  bedeutendste  Stelle 
einnahm  und  als  Muster  galt  und  einwirkte,  ohne  dass  wir  diesen> 
Kreise  gerade  den  förmlichen  Charakter  einer  poetischen  Gesell- 
schaft oder  Schule  beilegen  möchten."  Zu  dieser  Annahme,  dass 
der  Verfasser  dem  Kreise  des  Messala  angehörte,  sehen  wir  uns 
auch  dadurch  gedrängt  dass  demselben  die  sämmtlichen  Gedichte 
des  Tibull,  auch  die  des  zweiten  und  vierten  Buchs,  die  doch 
Tibull  unmöglich  selbst  herausgegeben  haben  kann,  zu  Gebote 
standen;  denn  auf  das  vierte  weist  z.  B.  ganz  deutlich  6,  60 
hin,  auf  das  zweite  4,  18  (=0,  5,  60),  55  (=n,  2,  89).  69 
(=n,  5,  2  IT.),  82  (=n,  4,  7)  u.  A.  Man  könnte  desshalb 
auf  die  Vermutung  kommen  dass  der  Verfasser  eben  der  Heraus- 
geber der  tibuUischen  Gedichtsammlung  sei,  falls  damit  irgend 
etwas  gewonnen  wäre.  Aus  dem  angegebenen  Charakter  dieser 
Sammlung  erklärt  es  sich  auch  dass  weder  Ovid  noch  Properüus 


Gedichte.   Buch  HI  und  Priap.  383 

noch  sonst  Jemand  unsern  Verfasser  als  Elegiker  namhaft  machen, 
was  mit  J.  H.  Voss  und  W.  Hertzherg  einzig  aus  der  Unbedeutend- 
heit  desselben  (dass  er  ein  „Dilettant  war  der  unter  dem  grossen 
Schwärm  des  versemachenden  Publikums  auch  einen  Beitrag  von 
sechs  Elegieen  sehr  bedingten  Werthes  geliefert  hatte "  Hertzberg 
S.  1026)  zu  erklären  ungerecht  und  ungenügend  scheint;  denn 
wie  vielä  unbedeutende  Namen  hat  Zufall  und  Kameraderie  uns 
erhalten!  Vielmehr  finden  wir  den  Hauptgrund  jener  Erscheinung 
darin  dass  der  Verfasser  desshalb  zu  keiner  selbständigen  Geltung 
gelangte  weil  seine  Gedichte  von  Anfang  an  mit  den  tibullischen 
zusammengeworfen  wurden  und  in  dieser  bedeutenden  Dichter- 
persönlichkeit die  unbedeutende  untergieng,  ein  Schicksal  das  er 
mit  Sulpicia  theilte.  Uebrigens  erscheint  das  Verfahren  des  ersten 
Herausgebers  der  tibullischen  Gedichtsammlung  hienach  jedenfalls 
als  ein  ziemlich  gedankenloses,  wie  denn  wohl  auch  ihm  zur  Last 
fällt  „die  Ungeschicklichkeit  dass  (im  vierten  Buche,  nicht  aber 
H,  2)  Sulpicia  durchaus  mit  ihrem  eigenen  Namen  genannt  wird, 
ihr  Geliebter  aber  mit  seinem  nom  de  guerre  Cerinthus.  Diess, 
wie  die  Vermischung  der  Gedichte  TibuH's  mit  denen  seiner 
Freunde ,  ist  wohl  nicht  denkbar  ehe  Messala  gestorben  war  oder 
wenigstens  ehe  er  das  Gedächtniss  verloren  hatte"  (Lachmann, 
Rec.  von  Dissen,  S.  255). 

10.  Schliesslich  ist  der  Vollständigkeit  halber  noch  zu  er- 
wähnen dass  auch  aus  der  Sammlung  der  priapeischen  Ge- 
dichte zwei  Stücke  dem  Tibull  zugeschrieben  werden  (Nr.  81 
und  82),  das  eine  aus  drei  Distichen  bestehend,  das  andere  aus 
45  iambischen  Senaren.  Die  Zutheilung  gründet  sich  darauf  dass 
die  vorzügliche  Handschrift  des  Cuiacius  (Lachmann's  F)  beide 
nach  dem  Zeugniss  von  Scaliger  mitenthielt.  Das  erste  ist  wenig 
bedeutend;  das  iambische  in  schmutzig  scherzhaftem  Tone  ge- 
halten, doch  der  Form  nach  elegant.  Diese  ganze  Literatur  will 
mit  ihrem  eigenen  Masse  gemessen  sein.  Sogenannte  innere  Gründe 
verfangen  zum  Beweise  der  Unechtheit  nichts,  so  wenig  als  sie 
zureichen  um  das  unverfängliche  Gedicht  am  Schlüsse  derselben 
Sammlung  (Nr.  85  =^  Anthol.  lat.  775  Rse.)  dem  Tibull  zuzusprechen, 
was  Gruppe  (S.  236 — 248)  zu  beweisen  versucht  hat,  wegen 
der  „grossen  Vortreffllchkeit,  Feinheit  und  Zartheit  des  Gedichts *' 
(S,  243),  seiner  ,^ heiteren  Ländlichkeit«'  (S.  244)  und  „weil  fast 
jede  einzelne,  poetische  Intention  desselben  sich  bei  Tibull  nach- 
weisen lässt,  und  weil  in  dessen  Werken  auch  vielfache  Anklänge 


384  TibullüB. 

an  Ausdruck  und  Wort  unseres  Gedichtes  begegnen"  (S.  244), 
Argumente  welche  doch  höchstens  auf  einen  Nachahmer  des  Tibull 
als  Verfasser  führen  können. 

3.  Tibnll'8  Kunstart. 

[Ter  Stoff  des  Tibull  ist  an  sich  ein  beschränkter:  es  ist 
theils  das  Landleben  theils  die  Liebe.  Das  erstere  ist  dabei 
Idealisch  aufgefasst,  als  ein  Leben  voll  Einfachheit  und  herzlicher 
Frömmigkeit,  voll  harmloser  Freuden  und  anmutiger  Geschäfte; 
auf  dem  Gebiete  der  Liebe  aber  fehlt  es  zwar  keineswegs  an 
Verwicklungen  und  Leidenschaft,  im  Ganzen  aber  tritt  mehr  die 
Seite  des  Leids  hervor  als  die  der  Lust  und  erscheint  die  letztere 
überwiegend  in  der  Form  der  Sehnsucht  und  der  Phantasie. 
Aber  dieser  enge  Kreis  —  welche  Manchfaltigkeit  von  Stimmungen, 
welche  Fülle  von  Anschauungen  schliesst  er  ein;  dieser  einfache 
Stoff  —  mit  welcher  Farbenpracht  weiss  Tibull  ihn  auszuschmücken, 
welchen  Beichthum  von  Tönen  weiss  er  ihm  zu  entlocken !  Nament- 
lich von  den  grösseren  Elegieen  des  ersten  Buchs  durchläuft  jede 
die  ganze  Tonleiter  der  Empfindungen,  jede  ist  ein  ganzes  Stuck 
Leben,  eine. Symphonie.  Dabei  ist  jeder  einzelne  Accord  so  voll- 
stimmig, mit  solcher  Liebe  und  Wärme  ausgeführt  dass  man 
meint  er  solle  der  Mittelpunkt  des  Ganzen  werden;  kaum  aber 
ist  er  verklungen,  so  löst  ihn  ein  anderer  ab,  in  derselben 
Weise  durchgeführt  und  doch  von  ihm  völlig  verschieden,  wo 
nicht  ihm  entgegengesetzt  und  scheinbar  ihn  ausschliessend.  Und 
so  geht  es  immer  fort,  in  ruhelosem  Wellenschlag,  wo  eine  Woge 
die  andere  verschlingt,  wo  Furcht  und  Hoffnung,  Freude  und 
Schmerz,  leidenschaftliches  Verlangen  und  wehmütiges  Entsagen, 
Ruhe  und  Verzweiflung,  Leben  und  Tod  rasch  und  kühn,  aber 
doch  völlig  ungezwungen  und  natürlich  mit  einander  abwechseln. 
Während  wir  eben  noch  mitten  im  Sturme  auf  der  hohen  See 
zu  sein  glauben  sehen  wir  uns  mit  einem  Male  sanft  und  sicher  ans 
Land  gesetzt,  und  wenn  wir  von  hier  aus  den  weiten  windungs- 
reichen Weg  überblicken,  so  gewahren  wir  mit  freudiger  Ueber- 
raschung  dass  in  demselben  die  schönste  Ordnung  und  der  feinste 
Plan  geherrscht  hat.  Und  doch  war  Alles  so  einfach,  so  ruhig 
zugegangen:  kein  lärmendes  Gommandorufen,  kein  geschäftiges 
Hin-  und  Herrennen,  kein  geräuschvolles  Segelaufziehen :  mit  den 
kleinsten  Mitteln  und  scheinbar  ohne  Kunst  wurde  das  in  seiner 


Kunstart.  385 

Art  Grössle  und  Küusllichste  erreicht.  ,,So  sein*  Tibull  die  Ein- 
fachheit und  Zuruckgezogenheit  des  Landlebens  preist,  so  hat 
doch  seine  Kunslstufe  hiemit  Nichts  gemein ;  hier  gehört  er  einer 
hochgebildeten,  verfeinerten  Zeit  an,  die  an  dem  Gesammtertrage 
griechischer  Kunst  ihren  Geschmack  gebildet  hatte,  die  sich  nur 
an  dem  Auserlesensten  genügte  und  deren  Aufmerksamkeit  man 
nur  durch  die  uberlegteste  Berechnung  der  Effecte  und  Contraste 
gewinnen  konnte"  (Gruppe  S.  22).  Wenn  sich  nichtsdestoweniger 
Tibull  von  allen  andern  Dichtern  seiner  Zeit  dadurch  unter- 
scheidet dass  diese  Kunst  sich  nie  zu  fühlen  gibt,  dass  der  Ein- 
druck vielmehr  der  der  vollsten  Natürlichkeit  ist,  so  hat  er  diess 
dadurch  bewirkt  dass  er  die  feine  Grenzlinie  zwischen  Kunst  und 
Künstlichkeit  aufs  Strengste  einhielt  und  mit  den  gewöhnlichen 
Mitteln  der  Sprache  und  des  Versbaus  auszureichen  wusste.  -  Seine 
Gedichte  sind  nicht,  wie  die  des  Propertius  und  Ovidius,  Beispiel- 
sammlungen der  rhetorischen  Figuren:  er  wendet  fast  nur  die 
der  Anaphora  an,  diese  dann  aber  mit  um  so  grösserer  Manch- 
faltigkeit  und  Wirkung.  Ebenso  ist  bei  ihm ,  w  enigstens  in  seinen 
vollendeteren  Gedichten,  keine  Spur  von  Gelehrsamkeit,  von  An- 
spielungen auf  entlegene  Mythen  und  Geschichten:  er  gibt  nur 
sich  selbst,  er  spricht  nur  die  Sprache  der  wirklichen  Empfindung. 
Diese  Durchdringung  von  Kunst  und  Natur  und  Gemüt,  dieses 
Verschmelzen  der  di^ei  an  sich  disparaten  Elemente  zu  einem 
untrennbaren  Ganzen,  so  dass  jedes  in  jedem  ist,  bildet  die 
innerste  Eigenthümlichkeit  der  tibuUischen  Dichtung.  Tibull  hat 
sich  zu  der  Stufe  emporgeschwungen  welche  auch  die  Griechen 
nur  in  ihren  vollendetsten  Erzeugnissen  erreicht  haben,  wo  die 
Kunst  von  der  Natur  nicht  mehr  zu  unterscheiden  ist;  aber  ihm 
ist  noch  ausserdem  etwas  eigen  was  den  Griechen  zwar  keines- 
wegs abgebt,  aber  in  dieser  Fülle  und  Innigkeit  doch  fremd  ist: 
die  Seele,  das  Herz,  das  in  jedem  einzelnen  Theiie  pulsiert 
uud  Alles  mit  gleichmässiger  Wärme  durchströmt.  Durch  diese 
harmonische  Mischung  der  drei  Elemente  ist  Tibull  nicht  nur 
ein  grosser  Dichter  geworden,  welchen  innerhalb  der  römischen 
Literatur  an  Selbständigkeit,  künstlerischer  Abrundung  und  Tiefe 
kein  anderer  überragt,  sondern  zugleich  ein  überaus  ansprechen- 
der, bei  welchem  auch  der  moderne  Leser  ohne  lange  Vorbe- 
reitung bald  sich  völlig  heimisch  fühlt.  Diese  Eigenthümlichkeit 
zeigt  sich  bei  ihm  im  Grossen  wie  im  Kleinen,  in  der  künst- 
lerischen Anlage  des  Ganzen  wie  in  der  Ausführung  der  Theiie, 

Tenffel,  Studien.  25 


386  TibaU*8  Knnstaii. 

in  den  Gedanken  wie  in  der  Sprache  und  im  Versbau:  überall 
die  wahrste,  ungeschminkteste  Natur,  aber  veredelt  und  verklärt 
durch  die  bewussteste  Kunst,  und  i>eseelt  durch  das  innigste 
Gefühl.*)  Im  rein  Formellen  tritt  diess  besonders  hervor  in  dem 
vollen  Einklang  welchen  der  Dichter  zwischen  dem  Gedanken  und 
dem  Verse  herzustellen  weiss:  die  rythmische  Bewegung  schliesst 
sich  genau  der  jedesmaligen  Stimmung  an,  Satzbau  und  Versbau 
decken  sich  vollkommen,  ohne  dass  dadurch  Einförmigkeit  ent- 
stünde, und  auch  die  verhältnissmässige  Seltenheit  der  Synalöplien 
trägt  dazu  bei  den  Versen  den  Charakter  der  Natürlichkeit  und 
Leichtigkeit  zu  geben.  Mit  welcher  Anmut  der  Dichter  nament- 
lich den  Pentameter  zu  bauen  versteht,  so  dass  er  zum  Hexa- 
meter einen  wohlthuenden  Parallelismus  bildet  und  doch  dabei 
neu  und  spannend  bleibt,  hat  Gruppe  S.  15 — 22  im  Einzelnen 
nachgewiesen. 


*)  Dahin  gehört  auch  die  instinctive  Symmetrie  in  der  Hänfigkeit 
der  trichotomischen  Gliedemng,  dnrch  Gedankencompleze  von  je  drei 
Distichen.    Ritschi  über  Tibnll  1,4.  8.  15  f.  18  f. 


XIV. 

Zu    Curtius.*) 


lieber  das  Zeitalter  des  Curtius  entscheidet  vorzugs- 
weise die  Stelle  X,  9  (s=28),  3 — 6,  und  ich  bin  überzeugt  dass 
eine  unbefangene  und  scharf  eindringende  Auslegung  der  Worte 
des  Curtius  nur  die  Beziehung  auf  Claudius  für  möglich  erklären 
kann.  Hier  heisst  es  nämlich,  nach  Erwähnung  des  Schicksals 
welches  das  makedonische  Reich  nach  Alexander*s  Tod  betroffen 
habe:  dieses  Beispiel  zeige  welches  unschätzbare  Gut  die  Einheit 
sei ;  um  so  wärmeren  Dank  schulde  daher  das  römische  Volk  dem 
Fürsten  der  durch  sein  Auftreten  die  Gefahr  der  Zersplitterung 
für  das  römische  Reich  beseitigt,  dessen  Einheit  gerettet  habe, 
dem  princeps  qui  noctis  quam  paene  supremam  habuimus  novum 
sidus  illu&it.  huius  hercule,  non  solis  ortus  lucem  caliganti  red- 
didit  mundo,  cum  sine  suo  capite  discordia  membra  trepidarent. 
quot  ille  tum  extinxit  faces,  quot  condidit  gladios,  quantam 
tempestatem  subita  serenitate  discussit!  non  ergo  revirescit  solum 
sed  etiam  floret  imperium.  absit  modo  invidia,  excipiet  huius 
saeculi  tempora  eiusdem  domus  utinam  perpelua,  certe  diuturna 
posteritas.  In  dieser  Stelle  ist  es  vor  Allem  unmöglich  nox  als 
allgemeine,  unbestimmte,  figürliche  Bezeichnung  einer  Unglücks- 
zeit aufzufassen  **},  Das  verbietet  schon  der  Relativsatz  quam 
paene  supremam  habuimus.  Für  die  letzte  Nachrt  kann  man  doch 
nur  eine  einzige  Nacht  halten,  nicht  aber  ein  Jahr  oder  gar 
Jahrzehnt.  Eben  so  ist  nur  von  einer  bestimmten,  wirklichen 
Nacht  die  Rede  in  den  ähnlichen  Stellen  Cic.  p.  Flacco  40^  102: 
0  nox  illa  quae  paene  aeternas  huic  urbi  tenebras  attulisti,  cum 

*)  Aus  Fleckeisen's  Jahrbb.  77,  S.  282—284. 

**)  Etwa  wie  bei  Cic.  Brat.  330:  in  hanc  reip.  noctem    incidisse 
nnd  dagegen  in  hac  beatissimi  saeculi  luce  bei  Tac.  Agr.  44. 

25* 


388  Q.  CurtiuB  Rufus. 

Galli  ad  belluiu,  Calilina  ad  urbein  vocabaiur,  uud  Livius  VI, 
17,  4:  memoriain  uoclis  illius  quae  paene  ultima  atque  aeterua 
iiomini  Romano  fuit.  Zu  demselbeu  Ergebnisse  führt  auch  das 
nachfolgende  nou  solis  onus,  sowie  weiterhin  tum  (das  sp^ciell 
auf  den  Tag  des  Auftretens  hinweist,  nicht  auf  die  Regierungs- 
zeit überhaupt),  auch  subita.  Als  Bild  wird  der  BegrilT  des 
Duukels  verwendet  erst  in  caliganti.  Ferner  wenn  nach  Ver- 
gleichung  des  princeps  mit  einem  sidus  im  sogleich  nachfolgenden 
Satze  gleichsam  berichtigend  gesagt  wird  dass  nicht  das  Erscheinen 
der  Sonne,  sondern  nur  das  des  princeps  Licht  gebracht  habe, 
so  kann  diess,  seiner  poetisch  -  rhetorischen  Hölle  entkleidet,  nur 
besagen :  ohne  das  Auftreten  dieses  einzig  berechtigten ,  legitimen 
(suus)  princeps  hätte  die  Noth  (bildlich  caligo,  erläutert  durch 
cum  .  .  trepidarent)  auch  noch  nach  Sonnenaufgang,  noch  am 
folgenden  Tage  —  und  wer  weiss  wie  lange?  —  fortgedauert.  Diess 
deutet  auf  Vorgänge  bei  der  Thronbesteigung  des  fraglichen 
princeps  wie  sie  einzig  bei  der  des  Claudius,  hier  aber  auch 
ganz  genau  und  wörtlich,  zutreffen  (vgl.  Suet.  Claud.  10  f.  Dio 
LX,  3.  loseph.  Anliq.  XXIX,  1  ff.  ß.  lud.  II,  11  f.),  wo  nach 
Caligula's  Ermordung  sich  im  Senate  Stimmen  für  die  Republik, 
andere  für  verschiedene  Thronprätendenten  erhoben ,  das  Militär 
entfesselt  zu  wüten  begann,  sodass  die  Römer  eine  unruhige  und 
bange  Nacht  erlebten,  worauf  dann  aber  am  Morgen  mit  der 
Ausrufung  des  Claudius  zum  Kaiser  alles  wieder  in  Ordnung,  kam. 
Eben  darüber  dass  die  Gefahr  so  schnell  vorübergieng,  dass  die 
trepidatio  sich  nur  auf  eine  einzige  Nacht  beschränkte  uud  nicht 
zum  terror,  tumultus^  bellum  anwuchs,  enthält  unsere  Stelle  ein 
dankbares  „Gottlob!'*  Sie  ist  olTenbar  geschrieben  unter  dem 
frischen  Eindrucke  der  ausgestandenen  Angst,  gleich  im  Anfange 
von  Claudius'  Regierung,  ehe  dieser  noch  seine  grossen  Schwächen 
an  den  Tag  gelegt  hatte  und  als  eine  solche  schmeichlerische 
Huldigung  noch  wirklich  berechtigt  war.  Die  Wahl  des  Wortes 
trepidare  schlies'st  alle  diejenigen  Regierungen  aus  die  aus  förm- 
lichen Burgerkriegen  hervorgegangen  waren,  stimmt  aber  um  so 
besser  zu  der  Zeit  unmittelbar  nach  Caligula's  Ermordung,  wo 
mit  ihrem  Haupte  die  membra  wirklich  den  Kopf  verloren  hatten 
und  nicht  wussten  wie  weiter.  Ebenso  sagt  Curtius  im  Folgenden 
blos  dass  damals  die  Fackeln  schon  brannten,  die  Schwerter 
schon  gezogen  waren,  nicht  aber  dass  sie  bereits  erheblichen 
Schaden  angerichtet  hatten,    ein  Bürgerkrieg  schon   völlig  aus- 


Zeitalter.  389 

gebrochen  war.  Und  wie  jene  Hauptstelle  mit  Nothwendigkeit 
auf  Claudius  hinführt,  so  ist  unter  den  übrigen  keine  einzige 
welche  dem  bestimmt  entgegenträte  und  nicht  vielmehr  es  unter- 
stützte. Heisst  es  IV,  20,  21  vonTyrus:  multis  casibus  defuncta 
.  .  nunc  tamen,  longa  pace  cuncta  refovente,  sub  tutela  Romanae 
mansuetudinis  acquiescit,  so  schliesst  diess  die  Ansicht  aus  welche 
den  Curtius  unter  Vespasian  setzt,  da  unter  Letzterem  keine 
longa  pax  war;  denn  cuncta  gestattet  nur  die  Beziehung  auf  den 
Zustand  des  ganzen  römischen  Reiches;  aber  selbst  in  dem  Falle 
dass  es  einseitig  auf  Tyrus  bezogen  werden  könnte  wurde  es 
dennoch  die  Datierung  unter  Vespasian  verbieten,  weil  durch  den 
jüdischen  Krieg  das  so  nahe  gelegene  Tyrus  wenigstens  in  so 
weit  milberührt  werden  musste  dass  unmittelbar  nach  demselben 
nicht  von  einem  langen  Frieden  der  es  gefördert  habe  gesprochen 
werden  konnte.  Andererseits  machen  diejenigen  Stellen  (V,  23, 
8.  VI,  6,  12)  wo  von  dem  Partherreichc  als  einem  in  der  Gegen- 
wart bestehenden  die  Rede  ist  unmöglich  als  diese  Gegenwart 
die  Zeit  des  Auguslus  aufzufassen,  da  bekanntlich  alle  augusteischen 
Schriftsteller  darin .  unermüdlich  sind  die  Erfolge  des  Augustus 
über  die  Parther  ins  Grosse  zu  malen.  Ohnehin  ist  mit  der 
Beziehung  auf  Augustus  die  erstbesprochene  Stelle  (X,  28)  unver- 
einbar, schon  weil  dieser  die  Regierung  gar  nie  förmlich  er- 
grxfifen  hatte,  kein  Tag  sich  als  der  seines  Regierungsantritts' 
bezeichnen  liess,  sondern  er  allmählich  wurde  was  er  war.  Worauf 
sollte  also  bei  ihm  ortus  bezogen  werden  und  tum?  Wie  Hesse 
sich  subitus  rechtfertigen?  Wie  der  Ausdruck  trepidatio  für  die 
Greuel  der  Bürgerkriege?  Wie  halte  eiusdem  domus  u.  s.  w. 
gesagt  werden  können  nachdem  Gaius  und  Lucius  Caesar  todt 
waren  und  ohne  den  Tiberius  tödllich  zu  verletzen?  Dazu  noch 
alle  die  Gründe  welche  in  der  Denk-  und  Schreibweise  des  Curtius 
liegen  und  an  Augustus  nicht  denken  lassen.  Etwas  mehr  liesse 
sich  für  Vespasian  sagen,  und  in  F.  Kritz*  Rec.  von  MützelPs 
Ausgabe  (Hall.  A.  L.  Z.  1844.  S.  726  f.  733  ff.)  ist  diese  Ansicht 
mit  vieler  Wärme,  wenn  auch  unhaltbaren  Gründen,  verfochten 
worden.  Am  ehesten  könnte  einen  Augenblick  blenden  die  Aehn- 
lichkeit  von  Orosius  VH,  9,  wo  sich  der  Verfasser  in  Bezug  auf 
Vespasian  fast  der  gleichen  Ausdrücke  bedient  welche  sich  bei 
Curtius  X,  28  finden.  Bei  Orosius  heisst  es  nämlich:  brevi  illa 
quidem,  sed  turbida  tyrannorum  tempestate  discussa  Iranquilla 
sub  Vespasiano  duce  serenitas  rediit.   Indessen  ist  das  ein  häußges 


390  CurtiuB*  Zeitalter. 

Bild  und  die  Ausdrüclie  dafür  slationär,  die  Uebereinstimraang 
hierin  die  in  einem  untergeordneten  Punkte;  and  selbst  wenn 
man  grössern  Wertli  darauf  legen  wollte,  so  könnte  man  aus 
den  Worten  höchstens  ersehen  dass  Orosius  die  Stelle  des  Curtius 
auf  Vespasian  gedeutet  habe ,  was  für  uns  nichts  Bindendes  hätte.*) 


*)  Vielmehr  würde  es  beweisen  dass  Orosius  die  Worte  in  seiner 
Quelle  auf  Vespasian  bezogen  fand ,  was  für  uns  ziemlich  viel  Binden« 
des  htttte.  Ueberhaupt  möchte  ich  die  Datierung  unter  Vespasian  nicht 
mehr  mit  der  frühem  Bestimmtheit  zurückweisen.  Nach  der  Schreib- 
art des  Curtius  ist  dieselbe  ebenso  möglich  wie  die  unter  Claudius, 
und  in  Curt.  X,  28  passt  zwar  auf  die  Vorgänge  bei  Vespasian^s  Thron- 
besteigung (die  Kämpfe  auf  dem  Capitol]  besonders  subita  nicht  gleich 
gut  wie  auf  Claudius,  dafür  aberdomus  besser  auf  Vespasian ,  der  zwei 
Höhne  besass,  als  auf  Claudius,  der  nur  den  einen  Britannicus  hatte. 


mm 


XV. 


Zu    Petronius.*) 


Niebuhr's  erster  Beweis  für  die  Abfassung  des  sog.  Satiricon 
in  der  Mitte  des  dritten  christlichen  Jahrhunderts  ist  die  Sprache 
des  Romans.  Von  dieser  meint  er  sie  weise  in  die  Regierungszeit 
Maximin's,  „der,  ein  thrakischer  Bauer,  wahrscheinlich  selbst 
gebrochen  lateinisch  sprach  und,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  bald  die 
unschuldige  Ursache  einer  verdorbenen  mit  allerlei  fremden  Ele-. 
menten  geschwängerten  Sprache  am  Hofe  der  Cäsaren  wurde". 
Abgesehen  davon  dass  solche  Wirkungen  nicht  über  Nacht  ein- 
zutreten pflegen,  kann  diess  schon  darum  nicht  richtig  sein  weil 
dann  die  Volkssprache  bei  Petronius  mit  neuen  unerhörten  bar- 
barischen Wörtern  und  Wendungen  getränkt  sein  müsste,  während 
sie  doch  vielmehr  in  Wahrheit  ganz  an  die  frühere  Volkssprache, 
wie  wir  sie  bei  den  Komikern  finden,  sich  anschliesst  und  die  fremd- 
artigen Elemente  überwiegend  hellenische  sind.  Die  Archaismen 
gehören  eben  dieser  Volkssprache  an,  denn  wie  das  Leben  des 
Volkes  und  seine  Sitten  ungleich  zäher,  starrer  und  unveränder- 
licher ist  als  das  der  höhern  Stände,  so  auch  seine  Sprache. 
Niebuhr  aber  sieht  in  den  Archaismen  unnatürlicherweise  viel- 
mehr Zeichen  der  Gesunkenheit  und  Verkommenheit  der  Sprache. 
Dass  überhaupt  der  Einfluss  des  Orientalischen  und  Barbarischen 
auf  die  Volkssprache  ganz  und  gar  unbedeutend  war  beweist  die 
jetzige  italienische  Sprache,  welche  von  Elementen  dieser  Art  nur 
germanische  kennt,  und  zwar  solche  die  nachweislich  erst  im 
Mittelalter  bei  Gelegenheit  der  Römerzüge,  wo  die  Deutschen  die 
Sieger  und  Befehlenden  waren,  in  die  Sprache  gekommen  sind. 
Der  zweite  Hauptbeweis  Niebuhr's  ist  der  bekannte  abenteuerliche 


*)  Ans  dem  Bhein.  Mus.  IV  (1846).  S.  512  ff. 


392  Petronius. 

von  der  Idenütäl  der  Personen  auf  einer  angeblich  aus  dem 
drilten  Jahrhundert  stammenden  Inschrifl  mit  einigen  im  Satiricon 
vorkommenden.  Schon  die  Datierung  jener  Inschrift  beruht  Iheil- 
weise  auf  einer  Erschleichung,  indem  Niebuhr  ohne  Weiteres 
annimmt  dass  die  „corrupte  Voliissprache",  wie  sie  sich  sovsobl 
auf  der  Inschrift  als  im  Satiricon  flnde,  auf  das  dritte  Jahrhundert 
weise.  Noch  willkürlicher  ist  die  Formulierung  auf  die  Zeit  des 
Alexander  Severus.  Für  Letzteres  führt  Niebuhr  die  Erwähnung 
der  Mammaea  c.  69  an.  Aber  Orelli  hat  das  handschriftliche 
mammeam  viel  richtiger  als  Vulgärform  für  mammam  meam  und 
als  schmeichelnde  Benennung  der  Haussklaven  gegen  ihre  Herrin 
gefasst.''')  Die  Identität  zwischen  den  Personen  der  Inschrift  und 
des  Romans  ist  schon  von  Orelli  Inscr.  Lat.  I.  p.  258  genügend 
beseitigt.  Ohnehin  ist  die  Ausführung  Niebuhr  s  phantastisch  und 
ganz  und  gar  unwahrscheinlich;  z.  B.  die  Fortunata  soll  der  Dichter 
offen  genannt  haben,  ohne  Furcht  vor  einer  Injurienklage,  die  doch 
in  diesem  Falle  mindestens  ebenso  gegründet  war  als  bei  Tri- 
malchio;  Apelles*  Name  soll  gleichfalls  geblieben  sein,  um  die 
Leser  auf  die  rechte  Spur  zu  leiten,  in  Wahrheit  aber  nur  um 
Niebuhr  auf  die  falsche  Spur  zu  fuhren;  auch  ist  Apelles  eine  so 
untergeordnete  Figur  dass  aus  ihm  vielmehr  Nichts  zu  erkennen 
war.**)  Wir  können  daher  die  Niebuhr'sche  Ansicht  nicht  für 
begründet  halten ,  und  da  neben  ihr  nur  von  derjenigen  noch  die 
Rede  sein  kann  welche  den  Roman  in  das  neronische  Zeitalter 
setzt,  so  ist  diese  gleichsam  auf  negativem  Wege  neu  bestätigt. 
Aber  auch  der  positiven  Beweise  Hessen  sich  zu  den  von  Studer 
ausgeführten***)  noch  manche  beibringen.    So  verdiente  das  Ver- 


*)  Da  aber  vielmehr  ipsum  ammeam  überliefert  ist^  so  hat  Bücheier 
daraus  mit  vollster  Sicherheit  hergestellt  ipsumam  meam,  d.  i.  meine 
Herrin. 

**]  Auch  Habinnas  ist  ebenso  wenig  historisch  als  irgend  ein  anderer 
der  Interlocutoren  des  Romans;  die  Unerklärbarkeit  des  Namens  beweist 
zu  viel ,  daher  Nichts.  Denn  keineswegs  sind  alle  Namen  dieses  Romans 
mit  Rücksicht  auf  die  Charakteristik  der  Person  gewählt,  nur  von 
Trimalchio  und  Eumolpus  hat  diess  Wahrscheinlichkeit. 

***)  Von  welchen  freilich  auch  manche  nicht  stichhaltig  sind.  So 
setzt  er  den  letzten  Scaurus,  der  im  J.  787  gestorben  sei,  unter  Nero 
statt  unter  Tiberius,  wodurch  die  Sache  ganz  verändert  wird.  Auch 
dass  Trimalchio  Freigelassener  ist  enthält  keine  Hindeutung  auf  die 
Zeit  der  ersten  Kaiser,  wo  der  Uebermut  derselben  besonders  gross  ge- 
wesen sei;  denn  Uebermut  in  dem  Sinne  wie  er  von  Narcissns,  Pallas, 


Petronius.  393 

hällniss  des  eingeflochtenen  Gedichts  de  hello  civili  zu  Lucan's 
Pharsaiia  eine  genauere  Untersuchung.''')  Ist  das  fragliche  Gedicht 
und  die  Einleitung  dazu  wirklich  gegen  Lucan  gerichtet,  so  folgt 
daraus  dass  heide  Dichter  Zeitgenossen  sind.  Denn  so  indirect 
und  verdeckt^  so  ohne  Namennennung  würde  Petronius  nicht  gegen 
Lucan  polemisieren,  wenn  er  sein  Werk  geschrieben  halte  als 
dieser  schon  todt  und  der  Kritik  der  Geschichte  verfallen  war. 
Auch  durfte  die  Beziehung  einzelner  Zuge  auf  Zeitereignisse  nicht 
so  ganz  von  der  Hand  zu  weisen  sein  als  neuerdings,  in  Folge 
der  Uebertreibungen  des  Gegentheils  durch  Gonsalas  de  Salas, 
Sitte  geworden  ist.  Wenn  z.  B.  c.  29  im  Hause  des  Trimalchio 
aufgeführt  wird  pyxis  aurea  non  pusilla  in  qua  barbam  ipsius  con- 
ditam  esse  dicebant,  so  ist  die  Aehnlichkeit  mit  dem  was  Gas- 
sius  Dio  LXI,  19  von  Nero  erzählt  zu  gross  als  dass  sie  eine 
zufällige  sein  könnte.  Unser  Verf.  verspottet  dieses  Thun  des 
Kaisers  dadurch  dass  er  es  einem  so  abgeschmackten  eiteln  Gecken 
wie  Trimalchio  ist  beilegt;  zweifelhafter  ist  ob  exsectaque  viscera 
ferro  in  Venerem  fregere  (c.  119)  eine  Anspielung  auf  Suet.  Ner. 
28  (exsectum  puerum  Sporum  etiam  in  muliebrem  naluram  trans- 
figurare  conalus)  ist. 

Jedenfalls  also  gehört  der  Roman  dem  Zeitalter  des  Nero  an. 
Hievon  ist  aber  wohl  zu  unterscheiden  die  Frage  ob  der  Verf. 
desselben  der  bei  Tacitus  vorkommende  G.  Petronius,  und  sodann 
ob  das  Satiricon  die  von  Tacitus  erwähnte  Schrift  des  G.  Petronius 
sei.  Diese  Unterscheidung  hat  Fr.  Ritter  gemacht,  aber  vielleicht 
nicht  vollständig.  Nach  dem  Vorgange  von  Paldamus  (röm.  Erotik 
S.  85,  Anm.  118),  aber  unabhängig  von  diesem,  hat  nämlich  Ritter 
(Rhein,  Mus.  H.  S.  561  ff.)  die  Identität  beider  Personen  bejaht, 
die  der  Schriften  verneint.  Ritter  ist  in  Folge  unbefangener  Aus- 
legung der  Worte  des  Tacitus  zu  der  Ansicht  gekommen  dass 
es  unmöglich  sei  die  Angabe  des  Tacitus  über  eine  Schrift  des 
Petronius  auf  das  Satiricon  zu  beziehen,  und  unterscheidet  daher 
zwei  Schriften  desselben,  von  denen  er  die  eine  grössere,  das 
Satiricon,  geschrieben  habe  als  er  noch  bei  Nero  in  Gunst  stand 

Tigellius  ansgesag^  werden  muss  ist  keine  Eigenschaft  des  Trimalchio. 
Reich  konnten  Freigelassene  zu  allen  Zeiten  werden,  daher  konnte  es 
auch  Figuren  wie  Trimalchio  allezeit  geben. 

*)  Diese  ist  später  geliefert  worden  von  Mössler  in  drei  Hirschberger 
l^rogrammen  vom  J.  1857,  1865,  1870. 


^394  Petronios. 

und  lu  dessen  Belustigung,  die  andere  im  Gefangnisse,  in  den 
Tagen  vor  seinem  Tode,  welche  letztere  Schrift  ein  Verzeichniss 
der  geheimen  Schändlichkeilen  Neros,  eine  Art  Tagebuch  darüber 
enthielt,  und  welche  an  Nero  versiegelt  übersandt»  von  diesem 
aber  nach  genofiraener  Einsicht  vernichtet  wurde,  so  dass  nur 
die  Kunde  davon  auf  uns  kam  durch  Tacitus,  für  den  sie  durch 
Freunde  des  Petronius  oder  durch  Hofleute  erhallen  worden  war.  *) 
Durch  diese  Annahme  werden  manche  Schwierigkeiten  hervor- 
gehoben und  beseitigt;  aber  sie  regt  zugleich  selbst  wieder  andere 
Schwierigkeilen  auf,  welche  vielleicht  zu  einer  weiteren  Anwendung 
derselben  Methode  des  Unterscheidens  Anlass  geben.  Es  drängt 
sich  nämlich  die  Frage  auf,  wie  es  denn  komme  dass  Tacitus, 
der  von  dem  Inhalt  der  kleineren,  geheimen  und  sogleich  ver- 
nichteten Schrift  so  genauen  Bericht  hat,  von  der  grösseren  ver- 
öfTentlichten  und  von  Nero  sogar  begünstigten  auch  nicht  das 
Geringste  weiss?  Ja,  wenn  man  die  Worte  des  Tacitus  genau 
betrachtet,  so  verhalten  sie  sich  zu  einer  solchen  Annahme  sogar 
ausschliessend.  Führt  Tacitus  nicht  gleichsam  die  Lebensordnung, 
die  ganze  Beschäftigung  des  Petronius  auf;  sagt  er  nicht:  Uli  dies 
per  somnum,  nox  officiis  et  oblectamentis  vitae  transigebatur? 
Gibt  er  nicht  als  Ursache  der  Berühmtheit  des  Petronius,  in  aus- 
drücklichem Gegensatze  zu  der  Anderer,  ausschliesslich  das  Nichts- 
Ibun  an  (ut  alios  industria,  ita  hunc  ignavia  ad  famam  protulerat]? 
Und  warum  hat  er  neben  den  dicta  factaque  eius,  die  er  als 
soluta  bezeichnet  (quanto  soluüora),  nicht  auch  der  denselben 
Charakter  an  sich  tragenden  Schrift  desselben  erwähnt,  wenn  er 
von  einer  solchen  irgend  etwas  wusste?  In  der  Thal,  Tacitus 
musste  in  diesem  Zusammenhang  der  Schrift  gedenken,  wenn 
sie  den  Petronius  zum  Verfasser  hatte,  und  dass  er  es  nicht  ge- 
than  hat  ist  ein  Beweis  dass  er  von  dieser  Autorschaft  seines 
C.  Petronius  Nichts  wusste.  Zwar  wird  Ritter  einwenden  wollen**), 
unter  den  officia,  oblectamenta  vitae,  Aeusserungen  der  ignavia 
und  den  facta  des  Petronius  sei  eben  auch  das  Satirlcon  milbe- 
griffen.    Aber  es  ist  nicht  wahrscheinlich  dass  Tacitus  einen  so 


*)  Wahrscheinlicher  durch  die  UDtersuchung  die  darüber  angeBtellt 
wurde  woher  Petronius  all  diese  Dinge  erfahren  habe. 

♦♦)  Vgl.  Rhein.  Mus.  II.  S.  667:  „es  wird  die  Vermutung  gestattet 
sein  dass  gerade  diese  Schrift  mit  zu  den  Mitteln  gehörte  wodurch  es 
Petronius  gelang  sich  bei  Nero  vorzüglich  beliebt  und  angesehen  zu 
machen'*. 


Petronius.  395 

wesentlichen  Punkt  nur  stillschweigend,  als  etwas  ganz  Unter- 
geordnetes, unter  Anderem  mitbegriffen,  als  ein  Glied  einer  ganzen 
Kategorie,  nur  im  Allgemeinen  mitbefasst  habe,  um  so  weniger 
weil  er  diese  Kategorie  selbst  beredt  beschreibt  und  weil  zu  den 
Aeusserungen  der  ignavia  das  Ausarbeiten  eines  Werks  von  viel- 
leicht zwanzig  Büchern  nicht  gerechnet  werden  kann,  wenn  es 
auch  seinem  Inhalte  nach  als  ein  Werk  der  luxuria  erscheint. 
Wir  können  uns  unmöglich  denken  dass  der  Schriftsteller  Tacitus 
von  dem  Werthe  einer  schriftstellerischen  Leistung  so  gering  dachte 
dass  er  sie  keiner  Erwähnung  würdigte,  dass  der  Historiker  die 
Pflicht  der  Vollständigkeit  auf  diese  Weise  hintansetzte.  Vielmehr 
scheint  man  genöthigt  zwischen  dem  taciteischen  Petronius  und 
dem  Verfasser  des  Saliricon  wie  die  Identität  der  Schrift  so  auch 
die  Identität  der  Person .  fallen  zu  lassen  und  nur  die  Identität 
der  Zeit  festzuhalten.  Dass  der  taciteische  Petronius  unter  Nero 
gelebt  hat,  auf  welche  Zeit  man  von  jeher  durch  viele  Spuren  im 
Satiricon  gefuhrt  worden  ist  und  worüber  sich  eine  Tradition 
erhalten  haben  konnte,  dass  jenem  die  Abfassung  einer  an  Nero 
gerichteten  Schrift  zugeschrieben  wird,  dass  endlich  zwischen 
dem  Verfasser  des  Satiricon  und  dem  taciteischen  Petronius  eine 
unverkennbare  Geistesverwandtschaft  Statt  findet,  eine  Gleichheit 
der  Weltanschauung,  eine  Aehulichkeit  des  geistigen  Tones,  — 
alle  diese  Aehnlichkeiten  können  Veranlassung  gegeben  haben  die 
beiden  Seiten  überhaupt  als  congruent  zu  betrachten  und  den 
unbekannten  Verfasser  des  Romans  Petronius  zu  benennen ,  woraus 
sich  auch  das  späte  Auftauchen  dieser  Benennung  erklären  würde, 
wie  hinwiederum  eben  der  Zeitabstand  zwischen  der  Abfassung 
des  Romans  und  seinen  (für  uns)  ersten  Erwähnern  es  um  so  mög- 
licher macht  dass  der  Name  nur  durch  aposteriorische  Combination 
gewonnen  sei.  Auch  dass  weder  Quintilian  noch  Plinius  noch 
Sueton  der  Schrift  gedenken  ist  so  nicht  mehr  auffallend;  denn 
da  dieselbe  keinen  ins  Gewicht  fallenden  Namen  an  der  Stirne 
trug ,  somit  in  keiner  Weise  als  Vorgang  und  Autorität  zu  benutzen 
war,  hatten  sie  keine  Veranlassung  davon  Notiz  zu  nehmen;  ja 
es  ist  sehr  glaublich  dass  der  Roman  ausserhalb  Roms  entstand 
und  aus  einem  Kreise  hervorgieng  der  jenen  so  fremd,  vielleicht 
von  ihnen  so  missachtet  war  dass  der  Strom  der  Literatur  dieses 
Werk  gar  nicht  an  ihr  Ufer  hingeschwemmt  hat,  dass  sie  gar 
Nichts  von  seinem  Dasein  erfahren  haben. 


XVI. 


A.    Persius    Flaccu  s.*) 


1.  Ueber  den  Charakter  des  Persius  können  wir  aus  seinen 
Handlungen  niclit  urteilen ;  denn  ihn  charakterisiert  vielmehr  ge- 
rade die  Zurückziehung  vom  handelnden  Leben ;  auch  hat  er  zu  kurz 
gelebt,  zu  wenige  Prüfungen  durchgemacht  (eine  der  schwersten, 
Thrasea's  letzte  Schicksale ,  ersparte  ihm  sein  frühes  Ende),  ist  in 
zu  wenige  Collisionen  gekommen  als  dass  er  sich  vielseitig  hätte 
bewähren  können.  Indessen  bietet  sein  Biograph  doch  manche 
dankenswerthe  Notiz  darüber,  und  seine  eigenen  Gedichte,  so 
wenige  ihrer  sind  und  so  wenig  darin  seine  Persönlichkeit  in  den 
Vordergrund  tritt,  geben  uns  ein  hinreichend  deutliclies  Bild  von 
seinem  Wesen,  das  nicht  so  zusammengesetzt,  so  reich,  so 
jrroteusartig  ist  wie  das  des  Horaz,  und  daher  weit  weniger 
Schwierigkeit  für  das  Verständniss,  aber  auch  weit  weniger  In- 
teresse darbietet. 

Was  wir  über  seine  Freunde  wissen  zeigt  dass  sich  Persius 
entschieden  auf  der  Seite  der  Guten  befand ,  dass  er  zu  der  kleinen 
Zahl  derjenigen  hielt  weiche  in  einer  Zeit  der  greulichsten  Ver- 
dorbenheit, der  schnödesten  Selbstwegwerfung  das  heilige  Feuer  der 
Sittlichkeit  und  der  freien  Gesinnung  in  ihrer  Mitte  nicht  erlöschen 
Hessen.  Und  so  stellt  er  sich  auch  in  seinen  Gedichten  durchaus 
dar.  Für  die  Tugend  zieht  er,  ein  begeisterter,  rüstiger  Streiter, 
ins  Feld,  Jedem  den  Handschuh  hinwerfend  welcher  die  Unver-> 
gleichüchkeit  seiner  Dame  durch  Wort  oder  That  zu  bezweifeln 
wagt.  Aber  freilich  ist  diese  Tugend  theils  eine  beschränkte, 
sofern  sie  die  stoische  ist,  theils  in  eine  ideale,  phantastische 
Höhe  geschraubt,   und  seine  Glut  für  sie  ist  eine  abstracte.   un- 


^)  Aus  der  Kitiloitnng  zn  der  metrischen  ITcbersetznng,  Stuttgart  1844. 


Persius'  Charakter.  397 

reife,  nicht  das  Ergebtiiss  langer  und  tiefer  ßeobachlung,  allseitiger 
Vergleichung,  unbefangener  Beurteilung«,  es  ist  das  Glühen  für 
ein  kaltes,  lebloses  ßild,  anstatt  für  eine  wirkliche,  lebenswarmc 
Gestalt.  Er  kann  die  Tugend  die  er  liebt  nicht  in  Fiuss  bringen, 
sie  nicht  in  die  Vielheit  der  Tugenden  auseinan||erlegen ;  überall 
hin  nimmt  er  das  ganze  schwere  und  schwerfällige  Gölterbild  mit 
sich.  So  ist  auch  seine  eigene  Tugend  eine  gediegene,  aber  un- 
gewandte ,  welche  sich  nicht  messen  mag  mit  dem  einzelsten  Detail 
des  Lebens,  mit  der  Manchfaltigkeit  der  sittlichen  Verhältnisse; 
sie  hat  sich  noch  nicht  gestossen ,  noch  nicht  abgerieben  an  .den 
Zuständen  der  Gegenwart,  es  sind  noch  ungemünzte  Barren  Goldes 
und  Silbers.  Und  ist  nicht  ebenso  auch  sein  Freiheitssinn  ein 
Slubengewächs ,  unfähig  den  rauhen  Lüften  die  draussen  wehen 
die  Stirne  zu  bieten?  Man  fühlt  es  überall  hindurch  dass  es  diesem 
Manne  unmöglich  war  je  den  niedrigen  Schmeichler  zu  machen, 
einzustimmen  in  die  schamlosen  Huldigungen  welche  man  den  Ver- 
worfensten darbrachte;  aber  wenn  der  Sturmwind  der  Tyrannei 
gegen  ihn  daherbrauste,  hätte  er  nicht  scheu  das  Haupt  gesenkt, 
sich  zu  Boden  geworfen?  Er  hat  viel  Gemüt,  viel  natürlichen 
Sinn  für  das  Gute,  aber  Charakter  hat  er  nicht;  dazu  ist  er  zu 
weich ,  zu  weiblich ;  grossen  Katastrophen  war  er  nicht  gewachsen, 
darum  hat  er  sich  selbst  von  solchen  ferne  gehalten,  und  würde 
es  wohl,  auch  fortan  gethan  haben,  und  wäre  mit  seinen  Satiren, 
wenn  sie  irgend  einen  Stachel  hatten ,  wohl  nie  von  selbst  hervor- 
getreten; davor  aber  dass  er  wider  seinen  Willen  in  Kämpfe  und 
Gegensätze  hineingezogen  worden  wäre  hat  ihn  ein  günstiges  Ge- 
schick bewahrt.  Dass  es  uns  auch  nicht  an  individuelleren  Zügen 
aus  dem  Charakter  des  Persius  fehle,  dafür  hat  sein  Biograph 
gesorgt  durch  die  Angabe:  er  war  von  sehr  sanftem  Wesen 
und  jungfräulicher  Keuschheit,  und  sein  Benehmen  gegen  Mutter, 
Schwester  und  Tanten  wahrhaft  exemplarisch.  Wir  haben  hierin 
ausser  der  natürlichen  Beschaffenheit  des  Persius  namentlich  den 
Einfiuss  einer  überwiegend  weiblichen  Erziehung  zu  erkennen. 
Was  die  jungfräuliche  Züchtigkeit  betrifft,  so  scheinen  ihr  zwar 
einige  Stelleu  aus  den  Satiren  dieses  Dichters,  namentlich  seiner 
vierten  und  sechsten ,  zu  widerstreiten.  Aber  einmal  bezieht  sich 
jene  Keuschheit  zunächst  und  vorzugsweise  auf  das  Handeln,  da 
die  Prüderie  der  Worte  dem  Süden  fremd  ist;  sodann  aber  sind 
jene  Stellen  mit  einem  gewissen  moralischen  Ingrimm,  mit  ent- 
schiedener innerer  Entfremdung  von  der  Sache  selbst,  mit  einer 


398  Penius. 

Verachtung  derselben,  vfie  aus  der  Person  eines  Andern  heraus, 
gesprochen;  schlüpfrig  sind  sie  durchaus  nicht,  wohl  aber  sehr 
plump,  und  Verstössen  weit  mehr  gegen  den  guten  Geschmack  als 
gegen  die  Sitten. 

2.  In  welcher  Reihenfolge  Persius  seine  sechs  Satiren 
verfasst  habe  lässt  sich  bei  dem  völligen  Mangel  untrüglicher 
Anhaltspunkte  nicht  mit  Sicherheit  bestimmen.  Indessen  scheint 
es  dass  die  Ordnung  in  welcher  wir  sie  haben  wirklich  die 
chronologische  ist.  Diess  hat  schon  an  sich  viele  Wahrscheinlich- 
keit für  sich;  denn  da  die  Ordnung  in  allen  Handschriften  un- 
verändert dieselbe  ist,  so  wird  sie  die  ursprungliche  sein,  die- 
jenige in  welcher  die  Stucke  von  Bassus  herausgegeben  wurden. 
Hätte  nun  dieser  irgend  ein  anderes  Princip  der  Anordnung  zu 
Grunde  gelegt  als  das  chronologische,  so  hätte  er  ohne  Zweifel 
die  an  Cornutus  gerichtete  Satire,  sowohl  in  dem  Sinne  ihres 
Verfassei'S  als  auch  aus  Rücksichten  persönlicher  Dankbarkeit  gegen 
den  der  auch  sein  Freund  war  und  der  ihm  gefällig  den  Ruhm 
der  Herausgabe  dieser  Satiren  abgetreten  hatte,  an  eine  ehren- 
vollere Stelle  gerückt.  Ausserdem  aber  ist  es  augenscheinlich  dass 
die  Satiren  des  Persius  ihrer  inneren  Beschaffenheit  nach  in  zwei 
Arten  auseinanderfallen :  auf  der  einen  Seite  steht  die  erste  Satire, 
welche  kritisch-ästhetischen  Inhaltes  ist,  auf  der  andern  die  übrigen, 
stoische  Sätze  ausführenden.  Zwar  ist  ein  Band  zwischen  beiden, 
indem  die  erste  dazu  dient  dem  Dichter  gleichsam  Raum  zu  machen 
in  der  Literatur,  seine  Stellung  in  dieser  festzusetzen,  also  den 
weiteren  Satiren  den  Weg  zu  bahnen;  aber  der  Unterschied 
ist  doch  in  einer  Weise  vorhanden  dass  die  Annahme  unmöglich 
ist,  Persius  habe  zwischen  die  stoischen  Satiren  hinein  jene 
ästhetische  verfertigt.  Vielmehr  muss  diese  entweder  zu  einer 
Zeit  verfasst  sein  wo  Persius  von  jenen  noch  Nichts  als  den  festen 
Plan  und  den  bestimmten  Willen  hatte,  oder  erst  dann  als  die 
doctrinellen  Stücke  fertig  waren  und  ihr  Verfasser  nun  über  das 
Verhältniss  derselben  zu  der  Zeitliteralur  Reflexionen  anstellte  und 
in  dieser  (ersten)  Satire  niederlegte.  Nun  ist  aber  die  letztere 
Annahme  unmöglich ,  da  wir  ganz  bestimmte  Nachricht  haben  dass 
Persius  an  der  persönlichen  Vollendung  seiner  Satiren  durch  den 
Tod  gehindert  wurde;  somit  bleibt  nur  die  erstere  übrig,  dass 
Sat.  I.  zuerst  verfasst  sei.  Diess  wird  dann  auch  von  mehreren 
Seiten  her  bestätigt.  Einmal  erklärt  sich  daraus  dass  das  Pro- 
gramm vor   der  wirklichen  Ausführung   verfasst  worden   ist   die 


Satiren.  399 

manchfache  Incongruenz  beider,  da  offenbar  Sat.  I.  ganz  Anderes 
erwarten  lässt  als  dann  folgt;  sodann,  dass  Sat.  I.  einen  Prolog 
hat  ist  nur  dann  begreiflich  wenn  mit  diesem  Stucke  ein  Ziel 
schon  erreicht  schien,  wenn  es  sich  als  etwas  in  sich  Abge- 
schlossenes darstellte.  Wenn  aber  Sat.  II  —  VI.  nach  der  ersten 
verfasst  sind,  so  fragt  sich,  in  welcher  Ordnung  die  Abfassung 
dieser  fünf  erfolgte?  Hier  gibt  die  sechste  Satire  einen  Anhalts- 
punkt, sofern  diese  wirklich  die  von  Persius  zuletzt  verfasste  ist. 
Nehmen  wir  denn  an  dass  auch  die  übrigen  in  chronologischer 
Ordnung  stehen,  so  lässt  sich  dieses  zwar  aus  der  näheren  Be- 
schaffenheit derselben  nicht  weiter  bestätigen,  da  innerhalb  so 
kürzer  Zeit,  bei  so  gleichem  Gegenstande  und  so  wenigen  Stücken 
das  Vorhandensein  eines  auffallenden  Unterschiedes,  etwa  eines 
Fortschrittes,  nicht  erwartet  werden  kann;  aber  der  Inhalt  der 
einzelnen  Stücke  selbst  ist  doch  jener  Annahme  günstig,  sofern 
sich  an  denselben  ein  immer  unbedingteres  Hingeben  an  die 
stoische  Philosophie  darstellt.  Sat.  II.  behandelt  noch  einen 
Gegenstand  der  nicht  unmittelbar  und  ausschliesslich  stoisch  ist; 
Sat.  HI.  aber  fordert  schon  zum  Anschluss  an  diese  Philosophie 
auf;  hierbei  geht  der  Dichter  gleichsam  mit  gutem  Beispiele  voran, 
indem  er  im  Folgenden  den  Mittelpunkt  der  stoischen  Ethik ,  die 
Lehre  von  der  wahren  Freiheit,  ausführt  (Sat.  V.),  und  als  Vor- 
bereitung und  Einleitung  hierzu  in  Sat.  IV.  die  Selbstprüfung  und 
Selbsterkenntniss  einschärft;  Sat.  VI.  endlich  macht  den  stoischen 
Grundsatz  des  Anschliessens  an  die  Natur  zunächst  nach  Einer 
Seite  geltend ,  und  es  hätten  sich  hieran  wohl  später  andere  ähn- 
liche Ausführungen  angeschlossen. 

Was  endlich  die  Herausgabe  der  Satiren  betrifft,  so  haben 
wir  hierüber  wieder  bestimmte  Angaben  des  Biographen.  Hienach 
hat  Persius  dieselben  nicht  selbst  vollendet,  sofern  er  weder  die 
Sammlung  mit  sechs  Stücken  abschllessen  wollte,  noch  auch  das 
sechste  schon  vollständig  ausgearbeitet  hatte.  Hier  half  Cornutus 
dadurch  dass  er  einige  noch  ausgearbeitete  Verse  wegliess  und 
mit  einem  Satze  endigte  welcher  einen  scheinbar  befriedigenden 
Schluss  bildet.  Cornutus  hatte  anfänglich  die  Absicht  die  Heraus- 
gabe der  Satiren  des  Persius  selbst  zu  besorgen ;  als  aber  Caesius 
ßassus  ihn  bat,  an  dieser  Gelegenheit  dem  gemeinsamen  Freunde 
einen  Liebesdienst  zu  erweisen  auch  ihn  theilnehmen  zu  lassen, 
so  überliess  er  diesem  die  Herausgabe.  Es  scheint  aber  nicht 
dass  Bassus  ausser  der  Anordnung  der  Stücke^  der  Besorgung 


400  Persius. 

der  ei*sleii  Abschriftcu  und  der  Verhandlung  uiil  einem  Buch- 
händkr  über  die  Veranstaltung  der  weiteren  Copien,  irgend  etwas 
Anderes  an  den  Satiren  gelhan  habe. 

3.  Persius  als  Satiriker.  Wenn  wir  die  Art  betrachten 
wollen  wie  Persius  sich  in  seinen  Saliren  darstellt,  so  müssen  wir 
das  was  ihn  als  Menschen  charakterisiert  unterscheiden  von  dem 
was  über  ihn  als  Dichter  und  Kunstler  zu  sagen  ist.  Der  sittliche 
Ernst,  der  Hass  gegen  das  Schlechte,  die  Begeisterung  für  das 
Gute,  welche  sich  allenthalben  ausspricht,  muss  uns  für  den 
Menschen  Achtung  einflössen,  darf  uns  aber  für  die  ästhetischen 
Mängel  seiner  poetischen  Productionen  nicht  blind  machen.  In 
jener  Beziehung  zeigt  sich  seine  Tüchtigkeit  darin  dass  er  sich 
mit  voller  Seele  an  die  Stoa  ergeben;  aber  darin  liegt  zugleich 
ein  grosser  Theil  seiner  Mängel.  Zwar  wollen  wir  kein  Gewicht 
darauf  legen  dass  er  so  auf  die  Originalität  und  Selbständigkeit 
des  Denkens  verzichtet  habe ;  denn  es  findet  sich  in  seinen  Satiren 
Manches  was  nicht  unmittelbar  auf  die  stoische  Philosophie  zurück- 
zuführen ist,  mancher  schöne  und  tiefe  Gedanke  (z.B.  II,  52  ff. 
HI,  35  ff.)  von  dem  wir  wenigstens  keinen  anderweitigen  Ursprung 
nachzuweisen  vermögen.  Aber  indem  er  so  gleichsam  Parteimann 
wurde  hat  er  sich  den  unbefangenen,  klaren  Blick  ins  Leben  ge- 
trübt; er  sieht  Alles  durch  die  Brille  der  Schule  an,  und  indem 
er  sich  seine  Lebensansichten  nicht  durch  Anschauung  des  Lebens 
selbst  bildete,  sondern  vor  dieser  und  ohne  sie,  und  in  das  Netz 
seiner  vorher  festgestellten  Sätze  die  concreten  Verhältnisse  hinein- 
zwängte, so  ist  seine  Weltansicht  eine  trockene,  leblose  geworden. 
Dass  er  aber  durch  die  Philosophie  den  Humor  verloren  habe, 
dass  diese  die  Ursache  sei  warum  wir  in  seinen  Satiren  vergebens 
spähen  nach  dem  bunten  Farbenspiel  des  Witzes,  kann  man  nicht 
mit  Recht  sagen;  denn  jene  Vorzuge  hatte  ihm  die  Natur  von 
Anfang  an  versagt,  sie  waren  durch  den  Ernst  seines  Wesens  von 
vornherein  ausgeschlossen;  die  glänzende  geistige  Beweglichkeit 
des  Horaz,  sein  keckes,  mutwilliges  Spielen  mit  allen  Objecten  und 
allen  Interessen ,  fehlt  ihm  ganz  und  gar.  Und  ebenso  wenig  darf 
man  meinen^  er  sei  zu  früh  gestorben  als  dass  er  über  den  Stand- 
punkt der  Schule  hätte  hinauskommen  können;  er  starb  in  einem 
Alter  wo  er  dem  Höhepunkte  seiner  geistigen  Entwickelung  nahe 
war,  und  die  Beurteilung  muss  sich  jedenfalls  an  das  halten  was 
vorliegt,  und  kann  unwirkliche  Möglichkeiten  nicht  mit  in  Rech- 
nung nehmen.     In  dem  Grade  nun  in  welchem  sich  Persius  der 


Eigenthümlichkeit  als  Satiriker.  401 

Stoa  hingegeben  hat  hat  er  sich  des  Anspruchs  auf  den  Namen 
eines  Dichters  begeben ;  denn  ein  Dichter  der  seinen  Sloff  nicht 
aus  sich  selbst  nimmt,  sondern  äusserlich  Ueberkommenes  in 
Vörse  bringt,  ist  kein  Dichter,  sondern  ein  Versmacher.  Persius 
ist  kein  reicher  und  kein  gewandter  .Geist;  seine  dichterische  Be- 
gabung ist  klein,  von  schöpferischer  Kraft  ist  wenig  bei  ihm  zu 
verspüren,  und  Leichtigkeit  und  Freiheit  der  Bewegung  geht  ihm 
durchaus  ab.  Für  seinen  Ruhm  ist  er  daher  gewiss  nicht  zu 
frühe  gestorben:  schon  in  den  wenigen  Stücken  welche  wir  von 
ihm  haben  zeigt  sich  ein  gewisser  Kreislauf  in  Gedanken,  Wen- 
dungen, Ausdrücken  und  Bildern"^);  er  hätte  sich  bald  erschöpft 
gehabt,  hätte  sich  bald  in  eine  Manier  verrannt  von  der  nicht 
mehr  loszukommen  gewesen  wäre;  und  fragen  wir  uns,  wenn  wir 
statt  fünf  solcher  stoischer  Betrachtungen  zehn  und  zwanzig  hätten, 
ob  sich  damit  unsere  Achtung  vor  dem  Dichter  verdoppeln  und 
vervierfachen  würde,  so  werden  wir  diess  wohl  verneinen  müssen. 
Es  liegt  in  der  Natur  einer  solchen  Richtung  dass  sie  an  Kurz- 
athmigkeit  leidet;  der  Dichter  dieses  Schlags  ist  zu  Ende  wenn 
der  Stoff  von  dem  er  sich  nährt  ausgeht,  und  diess  um  so  ge- 
wisser wenn  es  eine  einzige  Richtung  ist  die  er  verfolgt.  Und 
wie  der  Stoff  des  Persius  ein  begrenzter  war,  so  war  er  auch  in 
formeller  Hinsicht  leicht  zu  erschöpfen.  Denn  schon  jetzt,  zu  diesem 
Wenigen,  wie  viel  hat  Horaz  beisteuern  müssen!  Zwar  nur  in 
Aeusserlichem ,  in  einzelnen  Ausdrücken  und  Wendungen,  in  allem 
dem  was  sich  ins  Gedächtniss  aufnehmen  lässt,  denn  von  dem 
horazischen  Geiste  hat  unser  Dichter  fast  keinen  Anflug,  so  sehr 
er  jenen  kennt,  versteht  und  zu  würdigen  weiss  (vgl.  1,  116). 
Aber  gerade  dieses  Aeusserliche  war  am  leichtesten  zu  erschöpfen, 
wahrend  der  Geist  eine  unendliche  Dehnbarkeit  hat;  und  dass  er 
in  jener  Beziehung  so  gar  Vieles  aus  Horaz  her  übergenommen  hat 
ist  ein  Beweis  wie  schwach  er  sich  selbst  fühlte,  wie  mühsam 
er  mit  der  Form  zu  ringen  hatte.  Zugleich  ist  sein  Verhältniss 
zu  Horaz  noch  in  anderer  Beziehung  für  Persius  charakteristisch. 
Er  lässt  sich  nämlich  mit  Horaz  in  einen  Wettkampf  ein,  er  will 
ihn  besser,  schöner,  poetischer  machen.  Horaz  hat  mit  feinem 
Tact  und  grosser  künstlerischer  Sicherheit  Licht  und  Schatten 
vertheilt,  der  Geist  und  Gedanke  durchströmt  bei  ihm  das  Ganze, 


♦)  Z.  B.  das  Bild  von  der  Wage  findet  sich  I,  7.  86.  IV,  10  f.  V, 
100  f.  121.  Vergleichung  der  psychischen  Krankheit  mit  der  physischen 
III,  87  ff.  107  ff. ;  mit  V,  189  ff.  vgl.  HI,  77  u.  dgl. 

Teuf  fei,  Studien.  26 


402  Persius. 

daher  der  Leser  von  Anfang  bis  zu  Ende  gefesselt  ist,  ohne  je 
überspannt  und  ermüdet  zu  werden.  Aber  Persius  hält  dieses 
weise  Masshalten  für  Mangel  an  Kraft  und  Poesie,  und  sucht  daher 
nachzubessern,  indem  er  das  uas  Horaz  auf  naturliche  Weise  aus- 
gedrückt hat  auf  Stelzen  stellt,  was  bei  Jenem  fein  ist  noch  mehr 
spitzt,  bis  es  ganz  abbricht,  und  wo  Jener  kräftig  auftritt  ihm 
noch  einen  Sack  auf  den  Rucken  bindet,  damit  er  noch  kräftiger 
einherschreite.  Wir  sehen  also:  um  ein  eigentlicher  Künstler  zu 
sein,  dazu  fehlt  es  Persius  an  der  erforderlichen  Freiheit  des 
Geistes,  an  Selbständigkeit,  Unbefangenheit,  Geschmack,  Takt 
und  Reichthum,  Vorzüge  welche  freilich  in  seiner  Zeit  selten 
waren.  Aber  das  kann  uns  nicht  hindern  zu  sagen:  Persius  hat 
sie  nicht. 

4.  Die  Objccte  der  Satiren  des  Persius.  Es  liegt 
in  dem  Regriffe  der  Satire  dass  sie  ein  Spiegel  der  jedesmaligen 
Zeit  ist;  das  Leben  der  Gegenwart,  wie  es  einem  denkenden 
Kopfe,  sittlichen  Gemüte  und  künstlerischen  Talente  in  ihr  sich 
darstellt,  ist  der  Inhalt  der  Satire,  und  in  je  höherem  Grade 
oder  je  nach  der  Mischung  in  welcher  der  Satiriker  jene  Eigen- 
schaften besitzt,  wird  auch  seine  Satire  ein  treueres  und  voll- 
ständigeres Rild  seiner  Zeit  liefern.  Legen  wir  diesen  Massstab 
an  die  Satiren  des  Persius  an,  so  finden  wir  dass  dieselben  in 
dieser  Hinsicht  sehr  wenig  Ausbeute  gewähren.  Nur  für  die 
Kenntniss  des  Geschmacks  in  seiner  Zeit  liefert  Persius  in  seiner 
ersten  Satire  einige  Reiträge;  aber  dasselbe  thut  er  auch  un- 
bewusst  durch  seine  eigenen  poetischen  Productionen ,  in  welchen 
er  selbst,  mehr  als  er  weiss  und  Wort  haben  will,  dem  Ungeschmacke 
seiner  Zeit  huldigt.  Bei  ihm  fehlt  das  Rand  zwischen  Subject 
und  Object,  die  Richtung  von  jenem  auf  dieses,  die  Beobachtung, 
das  Leben.  Er  kennt  nicht  die  wirkliche  Welt,  sondern  die 
Rächer;  die  Theorie,  die  Philosophie  ist  seine  Welt.  Er  deckt 
keine  Geheimnisse  seiner  Zeit  auf,  die  Grundgebrechen  derselben 
berührt  er  nicht,  und  was  er  berührt  ist  kein  wesentliches  Ge- 
brechen oder  nichts  aus  seiner  Zeit.  Die  ungeheure  Entsittlichung 
der  damaligen  Welt,  die  freche  Heuchelei  aller  Verhältnisse,  die 
Schändlichkeiten  und  Lächerlichkeiten  eines  Nero,  den  nieder- 
trächtigen Knechtssinn  des  Volkes  und  Senates,  das  verruchte 
Treiben  der  Denuncianten,  Alles  das  was  uns  Juvenaiis,  was  uns 
Tacitus  in  so  brennenden  Farben  schildert,  wo  finden  wir  ein 
Wort  davon  bei  Persius?  Vergesset  was  die  Riographie  uns  meldet. 


Gegenstände  seiner  Satiren.  403 

streichet  die  Namen  des  Cornutus  und  Bassus,  ignoriert  ein  paar 
kleine  Notizen»  und  iiir  seht  diesen  Satiren  nicht  mehr  an  aus 
welcher  Zeit  sie  sind,  ihr  seid  verlegen  ob  ihr  sie  in  die  Zeit 
des  Lucilius  oder  des  Trajanus,  des  Augustus  oder  des  Justinianus 
zu  setzen  habet.  In  schwindelnder  Höhe  hat  sich  Persius  seine 
Kanzel,  errichtet,  so  hoch  dass  ihm  die  Menschen  unter  ihm  als 
ein  grosser  dunkler  Fleck  erscheinen ,  an  dem  er  keine  einzelnen 
Personen  zu  unterscheiden  vermag,  und  dass  seine  Declamationen 
unvernommen  über  die  Häupter  der  Menschen  hingrollen.  Das 
Gebiet  des  Individuellen,  die  manchfachen  Verwicklungen  und 
Verstrickungen  des  Lebens,  diess  ist  das  Feld  für  den  sittlichen 
oder  ästhetischen  Künstler,  hier  gibt  es  etwas  zu  ordnen,  zu  ge- 
stalten, hier  ist  Widersland,  Kampf,  Arbeit,  aber  auch  Lohn  und 
Genuss.  Aber  eben  hievon  hält  sich  Persius  ferne,  er  sagt  uns 
was  wir  schon  längst  wissen,  dass  man  gut  handeln  solle;  aber 
dass  es  eine  Unzahl  von  Fällen  gibt  wo  die  sittliche  Entscheidung 
nicht  so  auf  der  Hand  liegt,  davon  hat  er  keine  Ahnung;  er  thut 
nur  einzelne  Griffe  in  das  individuelle  Leben  hinein,  aber  man 
weiss  nicht  ob  er  es  wirklich  aus  erster  Hand  hat,  und  er  ver- 
wendet es  nur  als  Mittel  der  Darstellung,  um  einen  abstracten  Ge- 
danken mit  Fleisch  und  Blut  zu  umkleiden,  einen  allgemeinen 
Satz  anschaulich  zu  machen.  Um  was  es'  ihm  eigentlich  zu  thun 
ist,  das  ist  die  Doctrin,  das  Philosophem;  das  Leben  hat  für  ihn 
untergeordnete  Bedeutung,  ist  nur  Mittel  zum  Zwecke.  Man  über- 
blicke die  Reihe  der  Themata  welche  er  in  seinen  Satiren  be- 
handelt: es  sind  lauter  abstracte,  theoretische,  es  sind  stoische 
Sätze,  bei  deren  Durchführung  er  —  aber  wieder  nach  dem 
Muster  anderer  Stoiker  —  das  individuelle  Leben  zu  Hülfe  nimmt 
und  bei  weicher  er  gelegentlich  polemische  Blicke  auf  allgemein 
menschliche  oder  allgemein  (und  zu  allen  Zeiten)  römische  Zu- 
stände wirft;  Satiren  im  strengen  Sinne  sind  somit  seine  Dich- 
tungen nicht.  Diess  gilt  von  seinen  fünf  letzten  Stücken  vorzugs- 
weise; in  der  ersten  beröhrt  er  zwar  Gebrechen  seiner  Zeit,  aber 
es  sind  keine  wesentlichen,  nicht  die  ursprünglichen,  ausweichen 
die  andern  erst  hervorgehen,  nicht  die  eigentlich  wunden  Stellen 
des  römischen  Staatslebens,  sondern  solche  die  am  ehesten  noch 
zu  ertragen  gewesen  wären,  die  für  sich,  ohne  Zusammenhang 
mit  dem  sittlichen  Zustande  der  Zeit,  wenig  zu  bedeuten  hätten, 
nur  literarische,  ästhetische  Gesunkenbeiten.  Endlich  sind  die 
Gebrechen  die  er  etwa  berührt,  die  Personen  welche  seine  Rüge 

26* 


404  Persius. 

betrifft,  nicht  aus  seiner  Zeil  genommen.  Wenn  er  z.  B.  (V,  177  ff.) 
die  Suclit  bei  dem  Volke  beliebt  zu  werden  als  eine  der  Arien 
der  Innern  Unfreiheit  aufführt,  so  wäre  dieses  Beispiel  zur  Zeit 
der  Republik  allerdings  passend  gewesen,  aber  unter  einem  Nero 
ist  es  ganz  unstatthaft^  oder  wenn  er  in  demselben  Zusammenhang 
(V,  132  ff.)  den  erwerbslustigen  Speculanten  und  Grosshändler  er- 
wähnt, so  ist  das  nicht  nur  ein  Beispiel  das  jeder  Zeit  gleijch 
sehr  angehört,  sondern  auch  eine  Thätigkeit  an  welcher  das 
Anerkennenswerthe  überwiegt  und  welche  dem  weichlichen  Ge- 
niessen weit  vorzuziehen  ist.  Was  dann  die  Nennung  von  Personen 
betrifft  so  unterlässt  sie  Persius  entweder  ganz  und  ergeht  sich  in 
allgemeinen  Schilderungen  und  Aussagen,  theils  communicativ 
redend  (vgl.  z.  B.  1,  9.  14  ff.),  theils  das  unbestimmte  Du  an- 
wendend, das  Niemand  trifft  und  Niemand  wehe  thut  (z.  B.  1,  26), 
theils  überhaupt  einen  Namen  weglassend  (wie  I,  93  ff.),  macht 
auch  wohl  durch  allgemeine  Wendungen  (wie  I,  44.  VI,  42)  aus- 
drücklich darauf  aufmerksam  dass  er  keine  bestimmte  Person  im 
Sinne  habe;  oder  er  nennt  nur  ganze  Stände  (1,  61.  111,  77  ff. 
V,  189  ff.);  oder  endlich  gibt  er  zwar  Namen  an,  aber  ganz  all- 
gemeine, typische,  oder  zwar  persönliche,  aber  nicht  aus  seiner 
Zeit,  oder  Personen  aus  seiner  Zeit,  aber  ganz  selten  und  nur 
ganz  niedrig  stehende.  Zu  der  ersten  Art  von  Namen  gehören 
z.  B.  Baukis  (IV,  21),  Vettidius  (IV,  25),  Pulfennius  (V,  190), 
Personen  bei  welchen  allen  man  ganz  vergeblich  nach  irgend 
welchen  weiteren  Notizen  fragen  würde.  Wo  er  Personen  aus 
früherer  Zeit  nennt,  da  greift  er  bald  iji  ganz  Abgelegenes  zurück, 
wie  IV,  1  —  22,  wo  er  die  Form  eines  Dialogs  zwischen  Sokrates 
und  Alkibiades  zur  Einkleidung  wählt,  bald  —  und  diess  ist  der 
häufigste  Fall  —  wendet  er  horazische  Figuren  an,  also  abermals 
aus  Büchern  und  nicht  aus  dem  unmittelbaren  Leben  gegriffene. 
Dabei  verwischt  er  aber  wiederum  die  individuelle  Lebendigkeit 
welche  die  Personen  bei  Horaz  haben,  und  mischt  Züge  ein  welche 
die  Umrisse  der  Gestalten  undeutlich,  verschwimmend  machen; 
so  bei  Bestius  (VI,  37)  den  Griechenhass,  bei  Natta  (III,  31  ff.) 
die  sittliche  Indolenz.  Original  ist  dagegen  Persius  in  der  Er- 
wähnung des  merkwürdigen  Triumphes  von  Caligula  (VI,  43  ff.), 
und  hiebei  streift  er  nahe  an  seine  eigene  Zeit  hin,  die  er  wahr- 
scheinlich mit  Labeo  (I,  4.  50)  und  Messala  (II,  72)  schon  erreicht 
hat.  Aber  diese  Personen,  sowie  Kalliroe  (I,  134),  Pedius  (I,  85), 
Glyko  (V,  9),  sind  lauter  solche  welche,  wenn  sie  wirklich  in  die 


Namennennung.    Dunkelheit.  405 

Zeit  des  Persius  gehören,  diese  vorzugsweise  Nennung  keineswegs 
verdienten;  da  gab  es  ganz  andere  Schurken  zu  brandmarken, 
ganz  andere  Scbändlichkeiten  an  den  Pranger  zu  stellen.  Zwar 
hat  Persius  sich  nicht  gescheut  den  Nero  selbst  zum  Gegenstände 
seiner  Satire  zu  machen  (s.  I^  103 IT.);  aber  ganz  bezeichnender 
Weise  sind  es  nur  dessen  Verse  an  welchen  unser  Satiriker  etwas 
ausstellt. 

5.  Eigenthü  mlichkeiten  der  Kunst  des  Persius. 
Persius  ist  wegen  seiner  Dunkelheit  zu  fast  sprüchwörtlicher 
Berühmtheit  gelangt»  und  gilt  wirklich  mit  Recht  für  den  schwie- 
rigsten römischen  Dichter.  Diese  Eigenschaft  rührt  daher  dass  sich 
unser  Satiriker  über  die  sprachlichen,  logischen  und  ästhetischen 
Unmöglichkeiten  kühnen  Fusses  hinwegsetzt  und  um  jeden  Preis 
neu,  tief,  inhaltsschwer  sein  will.  Der  erste  Grund  seiner  Dunkel- 
heit ist  seine  Kürze,  dass  er  den  Gedanken  abbricht  ehe  er  zu 
Ende  geführt  ist  oder  seine  logischen  Bezüge  nicht  ausprägt 
(vgl.  V,  59).  Jedoch  ist  er  nicht  so  unbedingt  kurz  dass  er  nicht 
auch  manchmal  der  rhetorischen  Natur  des  Römers  seinen  Tribut 
darbrächte,  indem  er  sich  um  einen  Gedanken  herum  im  Kreise 
dreht,  anstatt  von  der  Stelle  zu  kommen,  vgl.  I,  36  S.  V,  30  ff.  96  ff. 
und  im  Kleineren  IV,  10.  Weitere  Quellen  seiner  Dunkelheit  sind  das 
häufige  Einmischen  gelehrter  Reminiscenzen  (wie  T,  109.  HI,  56  f. 

IV,  13),  die  affectierte  Kühnheit  und  Seltsamkeit  seiner  Metaphern, 
Tropen  und  Epitheta,  die  Wunderlichkeit  seiner  Zusammenstellungen 
(z.  B.  I,  72.  III,  81.  IV,  49.  V,  176.  184.  VI,  28).  Manchmal 
hat  es  den  Anschein  als  hätte  sich  der  Dichter  im  Ausdrucke 
vergriffen  und  aus  Noth  einen  undeutlichen  gewählt  (vgl.  IV,  48. 

V,  60),  häufiger  ist  aber  der  Fall  dass  Persius  absichtlich  den 
gewöhnlichen  Ausdruck  vermeidet  oder  einen  gewöhnlichen  in 
ungewöhnlichem  Sinne  gebraucht ,  z.  B.  V,  37.  Andere  Schwierig- 
keiten entstehen  duixh  das  absichtliche  Verdecken  des  Gedanken- 
gangs, und  dadurch  dass  man  da  wo  die  Rede  eine  dramatische 
Wendung  nimmt  häufig  nicht  weiss  wo  der  Dialog  anfängt  oder 
wo  er  ayfhört,  ob  der  Dichter  in  eigener  Person  spricht  oder 
ein  Interlocutor  (vgl.  z.  B.  III,  3  mit  58.  8.  19  ff.  I,  56).  Alle 
diese  Dinge  sind  aber  keine  Vorzüge,  und  das  Ergebnis^  derselben, 
die  Dunkelheit,  ist  ebensowenig  ein  Vorzug.  Indessen  gewinnt 
des  Persius  Schreibweise  an  Bedeutung  und  Interesse  dadurch 
dass  sie  eine  der  verbreitetsten  Geschmacksrichtungen  der  damaligen 
Zeit  uns  veranschaulicht.    Nach  dem  merkwürdigen  114.  Briefe 


4<  n]  Per^ius. 

Seneca's  bewegte  man  sich  oämiich  damals  in  Bezug  auf  die 
Darsleilnogsweise  in  lauter  Eitremen:  die  Einen  charakterisierte 
Ueberladenheit,  die  Andern  Rahlheil  und  Trivialitäl;  die  Einen 
schrieben  ganz  aUerthümlich,  die  Andern  bildeten  nach  Belieben 
neue  Wörter  u.  s.  w.  Von  dieser  Schilderung  ist  Einiges  wie 
ausdrücklich  auf  Persius  gemünzt,  und  dieselbe  zeigt  uns  zugleich 
wie  wenig  Persius  Grund  halte  in  Sat.  I.  sich  als  strengen  Ge- 
srlimacksrichter  zu  gebärden;  wenn  er  sich  auch  der  breiartigen 
Verschwommenheit  und  koketten  Geschlecktheit  nicht  schuldig 
machte  welche  der  Schreibart  eines  Theiles  seiner  Zeitgenossen 
eigen  war,  so  ist  doch  seine  Sucht  immer  nur  Trümpfe  auszugeben 
in  ästhetischer  Hinsicht  nicht  weniger  tadelnswerth. 

Eine  weitere  Eigenthümlichkeit  des  Persius  ist  seine  dra- 
matische Haltung.  Aber  das  ist  eine  ganz  andere  Art  von 
Dramatik  als  wir  in  den  Satiren  des  Horaz  bewundern.  Dieser 
hat  künstlerbche  Kraft  und  Fülle  genug  um  eine  gewählte  Ein- 
kleidung durch  das  ganze  Gedicht  mit  immer  neuem  Witze  durch- 
zuführen; Persius  aber  ermüdet  bald,  er  hat  keine  Ausdauer, 
seine  dramatischen  Scenen  haben  keine  Lebensfähigkeit,  ilir 
Lebensfaden  ist  ihnen  zu  kurz  zugesponnen ;  es  reicht  immer  nur 
zu  einzelnen  Auftritten,  nie  zu  einem  ganzen  Drama.  Auch  wo 
der  Stoff  nicht  unglücklich  gewählt  wäre,  wie  IV,  1 — 22,  weiss  er 
ihn  nicht  durchzufahren,  er  lässt  ihn  alsbald  wieder  fallen  und 
gebt  zu  andern  Formen  über,  keine  bat  für  ihn  Werth,  mit  keiner 
macht  er  Ernst,  weil  sie  ihm  immer  nur  Mittel  sind  um  seinen 
abstracten  Gedanken  aufzuputzen.  Das  Einzelne  hat  bei  ihm 
immer  ein  Streben  sich  in  sich  selbst  abzuschiiessen  und  ab- 
zurunden, jedes  Stück  will  gleichsam  das  andere  verdunkeln,  .und 
das  Ganze  würde  daher  auseinanderfdllen,  wenn  es  nicht  am  Faden 
eines  allgemeinen  Themas  nothdurftig  aufgezogen  wäre.  Man  kann 
daher  kein  einziges  Stück  des  Persius  als  Ganzes  mit  Recht  toben ; 
was  gut  daran  ist  sind  immer  nur  einzelne  Theile,  welche  mit 
besonderer  Sorgfalt  ausgeführt  sind.  Und  hierin  hat  Persius  ein 
eigenthümiiches  Geschick;  er  weiss  uns  Scenen  und  Figuren  mit 
solcher  Lebendigkeit  zu  schildern  dass  es  uns  ist  als  ob  wir  sie 
vor  Augen  sähen.  Persius  entwickelt  hiebe!  eine  merkwürdige 
Gabe  psychische  und  physische  Zustände  in  ihrer  äussern  Er- 
scheinungsweise aufzufassen  und  darzustellen,  eine  Art  semiotischen 
Insiinctes,  und  einen  mit  seiner  sonstigen  unpraktischen  Weise 
scheinbar  nicht  zusammenstimmenden  Sinn  für  Volksleben.    Wenn 


Dramatische  Haltung.  407 

man  nach  den  Vergleichungen  und  Bildern  welche  ein  Dichter 
wählt  den  Kreis  seiner  Anschauungen,  die  Sphäre  des  Lebens  in 
welcher  er  sich  bewegt  hat,  ausmessen  kann,  so  sollte  man  Persins 
für  einen  mitten  im  Volke  lebenden  Mann  halten.  Die  meisten 
seiner  Vergleichungen  und  Ausdrücke  tragen  den  volksthümlichen 
Charakter  an  sich,  wo  ein  an  sich  kleines  und  niedriges  Verhältniss 
zu  Veranschaulichung  und  Belebung  eines  abstractereu  Ausdruckes 
auf  eine  schlagende  Weise  verwendet  wird,  vgl.  z.  B.  I,  35.  66. 
III,  61.  V,  70—72.  138.  159  f.  VI,  20.  Und  so  sind  auch  die 
Figuren  welche  er  auftreten  lässt,  die  Scenen  welche  er  schildert, 
grossentheils  dem  gemeinen  Leben  entnommen,  und  diesem  Ge- 
biete entspricht  ebenso  die  Ausdrucksweise,  der  Gebrauch  von 
Sprüchwörtern,  derben  Obscönitäten,  vielleicht  auch  —  denn 
wir  können  es  jetzt  nicht  mehr  beurteilen  —  die  Wahl  mancher 
einzelnen  Wondung  deren  Ursprung  wir  nicht  zu  verfolgen  ver- 
mögen. Aber  jene  Zuge  sind  erstens  alle  dem  Stillleben  ent- 
nommen, das  ihm  am  ehesten  nahe  treten  musste,  auch  wenn  er 
sonst  noch  so  zurückgezogen  lebte,. und  an  dem  er  um  so  mehr 
Merkwürdiges  und  Auffallendes  gewahrte  je  weniger  er  sonst  ins 
Leben  hinauskam.  Sodann  ist  es  nicht  einmal  nothwendig  dass 
Persius  diese  Zuge  durch  eigene  Beobachtung  sich  sammelte:  nach 
einer  Notiz  des  Johannes  Lydus  (de  magistr.  I,  41)  ahmte  er  den 
griechischen  Mimendichter  Sophron  nach,  und  dieser  musste  un- 
endlich reich  an  solchen  Zügen  sein,  da  die  Darstellungen  aus 
dem  Leben  gerade  den  Inhalt  der  Mimen  bildeten.  Ueberdiess 
war  es  eine  Eigenthümlichkeit  der  stoischen  Methode  ihre  Argu- 
mentationen durch  Beispiele  aus  dem  gewöhnlichen  Leben  und 
aus  der  Geschichte  zu  würzen,  und  die  von  Persius  angewendeten 
können  daher  zum  guten  Theile  schon  von  seinen  Vorgäng^ern 
und  Lehrern  benützt  worden  sein.  Die  Natur  jener  Beispiele  selbst 
wenigstens  verbietet  eine  solche  Annahme  nicht,  da  sie  keiner 
Zeit  speciell  angehören,  sondern  auf  alle  Verhältnisse  gleich  gut 
passen,  daher  auch  längst  schon  vorgebracht  sein  konnten.  Mag 
nun  aber  diese  Genremalerei,  welche  den  Hauptvorzug  der  Satiren 
des  Persius  bildet,  auf  originalem  Talente  oder  auf  Nachahmung 
beruhen,  jedenfalls  sind  es  bei  ihm  immer  nur  einzelne  kleine 
Ausschnitte  aus  dem  Leben,  diese  sind  schulmässig  und  mit  einer 
über  das  Individuelle  wegfahrenden  Manier  ausgeführt  und  müssen 
nur  dazu  dienen  der  Unbestimmtheit  der  allgemeinen  Reflexionen 
nachzuhelfen ,  das  Ermüdende  des  e^ig  scheltenden  und  lehrenden 


4(  )8  PersiuB. 

Katliederloiis  geniessbar  und  pikant  zu  machen,  den  Ernst  der 
didaktischen  Tendenz  zu  mildern/  den  Zweck  des  Proselyten- 
machens  zu  unterstützen.  Denn  diess  ist  es  ja  was  die  Satiren 
des  Persius  bezwecken,  wodurch  sie  aber  wiederum  die  Sphäre 
des  eigentlichen  Kunstwerkes  verlassen,  dass  sie  einen  einzelnen, 
wenn  auch  wohlgemeinten,  so  doch  ganz  unpoetischen  Zweck 
haben,  den  nämlich  zur  stoischen  Philosophie  zu  bekehren,  die 
Nolhwendigkeit  des  Anschliessens  an  sie  zu  beweisen  (vgl.  Hl)  und 
die  Sätze  derselben  als  wahr  aufzuzeigen  (vgl.  bes.  V). 

Betrachten  wir  die  Anlage  der  Satiren  des  Persius  näher, 
so  finden  wir  dass  der  Dichter  es  liebt  mit  einer  frappanten 
dramatischen  Scene  zu  beginnen,  deren  Bedeutung  und  Zusammen- 
hang erst  im  Verlaufe  klar  wird  (HL  IV),  welche  aber  nur  einen 
einzelnen  Gedanken  oder  eine  einzelne  Seite  desselben  verkörpert 
und,  sobald  dieser  Zweck  erreicht  ist,  wieder  aufgegeben  wird. 
Ebenso  macht  er  es  mit  den  persönlichen  Anknüpfungen  (11.  V. 
VI),  welche  nur  dazu  verwendet  werden 'einen  Anfang  zu  bilden, 
das  Thema  einzuleiten ;  ist  dieses  geschehen ,  so  lässt  er  sie  fallen. 
Im  weiteren  Fortschritte  bedient  er  sich  des  Dialogs  auf  eine  nicht 
nachahmungswürdige  Weise.  Rasch  lässt  er  ihn  eintreten,  aber 
die  redenden  Personen  gewinnen  keine  Consistenz,  bekommen 
keine  festen  Umrisse,  keine  Persönlichkeit;  mit  einem  Male  schiesst 
ein  Gegner  mit  einer  Einwendung  hervor,  aber  es  ist  dabei  nur 
um  die  Einwendung  zu  thun,  der  Gegner  hat  nur  als  Träger 
derselben  eine  momentane  Bedeutung;  hat  er  seine  Mission  voll- 
endet ^  seine  Einwendung  vorgebracht,  so  zerrinnt  er  wieder  in 
die  Lüfte,  ehe  wir  ihn  recht  zu  Gesichte  bekommen  habend  Noch 
augenscheinlicher  stellt  sich  als  blose  stilistische  Wendung  das 
immerwährende  Du  in  den  Satiren  des  Persius  dar.  Es  soll  da- 
durch der  Anschein  gewonnen  werden  als  habe  man  es  immer 
mit  einem  einzelnen  Gegner  zu  thun,  als  sei  es  ein  wirklicher 
Dialog;  aber  dieser  Du,  der  immer  und  ewig  haranguiert  wird, 
heisst  Herr  Jedermann,  oder,  was  dasselbe  ist,  Herr  Niemand. 
Unser  Prediger  ruft  nur  im  Allgemeinen  ins  Publicum  sein  Du 
hinein:  wer  es  dann  auf  sich  beziehen  will,  der  kann  Notiz  da- 
von nehmen.  Selbst  wo  der  Angeredete  einen  Gegensatz  zu 
Andern  bildet  (wie  I,  5  ff.)  kann  man  sich  von  der  nähern  Gestalt 
desselben  kein  bestimmtes  Bild  machen.  Manchmal  tritt  die  Un- 
persönlichkeit  dieser  Persohen  sehr  naiv  hervor,  z.  B.  I,  44,  vgl. 
auch  IV,  1.    Sonst  ist  Persius  sorgfältig  bemüht  zu  verhüten  dass 


Anlage  seiner  Satiren. 


409 


man  iliin  in  seine  Werkstätte  schaue;  er  verdeckt  mit  Kunst  den 

# 

wirkliclien  Gedankengang,  fängt  immer  wieder  wie  von  Neuem 
an  (vgl.  z.  B.  I,  58.  III,  35.  63.  .88),  lässt  Mittelgedanken  aus, 
verbirgt  Bindeglieder,  wirft  die  Partikeln  weg  welche  das  logische 
Verhältniss  bezeichnen,  und  erschwert  überhaupt  auf  alle  Weise 
die  Einsicht  in  seinen  Plaq.  Indem  aber  Persius  so  das  ur- 
sprünglich abstract  Gedachte  nur  in  die  rhetorisch  -  poetische  Dar- 
stellungsweise übersetzt  und  dabei  jedes  einzelne  Glied  der  Argu- 
mentation für  sich  heraushebt  und  mit  seien  Figuren  umhängt, 
ist  die  natürliche  Folge  dass  dadurch  die  Einheit  des  Ganzen 
gestört  wird,  dass  die  Entwicklung  wie  auf  lauter  Hügeln  fort- 
schreitet und  das  dazwischen  Liegende  übersprungen  werden  muss; 
die  einzelnen  Partien  sind  zu  selbständig,  zu  sehr  ins  Detail 
hinein  ausgeführt  als  dass  sie  sich  recht  in  einander  fügten;  der 
Dichter  hat  sie  nicht  gehörig  behauen,  bei  dem  Einzelnen  nicht 
immer  das  Ganze  im  Auge  behalten,  sondern  jenes,  als  wäre  es 
selbst  ein  Ganzes,  mit  Liebe  und  Fleiss  nach  allen  Seiten  hin 
ausgeführt  (vgl.  z.  B.  lil,  35  ff.  88  ff.),  wodurch  bewirkt  wird  dass 
es  öfters  an  der  künstlerischen  Verknüpfung  der  Theile  fehlt  und 
diese  aus  einander  fallen. 


xvn. 


Juvenalis. 


1.  Verbannnng  Juvenars."^) 

Dass  Juvenal  verbannt  wurde,  und  zwar  wegen  eines  Schau- 
spielers, erwähnt  Apollinaris  Sidonius.  Auf  Histrionen  finden  sich 
bei  Juvenal  mancherlei  Anzüglichkeiten  die  deren  Zorn  erregen 
konnten ;  so  Sat.  VI,  63  &.  auf  ihre  Beliebtheit  bei  dem  weiblichen 
Geschlechte,  und  VII,  87  ff.  auf  ihren  —  insbesondere  des  Paris 
—  Reichthum  und  Einfluss;  und  letztere  Stelle  wird  von  den  alten 
Lebensbeschreibungen  des  Juvenal  als  die  Ursache  seiner  Ver- 
bannung bezeichnet,  insbesondere  der  Vers  quod  non  dant  pro- 
ceres  dabit  histrio  (Sat.  VII,  90).  Männer  des  Namens  Paris 
hat  nun  Juvenal  zwei  erlebt**),  einen  unter  Nero,  den  andern 
unter  Domitian;  da  aber  in  der  fraglichen  Stelle  als  Zeitgenosse 
des  Paris  der  Dichter  Statius  genannt  wird,  so  könnte  der  ge- 
roeinte nur  der  unter  Domitian  sein,  welcher  bei  diesem  Kaiser 
in  höchster  Gunst  stand,  aber  im  J.  83  (836  d.  St.),  weil  er  ihm 
Grund  zur  Eifersucht  in  Bezug  auf  die  Kaiserin  gab,  auf  offener 
Strasse  ermordet  wurde.  Nur  aber  stehen  der  ganzen  Combination 
grosse  Schwierigkeiten  entgegen.  Vor  Allem  dass  Juvenal  seine 
Satiren  (also  auch  die  siebente)  nicht  schon  unter  Domitian  ge- 
schrieben hat,  sondern  erst  unter  Trajah.  Zwar  suchte  man  diese 
Schwierigkeit  zu  umgehen  durch  die  Annahme,  die  betreffenden 
Verse  seien  unter  Domitian  einzeln  erschienen  (paucorum  versuum 
satira  oder  in  Paridem  quaedam  carmina  oder  quosdam  versus 
fecit,  die  Vitae),  und  dann  später  d^r  siebenten  Satire  nachträglich 

*)  Ans  der  Einleitang  zu   der  metrischen  Uebersetzung  Juvenal's 
von  W.  Hertzberg  und  W.  Teuffei  (Stuttg.  1865)  S.  149  ff. 
**)  Vgl.  meinen  Art.  in  Pauly's  Realenc.  V.  S.  1168  f. 


Verbannung.  411 

einverleibt  worden*);  aber  diese  Hypothese  ist  nichts  als"ein  kümmer- 
licher Nolhbehelf,  bei  dessen  concretem  Ausdenken  man  überall 
auf  UnWahrscheinlichkeiten  stösst.  Noch  bedenklicher  ist  das 
chronologische  Verhältniss.  Wurde  Juvenal  unter  Domitian  wegen 
seines  Angriffs  auf  Paris  verbannt,  so  hatte  diess  vor  der  Er- 
mordung des  Letzteren  geschehen  müssen,  also  spätestens  Anfangs 
836;  diess  wäre  aber  dann  in  den  ersten  Regierungsjahren  dieses 
Kaisers  geschehen,  nicht  in  den  letzten  (extremis),  wie  die  Vitae 
sich  selbst  widersprechend  und  widerlegend  angeben;  und  dann 
wäre  —  wie  ich  schon  in  Jahn's  Jahrbb.  1845.  XLIil.  S,  111 
bemerkt  habe  —  die  Detailkenntniss  welche  Juvenal  von  dem 
Leben  zu  Rom  während  Domitian's  Zeit  beweist  ganz  unbegreiflich. 
Auoh  ist  für  Domitian's  letzte  Jahre  JuvenaFs  Anwesenheit  in  Rom 
durch  Martialis  (VII,  24.  91.  XII,  18)  bezeugt.  Ich  halte  daher 
immer  noch,  wie  vor  mehr  als  fünfundzwanzig  Jahren  (a.  a.  0. 
S.  109  if.),  für  unmöglich  dass  man  JuvenaFs  Verbannung  unter 
Domitian  setze.  Mir  scheint  dass  die  betreffenden  Gewährsmänner 
selber  nichts  Positives  darüber  gewusst,  sondern  ihre  Angaben 
nur  combiniert  haben.  Fest  steht  und  war  auch  jenen  Gewährs- 
männern bekannt  dass  Juvenal  verbannt  wurde,  und  zwar  wegen 
eines  Schauspielers;  denn  das  ist  uns  durch  das  ganz  bestimmte 
Zeugniss  des  ApoUinaris  Sidonius**)  überliefert.  Sehr  glaublich 
ist  ferner  dass  es  die  einstimmig  dafür  angesehenen  Verse  in 
Sat.  Vli,  87  If.  waren  welche  den  Zorn  des  histrio  und  seines 
kaiserlichen  Liebhabers  erregten;  und  auch  das  mag  wahr  sein 
dass  der  Kaiser,  wie  erzählt  wird,  dem  Dichter  irgendwo  die  Ur- 
sache andeutete  durch  ein  et  te  Philomela  promovit.  Aber  falsch 
ist  dass  der  Kaiser  der  diess  that  Domitian  gewesen  sei;  vielmehr 
uar  es  entweder  Trajan  oder  Hadrian***).  Von  dem  Ersteren  wissen 
wir  (aus  Dlo  LXVIII,  10)  dass  er  einen  Schauspieler  Pylades  leiden- 
schaftlich liebte;  zu  des  Letzteren  eitlem,  reizbarem,  feigem,  aber 
wo  seine  Eitelkeit  verletzt  wurde  auch  wohl  gelegentlich  malitiösem 
Charakter  würde  die  ganze  Procedur  recht' gut  stimmen,  wie  auch 

*)  So  auch  Ribbeck,  der  echte  Juvenal  S.  70, 
**J  Ap.  Sid.  c.  IX,  267  ff.: 

non  qui  tempore  Caesaris  secundi 

aeterno  incbluit  Tomos  reatu; 

uec  qui  consimili  deinde  casu 

ad  vulgi  tenuem  strepentis  auram 

irati  fuit  histrionis  exsni. 
***)  S.  meine  angef.  Abh.  S.  112  f. 


412  Juvenalis. 

die  meisten  Angaben  über  Juvenafs  ielzte  Scbicksale  und  Lebens- 
ende; Uberdiess  macht  es  seine  bekannte  Leidenschaft  für  Antinous 
glaublich  dass  er  auch  für  einen  histrio  schwärmen  konnte.  Ich 
denke  mir,  nach  Anleitung  der  Worte  des  ApoUinaris  Sidonius, 
insbesondere  des  Verses  ad  vulgi  tenuem  strepentis  auram,  den 
Hergang  folgendermassen.  Die  Schwäche  welche  der  Kaiser  für 
einen  histrio  hatte ,  und  die  sich  wohl  auch  manchmal  bei  Stellen- 
besetzungen bekundete,  gab  dem  Publicum  Veranlassung  einst 
öifentlich  im  Theater  jenem  histrio  die  bezeichneten  —  längst 
gedichteten  und  veröffentlichten,  aber  nun  durch  ihre  Anwendbarkeit 
auf  die  Gegenwart  besonders  bekannt  und  populär  gewordenen 
—  Verse  der  siebenten  Satire  zuzurufen,  worüber  derselbe  so 
aufgebracht  wurde  dass  er  dafür  an  dem  Dichter,  so  unschuldig 
er  an  der  Sache  war^),  Rache  nahm  und  bewirkte  dass  derselbe 
unter  glimpflichem  Vorwand  —  militärischer  Dienstleistungen  — 
aus  Rom  entfernt  wurde.  Wohin  er  entfernt  wurde  scheinen  die 
Verfasser  der  Vitae  gleichfalls  nicht  gewusst  zn  haben :  sie  rathen 
auf  ganz  Entgegengesetztes,  auf  Aegypten  und  Britannien**).  Ilie- 
Yon  ist  die  Nennung  Aegyptens  sicherlich  irrig  aus  Sat.  XV,  45 
geschlossen,  da  die  Stelle  nur  beweist  dass  ihr  Verfasser  einmal 
in  Aegypten  war.  Dieselbe  Entstehungsweise  auch  in  Bezug  auf 
Britannien  nachzuweisen  will  nicht  gleich  gut  gelingen*"^*);  auch 
war  es  zum  Verbannungsort  viel  geeigneter  als  Aegypten,  und 
uberdiess  Schauplatz  kriegerischer  Verwicklungen  und  daher  ge- 
fährlicher; endlich  wissen  wir  dass  um  jene  Zeit  die  Cohorte  bei 
welcher  Juvenal  —  nach  der  erhaltenen  Inschrift  von  ihmf)  — 
früher  Officier  gewesen  war  in  Britannien  stand.  Und  so  mag 
Britannien  das  Land  gewesen  sein  wohin  Juvenal  —  wahrscheinlich 
von  Hadrian  —  verwiesen  wurde.  Ob  er  in  der  Verbannung  ge- 
storben oder  nach  Rom  zurückgekommen  sei^  darüber  haben  wir 
keine  zuverlässige  Nachricht;  für  das  Erstere  könnte  aber  des 


*)  Die  Worte  enthalten  in  ihrem  Zasammenhange  keine  Beleidigung, 
kaum  einen  Tadel  des  histrio  (vielmehr  der  proceres),  sie  können  daher 
etwas  Beleidigendes  nur  durch  die  Art  ihrer  Anwendung  erhalten  haben. 
Dass  er  aber  nichtsdestoweniger  sich  an  dem  Werkzeuge  rächte,  statt  an 
dem  eigentlichen  Beleidiger,  dem  vielköpfigen  und  unverantwortlichen 
Publicum,  hat  gewiss  nichts  Unwahrscheinliches. 

**)  Vgl.  meine  angef.  Abh.  S.  113—115. 

***)  Denn  das  Erschliessen  aus  Sat.  II,  159  — 161  ist  zwar  nicht  ab- 
solut unmöglich,  aber  doch  wenig  nahe  liegend. 

t)  Vgl.  meine  Römische  Literaturgeschichte  313,  1. 


Verbannung.    Satiren.  413 

Sidonius  Parallelisierung  des  Falles  von  Juvenal  mit  dem  des 
Ovid  (insbesondere  auch  die  Hervorhebung  des  aelerno)  angeführt 
werden.  Und  dass  Juvenal  ein  hohes  Alter  erreicht  hat,  darin 
stimmen  nicht  nur  alle  Angaben  überein  sondern  es  geht  auch 
aus  dem  ganzen  Verlaufe  seines  Le'bens  und  den  in  seinen  Satiren 
vorkommenden  Zeitanspielungen  unzweifelhaft  hervor.  Wenn  eine 
Vita  wissen  will  Decessit  longo  senio  confectus  exsul  Antonino 
Pio  imperatore  (J.  891—914  <1.  St.  ^f»  138  —  161  n.  Chr.),  so  ist 
das  immerhin  möglich,  und  wenigstens  uns  nichts  bekannt  was 
dagegen  spräche. 

2.  Jnvenars  Satiren. 

Dass  Juvenal  seine  Satiren  unter  Domitian  nicht  verfasst  hat, 
sondern  erst  unter  Trajan,  ist  so  selbstverständlich  wie  von  den 
Geschichtswerken  des  Tacitus  und  geht  aus  seiner  ersten  Satire 
überdiess  positiv  hervor.  £benso  erhellt  seine  rhetorische  Bildung 
unzweifelhaft  aus  dem  ganzen  Charakter  seiner  Satiren ;  und  die 
Angabe  dass  er  ad  mediam  fere  aelatem  declamavit,  animi  magis 
caussa  quam  quod  scholae  se  aut  foro  praepararet,  ist  innerlich 
ganz  wahrscheinlich  und  steht  mit  keiner  anderen  sicheren  That« 
Sache  oder  Nachricht  in  Widerspruch. 

Auf  uns  gekommen  sind  von  ihm  sechszehn  Satiren,  welche  sich 
in  den  Handschriften  in  fünf  ßücher  von  ungefähr  gleichem  Umfange 
eingetheilt  finden,  von  denen  das  erste  die  fünf  ersten  Satiren 
umfasst,  das  zweite  aus  der  sechsten  Satire  besteht,  das  dritte 
aus  Sat.  VU  bis  IX,  das  vierte  aus  Sat.  X — XH,  das  fünfte  aus 
Xlil  —  XVI.  Von  sonstigen  Gedichten  des  Juvenalis  ist  keine  Spur, 
'und  auch  kein  Grund  anzunehmen  dass  er  mehr  verfasst  •  habe 
als  auf  uns  gekommen  ist"^).  Wohl  aber  ist  schon  behauptet 
worden  dass  das  auf  uns  Gekommene  nicht  alles  von  Juvenal  ver- 
fasst sei.  Die  Echtheit  der  letzten  Satire  hat  Heinrich  bestritten, 
Bd.  U.  S.  515  ff.  542  R.  seines  Commeutars,  und  K.  Kempf  Observa- 
tiones  in  Juvenal.  (Berlin  1843)  p.  60  ihm  beigestimmt,  wogegen 
W.  E.  Weber,  in  Jahn's  Jahrbb.  XXXIL  S.  151  ff.  (vgl.  seine  Ueber- 
setzung,  S.  604)  die  Unhaltbarkeit  von  Heinrich's  Einwendungen  ge- 
zeigt hat;  die  Echtheit  von  Sat.  XV  hat  Kempf  angefochten,  a/a.  0. 

*)  Denn  bei  der  letzten  Satire  ist  nicht  sicher  ob  die  Nichtvollendung 
auf  Rechnung  des  Verfassers  zu  setzen  ist  oder  des  Zufalls,  der  das 
letzte  Blatt  verloren  gehen  Hess. 


414  Juvenaliß. 

p.  81 — 86,  mit  Gruodeu  deren  UnzuläDgliclikeit  ich  zu  beweisen 
gesucht  habe,  in  Jahn*s  Jahrbb.  XLlIl.  S.  118 — 120,  sowie  K.  F. 
Herinauu»  ZCschr.  f.  d.  AlL  Wiss.  1844,  Nr.  10.  Neuerdings  nun 
hal  0.  Ribbeck  gar  die  Behauptung  aufgestellt  dass  Sat.  X,  XII, 
Xill,  XIV,  XV»  XVI  roHstandig,  und  auch  in  den  früheren  Satiren 
ein  grosser  Theil  dem  Juvenalis  untergeschoben  sei.  Seine  Be- 
weisführung beruht  hauptsächlich  auf  dem  logischen  Fehler  dass 
die  überlieferten  Gedichte  Juvenafs  an  einem  willkürlich  selbst- 
geschalfenen  Bilde  von  dei*  Eigentliümlichkeit  des  Dichters  ge- 
messen und  was  nicht  dazu  stimmt  kurzweg  für  unecht  erklärt 
wird.  Indessen  stimmen  in  Wahrheit  die  angezweifelten  Gedichte 
und  Stellen  in  allem  Wesentlichen  mit  den  übrigen  überein  und 
verratheu  nur  den  Einfiuss  der  höheren  Altersstufe  des  Dichters 
in  einem  gewissen  Nachlass  wahrer  Productionskraft"^).  Wir 
werden  daher  bei  unserer  nachfolgenden  Schilderung  der  Dichter- 
eigeuthumlichkeit  des  Juvenal  die  Echtheit  aller  Satiren  — ^  we- 
nigstens in  ihrem  wesentlichen  Bestände  —  voraussetzen. 

Dass  die  Ordnung  in  welcher  die  Satiren  auf  uns  gekommen 
sind  in  der  Hauptsache  die  chronologische,  die  ihrer  Abfassung, 
sei  wird  dadurch  wahrscheinlich  dass  die  erste  sich  selbst  ßls  die 
frstverfasste  und  als  Einleitung  ankündigt,  während  die  letzten  aus 
ihrem  matteren  Tone  und  verwaschenen  Farben  schliessen  lassen 
dass  der  Dichter  sie  als  Greis  verfasst  hat;  auch  ist  unter  den 
—  übrigens  spärlichen  —  Zeitandeutungen  in  den  Stücken  keine 
welche  jener  Annahme  entgegenstünde,  vielmehr  gehört  *die  spä- 
teste auch  wirklich  der  vorletzten  Satirc  (XV,  27)  an. 

3.    Juvenal  als  Satiriker. 

Für  die  Satiren  des  Juvenal  ist  es  nach  verschiedenen  Seiten 
hin  bezeichnend  dass  ihr  Stoff  die  Zeit  des  Domitian  ist.  Juvenal 
hal  diese  Zeit  miterlebt  und  durchgelebt;  schweigend  hat  er  die 
Greuelthaten  und  Niederträchtigkeiten  unter  dieser  Regierung  mit 
ansehen  müssen,  und  sein  Gemüt  ist  dadurch  mit  Bitterkeit,  Hass 
und  Verachtung  erfüllt  worden;  und  jetzt,  da  unter  Trajan's 
Scepter  die  lange  gepresste  Welt  endlich  wieder  freier  athmete, 
bricht  der  angesammelte  Stoif  von  selbst  sich  Bahn,  die  lange 


*)    Bas  Nähere  hierüber  geben  die  Anmerkungen    zu   der  Ueber- 
setzung  der  Satiren,  bes.  S.  209.  341  f.  und  sonst. 


Eigenthümlichkeit  als  Satirikei'.  415 

verhaltene  Entrüstung  schafTl  sich  Ausdruck.  Die  nächste  Folge 
von  der  Wahl  dieses  Stoffes  ist  die  dunkle  Färbung  seiner  Satiren. 
Schwarz  in  Schwarz  gemalt  sind  Juvenai's  Gestalten,  die  Manch- 
faltigkeit  der  Farbennoischung ,  die  Kunst  der  Vertheilung  voji 
Licht  und  Schatten  vermisst  man  hei  ihm.  Nur  Schmutz,  nur 
Gemeinheit  und  Beschränktheil  gewahrt  man  üherall.  Die  Zahl 
der  Guten  ist  eine  unendlich  kleine  (XIII,  26  L),  Keuschheit  und 
Ehrlichkeit  aus  der  Welt  verschwunden  (VI,  1  ff.  XIII,  60  ff). 
Die  Welt  ist  für  Juvenal  die  Hauptstadt;  kaum  dass  vereinzelte 
Ausblicke  (wie  II,  160  ff  III,  190  ff.  223  ff  IV,  126  f.  147  ff.  VI, 
83  ff.)  uns  daran  erinnern  dass  ausser  Rom  auch  noch  etwas 
existiert.  Und  dieses  Rom  ist  durch  und  durch  verdorben:  kein 
Verbrechen,  kein  Lasier  gibt  es  das  nicht  hier  in  Blüte  stünde; 
die  Schurken  aller  Nationen  strömen  hier  zusammen  und  lassen 
keinen  Raum  für  ehrliche  Leute.  Rom  wie  es  unter  Domitian 
war  schildert  nun  aber  der  Dichter  selbst  unter  Trajan  lebend. 
Dadurch  wurde  seine  Aufgabe  schwieriger,  sie  erforderte  mehr 
Kunst  und  Sorgfalt,  mehr  Vertiefung  und  Plan,  damit  die  Zeiten 
nicht  in  einander  filiessen;  dass  aber  Juvenal  hievon  ein  klares 
Bewusstsein  gehabt  und  danach  gehandelt  hätte  geht  ^us  seinen 
Satiren  durchaus  nicht  hervor.  Perspectivisches  Zeichnen  scheint 
seine  Sache  nicht  zu  sein;  die  grössere  künstlerische  Ruhe,  das 
Masshalten,  die  versöhnte  Stimmung,  den  weiteren  Gesichtskreis 
und  die  epische  Glätte  welche  sich  daraus  hätte  ergeben  sollen 
dass  es  etwas  Vergangenes,  hinter  ihm  Liegendes  ist  was  er 
schildert,  hat  er  nicht  eintreten  lassen,  sondern  den  gleichen 
Eifer  aufgewendet  wie  wenn  er  noch  mitten  stünde  in  dieser 
grauenvollen  Zeit  und  jeden  Augenblick  dadurch  zu  leiden  hätte*). 
Ueberhaupt  hat  ihn  jene  Differenz  zwischen  der  Zeit  in  welcher 
er  schreibt  und  der  welche  er  darstellt  nicht  viel  Kopfzerbrechen 
gekostet:  er  ignoriert  sie  einfach.  Hätten  wir  nicht  seine  eigene 
Erklärung  (I,  170  f.)  dass  er  die  Gestorbenen  zum  Gegenstande 
seiner  Darstellung  machen  wolle,  und  merkten  wir  es  nicht  aus 
manchen  geschichtlichen  Zügen,  so  könnten  wir  wirklich  meinen 
Juvenal  rede  von  und  zu  der  Gegenwart.  Selten  wird  irgend 
welche  Zeit  ausdrücklich  und   deutlich  bezeichnet  (wie  II,  29  ff. 


*)  Einigermassen  gemildert  wird  die  Schiefheit  dieses  Verhältnisses 
dadurch  dass  Juvenal  die  Zeit  des  Domitian  selbst  auch  erlebt  hat  und 
so  die  Empfindungen  die  er  ausspricht  wenigstens  selbst  auch  —  im 
Stillen  —  gehabt  haben  kann. 


.    416  Juvenalis. 

IV,  37  ff.  Vm,  212  ff.,  wogegen  VII,  1  ff.  unbestimmt  genug  ist), 
in  der  Rege!  hätl  sich  die  Darstellung  in  eigenthümlicher  Schwebe, 
im  Gebiete  des  Allgemeinen,  Zeitlosen.  Diese  Vermischung  und 
Verwischung  der  Zeit  verräth  sich  ganz  besonders  auch  in  den 
bei  ihm  vorkommenden  Personen.  Nennt  er  überhaupt  solche, 
so  sind  sie  entweder  fingierte  oder  willkürlich  gewählte  oder 
typische  oder  allgemeine  oder  unbedeutende  oder  der  Vergangen- 
heit angehörige,  und  zwar  meist  einer  recht  entfernten,  wie  der 
des  Cicero  oder  gar  des  Luciiius.  Dagegen  finden  sich  ausnahms- 
weise Namen  welche  unzweifelhaft  der  Zeit  angehören  in  welcher 
Juvenai  schreibt,  wie  Marius  Priscus  (I,  49  ff.  Vlii,  120),  Isäus 
(Hl,  74),  Archigenes  (Vi,  236  und  sonst),  Galliens  (XIII,  157). 
Solche  konnten,  bei  dem  einmal  gewählten  Standpunkte,  auch  nur 
durch  Inconsequenz  in  seinen  Satiren  eine  Stelle  finden.  Freilich 
wurde  die  Zeitlosigkeit  ihm  dadurch  erleichtert  dass  es  vorzugs- 
weise die  socialen  Gebrechen  und  Laster  sind  die  er  zu  seinem 
Gegenstande  macht,  die  Krebsschäden  der  Gesellschaft,  welche  in 
der  Zeit  des  Trajan  nicht  viel  anders  sein  mochten  als  in  der 
des  Domitian.  Dass  Juvenai  hiebei  mit  Vorliebe  die  eigent- 
lichen Laster  behandelt,  nicht  etwa  blos  die  Thorheiten  und 
Verkehrtheiten,  hängt  theils  damit  zusammen  dass  jene  für 
declamatorische  Behandlung  ein  ausgiebigeres  Thema  waren, 
theils  wohl  auch  mit  der  Altersstufe  auf  welcher  Juvenai  seine 
Satiren  verfasste.'  Sehen  wir  ab  von  der  greisenhaften  Haltung 
der  spätesten,  so  zeigen  die  Satiren  im  Ganzen  den  Dichter  als 
einen  Mann  der  die  Mittagshöhe  des  Lebens  schon  erklommen 
und  den  das  Leben  und  die  Erfahrung  nich^  nur  um  die  Illusionen 
der  Jugend  gebracht  hat  sondern  auch  um  seinen  Glauben  an  die 
Menschheit,  um  seine  Liebe  zur  Gegenwart  und  um  seine  Hoffnung 
auf  eine  bessere  Zukunft.  Freilich  ist  bei  Juvenai  keineswegs 
sicher  wie  viel  von  seinen  Aeusserungen  wirkliche  Ueberzeugung, 
wie  viel  auf  die  Rechnung  des  declamatorischen  Pathos  zu  setzen 
ist.  Insbesondere  die  Freundschaft  mit  Martialis  —  mit  welchem 
er  auch  stofflich  wie  in  einzelnen  Gedanken  und  Wendungen  oft 
genug  zusammentrifft '^)  —  könnte  darauf  führen  dass  es  mit  der 
ernsten  düsteren  Miene  weiche  Juvenai  in  seinen  Satiren  annimmt 


*)  Vgl.  W.  E.  Weber  zu  Sat.  III,  220  ff.  267,  S.  323.  326.  Auch 
s.  meine  Einl.  zu  Sat.  V  u.  vgl.  Sat.  II,  3  mit  Mart.  I,  24,  3;  Sat.  V, 
109.  147  mit  Mart.  XII,  36,  8.  I,  20,  4;  Sat.  VI,  196  ff.  mit  Martial.  VI, 
23;   Sat.  VI,  184  ff.  mit  Mart.  X,  G8;  Sat.  VI,  492  tf.  mit  Mart.  II,  €0. 


Eigentliümliclikeit  als  Satiriker.  417 

nichC  so  gar  viel  auf  sich  habe.  Indessen  auch  Martial  sagt  von 
sich:  obscena  est  nobis  pagina,  —  vita  proba  est;  und  Juvenal 
brandmarkt  (Sat.  II,  3  vgl.  IV,  106)  ausdrücklich  Solche  welche 
in  ihren  Worten  und  Schriften  die  Sittenrichter  spielen,  während 
ihr  eigenes  Leben  sehr  weit  davon  entfernt  ist  dazu  irgend  welches 
Recht  zu  geben.  Auch  dass  Martial  von  seinem  Freunde  Juvenal 
voraussetzt^)  dass  er  sich  zu  Rom  in  der  Suburra  umhertreibe 
—  bekanntlich  einem  der  belebtesten,  aber  keineswegs  tugend- 
haftesten Stadttheile  —  beweist  nichts  gegen  den  Charakter  unseres 
Satirikers,  da  nach  dem  ganzen  Zusammenhange  Martial  nicht 
die  Genüsse,  sondern  die  Beschwerden  und  Unannehmlichkeiten 
Roms  hervorhebt  und  daher  auch  den  Besuch  der  Suburra  nur 
als  eine  fatale  Nothwendigkeit  zum  Behufe  der  Studien  des  Sa- 
tirikers sich  denkt.  So  sehr  daher  auch  die  Person  des  Dichters 
in  seinen  Satiren  zurücktritt,  so  ist  doch  kein  Grund  anzunehmen 
dass  ein  Dualismus  besteht  zwischen  Juvenal  dem  Menschen  und  Ju- 
venal dem  Satiriker,  vielmehr  ist  glaublich  dass  die  ernste  Stimmung 
welche  die  Grundlage  seiner  Satiren  bildet  ihm  selbst  auch  eigen  und 
natürlich  war,  nicht  blos  eine  vorgenommene  Maske.  Nur  dass  das 
Selbstempfundene  künstlich  gesteigert,  rhetorisch  übertrieben  ist 
wird  sich  nicht  bestreiten  lassen.  Und  jedenfalls  ist  das  gemeinsame 
Product  aller  dieser  Factoren  eine  trübe,  pessimistische  Anschauung 
von  den  Dingen  und  den  Personen,  von  den  Menschen  wie  den 
Göttern.  Juvenal's  Welt  ist  götterlos,  seine  Lebensluft  ist  eine 
schwüle,  beengte,  durch  greuliche  Dünste  verpestete;  kein  Licht 
leuchtet  ihm  in  der  bangen  Unstern  Nacht,  kein  Trost,  keine 
Hoffnung,  keine  Erhebung  aus  dem  Greuel,  nichts  als  Schatten 
und  Verzweiflung.  Kein  Blick  hinaus  aus  der  traurigen  Gegen- 
wart in  eine  lichtere  Zukunft,  nur  öfters  ein  Blick  zurück  auf 
eine  bessere  Vergangenheit**),  aber  dieser  Blick  stimmt  ihn  nur 
noch  bitterer  und  dient  ihm  nur  als  Folie  für  seine  Nachtbilder. 
Die  dunkelsten  Partieen  sucht  er  sich  mit  Vorliebe  auf  und  führt 
sie  bis  ins  Einzelste  hinein  mit  solcher  Gründlichkeit  aus  dass 
es  ist  als  freute  er  sich  darüber  wenn  die  Menschen  recht  schlecht 
sind,  weil  sie  ihm  dann  willkommenen  Stoff  bieten  über  sie  los- 


•)  Martial.  XII,  18  in.: 

dum  tu  forsltan  inqaietus  erras 
clamosa,  Juvenalis,  in  Suburra. 
**)  Vgl.  I,  94  f.  II,  73  f.  m,  312  ff.  VI,  265  f.  287  ff.  342  ff.  VIII, 
98  ff.  XI,  77  ff.  XIII,  53  ff.  XIV,  160  ff.  179  ff.  XV,  166  ff. 
Teuffel,  Studien.  27 


418  JuvenaÜB. 

zuziehen.  Juvenal  hat  kein  Grauen,  keinen  Ekel  vor  dem  Häss- 
liehen,  er  spricht  davon  mit  der  Rückhaltslosigkeit  des  Arztes. 
So  wird  er  wohl  oft  kolossal  obscön,  aber  nicht  üppig;  nicht 
im  verführerischen  Florkleid  treten  seine  Gestalten  auf  und  nur 
soweit  verhüllt  um  nach  dem  Ganzen  lüstern  zu  machen ,  sondern 
sie  sind  nackt  und  zeigen  Formen  die  nichts  weniger  als  reizend 
sind;  wenn  er  dennoch  manchmal  Anstoss  gibt;  so  kommt  diess 
theils  von  dem  Drastischen  der  Ausmalung  her  theils  davon  dass 
seine  Gestalten  nicht  ursprünglich  nackt  sind  —  wie  die  des 
Aristophanes*)  —  sondern  erst  entkleidet.  Von  Juvenal  kann 
man  mit  ganz  anderem  Recht  als  von  Horaz  eine  „furchtbare 
Realität  ohne  eigentliche  Poesie"**)  aussagen,  ja  sogar  einen 
materialistischen  Charakter  seiner  Kunst.  Darin  zeigt  er  sich 
freilich  nur  als  Römer  und  als  Rhetor.  Der  Römer  Weise  hat 
überhaupt  etwas  Massiges,  Klobiges,  die  Kehrseite  und  Ueber- 
treibung  ihrer  Solidität;  nimmt  man  dazu  noch  vollends  die  Un- 
ersättlichkeit und  Plumpheit  des  Rhetors,  so  erklären  sich  Aus- 
malungen wie  Sat.  II,  32  f.  IX,  43  f.  oder  die  des  Greisenthums 
X,  190  ff.  oder  Widerlichkeiten  wie  XV,  54  ff.  78  ff.  Wenn 
Persius  in  seinen  Satiren  auf  die  Wirklichkeit  wenig  Rücksicht 
nimmt,  sondern  nur  ein  Ideal  darstellt,  und  zwar  ein  einseitig 
gefasstes***),  so  ist  Juvenal  in  das  entgegengesetzte  Extrem  ge- 
fallen: er  gibt  nur  die  Wirklichkeit,  und  zwar  diese  grass  und 
einseitig  dargestellt,  der  andere  Restandtheil  im  Begriff  der  Satire, 
das  Ideal,  fehlt  bei  ihm.  Nur  eine  Gonsequenz  davon  ist  dass 
er  auch  die  Götter  nichts  gelten  lässt.  Zwar  dass  er  auf  die 
—  oft  nicht  einmal  veredelten  —  Menschengestalten  nichts  hält 
mit  welchen  der  Volksglaube  seinen  Himmel  bevölkert  ist  sehr 
begreiflich:  er  spricht  hier  nur  mit  Offenheit  aus  was  allgemeine 
Ansicht  in  seiner  Zeit  war  (s.  II,  149  ff.  XIII,  37  —  52).  Aber 
er  behandelt  diese  Gegenstände  des  einstigen  Volksglaubens  mit 
einem  Sarkasmus,  einem  Hohne  welcher  an  Frivolität  streift  und 
mit  Religion  und  Religiosität  überhaupt  unvereinbar  ist.  So 
Sat.  H,  31.  131  f.  HI,  139.  IV,  36.  VI,  59.  176  f.  394  f,  und 
auch  XIII,  37  ff.  enthält  viel  Anzügliches.  Ein  Ausflnss  dieses 
Mangels  an  aller  Idealität,  dieses  Nihilismus  ist  ferner  sein  Ver- 
halten gegen  das  weibliche  Geschlecht,  wie  es  sich  besonders 

*)  Vgl.  meine  Ausgabe  der  Wolken  (Leipzig,  Teubner  1867)  S.  17. 
**)  Vgl.  meine  Charakteristik  des  Horaz  (Leipzig  1842)  S.  14. 
•♦♦)  Vgl.  oben  S.  400  flf. 


Sein  Pessimismus.  419 

in  der  sechsten  Satire  kundgibt.  Eine  Art  von  Weibern  nach 
der  andern  nimmt  er  hier  vor  und  malt  sie  mit  seinem  Pinsel, 
der  lieber  karikiert  als  schmeichelt,  und  schildert  al^  ihre  Un- 
tugenden und  Laster  in  grösster  Ausführlichkeit;  aber  nachdem  er 
mit  dieser  Aufzählung  zu  Ende  ist  hält  er  sein  Thema  für  er- 
schöpft: eine  gute  Frau  oder  auch  nur  eine  erträgliche  Frau 
kennt  er  nicht.  Und  nicht  etwa  blos  von  den  Weibern  iu  Rom 
—  und  dem  damaligen  Rom  —  will  er  diess  aussagen,  sondern 
er  behauptet  dass  das  Schlechtsein  zum  Wesen  und  Begriff  des 
Weibes  gehöre  (VI,  134  f.).  Und  mit  der  gleichen  Schwarzsichtig- 
keit  und  Bitterkeit  spricht  er  sich  auch  an  andern  Stellen  (wie  X, 
321  ff.  XI,  168  AT.  Xni,  191  f.)  über  die  Weiber  aus.  Dabei 
entschädigt  Juvenal  für  diesen  Mangel  an  Idealität  nicht  einmal 
durch  desto  grösseren  Ernst  und  grössere  Tiefe  der  sittlichen  Be- 
griffe. Zwar  wird  besonders  in  den  späteren  Satiren  viel  moralisiert, 
und  manchmal  (wie  IV,  8=  XIV.  XIII,  86  ff.  249)  nimmt  er  auch 
Anläufe  zu  höheren  Standpunkten;  aber  wie  wenig  das  tief  geht 
und  wie  völlig  der  Dichter  beherrscht  ist  von  engen  nationalen  und 
socialen  Vorstellungen  zeigt  namentlich  die  zweite  Satire,  wo 
V.  65  ff.  den  widernatürlichsten  Ausschweifungen  das  Tragen  eines 
durchsichtigen  Gewandes  an  die  Seite  gestellt  und  v.  143  gar 
als  noch  schlimmer  denn  jene  Naturwidrigkeiten  das  Auftreten 
eines  Vornehmen  als  Gladiator  bezeichnet  wird,  —  ganz  in  dem 
gleichen  Geiste  aus  welchem  auch  1,  22  f.  VI,  33  f.  VIII,  112  ff. 
185  ff.  gesprochen  ist.  Wie  erquickend  ist,  mit  solchen  Grass- 
heiten  und  Missgriffen  verglichen,  die  Satire  des  Horaz!  Heiter 
und  wolgemut  rudern  wir  mit  ihm  auf  den  Wellen  des  Lebens 
umher,  und  wenn  er  auch  mutwillig  den  Kahn  ins  Schwanken 
bringt  oder  wenn  er  uns  in  Untiefen  führt ,  in  Strudel  uns  hinein- 
reisst^  so  sehen  wir  doch  überall  seine  Hand  ruhig  und  fest,  wir 
haben  in  seiner  Person  eine  Gewähr  dafür  dass  es  nicht  übel 
abläuft,  dass  es  so  schlimm  doch  nicht  ist;  die  Klarheit  und 
Freiheit  und  Heiterkeit  des  Geistes,  die  auch  in  allen  Verwick- 
lungen ihn  nicht  verlässt,  flösst  uns  Vertrauen  ein  und  hält  unsere 
Achtung  vor  der  Menschheit  aufrecht.  Juvenal's  Satiren  dagegen 
fehlt  es  an  Erhebung  über  die  schlechte  Wirklichkeit,  an  Licht 
zu  dem  Schatten,  an  Versöhnung  nach  all  den  wehthuenden 
Bildern.  Nur  vereinzelt  finden  sich  bei  ihm  Gedanken  und  Züge 
an  denen  man  eine  ungetrübte  Freude  haben  kann.     So  spricht 

warmes  Gefühl   für  die  unverfälschte  Natur  aus   Sat.  HI,  18  ff., 

27* 


420  JuTenalis. 

echter  sittlicher  Adel  aus  UI»  54  ff.,  lebendiges  Natiooalbewusstsein 
und  Hannessloh  aus  HI,  66  ff.  81  f.  84  f.  V,  164  ff.  170  fr.;  so 
verräth  h«nanen  Sinn  H,  93.  VI,  222.  XV,  138  ff.;  eine  edle 
Denkweise  VI«,  20  ff.  79  ff.  XIH,  192  ff.;  auch  an  weiteren  Ge- 
sichtspunkten fehlt  es  nicht  ganz  (wie  VI,  292  f.);  eine  schöne 
Schilderung  des  echten  Dichters  enthält  VII,  53  ff.  und  ein  gol- 
denes Wort  XIV,  47.  Dergleichen  Stellen  lassen  es  nur  beklagen 
dass  ihr  Einfluss  auf  die  gesammte  Anschauuog  und  den  allgemeinen 
Ton  des  Satirikers  kein  grösserer  ist. 

Freilich  einem  Stoffe  gegenüber  wie  Juvenal  ihn  sich  gewählt 
hat  wäre  die  lächelnde  Halbmoral  eines  Horaz  nicht  an  ihrem 
Platze  gewesen;  ein  solcher  Stoff  trieb  zum  Ernste,  zum  Zorne, 
zum  Poltern.  Aber  dass  er  sich  diesen  Stoff  gewählt  hat,  darin 
eben  zeigt  sich  die  Masslosigkeit  des  Rhetors.  Und  ein  Rhetor 
ist  Juvenal  doch  zu  allererst  und  vom  Scheitel  bis  zur  Zehe"^}. 
Die  Gewöhnungen  der  Rhetorschule,  denen  er  bis  weit  ins  männ- 
liche Alter  hinein  nachhieng,  haben  ihn  auch  zur  Satire  begleitet 
und  zeigen  sich  hier  theils  in  der  schulmässigen  Art  wie  er  seine 
Gedichte  anlegt  theils  in  dem  einförmigen  Pathos  seines  Tones. 
Juvenal  pflegt  ein  bestimmtes  Thema  in  nüchterner  regelrechter 
geradlinigter  Weise  durchzufuhren,  so  dass  die  Disposition  mit 
wenig  Muhe  nachzuweisen  ist^.  So  z.  B.  Sat.  Vll,  X,  XIII.  In 
der  zehnten  erörtert  Juv.  zuerst  um  was  man  die  Götter  nicht  bitten 
soll  (Reichthum,  Macht,  Beredt samkeit,  Ruhm,  langes  Leben, 
Schönheit),  zuletzt  (v.  346  ff.)  positiv,  um  was.  Aber  im  Einzelnen 
ist  sein  Plan  doch  wieder  manchmal  schwer  zu  erkennen.  Nicht 
als  ob  er  neckisch  auf  etwas  scheinbar  Heterogenes  überspränge, 
dessen  Zusammenhang  und  Zweck  erst  im  Verlaufe  klar  wird, 
wie  Horaz;  so  viel  Kunst  besitzt  Juvenal  nicht;  wohl  aber  stellt 
er  die  einzelnen  Glieder  und  Theile  seiner  Beweisführung  unver- 
bunden  neben  einander  und  fangt  scheinbar  von  vornen  an,  so 
dass  oft  wirklich  nicht  zu  ermitteln  ist  warum  dieser  Gedanke 
gerade  diese  Stelle  einnimmt,  was  auf  ihn  geführt  hat  und  wozu 
er  führen  soll.  Diese  Art  der  Anlage  zieht  zwei  weitere  Nach- 
theile nach  sich.    Einmal  dass  alle  Abweichungen  von  der  geraden 


*)  Eine  Verkennimg  dieser  Thatsache  ist  die  Bibbeck^sche  Unter- 
scheidung von  Javenalis  satnrae  nnd  Declamationes  qnae  Javenalis  no- 
mine feruntur.    Als  ob  jene  satnrae  nicht  auch  declamationes  wären! 

**)  Von  dieser  Wahrnehmang  ausgehend  hat  O.  Ribbeck  Alles  was  er 
nicht  in  die  Disposition  hineinbrachte  gutes  Muts  für  interpoliert  erklärt. 


Rhetorik.    Anlage  der  Satiren. 


421 


Linie  der  Entwicklung,  die  sich  denn  doch  nicht  vermeiden  lassen, 
nun   als  wirkliche   Abschweifungen  und   als    störend  erscheinen. 
Wenn  ein  Plan  nicht  nach  dem  Princip  der  Schönheit  angelegt 
ist,  sondern  nach  der  Schnur,  so  wird  jede  Abweichung  von  ihr 
widrig  und  zum  Fehler.    Juvenal  aber  sucht  solche  Abweichungen 
öfters  auf,   vielleicht   eben   um   die  selbsterkannte  Einförmigkeit 
seiner  Anlage  zu  mildern,   manchmal  abei^  gewiss  auch   nur  um 
seine  Schulgelehrsamkeit  anzubringen.    So  kann  nichts  unzeitiger 
sein  als  Sat.  XII,  102  ff.  mitten  in  die  Erörterung  über  die  Erb- 
schleicherei hinein  der  Excucs  über  die  Elephanten'^);   so  kann 
Juv.  X,  220  ff.  für  einen  ganz  untergeordneten  Punkt  nicht  Bei- 
spiele genug  herbeischleppen.     Sodann  wird  ein  Plan,  je  schul- 
gerechter er   ist,   um  so  sicherer  und   schneller  ermüdend,   die 
Uebergänge  werden  mühsam,   matt,   kahl  und  trocken  —  wofür 
die  sechste  Satire  die  zahlreichsten  und  stärksten  Belege  liefert"^^] 
—  und  wiederholen  sich  in  bestimmten  Zwischenräumen;  künst- 
lerische Einkleidungen  werden  entweder  gar  nicht  versucht  oder 
werden  sie  von  dem  schulmässigen  Thema  überwuchert  und  ge- 
langen  zu    keinem   Ernste,    keiner   Consequenz,    Anschaulichkeit 
und  plastischen   Abrundung.     Eine   glückliche  Ausnahme    hievon 
macht  nur  etwa  die  dritte  Satire ,  einigermassen  (doch  mit  starken 
Einschränkungen)  auch  IX,  XI  und  XII***);  alle  andern  verrathen 
wenig  Geschick  in  ihren  Einkleidungen.     So   nimmt  die  sechste 
Satire  die  Miene  an  als  sollte  einem  Heiratslustigen  sein  Vorhaben 
ausgeredet  werden  durch  Hervorhebung  der  Fehler  des  weiblichen 
Geschlechts,    insbesondere    ihrer   Untreue;    dieser   Heiratslustige 
bleibt  aber  uns  völlig  fremd.     Ebenso  in  der   fünften  Satire  ge- 
winnt der  angeredete  Parasit  keine  persönlichen  Umrisse,  sondern 
bleibt  nur  ein  Parasit  überhaupt,  gleichsam  ein  Gattungsbegriff. 
Andere   Stücke   leisten   auf   die  Form   und    den  Anspruch  eines 
poetischen    Kunstwerks   geradezu    Verzicht,    wie   namentlich    die 
späteren    Satiren,    wo    der    Dichter    die    doch    vergebliche    Be- 
mühung lieber  vollends  ganz  aufgibt  und  ein  abstractes  Thema 
rhetorisch  und  mit  Beispielen  aus  Geschichte  und  Leben  ausführt, 
wie  Sat.  XIV  die  Strafe  der  Sünden,  XV  den  verderblichen  Ein- 
fluss  des  Beispieles  der  Eltern  auf  die  Kinder;  XVI  die  bevorzugte 


*)  Vgl.  Hertzberg'fl  Anm.  S.  308  und  zu  XI,  126. 
**)  Mit  ihrem  einförmigen  Fortschritt  durch  quantitative  Steigerung, 
Aehnlich  II,  143.  VIII,  183  f.  199,f. 

♦♦♦)  Vgl.  Hertzberg's  Anm.  S.  298  und  308. 


I 


422  JavenaliB. 

• 
Stellung    des  Kriegerstandes.     Zu  einem  wahren  Kunstler    fehlt 

dem  Juvenal  die  Genialität ,  die  leichte  geschmackvolle  Gruppierung 
des  Stoffes,  die  Formbeberrschung;  keuchend  kommt  er  daher,  und 
kaum  hat  er,  von  der  Natur  überwältigt,  einen  Augenblick  Pause 
gemacht,   so  rafft  er  sich  von  Neuem  auf  um  seinen  muhseligen 
Weg  fortzusetzen.     Denn  was  seinen  Ton   betrifft,  so  ist  dieser 
einförmig  eifernd ,  erregt,  predigend,  scheltend,  abkanzelnd.    Ju- 
venal hat  ein  künstlich  gesteigertes,   krankhaft  erhitztes  Wesen, 
wie  Perslus  und  viele  andere  Schriftsteller  des  ersten  Jahrhunderts ; 
er  redet  sich  in  die  Hitze  und  eine  Art  Leidenschaft  hinein,  wird 
beredt,  ja  redselig,  und  will  doch  zugleich  alles  Einzelne  energisch 
und  bezeichnend  ausstatten;  er  spricht  lange  und  viel,  ohne  darum 
weniger  laut  und  pathetisch  zu  sprechen,  und  ermüdet  dadurch 
sich  selbst  und  seine  Hörer.     Er  trägt  die  Würzen  so  stark  auf 
dass  seine  Gerichte  dadurch  schwer  geniessbar  werden ;  er  steigert 
die  Eigenschaft  des  Pikanten  —  in  welche  diese  Zeit  ihren  Haupt- 
stolz setzte  —  ins  Uebermass,  er  strebt  mit  Bewusstsein  nach  dem 
haut-goüt  der  auch  den  Tacitus  charakterisiert  wie  andere  Zeit- 
genossen. Seine  Ausdrucksweise^ ist  prägnant,  gewählt  und  gehoben, 
manchmal  sogar  wo  diess  nicht  am  Platze  ist,  wie  namentlich  die 
rhetorische  Figur  der  Anrede  oft  zwecklos  angewandt  ist;  aber  das 
gehört  nun  einmal  zu  seiner  Manier ,  die  ihm  überallhin  nachgeht, 
der  Kothurn  ist  seine  gewöhnliche  Fussbekleidung  geworden,  die 
er  auch  auf  der  Strasse   nicht  ablegt.     Ebenso  sind  seine  Verse 
markig,  schwungvoll  und  recht  absichtlich  erhaben  und  volltönend 
gebildet.    Indem  er  daneben  aber  nicht  müde  wird  zu  reden  und 
Immer  neue  Züge  zu  seinen  Bildern  hinzufügt,   bis  sie  zuletzt 
überladen   sind,    so  wirken   die  entgegengesetzten   Eigenschaften 
der  Gedrängtheit  und  der  Redseligkeit  gegenseitig  schwächend  und 
trübend  auf  einander:  declamiert  er,  so  hat  er  nicht  die  Leichtig- 
keit und  den  Fluss  eines  guten  Declamators;  ist  er  gedrängt,  so 
fehlt  es  ihm  an  Natürlichkeit  und  Klarheit.    Indessen  sind  die 
Fälle  doch  auch  nicht  selten  wo  er,  vom  Stoffe  fortgerissen,  seine 
Manier  vergisst  und  lebendig,  anschaulich,  warm,  ja  sogar  humo- 
ristisch   wird.     So    besonders    wiederum    in    der    dritten    Satire 
(namentlich  v.  73  ff.  278  ff.),   welche  vielleicht  die  Denk-  und 
Sprechweise  seines  Freundes  Umbricius  nachbildet  und  darum  so 
originell,  so  abweichend  von  dem  Grundtone  der  andern  Satiren 
ausgefallen  ist;  doch  enthält  auch  die  sechste  viel  Schelmerei  und 
heitere  Bosheit  (z.  B.  v.  31  ff.  94  ff.  1 10  ff.  272  ff.),  nur  dass  es 


Ton  seiner  Satiren.  /       423 

viel  zu  lange  fortgeht  und  neben  den  sonstigen  Uebertreibungen  und 
Kapuzinaden  kaum  zur  rechten  Geltung  gelangt;  und  lebendig  ist 
auch  die  Schilderung  VI,  481  ff.  Gemütliche  Wärme  und  fast 
idyllische  Vertiefung  ins  Kleine  zeigen  Stellen  wie  lll,  18  ff.  175  f. 
226  ff.  V,  143  ff.  VI,  605  ff.  VIII,  149  f.  IX,  60  f.  und  auch  der 
bittere  Humor  der  siebenten  Satire  (z.  B.  v.  150  ff.)  ist  ansprechend. 
Feine  sinnige  psychologische  Bemerkungen  finden  sich  z.  B.  X, 
96  f.  328  f.  Aber  im  Ganzen  sind  dergleichen  Stellen  doch  nur 
Ausnahmen,  und  beweisen  nur  dass  Juvenal  mehr  in  gelungener 
Ausführung  einzelner  Scenen  und  Bilder  seine  Stärke  hat  als  in 
künstlerischer  Gestaltung  des  Stoffes  im  Grossen,  etwa  wie  Persius 
und  Jean  Paul.  Am  meisten  aber  erinnert  die  Weise  des  Ju- 
venalis  an  die  des  Tacitus.  Beide  halten  ihrer  Zeit  die  Vergangen- 
heit als  Spiegel  vor  und  Beide  malen  auf  dunklem  Grunde  mit 
energischen  Farben,  wobei  Tacitus  sich  überwiegend  mit  der 
politischen  Seite  beschäftigt,  Juvenal  mit  der  socialen.  Aber  der 
melancholische  Zug,  der  den  Tacitus  so  interessant  macht,  seine 
Trauer  und  Wehmut  über  all  das  Schlechte  das  er  berichten 
muss,  geht  dem  Juvenal  völlig  ab,  er  macht  vielmehr  den  Ein- 
druck als  ob  es  ihm  ganz  behaglich  wäre  in  dieser  Atmosphäre, 
und  als  ob  er  einer  starken  Emotion  bedürfte  für  seine  Gesund- 
heit; überhaupt  findet  sich  bei  ihm  so  gut  wie  Nichts  von  dem 
idealen  Zuge,  der  Sehnsucht  nach  dem  Lichte  einer  besseren 
Zeit,  welcher  als  ein  milder  Accord  die  ganze  Darstellung  des  Ta- 
citus begleitet.  Auch  die  Kritik  geht  bei  Beiden  aus  einer  diametral 
verschiedenen  Tonart:  wo  Tacitus  sarkastisch,  schneidend,  äzend 
ist,  da  schlägt  Juvenal  geräuschvoll,  derb,  ja  plump  darein.  Auch 
sind  seine  Gestalten  ebenso  generisch  gehalten  wie  die  des  Ta- 
citus in  das  feinste  psychologische  Detail  hinein  ausgearbeitet. 
Mit  seinen  Vorgängern  innerhalb  der  Satire,  mit  Horaz  und  Per- 
sius, verglichen  muss  Juvenal  dem  Ersteren  in  jeder  Beziehung 
den  Vorrang  lassen.  Horaz  steht  über  Juvenal  genau  so  hoch 
wie  ein  Künstler  und  Dichter  über  einem  Rhetor  und  De- 
jclamator.  Mögen  JuvenaFs  Beobachtungen  umfassender  sein  als 
die  des  Horaz,  aber  feiner  und  tiefer  sind  sie  nicht,  und  der 
Weitblick  des  Horaz  fehlt  ihm  gleichfalls.  Allerdings  hat  die 
wesentlich  verschlimmerte  Zeit  grellere  Farbengebung  und  einen 
gröberen  Pinsei  nöthig  gemacht;  aber  Juvenal  hat  absichtlich  und 
ausschliesslich  die  schwärzesten  Partieen  sich  zum  Gegenstande 
gewählt  und  dadurch  eine  Zeit  die  an  sich  schon  hässlich  genug 


424  Juvcnalis. 

war  noch  hässlicher  gemacht.  Dagegen  mit  Persius  kann  sich 
Juvenal  wohl  messen.  Was  jenem  mangelt,  das  Eingehen  auf 
das  wirkliche  Leben,  die  Beobachtung,  das  hat  dieser  im  Ueber- 
roass;  Juvenal  ist  an  Anschauungen  ebenso  reich  als  Persius  daran 
arm  ist;  aber  eben  dadurch  sind  Juvenafs  Satiren  ins  Breite  ge- 
rathen,  fehlt  ihnen  die  Zusammenfassung  in  einen  Grundgedanken, 
die  klare  Beziehung  auf  einen  Mittelpunkt,  das  Einheitliche,  welches 
Persius  freilich  leicht  festhalten  konnte,  weil  er  aus  der  Einheit 
Oberhaupt  nicht  herausgieng,  in  die  Manchfaltigkeit  und  Zer- 
streuung der  Wirklichkeit  sich  gar  nicht  hinauswagte. 

4.    Doppelrecension  der  Satiren  Jnvenal's^). 

So  weit  ich  davon  entfernt  bin  die  Annahme  einer  doppelten 
Recension  als  eine  Panacee  für  alle  Schäden  der  Ueberlieferung 
des  juvenalischen  Textes  zu  betrachten,  so  scheint  es  mir  doch 
unzweifelhaft  dass  in  einer  Anzahl  von  Stellen  dieses  Heilmittel  die 
angemessenste  Lösung  der  vorhandenen  Schwierigkeiten  bietet*"^]. 

So  gleich  Sat.  I,  73 — 80.  Hier  wurde  man  gewiss  nichts 
vermissen  wenn  es  blos  hiesse: 

occurrit  matrona  potens,  quae  molle  Calennm 
porrectura  viro  miscet  sitiente  rubetam 
institüitque  rades  melior  Lucusta  propinquas 
per  famam  et  populnm  nigros  efferre  maritos. 
ande  aliquid  brevibns  Gyaris  et  carcere  dignnm 
81  vis  esse  aliqnid;  probitas  laudatur  et  alget: 
criminibus  debent  hortos,  praetoria,  mensas, 
argentnm  vetus  et  stantem  extra  pocula  caprum. 

Aber  ebenso  wenig  würde  mau  einen  Defect  empflnden  wenn  die 
Stelle  lauten  würde: 

occurrit  matrona  potens,  quae  molle  Galenum 
porrectura  viro  miscet  sitiente  rubetam 
institüitque  rüdes  melior  Lucusta  propinquas 
per  famam  et  popnlum  nigros  efferre  maritos. 


♦)  Aus  dem  Rhein.  Mus.  XX.  S.  153  f.  473  flf.  XXI.  S.  155  ff. 
•♦)  O.  Jahn,  Ausg.  des  Juv.  Berol.  1868,  p.  10,  wendet  gegen  mich 
ein:  qui  cum  de  quibusdam  locis  propter  repetitiones  molestis  ita  iudicaret 
ut  duplicis  ab  ipso  poeta  institutae  recensionis  vestigia  agnosceret  potius 
quid  a  poeta  non  repetitum  esse  optaret  declarasse  quam  quid  poeta  fecerit 
probasse  mihi  videtur.  Diess  wäre  aber  nar  dann  treffend  wenn  es  sich 
in  den  betreffenden  Stellen  um  einfache  Wiederholungen  handeln  würde 
und  nicht  vielmehr  um  zweierlei  einander  ausschliessend^  Darstellungen. 


Doppelte  Recension  seiner  Satiren.  I,  73  ff.  425 

qnem  patitur  dormire  nurus  corruptor  avarae, 
quem  sponsae  tnrpes  et  praetextatus  adalter? 
si  natura  negat,  facit  indignatio  versum , 
qnalemcnmqne  potest,  qaales  ego  vel  Glnvienas. 

Das  AuffalleDde  an  dem  was  die  Handschriften  geben  ist  ge- 
rade dass  sie  mehr  bieten  als  man  erwartet  und  gebrauchen 
kann.  Man  glaubt  mit  caprum  am  Schlüsse  der  Erörterung  an- 
gekommen zu  sein  und  sieht  sich  mit  dem  folgenden  Verse  (quem 
patitup  u.  s.  w.)  wider  Vermuten  zu  neuem  Anfangen  genöthigt, 
ohne  dass  man  doch  einen  zureichenden  Grund  erkennen  kann,  da 
mit  vier  Versen  dieser  neue  Anfang  schon  wieder  zu  Ende  ist,  und 
von  diesen  vier  Versen  überdiess  die  zwei  ersten  an  einer  beliebigen 
andern  Stelle  der  Satire  mindestens  ebenso  gut  stehen  könnten  als 
hier.  Die  vier  Verse  aude  aliquid  —  caprum  haben  für  sich  schon 
einen  vollkommen  abschliessenden  Charakter.  Nach  den  beiden 
letzten  Beispielen,  eines  Mannes  der  durch  Testamenlsfälschung 
zu  Reichthum  gelangt  ist,  und  einer  Frau  die  ihren  Mann  ver- 
giftet hat  und  doch  noch  fortwährend  in  Ansehen  steht,  fährt 
der  Dichter  fort:  kurzum,  im  heutigen  Rom  muss  man  ein  Schuft 
sein  um  es  zu  etwas  zu  bringen  und  Schätze  aller  Art  zu  er- 
werben. Damit  ist  die  Betrachtung,  an  einem  Ruhepunkte  an- 
gelangt, und  wir  finden  es  um  so  befremdender  dass  wir  gleich 
darauf  abermals  in  Athem  gesetzt  werden,  und  vollends  gar  fast 
zwecklos.  Und  doch  enthalten  weder  jene  noch  diese  vier  Verse 
irgend  etwas  was  der  Weise  des  Juvenal  widerstreitend  oder  seiner 
unwürdig  wäre.  Diess  alles  fuhrt  mich  zu  der  Folgerung  dass 
wir  hier  einen  doppelten  Schluss  der  Erörterung  vor  uns  haben, 
beide  von  Juvenal  herrührend,  aber  nicht  beide  von  ihm  dazu 
bestimmt  auf  die  Nachwelt  zu  kommen,  vielmehr  der  eine  dazu 
bestimmt  an  des  andern  Stelle  zu  treten.  Welches  von  beiden 
der  ältere,  verworfene  Schluss  sei,  welches  der  spätere,  darüber 
kann  man  einen  Augenblick  schwanken.  Die  in  den  Handschriften 
zuerst  stehende  Verstetrade  (aude  aliquid  u.  s.  w.)  schliesst  sich 
besser  an  das  Vorhergehende  an ,  hat  aber  in  den  Worten  stantem 
extra  pocula  caprum  einen  rhetorisch  und  sachlich  wenig  be- 
friedigenden Abschluss.  Bei  der  zweiten  Telrade  (quem  patitur 
—  Cluvienus)  ist  das  Verhältniss  das  umgekehrte:  der  Schluss 
ist  sehr  gut,  dagegen  der  neue  Ansatz  mit  quem  patitur  u.  s.  w. 
minder  entsprechend.  Diess  scheint  mir  ein  Beweis  dass  letzterer 
Schluss  der  spätere  ist:   bei  der  nachträglichen  Hinzufugung  ge- 


426  Juvenalis. 

lang  der  Anschluss  an  das  Vorhergehende  weniger  gut,  die  End- 
verse aber  verbessern  vortrefflich  das  Unbefriedigende  des  früheren 
Schlusses  (noiit  stantem  —  caprum).  Die  Verse  aude  aliquid  bis 
caprum  vraren  also  wohl  von  Juvenal  zum  Wegfall  verurteilt; 
aber  den  Vollzug  des  Urteils  vereitelte  die  Weichherjigkeit  der 
ersten  Herausgeber  (oder  Abschreiber)  nach  Juvenal's  Tod,  die 
es  nicht  über  sich  gewannen  die  gestrichenen  Verse  ganz  weg- 
zulassen, oder  auch  ihre  Gedankenlosigkeit;  so  haben  wir  zwei 
Redactionen  neben  einander  bekommen. 

In  Sat.  III  gehört  die  Schilderung  des  Treibens  der  Griechen 
in  Rom  zu  einer  der  in  diesem  Stücke  nicht  seltenen  Glanzpartien. 
Gegen  das  Ende  hin  gipfelt  sie  in  den  Sätzen: 

praeterea  sanctum  nihil  est  nee  ab  ingnine  tat  um  .  .  . 
honim  si  nihil  est,  aviam  resnpinat  amici  (112), 

um  dann  abzuschliessen  mit  der  praktischen  Folgerung  um  deren 
willen  Umbricius  dieses  Thema  angeschlagen  hat: 

non  est  Ropiano  cuiqnam  locus  hie  ubi  regnat 
Protogenes  aliquis  vel  Diphilus  (120). 

Zwischen  diese  beiden  trefflich  zusammenhängenden  Versreihen 
hinein  haben  sich  aber  sechs  Verse  (113  — 118)  gedrängt  die 
nach  Inhalt  und  Ton  zu  ihrer  Umgebung  durchaus  nicht  passen, 
nämlich : 

scire  volnnt  secreta  domus  atqne  inde  timeri. 
et  quoniam  coepit  Oraecornm  mentio,  transi 
gymnasia  atqne  audi  facinns  maioris  abollae: 
stoicns  occidit  Baream  delator,  amicum 
discipnlumqne  senex  ripa  nutritus  in  illa 
ad  quam  gorgonei  delapsa  est  pinna  caballi. 

Von  diesen  Hesse  sich  der  erste  allenfalls  noch  nothdürflig  in 
den  Zusammenhang  einreihen:  durch  solche  (geschlechtliche)  Ver- 
hältnisse werden  sie  zugleich  Vertraute  eines  Theils  der  Familie 
und  kommen  so  hinter  deren  Geheimnisse  und  verstärken  dadurch 
ihren  Einfluss.  Aber  nach  der  farbenreichen  Zeichnung  des  Vor- 
hergehenden nimmt  sich  dieses  theoretische  scire  volunt  doch 
sehr  fremdartig  und  kümmerlich  aus.  Da  aber  der  Vers  doch 
wohlgebaut  ist  und,  für  sich  genommen,  auch  einen  ganz  guten 
Gedanken  enthält,  so  halte  ich  für  das  Wahrscheinlichste  dass  er 
ein  nachträglicher  Zusatz  des  Dichters  ist,  der  diesen  an  sich 
vollkommen  passenden  und  wichtigen  Zug  nicht  weglassen  wollte 
und  ihn  doch  mit  dem  schon  fertigen  und  abgerundeten  Zusammen- 
hang nicht  mehr  vollständig  auszugleichen  vermochte. 


Doppelte  Recension  seiner  Satiren.  III,  113  ff.  V,  92  ff  427 

Bedenklicher  sind  die  fünf  folgenden  Verse.  Ihr  Inhalt  passt 
ganz  und  gar  nicht  in  den  Zusammenhang;  ihr  Ton  ist  völlig 
abweichend  von  dem  sonstigen  der  Rede  des  Urabricius,  er  ist 
polternd  und  predigend ,  wie  überall  sonst  wo  Juvenal  in  eigener 
Person  spricht,  wie  fast  überall  ausser  in  dieser  dritten  Satire. 
Auch  im  Einzelnen  des  Ausdruckes  finden  sich  Anstösse  genug. 
Wie  ungeschickt  ist  gleich  die  Einfuhrung  durch  quoniam  coeßit 
Graecorum  mentio!  Als  ob  sie  erst  begonnen  hätte  und  nicht 
vielmehr  schon  am  Ende  angelangt  wäre!  Dann  die  Unklarheit 
der  Wendungen  transi  gymnasia  und  facinus  maioris  abollae, 
die  Bedeutungslosigkeit  der  geheimnissvollen  Umschreibung  der 
Heimat  des  Celer  und  die  phraseologische  Ausführung  derselben, 
welche  sich  wie  ein  unglücklicher  Abklatsch  von  v.  25  ausnimmt. 
Obwohl  daher  diese  Verse  von  Ribbeck  unbeanstandet  gelassen 
worden  sind  und  nur  in  v.  116  eine  kleine  Aenderung  (Baream, 
delator  amicum)  erfahren  haben,  die  ich  für  keine  Besserung 
halte  —  denn  dass  ein  delator  sein  Handwerk  auch  an  einem 
amicus  ausübt  hat  nichts  Befremdendes  —  so  gehören  sie  doch 
nach  meiner  Meinung  zu  denjenigen  welche,  wenn  man  überhaupt 
zwischen  einem  echten  und  einem  unechten  Juvenal  in  dieser 
Weise  unterscheiden  zu  dürfen  glaubte,  dem  letztern  zuzutheilen 
wäre.  Denn  mit  v.  119  wird  die  allgemeine  Erörterung  in  einer 
Art  zu  Ende  gefuhrt  welche  von  einer  unmittelbar  vorausge- 
gangenen Unterbrechung  nichts  ahnen  lässt;  auch  wäre  es  nicht 
undenkbar  dass  die  fünf  Verse  aus  den  Angaben  des  Tacitus 
zusammengeflickt  und  hier,  als  der  einzigen  Stelle  wo  von  den 
Griechen  in  Rom  die  Rede  ist,  angefügt  wären.  Indessen  wüsste 
ich  nichts  Entscheidendes  einzuwenden  gegen  die  etwaige  Annahme 
dass  auch  hier  eine  von  dem  Satiriker  selbst  verfasste  und  mit 
dem  Zusammenhang  noch  nicht  ins  Gleichgevncht  gebrachte  nach- 
trägliche Bemerkung  vorliege,  und  dass  der  v.  113  eben  als  eine 
Art  von  Vermittlung  zwischen  den  beiden  Gedankenreihen  von 
ihm  hinzugedichtet  worden  sei.  Vgl.  die  Anmerkungen  zu  meiner 
Uebersetzung  der  Satiren  (Stuttgart,  Metzler,  1865)  S.  189  f. 

Auch  Sat.  V,  92 — 102  scheint  es  mir  einleuchtend  dass  zweierlei 
Variationen  desselben  Gedankens  zu  Tage  liegen.  Die  Verse  lauten: 

mnllas  erit  domini  qaem  misit  Corsica  vel  quem 

tauromenitanae  rupes,  quando  omne  peractam  est 

et  iam  defecit  nostrum  mare,  dum  g^la  saevit, 

retibos  adsiduis  penitus  scratante  macello  95 


428  Juvenalis. 

prozima,  nee  patimur  tyrrhennm  crescere  piscem. 
instroit  ergo  focnm  provincia,  sumitur  illinc 
qnod  captator  emat  Laenas,  Anrelia  veDdat. 
Yirroni  muraena  datur  qnae  mazima  yenit 
100  gurgite  de  slcolo;  nam  dum  se  continet  j&nster, 

dum  sedet  et  siccat  madidas  in  carcere  pinnas, 
contemnnnt  mediam  temeraria  lina  Charybdim: 
vos  angailla  manet  n,  s.  w. 

Sowohl  die  ersten  sieben  als  die  darauf  folgenden  vier  Verse  be- 
handeln denselben  Gegenstand,  denselben  Theil  des  Mahles,  das 
Essen  von  Fischen ,  und  zwar  beidesmal  von  Seiten  des  dominus, 
des  Virro,  nur  dass  der  kostbare  Fisch  der  ihm  aufgetischt  wird 
das  erste  Mai  ein  mullus  ist  und  nachher  eine  muraeua.  Was 
dagegen  der  arme  Gast,  was  Trebius  vorgesetzt  bekommt  ist 
gegenüber  von  dem  mullus  nicht*  ausgeführt,  sondern  erst  gegen- 
über der  muraena,  während  doch  sonst  die  ganze  Schilderung 
fortwährend  sich  in  diesem  Contraste  bewegt  und  niemals  sonst 
die  Gegenseite  auszuführen  vergessen  wird.  Wenn  hienach  die 
beiden  Verscomplexe  wesentlich  das  Gleiche  enthalten,  somit  nicht 
neben  einander  bestehen  und  nicht  ursprünglich  neben  einander 
gedichtet  sein  können ,  so  fragt  sich  zuerst  ob  beide  von  Juvenal 
sind  und  dann,  im  Falle  der  Bejahung,  welche  von  beiden 
Fassungen  die  ältere,  welche  die  spätere  ist.  Dagegen  nun  dass 
sowohl  V.  92  —  98  als  99 — 102  von  Juvenal  herrühren  wüsste 
ich  keinen  Beweis  beizubringen;  beide  Reihen  sind  tadellos,  von 
bezeichnendem  Inhalt  und  nach  Gedanken  wie  Ausdruck  und  Ton 
ganz  der  sonstigen  Weise  des  Satirikers  entsprechend.  Wenn  ich 
aber  hinsichtlich  der  Priorität  der  einen  von  beiden  Reihen  eine 
Entscheidung  treffen  soll,  so  gestehe  ich  in  einiger  Verlegenheit 
zu  sein.  Die  ersten  sieben  Verse  sind  energisch,  sie  rücken  der 
schwelgerischen  Gegenwart  direct  zu  Leibe  und  enthalten  schliess- 
lich zwei  Personennamen  ohne  Zweifel  aus  der  unmittelbaren 
Gegenwart.  Viel  zahmer  sind  die  folgenden  vier:  sie  geben  zwar 
eine  ganz  hübsche  Anschauung  von  dem  Auster,  wie  er  sich  die 
Schwingen  trocknet,  aber  sie  sind  ohne  persönlichen  Stachel, 
ganz  allgemein  gehalten.  Denken  wir  uns  daher  die  Nach- 
arbeitungen des  Satirikers  in  der  Richtung  vorgenommen  um 
schwächere  Stellen  durch  stärkere  zu  ersetzen,  so  müssten  wir 
die  vier  Verse  als  die  ursprüngUchen  betrachten ,  bestimmt  durch 
die  spätem  sieben  verdrängt  zu  werden,  nur  dass  der  Dichter 
selbst  oder  die  ersten  Redacteure    seines   Nachlasses  sich  nicht 


Doppelte  Recension  seiner  Satiren.  V,  92  ff.  VT,  178  ff.  582  ff.   429 

entscbliessen  konnten  die  hübschen  vier  Verse  grundlich  zu  be- 
seitigen. War  aber  die  Richtung  jener  nachträglichen  Arbeiten  eine 
entgegengesetzte,  abschwächende,  auf  Milderung  des  für  Lebende 
persönlich  Verletzenden  ausgehend,  so  wären  vielmehr  die  sieben 
Verse  für  die  älteren  zu  halten,  die  vier  für  die  spätere  Redaction. 
Für  letztere  Ansicht  könnte  auch  diess  zu  sprechen  scheinen  dass 
die  Verse  92 — 96  (besonders  94 — 96)  eine  etwas  ungelenke 
Construction  haben;  doch  ist  dieses  Argument  meines  £rachtens 
keineswegs  entscheidend.    Vgl.  meine  Anmerkungen  a.  a.  0.  S.  204. 

Welche  Anslösse  Sat.  Vi ,  1 78  —  183  enthalten  ist  von  Ribbeck 
(Symb.  p.  24  =  Echter  und  unechter  Juvenal  S.  172)  bereits 
hervorgehoben,  insbesondere  dass  die  Verse  nichts  besagen  was 
nicht  schon  in  v.  166  ff.  dagewesen  wäre.  Wenn  er  dann  aber 
über  die  Verse  urteilt  dass  sie  balbutientem  tironem,  non  Juvenalem 
produnt,  so  fürchte  ich  dass  auch  in  diesem  Falle,  wie  wohl  in 
den  meisten  andern,  was  zur  Vertheidigung  des  Dichters  gesagt 
ist  vielmehr  ihn  selbst  .am  empfindlichsten  verwundet.  Ohnehin 
werden  balbutientes  tirones  sich  zum  Tummelplatz  schwerlich 
gerade  den  Juvenal  ausersehen  haben.  Mir  scheinen  die  Verse 
eher  aus  einem  unfertigen  ersten  Entwürfe  herzurühren ,  von  Ju- 
venal selbst  zum  Wegfall  bestimmt  und  durch  v.  166  ff.  ersetzt, 
aber  gegen  seinen  Willen  neben  diesem  Ersätze  gleichfalls  erhalten. 

Sat.  VI,  582  ff.  ist  in  Ribbeck's  Ausgabe  schwer  aufzufinden,  da 
der  Kartenspielcharakter  welchen  in  derselben  die  sechste  Satire  be- 
kanntlich hat  hier  sich  ganz  besonders  gellend  macht.  Endlich  treiben 
wir  die  Verse  auf,  p.  39,  als  v.  460  ff.  und  in  veränderter  Ordnung. 
Während  nämlich  die  traditionelle  Stellung  der  Verse  folgende  ist: 

sl  xnediocris  erit,  spatium  lustrabit  utrimque 

metarnm  et  sortes  ducet  frontemque  manumque 

praebebit  vati  crebrum  poppysma  roganti. 

divitibus  responsa  dabunt  Phryx  augur  et  Indas  585 

conductus,  dabit  astrorum  xnnndiqae  peritns, 

atqne  aliquis  senior  qui  publica  fulgnra  condit: 

plebeium  in  circo  positum  est  et  in  aggere  fatum. 

quae  nadis  longum  ostendit  cervicibus  armnm 

consulit  ante  falas  delphinoramqne  columnas  590 

an  saga  vendenti  nubat  caupone  relicto, 

SO  lesen  wir  sie  dort  in  folgender  Gestalt: 

divitibus  responsa  dabnnt  Phryx  augur  et  Indi 

atqne  aliqnis  senior  qui  publica  fulgura  condit;' 

si  mediocris  erit,  spatium  lustrabit  utrimque  582 


430  Juvenalis. 

metaram  et  sortes  ducet  frontemqne  manumque 
684  praebebit  vati  crebram  poppysma  roganti; 

588  plebeinm  in  circo  positum  est  et  in  aggere  fatum. 

quae  nudis  longam  ostendit  cervicibus  armum- 

consulit  ante  falas  delfinoramque  columnas 

an  saga  vendenti  nabat  caapone  relicto. 

Dieser  Umstellung  liegt  die  unzweifelhaft  richtige  Einsicht  zu 
Grunde  dass  die  drei  Verse  si  medlocris  erit  —  roganli  und  quae 
nudis  —  relicto  im  Wesentlichen  das  Gleiche  enthalten,  nämlich 
das  Thun  ärmerer  Befragerinnen  im  Gegensatze  zu  der  Art  wie 
reiche  Frauen  ihre  abergläubischen  Neigungen  befriedigen  (divi- 
tibus  —  condit).  Aber  ich  glaube  nicht  dass  mit  dieser  Um- 
stellung gründUch  geholfen  ist.  Denn  auch  so  bleibt  das  Tauto- 
logische  der  Ausführung,  dass  Frauen  und  Mädchen  der  geringeren 
Stände  ihre  Orakel  im  Circus  holen,  welcher  zuerst  durch  die 
metae  und  circus  und  dann  abermals  durch  die  falae  delphinorum- 
que  columnae  bezeichnet  ist;  und  zu  dön  alten  Schwierigkeiten 
hin  bringt  diese  Umstellung  neue.  Divitibus  und  si  mediocris 
erit  ist  ein  nach  allen  Seiten  ganz  inconcinner  Gegensatz;  die 
dreimalige  Bezeichnung  der  gleichen  Menschenclasse  (mediocris 
—  plebeium  —  quae  nudis)  und  des  Circus  durch  verschiedene 
Ausdrücke  ist  durch  die  unmittelbare  Aneinanderrückung  der 
betreffenden  Verse  nur  noch  unerträglicher  geworden.  Jedenfalls 
musste  der  Vers  plebeium  u.  s.  w.  an  seiner  Stelle  belassen 
werden.  Die  erwähnte  Tautologie  wäre  dann  freilich  geblieben; 
aber  diese  wird  auch  nur  durch  die  Annahme  gehoben  dass  die 
drei  Verse  si  mediocris  —  roganti  und  quae  nudis  —  relicto 
wiederum  zweierlei  Redactionen  desselben  Gedankens,  des  Gegen- 
satzes zu  divitibus  u.  s.  w.  enthalten.  Und  zwar  kann  diessmal  kein 
Zweifel  darüber  sein  dass  die  zum  Wegfall  verurteilte  Fassung  die 
erste  (si  mediocris  —  roganti)  war.  Streichen  wir  diese ,  so  hängt 
Alles  aufs  Beste  zusammen:  die  reichen  Frauen  befragen  einen 
Augur,  welcher  „weither"  und  darum  theuer  ist,  und  unter  den 
Einheimischen  nur  solche  welche  eine  hohe  offizielle  Stellung  em- 
nehmen ;  die  Plebejerinnen  holen  ihre  Kunde  der  Zukunft  im  Circus 
und  auf  dem  Damme.  Letzterer  Gedanke  ist  alsdann  concreter  aus- 
geführt, und  zwar  in  der  gleichen  Verszahl  wie  der  Gegensatz  di- 
vitibus u.  s.  w.  indem  der  Begriff  plebeium  durch  quae  —  armum 
specialisiert  und  näher  bestimmt  wird,  in  circo  durch  ante  — 
columnas,  und  fatum  positum  est  durch  consulit  an  —  relicto. 


Doppelte  Recension  seiner  Satiren.  VI ,  582  ff.  460  ff.  IX.       431 

Einen  anderen  Weg  möchte  ich  Sat.  VI,  460  f.  einschlagen. 
Im  Zusammenhang  lauten  die  Verse: 

nil  non  permittit  maller  sibi,  tnrpe  putat  nil, 
cum  yirides  gemmas  collo  circumdedit  et  cum 
auribus  extentis  magnos  commisit  elencbos. 
intolerabilins  nihil  est  quam  femina  dives.  460 

interea  foeda  aspectu  ridendaqae  malto 
pane  turnet  facies  u.  s.  w. 

Hier  hat  der  Sinn-  und  Zusammenhangslosigkeit  des  interea  Madvig, 
welchem  0.  Jahn  und  0.  Ribheck  gefolgt  sind,  durch  Umstellung 
der  Verse  (464 — 466.  461  flf.)  abzuhelfen  gesucht.  Es  scheint 
mir  aber  dass  hiergegen  K.  Fr.  Hermann  (p.  XXVI  seiner  Aus- 
gabe) mit  Recht  eingewandt  hat  dass  Iota  cute  (464)  das  Voraus- 
gehen der  in  v.  461  ff.  beschriebenen  Toilettenkunste  nothwendig 
mache,  sowie  dass  die  Erwähnung  des  moechus  (464),  welche 
nur  durch  den  Gegensatz  zum  maritus  veranlasst  ist,  unmittelbar 
nach  V.  460  unmotiviert  wäre.  Durch  die  Streichung  des  viel 
citierten  und  wenig  befolgten  Verses  460,  wie  sie  Paldamus  vor- 
schlägt, wird  zwar  dem  Dichter  ein  berühmter  und  tadelloser 
Vers  geraubt,  in  der  Hauptsache  aber  nichts  gebessert.  Und  doch 
kann  ebenso  wenig  der  handschriftliche  Bestand  richtig  sein, 
wegen  des  interea.  Ich  vermute  dass  der  ähnliche  Anfang  der 
beiden  Verse  intolerabilins  u.  s.  w.  und  interea  u.  s.  w.  den 
Ausfall  einiger  dazwischen  liegenden  Verse  herbeigeführt  hat, 
worin,  die  Unleidlichkeit  einer  solchen  reichen  und  desshalb  an- 
spruchsvollen Frau  und  ihr  ewiges  Keifen  mit  ihrem  Manne  kurz 
ausgeführt  war,  worauf  sich  dann  interea  bezog:  während  sie  aber 
so  ihrem  Manne  das  Leben  sauer  macht  bietet  sie  ihm  selbst 
gar  nichts;  nur  für  ihren  Buhlen  hat  sie  Reize,  der  Mann  be- 
kommt sie  nur  in  abschreckender  Gestalt  zu  sehen. 

In  der  berüchtigten. neunten  Satire,  welche  bekanntlich  die 
Form  eines  Zwiegesprächs  zwischen  Naevolus  und  einem  Interlocutor 
hat,  —  als  welchen  man  den  Satiriker  selbst  bezeichnen  mag, 
obwohl  kein  bestimmter  Zug  dazu  nölhigt  und  nur  die  Motivierung 
des  NichtStillschweigens  es  empfiehlt,  —  stellt  Naevolus,  nach  Mit- 
theilung seiner  schmutzigen  Geheimnisse,  an  den  Gegenredner 
das  Ansinnen,  er  solle  über  das  Mitgetheilte  Stillschweigen  be- 
obachten. Der  Gegenredner  lehnt  aber  dieses  Ansinnen  ab,  indem 
ja  jedenfalls,  auch  wenn  er  selbst  schweigen  würde,  die  Sache 
an   den  Tag  käme,   wenn  nicht  auf  anderem  Wege,   so  unfehl- 


432  JuTenalis. 

bar  durch  die  Sklaren  des  reichen  Lüstlings,  für  die  es  ein  be- 
sonderer Geuuss  sei  die  Geheimnisse  ihrer  Herrschaft  auszuplaudern. 
Darauf  wird  diese  Erörterung  abgeschlossen  durch  die  sechs  Verse 
(118—123): 

vivendum  recte  est,  cam  propter  plarima,  tum  vel 
idcirco  at  possis  ling^am  contemnere  servi. 
praecipae  cave  eis  at  lin^as  mancipioram 
contemnas;  nam  lingua  mali  pars  pessima  servi. 
deterior  turnen  bic  qui  Über  non  erit  illis 
qaoram  animas  et  farre  sao  cnstodit  et  aere*). 

Dass  wir  auch  hier  zweierlei  Fassungen  neben  einander  haben, 
dafür  kann  ich  mich  diessmal  auf  die  Schrift  Qber  den  echten 
und  unechten  Juvenal  berufen,  wo  S.  112  in  den  Worten  ,,zwei 
parallele  Versuche  denselben  [?]  Gedanken  auszudrücken"  erkannt 
sind.  Und  wahrlich,  linguas  contemnere  servi  und  linguas  maa- 
cipiorum  contemnas  unmittelbar  neben  einander  sind  Fingerzeige 
welche  schwer  zu  übersehen  sind  und  von  jeher  Scrupel  erregt 
haben.  Noch  unzweifelhafter  wird  jener  Sachverhalt  wenn  wir 
den  genaueren  Inhalt  der  Verse  und  ihr  Verhältniss  zu  einander 
und  zum  Folgenden  ins  Auge  fassen.  Die  sechs  Verse  zerfallen 
unverkennbar  in  zwei  Theile ,  wovon  der  erste  aus  den  zwei  ersten, 
der  zweite  aus  den  vier  letzten  Versen  besteht**).  Der  erste  Theil 
zieht  aus  den  dargelegten  Thatsachen  die  Lehre  dass  man  also 
recte  vivere  müsse,  schon  aus  dem  Grunde  damit  man  sich  über 
das  Gerede  seiner  Sklaven  hinwegsetzen  könne,  es  nicht  zu  scheuen 
brauche.  Der  zweite  Theil  warnt  davor  dass  man  über  das  Gerede 
der  Sklaven  sich  hinwegsetze,  es  damit  zu  leicht  nehme;  denn 
die  Zunge  sei  an  dem  schlimmen  Sklaven  das  Schlimmste.  Noch 
deterior  sei  freilich  der  Herr  selbst,  der  durch  seine  Schlechtig- 
keiten und  das  daraus  folgende  böse  Gewissen  von  seinen  efgenen 
Sklaven  abhängig,  der  Sklave  seiner  Sklaven  werde  und  sie  fort- 
während   fürchten    müsse.     Wenn    sonach    der    erste  Theil    das 


*)  Auf  sicherer  Emendation  beruht  hier  tum  vel  (statt  des  hand- 
schriftlichen tunc  est)  und  cave  sis  (statt  causis  der  Hds8.)t  n^m  hat 
der  Pith.  a  manu  secunda,  mit  den  meisten  Hdss.  der  interpolierten 
Classe,  statt  des  ursprünglichen  nee. 

**]  Dass  die  vier  Verse  zusammengehören  erhellt  aus  der  steigernden 
Beziehung  des  Comparativs  deterior  auf  das  vorhergehende  pars  pessima 
servi.  Schon  darum  ist  die  Streichung  von  v.  120  und  121  unmöglich, 
abgesehen  davon  dass  dadurch  überhaupt  aller  Zusammenhang  verloren 
gienge. 


Doppelte  Becension.   Sat.  IX.  433 

contemnere  linguas  servorum  als  Ziel  des  Strebeos  hinstellt,  der 
zweite  Theil  aber  vor  demselben  contemnere  linguas  servorum 
warnt,  so  bedarf  es  wohl  keiner  weitern  Beweisführung  dafür 
dass  die  beiden  Theile  einander  ausschiiessen  und  unmöglich 
derselben  Bearbeitung  angehören  können.  Desswegen  aber  alsbald 
von  „Produkten  von  zwei  oder  drei  verscbiedenen,  mit  einander 
wetteifernden  Verfassern "  oder  einem  „echten"  und  einem  „un- 
echten" Juvenal  zu  reden,  davon  haben  uns  hoffentlich  die  vorher 
gegebenen  Beispiele  entwöhnt.  Allerdings  ist  hier  ein  Wetteifer, 
aber  nicht  unter  verschiedenen  Personen,  sondern  innerhalb  des 
Dichters  selbst,  welcher  die  als  minder  glücklich  erkannte  Fassung 
durch  eine  bessere  zu  ersetzen  sich  angelegen  sein  Hess.  Welches 
ist  nun  aber  die  bessere  und  daher  ohne  Zweifel  vom  Dichter 
selbst  vorgezogene  und  spätere  Fassung?  Sicherlich  die  an  erster 
Stelle  stehende,  v.  1 18  und  119.  Dass  dem  so  sei  ergibt  sich  theils 
aus  der  prägnanten  Kürze  und  vollkommenen  Untadeligkeit  dieser 
Fassung,  theils  aus  v.  124,  theils  endlich  aus  der  Fehlerhaftigkeit 
der  gegenüberstehenden  Redaction.  In  v.  124  erwidert  nämlich 
Naevolus: 

utile  consilinm  modo,  sed  commune,  dedisti. 

Dieser  nützliche,  aber  zu  sehr  allgemeine  Rath  kann  nur  der  mit 
den  Worten  vivendum  est  recte*  gegebene  sein.  Das  Weitere 
enthält  zwar  auch  einen  Rath  (nämlich  cave  sis  contemnas  u.  s.  w.), 
und  zwar  einen  der  sich  allenfalls  auch  als  „nützlich"  bezeichnen 
lässt,  um  so  weniger  aber  als  „allgemein".  Wollte  hienach  der 
Dichter  selbst  sicherlich  seinen  Vers  124  unmittelbar  an  v.  119 
anschliessen,  so  erweisen  sich  v.  120  —  123  als  zum  Wegfall  ver- 
urteilt auch  durch  ihre  Mängel.  Dahin  gehört  gleich  praecipue. 
Nachdem  im  Vorhergehenden  eben  die  Gefährlichkeit  der  Sklaven- 
zungen dargelegt  war,  konnte  die  Warnung  vor  ihnen  nicht  mit 
praecipue  eingeführt  werden,  sondern  erforderte  eine  Folgerungs- 
partikel wie  idcirco,  das  vielleicht  von  dem  Dichter  ursprünglich 
hier  gesetzt  war,  aber  von  demjenigen  der  nach  dessen  Tode  die 
Schlussredaction  der  Satiren  besorgte  und  dem  wir  die  verschiedenen 
Doubletten  verdanken,  desswegen  weil  die  von  ihm  mitaufgenommene 
spätere  Fassung  das  gleiche  Wort  (in  v.  119)  hat,  in  praecipue 
abgeändert  wurde.  Auch  das  Schwanken  zwischen  nee  und  dem 
(sachlich  einzig  richtigen)  nam  darf  vielleicht  mitangeführt  werden. 
Sodann  das  undeutliche  und  unbehülfliche  deterior,  von  welchem 
nicht  klar  ist  was  es  heissen  soll.     Soll  es,   wie  der   sonstige 

Teuf  fei,  Studien.  28 


434  Juyenalis. 

Gebrauch  des  Wortes  (auch  bei  Juvenal,  s.  Sat.  II,  22:  infamis 
Varillus  erit;  quo  deterior  te?  X,  323:  sive  esl  haecOppia,  si?e 
CatuUa  deterior)  wahrscheinlich  machen  würde,  auf  die  innere 
Werthlosigkeit  sich  beziehen  und  eine  Steigerung  zii  malus  ser- 
vus  bilden,  so  passt  dazu  nicht  das  Folgende;  denn  die  Abhängig- 
keit in  welche  der  Herr  durch  sein  böses  Gewissen  den  eigenen 
Sklaven  gegenüber  geräth  sagt  nicht  über  Inneres  etwas  aus, 
sondern  über  die  äussere  Lage.  Bezieht  man  aber  desshalb 
deterior  auf  die  äussere  Lage,  so  widerstreitet  das  nicht  nur  dem 
Sprachgebrauch  sondern  stimmt  auch  nicht  zum  Vorhergehenden, 
wo  lingua  mall  pars  pessima  servi  die  innere  Nichtsnutzigkeit 
meint.  Das  richtige  Verhältniss  der  vier  Verse  wäre  folgendes. 
Auch  dem  Naevolus,  als  Theilhaber  jener  schmutzigen  Dinge,  ist 
zu  rathen  dass  er  das  Gerede  der  Sklaven  scheue;  schlimmer 
freilich  ist  in  dieser  Beziehung  deren  Herr  daran,  der,  trotzdem 
dass  sie  äusserlich  von  ihm  völlig  abhängig  sind ,  durch  sein  böses 
Gewissen  doch  innerlich  von  ihnen  abhängig  wird.  Dieses  Ver- 
hältniss ist  aber  höchst  unvollkommen  ausgeprägt.  Mangelhaft 
ist  ferner  animas  custodit  (statt  des  richtigen  alit  oder  paseit), 
sowie  über  illis,  welches  genau  genommen  subjective  Bedeutung 
hat  (frei  in  ihren  Augen),  während  die  Begründung  des  deterior 
einen  deutlich  objectiven  Ausdruck  erforderte.  Neben  diesen 
Mängeln  aber  ist  andererseits  anzuerkennen  dass  der  Inhalt  der 
vier  Verse  im  Ganzen  ein  unzweifelhaft  guter  und  treffender  ist 
und  dass  der  Gedanke  lingua  mali  pars  pessima  servi,  sowie  der 
Gegensatz  der  äussern  und  Innern  Abhängigkeit  vollen  BeifaU 
verdient.  Ich  sehe  daher  auch  hier  keinen  Grund  die  vier  Verse 
als  „des  Dichters  unwürdig"  zu  bezeichnen;  vielmehr  halte  ich 
sie  gleichfalls  für  ursprünglich  juvenaliscli ,  nur  aber  von  dem 
Satiriker  dazu  bestimmt  durch  die  bessern  zwei  Verse  118  und 
119  ersetzt  zu  werden.  Dass  die  vier  nichtsdestoweniger  gleichfalls 
auf  uns  gekommen  sind  war  sicherlich  nicht  des  Dichters  Wille. 


xvm. 

T  a  c  i  t  u  s. 


Emleitimg  zum  (Gespräch  über  die  Bedner*). 

Das  Gespräch  über  die  Redner  ist  eine  culturhistorisch  höchst 
merkwürdige  Schrift,  welche  auf  der  Grenzscheide  zweier  wesent- 
lich verschiedener  Weltanschauungen  steht,  der  des  republikanischen 
und  andererseits  des  kaiserlichen  Rom,  und  die  Eigenthumlichkeiten 
beider  nicht  blos  beschreibt  sondern  auch  im  eigenen  Geist  und 
Stile  widerspiegelt.  Die  Schrift  setzt  sich  die  Aufgabe,  die  That- 
sache  dass  dia  Gegenwart  in  Bezug  auf  die  wichtigste  Seite  des 
Lebens  und  der  Literatur,  die  fieredtsamkeit,  gegenüber  von  der 
Vergangenheit  tief  gesunken  sei  theils  zu  constatieren  theils  zu 
erklären.  Constatiert  wird  sie  dadurch  dass  für  die  gegentheilige 
Ansicht  nur  sophistische,  leicht  zu  widerlegende  Gründe  vorge- 
bracht werden  können^  von  denen  wiederholt  (Gap.  15.  16.  24) 
bemerkt  und  durch  den  betreffenden  Redner  selbst  stillschweigend 
zugegeben  wird  dass  sie  gar  nicht  ernstlich  gemeint  seien,  so 
dass  über  die  Thatsache  selbst  unter  den  Verständigen  und  Urteils- 
fähigen durchaus  keine  Meinungsverschiedenheit  herrsche.  Die 
Ursachen  der  Erscheinung  aber  wurzeln  nach  unserer  Schrift  so 
tief,  in  der  völligen  Umwälzung  welche  mit  den  politischen  und 
socialen  Verhältnissen,  der  Denkweise  und  dem  Leben  vor  sich 
gegangen  ist,  dass  von  einer  Aenderung  keine  Rede  mehr  sein 
kann.  Beredtaamkeit  und  Kaiserthum  verhalten  sich  zu  einander 
ausschliessend :  diess  ist  das  Schlussergebniss  unserer  Schrift,  ein- 
'gekleidet  (Cap.  41)  in  eine  scheinbar  harmlose  Vermittlung  der 
Gegensätze,  die  aber  in  Wahrheit  die  grösste  Schärfung  derselben 
ist.    Was  sich  aus  dieser  Sachlage  für  den  Einzelnen  ergibt  ist 


*)  Aus  den  Classikern  des  Alterthums  105  (Stuttgart  1858)  S.  16—24. 

28* 


436  TacituB. 

(lass  keiner  der  Lebenden  wirklich  ein  Redner  ist  oder  sich  — 
wofern  ihn  nicht  etwa  Eitelkeit  oder  Beschränktheit  verblendet  — 
für  einen  solchen  hält,  und  dass  unter  den  obwaltenden  Ver- 
hfiltnissen  kein  Einsichtiger  die  Beredtsamkeit  zu  seiner  Lebens^- 
aufgäbe  wählen  wird.  So  ist  die  Schrift  zugleich  ein  Programm 
der  schriftstellerischen  Thätigkeit  des  Tacitus  (vgl.  Roth's  Ueber- 
Setzung  S.  3 — 5),  und  zwar  in  ein^r  doppelten  Hinsicht,  in  Be- 
treff des  Dass  sowohl  als  des  Wie.  Die  Schrift  gibt  die  Grunde 
an  warum  Tacitus,  trotz  seiner  umfassenden  rednerischen  Studien 
und  Uebungen,  nicht  der  Laufbahn  des  Redners  sich  zugewendet, 
sondern  vielmehr  die  stille  Wirksamkeit  des  Gelehrten  und  Schrift- 
stellers vorgezogen  habe;  und  die  Grundanschauung  aller  Schriften 
des  Tacitus,  dass  seit  dem  Untergang  der  Republik  Rom  in  ste- 
tigem Verfalle  begriffen  sei,  wird  hier  nur  nach  einer  einzelnen, 
aber  besonders  tief  greifenden,  Seite  hin  dargelegt.  Indessen  so 
sehr  unsere  Schrift  sich  streckt  nach  der  besseren  Vergangenheit,  so 
sehnsüchtig  sie  zu  ihr  emporblickt,  so  kann  sie  doch  dem*  Ein- 
flüsse der  Gegenwart  sich  selber  nicht  entziehen.  Nicht  nur  dass 
sie  ihre  eigentliche  Ansicht  in  verhüllter,  indirecter  Weise  aus- 
spricht, sondern  sie  bringt  dem  Streben  interessant  und  pikant 
zu  sein  —  welches  sie  als  das  charakteristische  Symptom  der 
modernen  Beredtsamkeit  gegenüber  von  der  gesunden  Einfachheit 
und  Natürlichkeit  der  Alten  darstellt  —  selbst  auch  ihren  Zoll 
dar,  freilich  in  einer  Weise  mit  der  wir  nur  sehr  zufrieden  sein 
können.  Ebenso  ist  es  mit  dem  Stile.  Der  Verfasser  hat  sich  künst- 
lich in  die  alte  Schreibweise  hineingelesen,  er  kommt  frisch  her 
vom  Studium  der  rhetorischen  Schriften  des  Cicero  und  sucht 
deren  Fülle  und  Rundung  nachzubilden;  aber  er  thut  es  nicht 
immer  geschickt,  verfällt  statt  jener  Vorzüge  manchmal  in  Tauto- 
logie, Breite  und  Eintönigkeit,  verwickelt  sich  in  dem  ungewohnten 
Faltenwurfe  der  Perioden,  und  verräth  in  unzähligen  Wendungen 
und  Consiructionen  den  Schriftsteller  der  ersten  Kaiserzeit.  Auch 
in  den  andern  taciteischen  Schriften  gewahren  wir  ein  Fortwirken 
der  vorzugsweise  aus  classischen  Quellen  geschöpften  rednerischen 
Bildung  ihres  Verfassers,  jedoch  in  abnehmendem  Masse  und  nie- 
mals wieder  so  ausgedehnt  wie  in  unserm  Dialog;  bis  dann  die* 
specifische  Eigenthümlichkeit  des  Stiles  seiner  Zeit,  die  Z^rhacktheit 
und  epigrammatische  Verbissenheit,  in  seiner  letzten  Schrift,  den 
Jahrbüchern,  ausschliesslich  und  mit  grossartiger  Virtuosität  aus- 
geprägt wird. 


Einleitung  zum  Dialogus.  437 

Schon  nach  dem  Gesagtt^n  kann  kein  Zweifel  darüber  sein 
wie  wir  über  die  Frage  von  der  Urheberschaft  des  Tacitus 
denken.  In  der  That  kennen  wir  kaum  eine  schwerere  Verirrung 
des  Urteils  als  die  ßezweiflung  oder  Bestreitung  des  taciteischen 
Ursprunges  unserer  Schrift*),  und  wir  erblicken  darin  einen  ab- 
schreckenden  Beweis  auf  welche  Abwege  es  führt  wenn  man  bei 
einem  schriftstellerischen  Producte,  statt  in  dessen  Tiefe  einzu- 
dringen ,  vielmehr  an  der  Oberfläche  und  dem  Aeusserlichen  kleben 
bleibt.  Dass  ein  Unterschied  ist  zwischen  der  Darstellungsweise 
unserer  Schrift  und  den  übrigen  taciteischen  —  zumal  wenn  man 
vorzugsweise  die  Annalen  der  Vergleichung  zu  Grunde  legt  — 
kann  ein  Blinder  sehen;  aber  nur  ein  Solcher  kann  auch  die 
ganz  wesentlichen  und  charakteristischen  Punkte  der  Gleichheit 
und  Aehnlichkeit  verkennen,  und  nur  plumpes  Zutappen  kann  aus 
jenen  Difl'erenzen  auf  Verschiedenheit  des  Verfassers  schliessen, 
statt  sich  des  Glückes  zu  freuen  dass  uns  von  einem  denkwürdigen 
schriftstellerischen  Entwicklungsgange  die  beiden  Endglieder  wie 
die*  Mittelstufen  erhalten  sind.  Wenn  es  in  der  Natur  der  Sache 
liegt  dass  die  beiden  Schlussglieder  der  Reihe  —  also  hier  unser 
Dialog  und  die  Annalen  —  am  wenigsten  Berührungspunkte  mit 
einander  gemein  haben,  so  sind  dagegen  diese  zahlreich  mit  den 
in  der  Mitte  liegenden  Schriften,  Agricola,  Germania  und  Historieu, 
und  erstrecken  sich  nicht  blos  auf  Einzelheiten  des  Gedankens  und 
Ausdrucks  sondern  auch  auf  das  Rhetorische  und  Periodplogische 
wenn  auch  nicht  des  Ganzen,  so  doch  vieler  Theile.  Allen  diesen 
Schriften  aber,  vom  Dialogus  bis  zu  den  Annalen ,  gemeinsam  ist 
die  gleiche  Ansicht  vom  Leben  und  von  der  Zeit,  der  gleiche 
Adel  und  Ernst  der  Gesinnung,  derselbe  lialtungsvolle  Freimut, 
dieselbe  Schärfe  und  Feinheit  der  psychologischen  Beobachtung 
und  Schilderung.  Was  insbesondere  die  politische  Richtung  be- 
trifft so  spricht  sich  die  oben  bezeichnete  Grundanschauung  des 
Tacitus  namentlich  darin  aus  dass  die  Anerkennung  von  Personen 
und  Sachen  der  Gegenwart  gewöhnlich  nur  eine  bedingte ,  relative 
ist,  nur  in  so  weit  gültig  als  man  dieselben  nicht  mit  Früherem 
vergleicht.  Wie  Tac.  diess  im  Dialog  hinsichtlich  der  Beredtsamkeit 
thut  (Gap.  1.  36«  41),  so  im  Agricola  17  in  Betreff  der  Bezeichnung 
eines  Mannes  als  gross;  und  was  er  Dial.  13  den  Maternus  sagen 


*)  Vgl.  hierüber  auch   meine  Auseinandersetzung   in  Fleckeisen^s 
Jahrbüchern  LXXVIL  S.  285  f. 


438  Tacitua. 

lässt  sliiuint  aufs  Genaueste  überein  mit  dem  Redebruchstück 
Ann.  V,  6.  Ueberhaupt  ist  Maternus  offenbar  am  meisten  der 
Träger  der  eigenen  Gedanken  des  Tacitus:  wie  jener,  trotz 
aller  seiner  rednerischen  Gaben  und  Studien,  Ton  dem  in  der 
Gegenwart  hoffnungslosen  Felde  der  Beredtsamkeit  sich  zurückzieht 
zur  Poesie,  so  Tacitus  zur  Geschichtschreibung;  wie  jener  be- 
thätigt  auch  dieser  auf  dem  selbstgewählten  Gebiete  seinen  Frei- 
sinn, und  an  dem  Anstosse  welchen  Maternus  durch  seine  Poesien 
gab  wird  es  den  Schriften  des  Tacitus  wohl  auch  nicht  gefehlt 
haben.  Zudem  ist  der  Charakter  des  Maternus  offenbar  mit  der 
meisten  Liebe  gezeichnet.  Nur  seine  Reden  bieten  ein  concreteres 
Bild  seiner  Persönlichkeit.  Während  Aper  nur  im  Allgemeinen 
als  rabulistischer  Vertheidiger  einer  unhaltbaren  Sache  erscheint, 
Messala  als  abstracter  Bewunderer  der  alten  Zeit,  so  sehen  wir 
dagegen  in  Maternus  einen  Mann  der  eben  so  milde  in  der 
Form  wie  in  der  Sache  fest  ist,  immer  bereit  zur  neidlosesten 
Anerkennung  fremder  Vorzüge  und  bemüht  alles  was  Andere  ver- 
letzen könnte  fern  zu  halten;  mit  Freimut  Vorsicht  paarend  und 
bei  seiner  geistigen  Ueberlegenheit  wie  spielend  auf  der  Scheide- 
linie sich  bewegend  wo  man  nicht  weiss  ob  die  Rede  den  Ge- 
danken mehr  verhüllt  oder  andeutet;  immer  ruhigen,  gefassten 
Gemütes,  ein  lächelnder  Weiser,  aber  wo  es  seinen  heiligsten 
Interessen,  seiner  Unabhängigkeit  und  seiner  Poesie,  gilt  in  eine 
fast  schwärmerische  Begeisterung  gerathend,  welche  das  Gehobene 
seines  Ausdrucks  theilweise  bis  zu  rythmischem  Gange  und  förm- 
lichen Versen  steigert.  Er  ist  auch  dadurch  als  Hauptperson  und 
Mittelpunkt  herausgehoben  dass  es  sein  Haus  ist  in  welchem  die 
Unterredung  Statt  findet  und  der  Anlass  ein  Besuch  den  ihm  seine 
Freunde  M.  Aper,  Julius  Secundus  und  Messala  machen.  Die  Zeit 
in  welche  das  Gespräch  verlegt  wird  ist  nach  Gap.  17  das  sechste 
Regierungsjahr  des  Vespasian,  also  das  Jahr  828  d.  St.  oder 
75  n.  Chr.*),  und  der  Verfasser  will  damals  noch  ein  ganz  junger 
Mann  (iuvenis  admodum,  Cap.  1)  gewesen  sein,  was  gleichfalls 
zu  den  Altersverhältnissen  des  Tacitus  vollkommen  gut  stimmt. 

Die  Zweifel  an  dem  täciteischen  Ursprung  unserer  Schrift, 
an  sich   schon  sehr  wenig  berechtigt,   sind   vollends  zu  nahezu 


*)  Dass  in  diesem  Jahre  Eprius  Marcellus  (c.  ö.  8.  13]  nicht  in  Rom 
anwesend,  sondern  in  Asien  war  (Sauppe),  beweist  hiegegen  lediglich 
nichts.    Vgl.  auch  Classen,  Eos  I.  S.  4  f. 


Einleitung  zum  Dialogus.  439 

mutwilligen  geworden  seitdem  A.  G.  Lange  darauf  hingewiesen 
hat  dass  wir  für  die  Urheberschaft  des  Tacitus  ein  Zeugniss  haben 
wie  für  wenig  andere  Schriften  aus  dem  Alterthum ,  das  Zeugniss 
eines  Zeitgenossen  und  Freundes  und  in  einem  Briefe  an  —  Tacitus 
selbst.  Es  ist  diess  ein  kurzes  Schreiben  des  jüngeren  Plinius 
in  seiner  Briefsammlung  (IX,  10).  Dieses  hat  zu  seiner  Voraus- 
setzung einen  Brief  des  Tacitus  worin  dieser  den  Plinius,  an 
dessen  Bemerkung  in  einem  früheren  Briefe  (I,  6)  anknüpfend  — 
dass  Minerva  nicht  minder  in  den  Bergen  sich  finden  lasse  als 
.Diana  — ,  aufgefordert  hatte  wieder  einmal  beider  Göttinnen 
Dienst  zu  vereinigen.  Mit  Bezug  darauf  schreibt  nun  Plinius  an 
Tacitus  (IX,  10):  er  hätte  wohl  Lust  seiner  Mahnung  zu  folgen, 
aber  es  sei  im  Augenblicke  solcher  Mangel  an  jagdbaren  Thieren 
dass  es  unmöglich  sei.  Er  müsse  sich  daher  auf  den  Dienst  der 
Minerva  beschränken  .  .  .  „Und  so  ruhen  denn  die  Gedichte, 
von  denen  du  glaubst  dass  sie  in  Gehölzen  und  Hainen  am  besten 
gedeihen.''  Diess  bezieht  sich  ganz  offenbar  auf  die  Aeusserung 
in  der  Bede  des  Aper,  am  Schlüsse  von  Cap.  9,  so  wie  in  der 
des  Maternus,  zu  Anfang  von  Cap.  12;  und  dass  Plinius  kurzweg 
als  Ansicht  des  Tacitus  darstellt  was  dieser  seinen  Interlocutoren 
in  den  Mund  legt  ist  um  so  verzeihlicher  da  es  zweierlei  Personen 
sind  die  sich  so  äussern,  und  unter  diesen  Maternus,  von  welchem 
.  gewiss  dem  Plinius  am  wenigsten  entgieng  in  welcher  Beziehung 
er  zur  eigenen  Ansicht  des  Tacitus  stehe. 

Für  die  Frage  nach  ihrer  Abfassungszeit  bietet  unsere 
Schrift  nicht  viele  Anhaltspunkte  dar.  So  viel  ist  nach  ihrem 
sachlichen  und  stilistischen  Verhältniss  zu  den  übrigen  Schriften 
des  Tacitus  gewiss  dass  sie  die  früheste  derselben  sein  muss, 
verfasst  zu  einer  Zeit  wo  er  mit  seiner  rednerischen  Vorbildung 
zwar  bereits  fertig,  ja  vielleicht  sogar  als  Bedner  anerkannt  war, 
aber  auch  immer  mehr  in  sich  die  Erkenntniss  befestigte  dass  es 
in  der  Gegenwart  unräthlich,  ja  unmöglich  sei  die  Ausübung  der 
Beredtsamkeit  zum  ausschliessliclien  Lebensberuf  zu  machen  und 
daher  vielleicht  auch  schon  —  wie  man  nach  dem  Schlüsse  von 
Cap.  14  glauben  möchte  —  den  Entschluss  gefasst  hatte  als 
historischer  Schriftsteller  aufzutreten.  Zu  dem  gleichen  Ergebniss 
fuhren  auch  die  manchfachen  stilistischen  Unfertigkeiten ,  die  Enge 
des  Sprachschatzes,  welcher  gewisse  Ausdrücke  und  Wendungen  un- 
ermüdlich wiederholt  und  namentlich  im  Gebrauche  des  ipse 
peinlich  freigebig  ist,  die  tlieilweis  leere  Häufung  von  Synonymen, 


440  TacituB. 

und  80  manches  Gesuchte  und  Geschraubte  der  Diction:  Eigenheiieo 
welche  unsero  Dialog,  gegenüber  von  den  andern  Schriften  seines 
Verfassers,  als  eine  —  aber  wahrlich  glänzende  —  Erstlingsschrift 
des  Tacitus  bezeichnen  und  die  von  ihm  durch  weitere  Studien, 
Selbstkritili  und  Bemerliungen  Anderer  als  Mängel  erkannt  und 
in  seinen  späteren  Schriften  beseitigt  worden  sind.  Zu  einem 
concreteren  Datum  führt  uns  die  Art  wie  Messala  und  Malernus 
eingeführt  sind  und  welche  unter  der  Regierung  eines  Domitian 
die  Wirkung  einer  politischen  Denunciation  hätte  haben  können, 
wo  nicht  müssen.  Daher  muss  der  Dialog  entweder  zu  einer  Zeit 
verfasst  und  veröffentlicht  sein  wo  auch  diese  Beiden,  —  wie 
Aper  und  Julius  Secundus,  nach  Cap.  2  —  bereits  todt  waren, 
oder  in  einer  solchen  wo  jene  Wirkung  nicht  zu  fürchten  war. 
Nun  wissen  wir  von  Maternus  (denn  Messala's  Todesjahr  ist  nicht 
bekannt)  dass  er  im  zehnten  Regierungsjahre  des  Domitian,  91 
n.  Chr.  oder  844  d.  St.,  ein  Opfer  seines  Freimutes  wurde;  und 
wirklich  hätte  die  Annahme  viel  Empfehlendes  dass  Tacitus  nicht 
lange  darauf  den  Entschluss  gefasst  habe  den  Maternus  zu  einem 
der  Träger  seines  Gespräches  zu  machen,  um  ihm  ein  Denkmal 
zu  setzen  und  zu  zeigen  was  man  an  ihm  verloren  habe,  wie 
denn  die  Hartnäckigkeit  womit  Maternus  Cap.  3  darauf  beharrt 
seinen  Gedichten  eine  oppositionelle  Tendenz  zu  geben  darauf 
berechnet  scheinen  könnte  seine  spätere  Todesursache  vorausahnen 
zu  lassen.  Weiter  müsste  man  in  diesem  Falle  das  Gespräch  wie 
nach  91 ,  so  vor  das  Jahr  94  setzen ,  das  dreizehnte  des  Domitian, 
von  welchem  an  dieses  Kaisers  Blutdurst  und  Abscheulichkeit  sich 
erst  recht  entfaltete  und  es  Wahnsinn  gewesen  wäre  so  viel  Freimut 
als  unser  Dialog  bekundet  öffentlich  zur  Schau  zu  stellen.  Ebenso 
vor  dem  August  93,  wo  Agricola  den  Tod  fand,  also  ins  Jahr 
92  n.  Chr.  Aber  in  diesem  war  Tacitus  von  Rom  abwesend, 
bekleidete  sogar  wahrscheinlich  eine  amtliche  Stellung.  Ist  damit 
auch  noch  nicht  Alles  entschieden  —  denn  in  der  Atmosphäre 
der  Hauptstadt  konnte  ein  so  freisinniges  Werk  damals  gar  m'cht 
entstehen,  und  das  Amt  konnte  zu  literarischer  Thätigkeit  Zeit 
und  Stimmung  übrig  lassen  — ,  so  zeigt  doch  Agr.  2  und  3  dass 
Tacitus  unter  Domitian  überhaupt  sich  selbst  zu  völligem  Still- 
schweigen —  also  auch  literarischem  —  verurteilte;  überdiess 
wäre  im  Jahr  92  Tacitus  zu  alt  für  die  Art  des  Dialogus,  und 
dessen  Abfassungszeit  zu  wenig  getrennt  von  der  der  übrigen 
Schriften.     Entscheiden  wir  uns  also  für  die  andere  Seite  der 


Einleitung  zum  Dialogus.  441 

Alternative,  die  Abfassung  unter  einem  milden  Regenten,  so  bieten 
sich  uns  nicht  nur  die  letzten  Jahre  Vespasians  dar  (f  23  Juni 
79  ==  832),  sondern  auch  die  kurze  Regierung  des  Titus  (f  13  Sep- 
tember 81  =  834),  ja  auch  die  ersten  Jahre  des  Domitian,  der 
Anfangs  ein  ganz  leidlicher  Regent  war.  Und  da  die  Objectivitat 
womit  der  Verfasser  von  der  Altersstufe  spricht  auf  der  er  sich 
im  Jahr  75  befand  (s.  Cap.  1)  darauf  hindeutet  dass  zwischen 
diesem  Jahre  und  der  Abfassungszeit  unseres  Dialogs  ein  ziemlicher 
Abstand  ist,  so  hat  die  Datierung  aus  dem  Anfange  von  Domitians 
Regierung  noch  die  meiste  Wahrscheinlichkeit.  Ein  Grund  aber 
die  Herausgabe  von  der  Abfassung  zu  trennen  und  erstere  wesent- 
lich spater  zu  setzen  als  diese  —  scheint  nicht  vorhanden;  wohl 
aber  lässt  sich  hiegegen  einwenden  dass  in  einem  solchen  Falle 
der  Verfasser  in  Urteil  und  Stil  gewiss  nachträglich  Manches  ge- 
ändert hätte,  und  überhaupt  die  äussere  Aehnlichkeit  mit  den 
andern  taciteischen  Schriften  dann  wohl  noch  grösser  wäre.  Auch 
kennt  Quintilian  (I.  0.  X,  3,  22)  diesen  Dialog  bereits  und  pole- 
misiert gegen  eine  Behauptung  desselben,  die  gleiche  welche 
auch  Plinius  am  oben  (S.  439)  angeführten  Orte  berührt. 

Die  Gestalt  in  welcher  der  Dialog  auf  uns  gekommen  ist  eine 
lückenhafte:  am  Schlüsse  von  Cap.  35  fehlt  ein  bedeutendes 
Stück.  Dass  alle  uns  bekannten  Handschriften  —  und  nur  Hand- 
schriften der  taciteischen  Werke  sind  es  die  uns  denselben  bieten 
—  genau  die  gleiche  Lücke  haben  ist  ein  Zeichen  dass  sie  alle 
aus  derselben  Urhandschrift  stammen.  Der  Titel  *  unter  dem  sie 
unsere  Schrift  geben  ist  dialogus  de  oratoribus;  eine  erweitert 
diesen  dahin:  de  oratoribus  suis  et  antiquis  comparatis.  Dagegen 
der  Zusatz  de  caussis  corruptae  eloquentiae  rührt  erst  von  neu- 
eren Herausgebern  her. 


XIX. 


M.  Valerius  Probus*). 


Das  Buch  von  J.  Steup,  de  Probis  grammaticis  (Jena  1871), 
hat  das  erbebliche  Verdienst  das  Verhältniss  zwischen  den  Catholica 
des  Probus  und  Buch  II  der  Ars  des  Sacerdos  sorgfältig  erörtert 
und,  wie  ich  denke,  endgültig  festgestellt  zu  haben.  Dm  so 
weniger  aber  kann  ich  ihm  beistimmen  in  demjenigen  was  nächst- 
dem  das  Charakteristische  desselben  ausmacht  und  wozu  eben 
nach  jenem  andern  Ergebniss  nun  vollends  kein  Anlass  mehr  vor- 
liegt, in  seiner  Unterscheidung  zwischen  einem  älteren  und  einem 
jüngeren  Probus**).  Nach  Steup  gäbe  es  nämlich  ausser  dem 
bekannten  M.  Valerius  Probus  aus  Berytos  bei  Sueton,  fast  in 
derselben  Zeit,  nur  etwas  jünger,  einen  zweiten,  noch  angeseheneren 
Grammatiker  des  Namens  Valerius  Probus,  Sohn  oder  Neffe  des 
Berytiers,  welcher  jüngere  Probus  bei  Martialis  und  bei  Gellius 
gemeint  sei.  Die  Beweise  für  diese  schon  an  sich  sehr  wenig 
wahrscheinliche  Behauptung  sind  freilich  überaus  schadhaft.  Für 
Martialis  ist  die  Beweisführung  sehr  einfach.  Nachdem  Steup 
Suetons  Worte  über  den  Berytier  „multa  exemplaria  contracta 
emendare  ac  distinguere  et  adnotare  curavit,  soll  huic  nee  ulli 
praeterea  grammaticae  parti  deditus"  so  eng  ausgelegt  hat  dass 
als  einzige  grammatische  Thätigkeit  desselben  das  Verfassen  von 
Textausgaben  mit  kritischen  Zeichen  erscheint,  so  bleibt  für 
literarische   Würdigung    der   Schriftsteller    durch    ihn,    wie    sie 


•)  Aus  dem  Rhein.  Mus.  XXVI.  S.  489  ff. 

**)  Von  seinem  Probus  minor  (bei  Martial  und  Gellius)  unterscheidet 
Steup  dann  einen  Probus  recentior,  artigraphus,  aus  dem  Anfang  von 
saec.  IV,  Verfasser  der  Ars  vaticana.  Dass  dieser  der  Probus  war  an 
welchen  als  seinen  Gönner  Lactantius  Schriften  richtete  (RLG.  374,  2) 
ist  möglich,  aber  nicht  sehr  wahrscheinUch. 


M.  Valerius  Probus.  443 

Martials  Worte  an  sein  Buch  (illo  vindice  nee  Probum  timeto) 
voraussetzen,  kein  Raum  mehr  übrig.  So  gelangen  wir  auf 
kürzestem  und  bequemstem  Wege  zu  dem  kategorischen  Ergebnisse : 
itaque  Martialis  locus  ad  aiium  Probum  pertineat  necesse  est 
(p.  68).  Aber  auch  wenn  jene  enge  Auslegung  des  adnotare 
richtig  wäre  (was  sie  nach  meiner  Meinung  nicht  ist) ,  so  könnte 
und  müsste  trotzdem  die  Stelle  auf  den  Berytier  bezogen  werden, 
da  in  ihr  Probus  im  Allgemeinen  als  strenger  Beurteiler  von 
literarischen  Erzeugnissen  bezeichnet  ist,  als  welcher  er  sich 
durch  mundliche  Vorträge  oder  sogar  private  Aeusserungen  ebenso 
gut  bethätigt  haben  konnte  wie  durch  veröffentlichte  Schriften. 
Etwas  längere  Erörterung  erfordert  Gellius.  Dass  seine  testi- 
monia  omnia  ad  Probum  minorem  sunt  referenda  primum  ex 
temporum  rationibus  efficitur  (p.  72).  Denn  der  Berytier  blühte 
nach  Hieronymus  im  J.  56,  und  Gellius,  welcher  vix  ante  annum 
p.  Chr.  120  videtur  natus  esse  (p.  77),  kann  daher  als  adulescens 
(und  adulescentulus)  nicht  familiaresT  von  ihm  gehört  haben ,  wie 
er  doch  wiederholt  versichert  (s.  die  Stellen  in  meiner  RLG.  283, 
2  und  340,  1).  Hier  ist  aber  schon  die  Zahl  56  nicht  genau. 
Hieronymus  setzt  seine  Angabe  „Probus  Berytius  eruditissimus 
grammaticorum  Romae  agnoscitur"  ins  J.  2072  Abrahams,  der 
Amandlnus  sogar  erst  in  2073.  J.  2072  aber  entspricht,  da  0 
(das  Jahr  von  Christi  Geburt,  J.  751  d.  St.  nach  der  von  Hierony- 
mus befolgten  catonischen  Aera,  753  Varr.)=  2014  Abr.,  vielmehr 
dem  J.  58  n.  Chr.  oder  811  d.  St.  nach  der  varronischen  Aera, 
2073  also  dem  J.  59  =  812.  Wie  willkürlich  sodann  Hieronymus 
seine  Notizen  unter  die  Jahreszahlen  zu  vertheilen  pflegt  ist  durch 
Ritschi  hinreichend  nachgewiesen;  und  wenn  Hr.  Steup  zur  Recht- 
fertigung jenes  Ansatzes  umständlich  darzulegen  sucht  dass  wirklich 
im  J.  56  zu  Rom  schon  antiquorum  memoria  omnino  abolita  war, 
dagegen  zu  Berytos  (vielmehr  in  provincia)  adhuc  dnravit  (Suet.), 
so  will  das  sehr  wenig  besagen,  da  es  mit  demselben  Rechte  von 
einem  halben  Hundert  anderer  Jahre  behauptet  werden  könnte. 
Daher  eignet  sich  jener  Ansatz  nicht  zum  Ausgangspunkt  einer 
ernsthaften  Beweisführung,  obwohl  es  ganz  wohl  möglich  ist  dass 
J.  56  (58)  Probus  gegen  40  Jahre  alt  war.  Halten  wir  uns  also 
lieber  daran  dass  zur  Zeit  der  Abfassung  von  Martials  drittem 
Buche,  J.  87  —  88,  Probus  noch  am  Leben  war  (denn  sonst 
müsste  Martial  timeres  sagen  statt  ümeto).  Dürfen  wir  hiernach 
seinen  Tod  nicht  wohl  vor  J.  90  setzen,  so  können  wir  uns  alle 


444  M.  ValeriuB  Probus 

übrigen  Annabmen  Steups,  obwohl  sie  keineswegs  fest  und  sicher 
sind,  ganz  wohl  gefallen  lassen,  ohne  doch  seine  Folgerung  zu 
billigen.     Nur  so  viel  müssen   wir  uns   ausbedingen  dass  unter 
den   familiäres   des  Probus,    von  welchen   Getlius  Mittheilungen 
über  grammatische  Erörterungen  des  Probus  erhielt,  der  Wort* 
bedeutung  gemäss  und  entsprechend  der  Angabe  des  Sueton  „  non 
tarn   discipulos   quam    sectatores   aliquot   habuit'-'  (Probus)     etc., 
vorzugsweise  jüngere  Freunde,   also  was  Gellius  selbst  anderswo 
(IX,  9,   12)  discipuii  nennt,  verstanden  werden  dürfen.     Lebte 
nämlich  Probus  noch  im  J.  90,  so  konnten  unter  diesen  jüngeren 
Freunden   auch   Zwanzigjährige   sein,  somit  im  J.  70  Geborene. 
Solche  standen  dann  im  J.  136,  als  Gellius  *adulescens  war,   erst 
im  66sten  Lebensjahre,  konnten  somit  ganz  wohl  von  ihm  gehört 
werden.     Sogar  noch  um  10  weitere  Jahre  lässt  sich  diess  ohne 
Gefahr  hinauserstrecken.   Einer  dieser  Freunde  und  Zuhörer  des 
ProbUs  war  z.  B.  der  ungefähre  Altersgenosse  Hadrlans  (geb.  J.  76), 
der  Dichter  Annianus  (RLG.  831,  3),  welcher  se  andiente  Probum 
grammaticum  hos  versus  .  .  legisse  dicit  (Gell.  VI,  7,  3).     Der 
bei  Gellius  I,  15,  18  erwähnte  familiaris  wird  sogar  ausdrücklich 
in  die  letzten  Lebensjahre  des  Probus  gesetzt.    Die  Zeitrechnung 
also  ist  weit  davon   entfernt  die  Identität  des  suetonischen  und 
des  gellischen  Probus  unmöglich  zu  machen.   Zweiter  Grund  gegen 
diese  Identität:  Probi  grammatici  commentarius  satis  curiose  factus 
über  die  Geheimschrift  in  Caesars  Briefen  (Gell.  XVII,  9,  5)  non 
videtur  congruere  cum  eis  quae  Suetonius  de  Probi  Berytii  scriptis 
tradidit  (Steup  p.  78).    Sagen  wir:  cum  eis  quae  Steupius  de  Pr. 
B.  scriptis  statuit,   so  werden  wir  der  Wahrheit  näher  kommen; 
denn  dass  eine  Abhandlung  über  einen  so  speciellen  Gegenstand 
zu  den  pauca  et  exigua  welche  Probus  nach  Sueton  de  quibusdam 
minutis   quaestiunculls  edidil  nicht  gezählt  werden   könne  wird 
schwerlich  sonst  Jemand  behaupten,  so  wenig  als  dass  diese  Worte 
Suetons  eine  Missachtung  (contemnere)  enthalten ,  während  sie  doch 
nur  den  Contrast  zwischen  dem  Wissen  des  Probus  und  seiner 
Schriftstellerei   ausdrücken.     Noch   unerheblicher  sind    die  Ein- 
wendungen (p.  78),  die  Stellen  des  Gellius  I,  15,  18  (Valerium 
Probum  grammaticum  inlustrem  ex  familiär!  eius,  docto  viro,  com- 
peri  Sallustianum  illud  . .  brevi  antequam  vita  decederet  sie  legere 
coepisse  et  sie  a  SaUustio  relictum  affirmavisse)  und  XIII ,  21 ,  9 
(Probus  .  .  hominem  dimisit,    ut  mos  eius  fuit  erga  indociles, 
prope  inclementer)  seien  nicht  recht  (parum)  vereinbar  mit  dem 


bei  Martialis  und  Gellius.  445 

was  Sueton  über  die  eingeschränkte  Wirksamkeit  des  Probus  Beryt. 
als  Lehrer  berichte  (numquam  ita  docuit  ut  magistri  personam 
sustineret).  Sehr  wenig  berechtigt  ist  nach  einer  solchen  Beweis- 
führung die  Behauptung:  itaque  Valerius  Probus  Gellianus  non 
potest  esse  Berjtius  (p,  78).  Um  so  schwerer  fällt  gegen  Steups 
Ansicht  ins  Gewicht  die  Thatsache  dass  Gellius  niemals  zwei 
Grammatiker  des  Namens  Valerius  Probus  unterscheidet,  sondern 
immer  nur  von  einem  spricht  uq4  diesen  als  doctus  homo  be- 
zeichnet, als  grammaticus  inlustris,  grammaticus  inter  suam 
aetatem  praestanti  scientia  (RLG.  ^3,  1),  also  ganz  so  wie  Hie- 
ronymus  (d.  h.  Suetonius)  den  Berytius  eruditissimus  grammaticorum 
(oder  grammaticus).  Sehr  unzureichend  ist  die  Art  wie  p.  79 
diese  bedeutungsvolle  Thatsache  unschädlich  gemacht  werden  will, 
durch  die  Bemerkung  dass  der  vorausgesetzte  Probus  minor  propius 
accessit  ad  Gelli  ipsius  aetatem  (als  ob  weiter  zurück  der  Blick 
des  Gellius  nicht  gereicht  hätte!)  und  durch  die  Vermutung, 
maiorem  famam  videtur  adeptus  esse  (dieser  problematische  minor) 
quam  maior  (der  eruditissimus  1).  Uebrigens ,  bemerkt  Steup ,  werden 
auch  andere  berühmte  Grammatiker  der  Vergangenheit,  wie  Ae- 
milius  Asper  und  Remmius  Palaemo,  von  Gellius  nie  genannt 
(was  doch  etwas  Anderes  ist  al$  Nichtunterscheidung  zweier  ein- 
ander zeitlich  ganz  nahestehender  berühmter  Männer  desselben 
Namens  und  desselben  Faches),  neque  ex  eis  locis  ubi  Pliqius 
maior  commemoratur  quisquam  possit  efficere  fuisse  Plinium 
maiorem  (p.  79),  —wobei  übersehen  ist  dass  eine  Verwechslung 
durch  das  Citieren  der  betreffenden  Schrift  (in  libris  n.  h.)  un- 
möglich gemacht  war.  Was  endlich  die  zwei  Stellen  betrifft 
(Schol.  Veron.  ad  Aen.  IX,  373  und  Serv.  Aen.  X,  539)  wo  Probus 
nach  Asper  genannt  ist  und  welche  desswegen  angeblich  auf  den 
fingierten  jüngeren  Probus  bezogen  werden  müssen  (Steup  p.  69), 
so  müsste  —  wie  ich  schon  RLG.  310,  3  angedeutet  habe  — 
zuerst  bewiesen  werden  dass  die  dortige  Aufeinanderfolge  nur 
die  zeitliche  sei  und  sein  könne,  was  nimmermehr  gelingen  wird. 
Bleiben  wir  qIso  gutes  Mutes  dabei  dass  der  Valerius  Probus 
bei  Martialis  und  Gellius  derselbe  ist  wie  bei  Suetonius. 


XX. 

Lukian's  Jovxiog  und  Apulejus'  Metamorphosen*), 


243  Die  den  beiden  Schriften  gemeinsame  Handlung  ist  folgende. 

Ein  junger  Grieche  ron  gutem  Hause,  Namens  Lukios,  aus  Paträ 
(so  Lukian;  Apulejus  I,  1  verschwommen :  Hymettos  altica  et 
Isthmos  eiihyraea  et  Taeuaros  sparliaca  .  .  .  mea  vetus  prosapia 
est,  woneben  er  mütterlicherseits  aus  Thessalien  stammen  will  I,  2; 
dagegen  H,  12:  Corinthi  apud  nos),  welchen  der  Förwitz  plagt, 
macht  eine  Reise  nach  Thessalien.  Dort  kehrt  er  in  dem  Hause 
eines  Gastfreunds  (In^aQxog^  Hilon)  ein,  dessen  Frau  (Pamphile) 
sich  auf  Zauberei  Tersteht  Durch  Vermittlung  ihrer  Magd  {Ila- 
Xai6XQa,  Fotis),  mit  welcher  Lukios  sehr  intim  wird,  erhält  diesei* 
Gelegenheit  luzusehen  wie  sich  die  Frau  in  einen  Vogel  ver- 
wandelt, uud  will  diess  nachmachen ;  aber  die  Magd  vergreift  sidi 
in  der  Büchse,  und  Lukios  sieht  sich  vielmehr  in  einen  Esel  ver- 
wandelt, erfihrt  jedoch  zugleich  dass  er  durch  das  Geniessen  von 
Rosen  sich  in  seine  menschliche  Gestalt  zurückverwandeln  könne» 
behilt  auch  sein  menschliches  Bewusstsein  vollsländig;  aber  die 
menschliche  Sprache  ist  ihm  versagt  Das  Weitere  ist  nun  die 
Geschichte  seiner  Erlebnisse  als  Esel,  sowie  seiner  Rückverwand- 
lung. Zunächst  begibt  er  sich,  da  Rosen  nicht  zur  Hand  sind, 
in  den  Stall,  findet  aber  bei  dessen  älteren  Bewohnern  eine  wenig 
freundliche  Aufnahme.  Noch  in  derselben  Nacht  brechen  Räuber  im 
Hause  ein,  laden  die  Beute  ihm  auf  und  treiben  ihn  ins  Gebirge.  Auf 
dem  Wege  dahin  und  weiter  in  der  Räuberherberge  macht  er 
allerlei  schmerzliche  Erfahrungen,  in  Folge  deren  er  auf  Wider- 
stand Verzicht  leistet  und  sich  bis  auf  Weiteres  in  sein  Loos  er- 
gibt.    Eine  zweite  Bande  der  Räuber  stösst  zur  ersten  und  bringt 


*)  Aus  dem  Rhein.  Mas.  XIX.  S.  243  -  254. 


Lukian  und  Apulejus.  447 

als  Gefangene  eine  Braut  ein.  Ein  Fluchtversuch  mit  dieser  miss- 
lingt;  durch  die  Bemühungen  ihres  Bräutigams  werden  aber  die 
Räuber  festgenommen,  und  der  Esel  darf  an  ihrem  Einzüge  in 
die  Heimat  Theil  nehmen«  Um  ihm  Gutes  zu  thun  gibt  man  244 
ihn  auf  das  Land,  wo  er  aber  vielmehr  arge  Misshandiungen  er- 
fährt, besonders  durch  einen  bösartigen  Jungen.  Zuletzt  droht 
ihm  gar  noch  Castration :  davor  rettet  ihn  der  Tod  der  Herrschaft, 
in  Folge  dessen  auf  dem  Gute  Alles  auseinanderläuft  und  er  an 
einen  Bettelpriester  der  syrischen  Göttin  verhandelt  wird.  Da  er 
aber  durch  sein  entrüstetes  Schreien  die  Entdeckung  ihrer  Schänd- 
lichkeiten herbeiführt,  wird  er  an  einen  Müller  verkauft  und  von 
diesem  weiter  an  einen  armen  Gemüsehändler.  Letzterer  geräth 
in  Conflict  mit  einem  Offizier.  Dessen  Rache  fürchtend  flüchtet 
sich  sein  Herr  in  einen  Versteck,  wird  aber  durch  die  unzeitige 
Neugierde  seines  Esels  verrathen.  Sein' neuer  Herr,  dieser  Offizier, 
gibt  ihn  bald  an  zwei  Brüder  ab,  welche  Sklaven  eines  reichen 
Mannes  sind  und  dessen  Küche  und  Bäckereien  besorgen.  Diesen 
frisst  er  den  Abtrag  weg;  wie  seine  wunderbare  Naschhaftigkeit  an 
den  Tag  kommt,  wird  er  einem  Freigelassenen  zu  weiterer  Aus- 
bildung seiner  Talente  übergeben.  Auch  eine  hübsche  Dame 
verliebt  sich  in  das  Wunderthier  und  hat  mit  ihm  zärtliche  Zu- 
sammenkünfte. Seine  Anstelligkeit  in  letzterer  Hinsicht  beschliesst 
sein  Herr  auf  der  Bühne  an  einer  zum  Tode  verurteilten  Weibs- 
person öfi'entlich  zu  zeigen.  Dem  entzieht  sich  aber  der  Mensch- 
Esel  durch  seine  Rückverwandlung.  Letztere  wird  bei  Lukian 
einfach  dadurch  bewirkt  dass  der  Esel  von  der  Bühne  aus  einen 
Menschen  mit  Rosen  erblickt,  auf  diesen  losstürzt,  durch  sie  wieder 
zum  Lucius  wird,  als  solcher  beim  Archon  und  bei  seinem  Bruder 
Anerkennung  findet  und  sich  mit  diesem  in  seine  Heimat  begibt, 
nachdem  er  zuvor  von  der  Frau  bei  der  er  als  Esel  so  grossen 
Beifall  gefunden  hatte,  jetzt  als  Mensch  „nach  Verminderung 
seiner  Reize",  mit  Spott  und  Schande  aus  dem  Hause  gejagt 
worden  ist.  Dagegen  bei  Apulejus  rennt  der  Jlsel  aus  dem  Theater 
von  Korinth  weg  bis  nach  Kenchreä,  und  richtet  hier  ein  Gebet 
an  die  Isis;  diese  erscheint  ihm  und  heisst  ihn  am  folgenden 
Tage,  bei  ihrer  Procession,  ihrem  Priester  den  Rosenkranz  aus 
der  Hand  fressen,  was  geschieht  und  ihn  nicht  blos  wieder  zum 
Menschen,  sondern  zugleich  zu  einem  glühenden  Verehrer  der 
Isis  und  weiterhin  des  Osiris  macht,  in  deren  Geheimnisse  er 
dann  dort  und  weiterhin  in  Rom  eingeweiht  wird. 


448  Lnkian  and  ApnlejoB. 

Mit  Ausnahme    dieses  Schlusses  ist  die  Haupthandlang  bei 

245  Lukian  und  Apuiejus  vollkoramen  gleich:  die  einzelnen  Scenen 
folgen  auf  einander  in  der  gleichen  Ordnung,  und  die  Ausführung 
derselben  stimmt  meist  wörtlich  zusammen.  Nur  die  Namen  sind 
grösstentheils  andere.  Zwar  der  Hauptheid  heisst  beiderseits  Lucius  t 
ausser  ihm  ist  aber  nur  der  Name  des  Philebus  (Luk.  36  =  Ap.  VUf, 
35  extr.)  übereinstimmend,  wogegen  z.  B.  Burraena  "Aßgoia 
heisst,  MsviK^g  (Luk.  49)  Thiasus  (Ap.  X.  18),  ^sxQiavog 
(Luk.  2)  Demeas  (Ap.  I,  22.  26).  Ebenso  ist  die  Charakter- 
zeichnung auf  beiden  Seiten  die  gleiche,  bis  auf  kleine  Zuge 
hinaus,  wie  dass  das  Verhältniss  zwischen  Lucius  und  Pa- 
lästra  in  der  Küche  mit  Bewunderung  der  Gelenkigkeit  ihrer 
Hüften  seinen  Anfang  nimmt.  Dagegen  ist  das  ?on  Lukian  Er- 
zählte bei  Apulejus  theils  kürzer  theils  ausführlicher  behandelt, 
in  einzelnen  Beziehungen  auch  abgeändert.  Abgekürzt  hat  Apulejus 
einige  Gespräche,  namentlich  die  zwischen  Lucius  und  Palästra 
(Luk.  6  und  besonders  die  palästrischen  Zweideutigkeiten,  8  ET.), 
wie  die  römischen  Dramatiker  die  dialogischen  Partieen  ihrer 
griechischen  Vorbilder  zu  kürzen  pflegen.  Weit  grösser  aber  ist 
der  Betrag  dessen  was  Apulejus  hinzugefügt  hat.  Unter  diesen 
Zuthaten  unterscheiden  wir  zweierlei  Arten:  rein  quantitative, 
welche  mit  dem  eigentlichen  Stoffe  in  keinem  Zusammenhang  stehen, 
und  andererseits  solche  welche  zu  der  Haupthandiung  in  Be- 
ziehung gesetzt  sind  und  diese  theils  erweitern  theils  abändern. 
Rein  aggregativ  hinzugekommen  ist  bei  Apulejus  eine  Anzahl  von 
Spuk-,  Räuber-  und  Skandal -Geschichten,  sowie  die  Erzählung 
von  Amor  und  Psyche,  welche  alle  mit  der  Handlung  des  Romans 
nur  ganz  lose  zusammenhängen,  wie  z.  B.  die  bella  fabdla  von 
Amor  und  Psyche  durch  eine  deiira  et  temulenta  anieola  (VI,  25) 
im  Verstecke  der  Räuber  der  gefangenen  Braut  zu  deren  Unter- 
haltung erzählt  wird.  Von  diesen  Geschichten  enthalten  nur  die 
ins  erste  und  zweite  Buch  aufgenommenen  von  der  Hexe  Meroe  und 
die  von  Thelyphron  (H,  21)  Verwandlungen  und  könnten  daher 
aus  MstaiiOQq)ci6€LS  geschöpft  sein;  allenfalls  auch  der  Kampf 
mit  den  zwei  Schläuchen  in  Buch  Hl,  vermöge  seiner  zauber- 
haften Motiviei*ung,  sowie  die  Erzählung  von  Amor  und  Psyche 
wegen  ihres  phantastischen  Charakters,  ihres  Ineinanderspielens 
der  Wirklichkeit  und  der  Märchenwelt.  Dagegen  die  Räuberge- 
schichten von  Buch  IV  und  VII,  5  ff.,  der  Roman  in  VIH,  1  ff., 

246  die  Schmutzgeschichten  von  Buch  IX  und  X  sind  ohne  Zweifel 


Aowiig  und  Metamorph.  449 

anderen  Quellen  entnommen  (vgl.  I,  1:  varias  fabulas  conserere) 
und  jedenfalls  ohne  Berührungspunkte  mit  der  lukianischen  Er- 
zählung. Indessen  sind  einige  dieser  Erzählungen  dazu  verwendet 
um  Theile  der  eigentlichen  Handlung  zu  motivieren,  wie  die  Ge- 
fangennahme der  Räuber,  der  Tod  der  ihnen  abgejagten  jungen 
Frau,  welches  Beides  bei  Lukian  viel  kürzer  und  einfacher  er- 
zählt und  begründet  wird,  ohne  den  weiten  Umweg  des  Apulejus. 
Organischer  verknüpft  sind  Zuthaten  .wie  der  Versuch  auf  die 
Rosen  vor  dem  Eponabilde  im  Stall  (Ap.  III,  27),  die  Ausmalung 
der  Abenteuer  bei  der  Flucht  des  Gesindes  (Ap.  VIII,  16  CT.;  ganz 
kurz  bei  Luk.  34  f.),  die  Thätigkeit  der  Galli  (besonders  das 
Weissagen  per  sortes  IX  ^  8)  oder  die  Schilderung  der  theatra- 
lischen Aufführung  (bes.  die  pantomimische  Darstellung  des  Ur- 
teils von  Paris  X,  29  ff.).  Einzelnes  sieht  sogar  aus  als  wollte 
es  etwas  von  dem  Vorgänger  Vergessenes  nachtragen,  wie  VII,  1  f. 
die  Consequenz  aus  der  Gleichzeitigkeit  des  Räubereinbruchs  und 
des  Verschwindens  von  Lucius  gezogen  wird,  und  VII,  24  der 
thierquälerische  Junge  seine  Strafe  erhält,  was  Beides  bei  Lukian 
fehlt*  Zu  diesen  grösseren  Erweiterungen  kommen  ferner  kleinere 
hinzu,  nicht  immer  glücklich  angebracht,  wie  II,  4  die  umständ- 
liche Beschreibung  des  Hauses  der  Burraena,  oder  U,  8  f.  der 
Excurs  über  die  ästhetische  Wichtigkeit  des  Haars,  oder  X,  20 
die  überladene  Ausstattung  der  Oertlichkeit  wo  das  Rendezvous 
mit  der  liebeglühenden  Dame  vor  sich  geht  und  welches  der 
Esel  doch  selbst  als  cubiculum  meum  bezeichnet  (einfacher  und 
passender  Lukian  51).  Anderes  dient  dazu  die  Handlung  und  die 
Sprechweise  der  Handelnden  zu  romanisieren,  namentlich  tech- 
nische Wendungen  des  Privat-  und  Staats -Rechts,  wie  die  Er- 
wähnung der  lex  Cornelia  (VUI,  24),  die  ausführliche  Beschrei- 
bung einer  Gerichtsverhandlung  (III,  2  ff,),  und  IX,  27 :  nee  her- 
ciscundae  famiiiae,  sed  communi  dividundo  formula  dimicabo. 
Noch  Anderes  beruht  auf  Einmischung  des  persönlichen  Ge- 
schmackes von  Apulejus.  So  die  gezierten  Uebergänge,  nament- 
lich regelmässig  bei  Erwähnung  des  Sonnenaufgangs,  die  anspruchs- 
vollen, phrasenhaften  Motivierungen  mit  der  Fortuna  (z.  B.  IX,  1), 
welche  zu  der  Handlung  oft  einen  —  wie  Buch  XI  zeigt,  unbe- 
absichtigten —  komischen  Contrast  bilden,  besonders  aber  der 
ganz  und  gar  unglückliche  Schluss  des  Werkes.  An  die  Stelle  247 
des  lustigen  Schlusses  von  Lukian  hat  nämlich  Apulejus  einen 
langweiligen  gesetzt,   statt    des  dortigen  kurzen  und  guten  einen 

Teuf  fei,  Studien.  29 


450  Lvkuui  imd  Apokriiia. 

eatseliiicb  gcdduteo,  dar  noch  uberdiMB  mit  dem  Ton  and  GmaCe 
des  VoriMTgchendea  im  geradceten  Gegensatz  steht.  Wäiirend  näm- 
lich das  Frühere  trotz  allen  Heienspukes  doch  ans  einem  Gefete  der 
AofUaniDg  heraus  gedichtet  ist  und  namenllich  den  Priestern 
der  Dea  Syria  übel  niilspiell,  so  ist  das  ganze  letzte  (eUle)  ftich 
auf  den  Preis  und  £e  Eropfddnng  des  Isisculles  und  der  Ter- 
wandten  Mystorien  angd^  Und  doch  bat  die  syrisclie  GMin 
gewiss  keinen  minderen  Anspruch  für  einen  der  vielen  Namen 
der  einen  Gottheit  angesehen  zu  werden  als  die  andern  XI,  5 
aufgezahlten  göttlichen  Wesen.  Apulejns  aber  bat  sich  auf  diesen 
▼on  ihm  angeflickten  Scblass  gewiss  ganz  besonder^  fiel  zu  Gate 
gethan,  ja  neUeicht  sollte  in  seinen  Augen  alles  Vorhergehende  nur 
der  Köder  sein  um  den  geneigten  Leser  durch  das  S^lussbuch 
für  jene  Mysterien  zu  gewinnen»  Tielleicht  wollte  er  indireet  das 
Bekenntniss  ablegen  dass  er  vor  seiner  Einweihung  ein  —  Esd 
gewesen»  dass  er  erst  durch  diese  Dinge  zum  Menschen  geworden 
sei.  Es  wäre  diess  wenigstens  ganz  in  der  Art  des  Apulejus, 
welcher  namentlich  in  der  Apologie  (c.  55.  63  u.  sonst)  sieh  viel 
damit  weiss  dass  er  Mitglied  aller  möglich^i  geheimen  Orden  sei» 
und  würde  yoUkommen  stimmen  zu  der  Eigenthnmlicbkeit  von 
Buch  XI.  Nicht  nur  sofern  dieser  Myslerienquark  darin  mit  einer 
Wichtigkeit  und  Umständlichkeit  behandelt  ist  weldie  diesem  Ab- 
schnitt allerdings  einigen  culturgeschichtlichen  Werth  verleiht, 
sonst  aber  desto  ermüdender  wirkt,  sondern  besonders  wegen 
des  Umstandes  dass  hier  mit  einem  Male  der  Verfasser  mit  dem 
Redenden  sich  identificiert.  Wohl  ist  es  schon  III,  15  bedenk- 
lich dass  es  von  Lucius  heisst  er  sei  praeter  sublime  Ingenium 
sacris  pluribus  iniUatus;  aber  er  bat  diesen  Zu^  doch  nicht  mtt 
Apulejus  allein  gemein,  noch  viele  andere  begabte  Männer  werden 
in  jener  Zeit  diesen  Wissensdrang  in  sich  gehabt  haben;  und 
andererseits  ist  dieser  Zug  das  Einzige  in  den  zehn  Büchern  was 
irgendwie  an  die  Person  des  Apulejus  anklingt  und  erinnert:  sonst 
bleibt  der  Redende  immer  ein  junger  Hellene  aus  Korinth  oder 
dessen  Gegend.  Dagegen  im  elften  Buche  plumpt  jählings  die 
Bezeichnung  desselben  als  Madaurensis  dazwischen  (XI,  27),  und 
248  dieser  kann  uns  nicht  genug  erzählen  von  seinem  gelehrten  Ruhme 
(ipsa  qua  flores  doctrina,  15;  studiorum  gloria,  27  extr.),  von 
den  kostspieligen  Reisen  die  er  gemacht  (28)  und  wie  er  sich  zu 
Rom  durch  seine  Beredtsamkeit  eine  Existenz  geschaffen  habe 
(quaesUculo  forensi    per    patrocinia  sermonis    romani,  28  extr.; 


Aovw^  und  Metamorph.  4öl 

stipendiis  forensibus  bellule  fotus;  30;  gloriosa  in  foro  patroeinia, 
30).  Man  darf  hieraus  keinen  Rückschluss  ziehen  auf  das  Vor- 
hergehende und  auch  dieses  als  Quelle  für  die  Kenntniss  von 
Apulejus'  Leben  und  Person  benutzen;  nicht  zwar  weil  es  ein 
schlechter  Geschmack  wSre  von  sich  selber  die  Verwandlung  in 
einen  Esel  und  so  manche  sehr  wenig  ehrenvolle  Erlebnisse  in 
dieser  Gestalt  zu  erzählen  —  denn  das  wäre  schliesslich  indi- 
viduell — ,  sondern  weil  die  Aussagen  über  die  Heimat  des 
Redenden  auf  beiden  Seiten  (B.  I  —  X  und  andererseits  B.  XI) 
schlechterdings  unvereinbar  sind.  Wir  können  daher  in  dem 
kunstwidrigen  Eindrängen  der  Person  des  Schriftstellers  in  Buch 
XI  nur  einen  Fingerzeig  erblicken  dass  dieser  Theil  —  und 
nur  dieser  —  Selbstbekenntnisse  enthalte. 

Wenn  hiernach  der  Schluss  welchen  Apulejus  aus  eigenen 
Mitteln  hinzugefugt  hat  vom  Standpunkte  der  Kunst  und  des 
Geschmackes  für  Nichts  weniger  gelten  kann  als  für  eine  Ver- 
besserung, so  ist  in  ähnlicher  Weise  auch  zu  urteiVen  über  das 
Verhältniss  der  beiden  Ganzen.  Zwar  ist  bei  Apulejus  Manches 
anschaulicher  und  tritt  dramatische  Belebung  an  die  Stelle 
von  Lukian's  epischer  Ruhe  und  graziöser  Eleganz,  wie  z.  B.  II, 
6  if.  entschieden  lebendiger  ist  als  bei  Lukian  und  lil,  21  f.  die 
Verwandlung  drastischer  erzählt  wird.  Im  Ganzen  aber  ist  die 
Verzögerung  der  Handlung  durch  die  vielen  langen  Einschaltungen 
gewiss  kein  Gewinn.  Die  eigentliche  Erzählung  ist  dadurch  zu 
einem  blosen  Faden  geworden,  um  eine  Reihe*  anderer  Erzäh- 
lungen daran  aufzuhängen;  die  Ausweitung  des  Stoffes  ist  eine 
unorganische,  willkürliche,  gewaltsanfie  geblieben,  und  der  Fort- 
schritt von  der  Erzählung  (Novelle)  zum  Roman  nur  äusserlich 
gemacht,  der  Unterschied  noch  ein  blos  quantitativer. 

Dabei  ist  zuzugeben  dass  diese  Manier  uns  manche  hübsche 
Geschichte  erhalten  hat  und  insbesondere  die  denkwürdige  «Er- 
zählung von  Amor  und  Psyche.  Der  Stoff  ist  sicherlich  in 
der  Hauptsache  den  Griechen  entnommen,  die  Behandlung  des-  249 
selben  aber  eine  charakteristische.  Zwar  die  Herabziehung  des 
sinnvollen  Mythus  zu  einer  fabula  milesla,  zu  einer  ziemlich  ge- 
wöhnlichen Wunder-  und  Intriken-Geschichte,  wird  schon  auf  die 
Rechnung  des  (griechischen)  Vorgängers  zu  setzen  sein;  und  auch 
die  geringe  Achtung  womit  die  Gestalten  der  alten  Religion  be- 
handelt werden  ist  wohl  aus  derselben  Quelle  abzuleiten,  da  sie 
zu  des  Apulejus  Piatonismus  eigentlich  nicht  stimmt.    Ceres  näm- 

29* 


452  Lokian  und  Apulcjos. 

lieh  und  Judo  benehmen  sich  höchst  hartherzig,  Venus  bethätigt 
kleinliche  und  l>ösartige  Eifersucht,  Juppiter  ist  lüstern;  und  in 
demselben  Geiste  ist  es  dass  Psyche  als  unverbesserlich  neugierig 
gezeichnet  wird  (VI,  20  extr.)  und  das  Ganze  gut  bürgerlich  mit 
einer  Hochzeit  schliesst,  indem  Psyche  nach  vielen  harten  Bussen 
und  Prüfungen  —  die  sie  nicht  einmal  alle  glücklich  besteht  — 
endlich  in  den  dauernden  Besitz  ihres  Amor  gelangt.    Im  Einzelnen 
der  Ausführung  zeigt  sich  vielfach  Geist  und  Lebendigkeit,  aber  aucli 
eine  Vergröberung,  welche  sicher  des  Römers  Werk  ist;  ebenso  die 
starke  Romanisierung  in  zahlreichen  Anspielungen  auf  Rechtliches 
(Asylrecht  VI,  4  extr. ;  Gültigkeit  einer  Ehe  VI,  9  extr. ;  Scheidungs- 
formel  V,  26  extr. ;  lex  lulia  VI,  22;  Parodie  der  Senatsgebräuche  VI. 
23),  sowie  die  vielfach  geschraubte,  mit  Vergleichungen,  Bildern  und 
Metaphern  oft  der  kühnsten  Art  (so  caesariem  ambrosia  temulentam 
V,  22;  lucerna   tale  corpus  basiare  gestiebat  V,  23;  supercilium 
amnis  und  coma  fluvii  V,  25)  und  mit  Wortspielen  überladene  Sprache, 
lieber  das  Verhältniss  der  Darstellung  Lukians  zu  der  des 
Apulejus  ist  schon    im   Vorstehenden    thatsächlich    geurteilt  und 
der  griechischen  Fassung  der  Charakter  als  Original  zuerkannt, 
wovon  die  lateinische  eine  freie,  durch  anderweitige  Zuthaten  er- 
weiterte Bearbeitung  sei.     Der  Beweis  liegt  in  der  Sache  selbst 
Wäre  die  griechische  Bearbeitung  die  spätere,  so  müsste  sie  ein 
Auszug  sein;  aber  die  Merkmale  eines  Auszugs  hat  sie  mit  nichten, 
da  sie  in  allen  Theilen  wohl  proportioniert  und  vollkommen  ab- 
gerundet ist.     Zum  Ueberfluss  sagt  Apulejus  ausdrücklich  {l,  1: 
fabulam  graecanicam  incipimus)   dass  er  eine  ursprünglich  grie- 
chische Erzählung  vortrage.     Es  könnte   sich  daher  nur  fragen 
ob  Apulejus  etwa   nicht  aus  der    lukianischen   Schrift  geschöpft 
habe,  sondern  aus  einer  gemeinsamen  älteren  griechischen  Quelle. 
2r)0  Letzteres  folgert  man   aus  Photius   129.     Hier  heisst  es:  *^v£- 
yvßijsd^rj  Aovxiov  JlatQecog  Msra(iOQg)ci6eGiv   Xoyov  ätd- 
g)OQot.   iött  dh  xr^v  g)Qaötv  Oaqnjg  xs  xul  xad'aQos  xal  q)iXog 
yXvxvxTjxog*    fpavyfiov  81  xriv  iv  Xöyotg  xuivoxo(iiav  stg  vnsg- 
ßoX'^v  Sifjixei  rijv  iv  xolg  SiijyrjiiaOi,  xBgaxeiav  xal  —  (&g  av 
rtg  fiftrot  —  aXXog  iaxl  Aovxiuvog.   of  ds  ys  jtQfSxot  «vrov 
Svo  XiyoL  (lövov  ov  (i6xsyQdq)ri0ccv*)  Aovxioii  ix  tov  Aovxta- 

*)  Dass  diess  ,, herübergeschrieben*'  bedeutet  sei  Manso  zu  Ehren 
bemerkt,  welcher  (Vermischte  Schriften  II.  S.  246)  es  durch  ,,Ueber- 
setzen"  wiedergibt.  Von  gleichem  Werthe  ist  seine  ganze  Argumen- 
tation daselbst,  S.  248—251. 


Aovnig  und  Metamorph.  453 

vov  loyonog  imyiyQajtrcct  jiovxi^g*)  rj"Ovog,  if  ix  täv  Aov- 
xiov  Xoymv  Aovxiavä,  soixe  Sh  fi&Xkov  6  jiovxiavog  fi€ta- 
yQcifpovxL^  ocov  slxd^Biv,  tlg  yä^  XQOvcf)  XQSößvteQog  ovjcüd 
Sxofisv  yvmvaL.  xal  yäg  ci6X€Q  djto  jtXätotfg  täv  Aovxlov  A6- 
ycav  6  Aovxiavog  aicoksTCtvvccg  xal  TCSQiskfov  o(5a  (iiq  idoxsc 
av%^  TCQog  xov  otxstov  x^atficc  oxoicov,  aixatg  xs  Xil^söt  xal 
6vvxäi,B6iv  alg  eva  xd  komd  övvaQ^ioaag  Xoyov  Aovxtg  rf  "Ovog 
ijtiyQailfs  xd  ixsW'Sv  vxo^vXijd'av.  yifist  dh  6  ixaxsQOv  Xoyog 
TtXaöfidxcov  ii€V  fiv&txciVf  dQQt^ojcoUag  dl  alcxQag,  TcXrlv  6 
l^kv  Aovxiavog  (SxcixxcDV  xal  dtaövQiOv  xiqv  iXXr^vtX'^v  dattSt- 
dui^ovCav  äCTcaQ  xdv  xotg  aXXoig  xal  xovxov  övvaxaxxav ,  ö 
dh  Aovxiog  öTtovdd^cov  xa  xal  mexdg  voiii^cov  xdg  dvd'Qoi- 
Tcmv  alg  dkh^kovg  iiaxa^OQg)ci0atg  xdg  xa  il^  dXoycov  alg  dvd'Qci- 
Tcovg  xal  avdnaXtv^  xal  xov  aXKov  xäv  icaXamv  [iv&cov  v^kov 
xal  (pX'tjvag)ov ,  yQ<^9>V  ^^Qsdtäov  xavxa  xal  övvvtpatvav. 
Photios  spricht  hier  so  eingehend,  in  so  zuversichllichem  Tone, 
und  so  genau  unterscheidend  zwischen  dem  was  er  zu  wissen 
glaubt  und  dem  was  er  blos  vermutet  dass,man  nicht  umhin  kann 
ihm  Glauben  zu  schenken,  und  anzunehmen  er  habe  ein -Werk 
mit  dem  Titel  Aovxlov  üaxQacag  MaxaiiOQg>C96acjv  Xoyot 
dvd(poQOL  wirklich  vor  sich  gehabt.  Was  er  aus  solcher  eigener  An- 
sicht weiss  ist  dreierlei:  1)  dass  das  betreffende  Werk  gut  geschrieben 
wa)r;  2)  dass  es  umfangreicher  war  als  die  Schrift  Lukians  und 
letztere  —  oder  deren  Stoff  —  nur  die  beiden  ersten  Xoyoi  des  251 
ihm  vorliegenden  Werkes  ausmacht;  3)  dass  nach  Stoff  und  In- 
halt beide  Schriften  wesentlich  gleichartig  waren.  Nicht  weiss 
PhotioSji  welcher  von  beiden  Schriftstellern  der  ältere  ist,  ob  Lu- 
kian  oder  Lukios.  Auf  dem  Wege  der  Reflexion,  durch  Argu- 
mentieren und  Schliessen,  gelangt  er  aber  zu  der  doppelten  An- 
sicht, beziehungsweise  Vermutung:  a)  das  kürzere  Werk  ist  aus 
dem  grösseren  entnommen,  Lukian  also  aus  Lukios,  Lukios  somit 
älter  als  Lukian;  b)  die  Behandlung  ist  beiderseits  eine  verschie- 
dene: dort  scherzhaft  satirisch,  hier  ernsthaft  und  abergläubisch. 
Von  diesen  beiden  Vermutungen  ist  sicherlich  die  erstere  mit 
Courier  u.  A.  abzuweisen'*'*).     Veranlasst  ist  sie  dadurch  dass  in 

*)  Dieses  Aftvitig   neben  Aovmog   durfte  Ritschi   zu   den  Belegen 
seiner  declinatio  latina  reconditior  fügen. 

**)  Gerechtfertigt  hat  beide  E.  Rohde,  über  Lucianos  Schrift  Aov'üiog 
.  .  und  ihr  Verhältniss  zu  Lucius  von  Patra  und  den  Metamorphosen 
des  A  pul  ejus,  Leipzig  1869.  Er  nimmt  nämlich  (wie  Manso,  Vermischte 


.M^ 


454  Lnkian  und  Apulejas. 

der  Zeit  des  Photios  solches  Epitomieren  und  Excerpieren  aller- 
dings etwas  sehr  Gewöhnliches  war,  nicht  bios  bei  historischen 
Werken  — -  wo  diess  zu  allen  Zeiten  Statt  gefunden  hat  und  im 
griechischen    Alterthum    in  ganz   besonderem  Masse  —  sondern 
auch  bei  Romanen.     Für  die  Zeit  des  Lukianos  ist  ein  solches 
Werfahren  nicht  zuzugeben,  und  noch  weniger  für  die  Person  des 
Lukianos,   da  Courier  vollständig  Recht  hat  wenn  er  p.  |VI  f. 
seiner  Ausgabe  und  Uebersetzung  der  Luciade  sagt:    je  ne  puis 
croire  que  Lucien  ait  jamais  rien  abrege;  ce  n'etait  pas  son  carac- 
""    töre;  il  ampliße  tout  au  contraire  etc.   Dass  auch  die  Beschaffen- 
v."^  V   ^^    b^i^  ^^^  Schrift  selbst  eine  solche  Annahme  unglaublich  macht 
\S^  A>         ^s^  schon  beigerkt.     Ueberdiess  wäre  schlechterdings  nicht  abzu- 
c^'^''  sehen  zu  welchem  Zwecke  Lukian   einen  von  seinem  Vorgänger 

bereits  in  gutem  Stile  (nach  Photios'  Angabe)  bearbeiteten  Ge- 
genstand abermals  behandelt  hätte,  und  zwar  ohne  wesentliche 
sachliche  Abweichungen.  Denn  dass  solche  Abweichungen  nicht 
vorhanden  waren  erhellt  theils  aus  der  Angabe  des  Photios,  theils 
aus  der  grossen  Uebereinstimmung  zwischen  Lukian  und  Apulejus, 
aus  welcher  mit  Nothwendigkeit  folgen  würde  dass  (auch)  Lukian 
sich  eng  an  die  gemeinsame  ältere  Quelle  angeschlossen  hätte, 
womit  dann  aber  freilich  aller  Grund  zu  einer  neuen  Bearbeitung 
in  derselben  Sprache,  ja  aller  Raum  dafür  wegfiele.  Es  ist  also 
vielmehr  umgekehrt  zu  sagen  dass  die  kürzere  Fassung  —  des 
Lukian  —  die  ältere  ist.  Des  Photius  zweite  Vermutung,  von 
der  Verschiedenheit  der  beiderseitigen  Behandlung,  hätte  nur 
dann  Werth  wenn  sie  auf  einer  genauen  Vergleicbung  beider 
Schriften  beruhen  würde ;  so  wie  sie  sich  gibt  und  wie  besonders 
252  die  Eingangsworte  zeigen,  gründet  sie  sich  nicht  auf  wiederholte 
eigene  Ansicht  der  lukianischen  Schrift,  sondern  auf  eine  unbe- 
stimmte Erinnerung  des  Eindrucks  den  sie  ihrer  Zeit  bei  der 
Leetüre  auf  ihn  machte.  War  dieser  auch  ein.  richtiger  —  da 
die  Lukiade  wirklich  satirisch  ist  — ,  so  folgt  daraus  doch  keines- 
wegs dass  die  Behandlung  in  der  von  Photios  eben  erst  gelesenen 
Schrift  eine  andere  gewesen,  somit  seine  Angabe  hierüber  gleich- 


Schriften  II.  S.  248  —  251)  an  dass  die  kleine  Schrift  des  Lukian 
eine  Parodie  des  betreffenden  Abschnittes  in  dem  (umfassenden)  Werke 
des  Lukios  von  Paträ  und  eine  Satire  auf  deren  abergläubischen  Ver- 
fasser sei  (S.  10 — 14).  Die  Hauptänderung  an  dem  Werke  des  Vor- 
gängers werde  darin  bestanden  haben  dass  Lukian  den  Lucius  die  Ver- 
wandlung in  einen  Esel  als  ihm  selbst  widerfahren  erzählen  Hess. 


Aovnig  und  Metamorph.  455 

falls  richtig  sein  rnuss.  Die  Behauptung ,  der  Schriftsteller  habe 
an  die  von  ihm  selbst  erzählten  Verwandlangen  allen  Ernste» 
geglaubt,  klingt  so  ganz  unglaublich*)  dass  sie  vielmehr  auf  das 
Urteil  und  VerstHndniss  des  Photios  ein  bedenkliches  Licht  wirft. 
Kaum  dass  sie  sich  entschuldigen  lässt  durch  den  Unterschied 
welchen  die  Altersstufe  und  Stimmung  des  Lesenden  hinsichtlich 
des  Eindrucks  einer  Schrift  begründet,  besonders  einer  scherz- 
haften, oder  durch  die  Verschiedenheit  des  Eindrucks  bei  dem 
gleichen  Stoffe ,  je  nachdem  derselbe  entweder  als  kleines  rasch 
durchflogenes  Büchlein  sich  darbietet  oder  als  Bestandtheil  eines 
umfangreichen,  viel  Zeit  in  Anspruch  nehmenden  Werkes,  oder 
durch  einzelne  sclieinbar  ernsthafte  Wendungen,  wie  sie  Apu- 
lejus  so  häufig  einstreut  und  auch  Lukios  gehabt  haben  kann. 
Am  wahrscheinlichsten  ist  aber  dass  Photios  die  beiden  ersten 
Bücher  des  Lukios,  welche  den  Aovxig  rf  "Ovo^  enthielten  und  ihm 
daher  schon  aus  Lukian  bekannt  waren,  gar  nicht  eigens  durchlas, 
sondern  höchstens  fluchtig  ansah,  und  dass  sich  daher  seine  Ver- 
glelchung  mit  der  Art  des  Lukian  auf  die  übrigen  in  dem  Werke 
des  Lukios  enthaltenen  Erzählungen  bezieht.  Sind  hiernach  die 
beiden  Vermutungen  des  Photios  zurückzuweisen,  so  hat  es  um 
so  mehr  sein  Verbleiben  bei  den  von  ihm  milgetheilten  positiven 
Angaben.  Nach  diesen  haben  wir  uns  das  Werk  des  Lukios 
vorzustellen  mit  einem  Umfange  welcher  dem  der  Metamorphosen 
des  Apulejus  mindestens  gleich  kam.  Die  Anlage  scheint  aber 
eine  andere  gewesen  zu  sein.  Wenn  der  Inhalt  der  lukianischen 
Schrift  in  den  beiden  ersten  loyoi  des  Lukios  wiedergegeben  war 
—  etwa  wie  die  äXirftiiq  lötoglu  des  Lukian  zwei  X&yoi  Bildet 
— ,  so  können  die  verschiedenen  Erzählungen  nicht  in  einander 
geschachtelt  gewesen  sein,  wie  bei  Apulejus,  sondern  sie  müssen 
auf  einander  gefolgt  sein,  also  eine  normale  Sammlung  von 
Märchen  und  ähnlichen  Geschichten  gebildet  haben.  Vielleicht 
dass  gerade  der  .Vorgang  des  Apulejus  abschreckend  wirkte 
und  auf  den  einfachen  Weg  hinwies,  vorausgesetzt  dass  der  253 
Grieche  überhaupt  von  dem  lateinischen  Werke  Kenntniss  hatte 
oder  nahm.  Zeitlich  war  Letzteres  ohne  Zweifel  möglich;  denn 
da   Apulejus  ein  —  wenn    auch    etwas   jüngerer  —  Zeitgenosse 


*)  Diess  bestreitet  £.  Rohde  S.  8  f. ,  da  im  Punkte  des  Aberglau- 
bens im  zweiten  christl.  Jahrb. ,  einer  Periode  der  Zersetzung  aller 
Yorchristlicben  abendländischen  Religion,  nichts  unmöglich  gewesen 
sei,  wofür  er  Belege  gibt. 


456  Lokiaii  und  Apnl^uB. 

Lukian's  war,  so  hal  es  wenig  Wahrscheinlichkdt  dass  zwischen 
Beide  hineia  das  Sammelwerk  des  Lakios  zu  setzen  wäre.  Wohl 
aber  können  Apulejus  and  der  Urheber  dieses  Sammelwerkes 
ihre  EnUdnngen  ans  den  gleichen  griechischen  Quellen  geschöpft 
haben. 

Den  lukianischen  Ursprung  des  Aoviug  ^  "Xhfog  haben  wir 
im  Bisherigen  kurzweg  Torausgesetzt,  einfach  darum  weil  wir 
nach  Gründen  ihn  zu  bezwdfeln  uns  bisher  vergebens  umgesehen 
haben.  Man  könnte  zwar  allenfalls  solche  finden  in  der  leichten 
Eleganz  womit  dieses  Schriftchen  hingeworfen  ist  und  welche 
allerdings  absticht  gegen  die  selbstbewusste  und  sich  selbst  be- 
spiegelnde wortreiche  Manier  der  nichtdialogischen  Schriften  des 
Lukianos.  Ohne  Widmung»  ohne  Einleitung  —  wie  sie  die  stoff- 
lich nächstverwandte  Schrift  Lukian's,  die  dXrfiiqg  töroQia,  besitzt 
—  führt  uns  das  SchriRchen  sogleich  mitten  in  die  Sache  selbst 
hinein  und  bleibt  diesem  Charakter  auch  weiterhin  getreu,  indem 
die  Person  des  Schriftstellers  völlig  untergeht  in  der  des  redenden 
Helden.  Aber  dieses  Argument  ist  nichts  weniger  als  überzeugend. 
Es  ist  ja  doch  wohl  ganz  möglich  dass  Lukian  einmal  sich  selbst 
übertraf,  dass  er  seine  Person  einmal  bei  Seite  liess,  so  gut  als 
er  diess  bei  den  Dialogen  gethan  hat,  zumal  wenn  wir  in  dem 
Schriflchen  etwa  ein  Erzeugniss  genialer  Jugendiaune  besässen, 
aus  einer  Zeit  wo  der  Verfasser  noch  nicht  der  berühmte  —  und 
eitle  —  Mann  von  später  war"^). 

Eine  andere  Frage  ist  ob  der  Verfasser  des  erwähnten  Sammel- 
werkes wirklich  Lukios  aus  Paträ  hiess.  Der  Name  ist  einzig 
durch  Photios  überliefert  und  höchst  verdächtig  durch  den  Um- 
stand dass  er  der  Name  des  Helden  der  lukianischen  Erzählung 
ist**).  Hierdurch  Mird  es  wahrscheinlich  dass  jene«  Sammel- 
werk entweder  anonym  erschien  und  nach  dem  Helden  der  ersten 
Erzählung  —  welchem  seiner  Berühmtheit  wegen  vielleicht  auch 
In  den  späteren  koyot  eine  Rolle  zugetheilt  war  —  benannt  wurde, 
254  oder  Pseudonym ,  eben  unter  jenem  literarisch  bekannten  Namen, 


*)  Weitere  BegründuDg  der  Abfassung  durch  Lukian  s.  bei  £.  Rohde 
a.  a.  O.  S.  30 — 38  (vgl.  S.  40 — 42),  welcher  die  Abweichungen  von  der 
sonstigen  Schreibweise  Lukianos  aus  karikierender  Wiedergabe  des  nn- 
gefeilten  Ausdrucks  im  Werke  des  Lukios  erklärt. 

*^)  Hierauf  hat  schon  Wieland  (in  seiner  Uebersetzung  des  Lukian 
IV.  S.  296  ff.)  aufmerksam  gemacht  und  daraus  Schlüsse  gezogen. 
Rohde*8  Erklärung  dieses  Umstandes  s.  oben  S.  454,  Anm. 


Aoüiiig  und  Metamorph.  457 

welchen  dann  der  gute  Patriarch  ebenso  für  Ernst  nahn)  wie  den 
in  dem  Werke  enthaltenen  Erzählungsstoff ^).  Veranlassung  hierzu, 
mochte  die  Thatsache  geben  dass  —  wie  Lukian's  dXtjd'rig  Ustogla 
zeigt —  solche  Erzählungen  häufig  als  eigene  Erlebnisse  des  Reden- 
den dargestellt  wurden.  In  einem  Falle  wo  es  sich  um  die  Ver- 
wandlung in  einen  Esel  handelte  lag  gewiss  Grund  genug  vor  hier- 
von abzuweichen  und  für  die  erdichtete  Geschichte  eine  erdichtete 
Person  zum  Träger  zu  machen.  Lukian  scheint  deren  Namen 
absichtlich  so  gewählt  zu  haben  dass  derselbe  mit  seinem  eigenen 
wenigstens  Verwandtschaft  und  Aehnlichkeit  hatte,  um  sein  Kind 
nicht  völlig  von  sich  zu  stossen;  Spätere  aber  adoptierten  gern 
den  schon  vorgefundenen  und  schon  berühmten  Namen. 

Um  schliesslich  auf  die  MetanH)rphosen  des  Apulejus  zurück- 
zukommen ,  so  hat  hinsichtlich  ihrer  Abfassungszeit  schon  Bosscha 
(in  Oudendorp's  Ausgabe  III.  p.  511}  mit  Recht  bemerkt  dass  sie 
nothwendig  nach  der  Apologie  fallen  müssen,  da  das  Werk  den 
Gegnern  des  Verfassers  allzu  reichen  Stoif  für  weitere  Begründung 
ihrer  Angriffe  geliefert  hätte  als  dass  deren  Schweigen  darüber 
begreiflich  wäre.  Hildebrand  (in  seiner  Ausgabe  I.  p.  XXV — XXVII) 
hat  zwar  einen  Versuch  gemacht  diese  Ansicht  zu  bekämpfen, 
aber  so  unglücklich  dass  er  seiner  Behauptung,  Apulejus  habe 
die  Metamorphosen  schon  bei  seinem  Aufenthalt  in  Rom  verfasst, 
die  beschränkende  Hypothese  hinzufügen  muss:  —  aber  nicht 
herausgegeben,  sondern  unter  den  Scheffel  gestellt,  in  seinem 
Pulte  verborgen,  da  sie  allerdings^  sonst  von  den  Anklägern 
nothwendig  hätten  ausgebeutet*  werden  müssen.  Damit  hat  er  in 
Wahrheit  nur  die  Aufstellung  von  Bosscha  bestätigt.  Ueberdiess 
setzt  das  Werk  reichere  Lebenserfahrung  voraus  als  dass  man 
es  für  eine  Jugendarbeit  halten  könnte.  Vielleicht  dass  eben  die 
Anklage  wegen  Zauberei  welche  gegen  ihii  erhoben  worden  war 
und  welche,  durch  seine  Vertheidigungsrede  verewigt,  an  seinem 
Namen  dauernd  "haften  blieb  (s.  Römische  Literaturgeschichte  344, 
3),  das  Interesse  des  Apulejus  diesem  Gebiete  zuwandte  und 
dass  er  gern  die  Gelegenhfit  benützte  um  den  wahren  Begriff 
der  Zauberei  in  heiterer  Weise  anschaulich  zu  machen. 


*)  E.  Rohde  (1869)  S.  7  meint:  „diess  wäre  eine  Flüchtigkeit  die 
wir  dem  Photius  um  so  weniger  zuzutrauen  berechtigt  sind  als  er  in 
andern  Fällen  sorgfältig  angibt  wenn  der  Verfasser  eines  ihm  vor- 
liegenden Buches  unbekannt  oder  zweifelhaft  war.** 


XXI. 

Vespae  iudiciran  coci  et  pistoris  iudke  Vulcano*). 


Dieses  kleine  Epos  (von  99  Hexametern)  ist  überliefert  durch 
den  codex  Salmasianus,  und  zwar  unmittelbar  vor  dem  PervigiUum 
Veneris;  ausserdem  durch  den  Pariskius  8071  (Tbuaneos),  saec. 
IX— X,  B  bei  Riese  (no.  199,  I.  p.  140—143).  Der  Inhalt  ist 
ein  Wettstreit  zwischen  Kocb  und  Bäcker,  von  denen  jeder  seine 
Kunst  preist,  die  des  Andern  herabsetzt.  Der  Schiedsrichter, 
Vulcanus,  gibt  ebenso  vernunftig  als  gutmütig  seine  Ent^heidung 
dahin  ab  dass  Beide  ihren  Werth  haben  und  daher  das  Streiten 
unterlassen  sollten:  es,  coce,  suavis  homo;  dulcis  sed  tu  quoqae, 
pistor,  was  an  Vergil  eci.  3,  108  &.  erinnert:  et  vitula  tu  dignus 
et  hie.  Diesem  Inhalt  und  seiner  Behandlung  nach  gehört  das 
Gedicht  zu  den  gemischten  Arten:  es  ist  ein  komisches  Epos, 
etwa  wie  das  Moretum,  bat  aber  die  Form  des  Wettkampfes  mit 
dem  Idyll  gemein  und  schliesst  sieh  zugleich  an  die  rhetorischen 
Ixccivot  und  iffoyöi  an.  Sein  nächste  Verwandter  ist  des  Asellius 
Sabinus  (unter  Tiberius)  dialogus  in  quo  boleti  et  ficedulae  et  ostreae 
et  turdi  certamen  induxerat  (R.  L.  G.  258,  1);  nur  scheint  dieser 
prosaische  Form  gehabt  zu  haben.  Wie  dieser  wird  es  auf  dem 
Bodeii  Roms  erwachsen  sein.  Darauf  deutet  die  Verfeinerung 
der  aufgeführten  culinarischen  Genüsse  (47  ff.  68  ff.),  die  Satur- 
nalien (17  if.)  und  die  crustula  am  ersten  Januar  (49  vgl.  16). 
Was  seine  Zeit  betrifft,  so  soll  es  *nach  Wernsdorf  ein  Carmen 
inflmae  latinitatis  sein.  Ich  wüsste  aber  nichts  was  auf  späteren 
Ursprung  deutete.  Denn  der  wiederholte  Hiatus  in  der  Penthe- 
mimeres  (6:  nee  mel  erit  solum:  aliquid;  92:  bubula  Pasipbae, 
Europe)  kann  als  Zeichen  eines  solchen  nicht  gelten ,  da  er  schon 


')  Aus  dem  Rhein.  Mus.  XXVI.  S.  341  f. 


.  Vespae  iudicium.  459 

bei  augusteischen  Dichtern  vorkommt,  besonders  häufig  bei  Vergil 
aber  auch  bei  Horaz  und  Tibull;  noch  weniger  die  Kürzung  des 
auslautenden  Vocals  iti  der  Senkung,  am  stärksten  79:  fervent 
in  caccabo  fluctus,  sonst  aber  nur  bei  der  ersten  Person  des 
Zeitworts.  Auch  die  Messung  von  opus  als  lambus  (5)  und  des 
Nominativs  agricola  als  Choriamb  (27)  findet  beidesmal  durch  die 
Hauptcäsur  Entschuldigung.  V.  82  (exseco  sie  gallos  quasi  Bere- 
cynthia  Gallos)  ist  die  spondeische  Messung  von  quasi  sogar  das 
sprachgeschichtlich  einzig  Richtige  und  zeugt  von  Gelehrsamkeit 
des  Verfassers.  Andererseits  ist  der  Bau  der  Verse  hinsichtlich 
der  Wahl  der  Cäsuren  elegant,  Ton  und  Ausführung  nicht  ohne 
Anmut.  Ich  möchte  das  Gedicht  ins  zweite  Jahrhundert  setzen, 
etwa  gleichzeitig  mit  seinem  Wandnachbar,  dem  Pervlgilium  Ve- 
neris,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Nach  obligater  Anrufung 
der  Musen  sagt  der  Verfasser  von  sich:  ille  ego  Vespa  precor  cui 
divae  3aepe  dedistis  per  mullas  urbes  populo  spectante  favorem 
(v.  3  f.).  Er  ist  also  ein  reisender  Literat  (Rhetor)  der  im  rö- 
mischen Reiche  umher  Productionen  seiner  Kunst  gibt,  wie  Apu- 
leius  und  viele  Andere  in  der  Zeit  der  neueren  Sophistik.  Er 
zeigt  ferner  Kenntnisse  in  der  griechischen  Literatur  (besonders 
Mythologie),  wie  sie  in  der  infima  aetas  niemals  vorkommen,  und 
er  spricht  seinen  Polytheismus  mit  einem  heiteren  Behagen  aus 
welches  von  Störung  und  Trübung  durch  das  Christenthum  noch 
nichts  weiss.  Könnte  er  daher  aus  der  Zeit  des  Reposianus  (R. 
L.  G.  375)  sein,  so  spricht  für  noch  frühere  Datierung  (zu  R. 
L.  G.  341)  der  Umstand  dass  v.  6  zur  Empfehlung  des  Gedichtes 
angeführt  wird:  aliquid  quoque  iuris  habebit,  und  v.  9  und  60 
juristische  Wendungen  gebraucht  werden.  Es  ist  also  wohl  ans 
einer  Zeit  wo  die  Jurisprudenz  in  bester  Blute  stand,  der  des 
Gaius  (R.  L.  G.  339),  welche  zugleich  die  des  Apuleius  (ebd.  344  f.) 
ist.  Und  dass  der  Verfasser  ein  Rhetor  ist  madit  nicht  nur  der 
Gegenstand  wahrscheinlich  sondern  auch  die  Sorte  seiner  Witze, 
welche  bedeutend  nach  der  Schule  riechen;  vgl.  44  f.  Satyros  — 
saturos;  Panes  — ;  panes;  82  gallos  —  Gallos. 


xxn. 

lieber  die  Hauptrichtungen  in  der  heutigen 
classischen  Alterthumswissenschaft*). 


Das  Fach  zu  dessen  Vertretern  an  dieser  Hochschule  ich  zu 
zählen  die  Ehre  habe  gehört  mit  nichten  zu  denjenigen  welche 
der  Zeitgunst  in  besonderem  Masse  sich  erfreuen  dürfen.  Viel- 
mehr könnte  ein  verzagter  Diener  des  classischen  Allerthums  ver- 
sucht sein  mit  Novalis  zu  klagen: 

Was  sollen  wir  auf  dieser  Welt 
Mit  unser  Lieb  und  Treue? 
Das  Alte  wird  hintangestellt, 
Und  was  soll  uns  das  Neue? 

Und  vergleicht  man  vollends  das  Jetzt  mit  dem  Sonst,  so  wäre 
es  der  classischen  Philologie  nicht  zu  verdenken  wenn  sie  von 
einem  Gefühle  beschlichen  wurde  wie  es  in  einem  zahlreichen 
Familienkreise  eine  ältere  Schwester  haben  mag  wenn  sie  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  von  sich  ab  und  Geschwistern  zuwen- 
den sieht  welche  sie  einst  geschaukelt  hat.  Sie  ist  noch  immer 
liebenswürdig  wie  vor  einem  Jahrzehnt,  sie  ist  sogar  seitdem  viel 
erfahrener,  belesener  und  gebildeter  geworden,  und  ein  Blick  in 
den  Spiegel  sagt  ihr  dass  sie  noch  gfir  nicht  viele  Furchen 
zählt:  woher  denn  also  diese  Hintansetzung?  Wenn  in  solchen 
Fällen  die  Antwort  oft  in  einem  Seufzer  über  die  Verkehrtheit 
der  Welt  bestehen  mag,  so  wollen  dagegen  wir  sie  lieber  suchen 
in  dem  natürlichen  Gange  der  Dinge,  der  in  seinem  Kreislaufe 
eine  Seite  um  die  andere  in  den  Vordergrund  schiebt  und  nach 


*)  Rede  zum  Eintritt  in  den  akademischen  Senat  der  Universität 
Tübingen,  gehalten  den  4.  März  1858. 


Classische  Alterthumswissenschaft;.  461 

oben  kehrt,  und  uns  damit  trösten  dass  ja  auch  wir  es  mitzuge- 
messen  haben  wenn,  unter  dem  erwärmenden  Einflüsse  der  Zeit- 
gunst  andere  Wissenschaften  rasch  zur  Blüte  gelangen,  dass  ja 
auch  uns  es  zu  Gute  kommt  wenn  wir  in  kranken  Tagen  zwar 
nicht  gerade  sicherer  geheilt  werden  als  vor  Alters,  aber  doch 
viel  gründlicher  erfahren  was  uns  eigentlich  fehle ,  und  wenn  wir 
dem  Staube  unserer  Bücher  auf  Dampfesflugeln  rasch  entfliehen 
können.  Je  williger  aber  wir  uns  ergeben  in  das  Unabänder- 
liche, um  so  eher  wird  man  es  uns  zu  Gute  halten  wenn  auch 
wir  bei  einem  Blick  auf  die  Unsrigen  überzeugt  sind  und  An- 
dere zu  überzeugen  suchen  dass  wir  uns  ganz  vvohl  mit  allen 
andern  Wissenschaften  messen  dürfen,  dass  auch  wir  nicht  zu- 
rückgeblieben sind  hinter  dem  Geiste  der  Zeit,  dass  wir  an 
Regsamkeit,  Vielseitigkeit,  Schärfe  der  Methode  in  Gewinnung  und 
Bearbeitung  des  Stoßes,  sowie  an  geistiger  Durchdringung  des- 
selben keiner  anderen  Wissenschaft  nachstehen,  wohl  aber  man- 
cher als  Lehrer  und  Muster  dienen  könpten.  Vielleicht  dass  eine 
kurze  Musterung  der  Hauptrichtungen  in  unserer  Wissenschaft 
dazu  dient  diese  Behauptung  zu  begründen. 

Die  ganze  Entwicklung  der  classischen  Philologie  seit  Heyne 
und  F.  A.  Wolf  lässt  sich  an  drei  Namen  anknüpfen,  von  denen 
nur  noch  einer  einem  Lebenden  angehört:  an  G.  Hermann 
(t  31.  December  1848),  C.  Lach  mann  (f  13,  März  1851)  und  A. 
Böckh.'*')  Von  diesen  stehen  die  beiden  Ersten  wesentlich  auf  glei- 
chem Boden,  und  ihre  beiden  Namen  bezeichnen  nur  einen  Fort-, 
schritt  innerhalb  derselben  Richtung,  der  grammatisch-kritischen. 
Diese  verfolgt  G.  Hermann  in  der  Weise  einer  genialen  Persön- 
lichkeit, Lachmann  mit  allgemein  gültiger  Methode. 

Eine  reichbegabte,  bewegliche,  in  ihrer  Art  wahrhaft  ge- 
niale Persönlichkeit  wie  er  unzweifelhaft  war  und  neben  seinem 
Kantianismus  zugleich  influenziert  von  dem  Subjectivismus  der  in 
seiner  Jugend  herrschenden  romantischen  Schule,  stellte  G.  Her- 
mann sein  individuelles  Meinen  und  Belieben  über  das  geschicht- 
lich Thatsächliche ,  das  urkundlich  Ueberlieferte.  Er  las  die 
Schriftsteller  des  Alterthums-  mit  den  Augen  eines  Recensenten, 
sie  messend  an  dem  eignen  ethischen  und  ästhetischen  Bewusst^ 
sein,  wie  an  seinen  grammatischen  und  metrischen  Ueberzeugun- 


*)  Bekanntlich  ist  seitdem  auch  BSckh  gestorben,   den  3.  Angust 
1867. 


462  Die  Hanptrichiniigeii 

gen,  fortwähroid  späliend  oacli  Anstdssen  ifgend  welcher  Art, 
und  allezeil  bereit  dieseitieD  zu  beseitigen  durch  Abanderaiigen 
und  StreichmigeD  an  dem  dorch  die  Handschriften  überlieferten 
Texte.  Und  man  kann  nicht  sagen  dass  er  dabei  immer  von 
festen,  klar  «kannten  und  bestimmt  ausgesprochenen  Grundsätzen 
ausgegangen  wäre.  Weder  in  Bezug  auf  sdne  Stellung  zu  den 
Handschriften  liessen  sich  solche  a^KeMien,  noch  hinsiditlich  der 
Gründe  aus  denen  er  dieses  verwarf  und  Anderes  besser  fand« 
Der  eigene  Einfall  war  das  Primare,  und  erst  in  zw^ter  Reihe 
warf  man  die  Blicke  auf  den  handschrifUichen  Bestand,  um  von 
ihm  eine  Unterstützung  oder  Bestätigung  des  selbständig  Gefun- 
denen oder  eine  Förderung  des  Suchens  zu  entnehmen.  Von  dem 
Masse  in  welchem .  sie  diess  leisteten  war  sehr  oft  die  Schätzung 
der  einzelnen  Handschriften  abhängig,  und  eben  noch  warm  ge- 
priesen wegen  einer  willkommenen  Lesart  wurde  die  glädie  bald 
darauf  vollständig  ignoriert  oder  auch  verdammt  Auf  goiaue  Ab- 
wägung des  Werthes  der  einzelnen  Handsclviflen  liess  G.  Her- 
mann sieh  selten  ein;  in  da*  Regel  bediente  er  sich  unbestimm- 
ter Ausdrücke,  wie  „die  meisten'*,  „die  besten",  „die  Mdtfzahl,, 
u.  dgl.  Und  ebenso  wie  üh&r  diplomatische  Grundsätze  fühlte 
das  geniale  Subject  sich  erhaben  über  das  Bedurfniss  fester 
ästhetischer  Normen.  Was  ihm  nicht  gefiel,  das  war  verwerf- 
lich, und  insbesondere  war  es  der  weitbauschige  unfassbare  Be- 
griff der  Gleganr  in  welchen  sich  das  individuelle  Belleben  klei- 
dete, wenn  man  sich  nicht  geradezu  auf  einen  mysteriösen  in- 
stinct  berief  oder  grammatische  und  metrische  Ansichten,  viel- 
leicht auch  Schrullen,  ins  Vordertreffen  schickte.  Die  Folge 
solchen  launenhaften,  planlosen  Verfahrens  war  einmal  die  grösste 
Veränderlichkeit.  Mit  d<»*  Bereitwilligkeit  des  reichen  Mannes 
opferte  G.  Hermann  einen  Einfall  nach  dem  andern,  um  für  neue 
Raum  zu  gewinnen;  jede  neue  Ausgabe  brachte  deren  wieder 
andere;  es  war  du  ewiges  Behaupten  und  Zurücknehmen,  Mo- 
dlficieren  und  Bestätigen,  Beschränken  und  Erweitern.  Und  weil 
sodann  dieses  Herumcorrigieren  an  den  Schriftstellern  zu  seiner 
Grundlage  hatte  das  Gefühl  des  genialen  Subjects  von  seiner  ab- 
soluten Berechtigung,  so  sah  man  in  Hermann's  Schule  dieses 
Experimentieren  selbst  als  eine  Bethätigung  von  Genialität,  als 
etwas  Geniales,  an.  Daher  denn  der  unendliche  Werth  den  man 
auf  diese  Säehelcben  legte :  man  führte  förmlich  Buch  über  seine 
Einfälle,  man  erlless  dem  Leser  keinen  den  man  je  gehabt,  man 


in  der  heutigen  das^isöhen  Alterthumswissenschaffc  463 

stritt  sich  erbittert  über  die  Priorität  darin,  man  beeilte  sich 
dieselben  zu  Yeröffenllichen  ehe  ein  Anderer  zuvorkomme  oder 
gar  sie  stehle,  man  ▼eranstaltete  eigene  Ausgaben  eines  Schrift- 
stellers nur  um  seine  neuesten  Conjecturen  darin  unterzubrin- 
gen ,  und  wenn  ein  Schriftsteller  abgeweidet  schien  so  warf  man 
sich  auf  einen  andern,  möglichst  abgelegenen,  von  keines  Emeo- 
dators  Fuss  noch  betretenen,  am  liebsten  auf  einen  eben  erst 
entdeckten.  Man  mass  die  Grösse  eines  Philologen  nach  der 
Zahl  der  Conjecturen  die  er  zu  Tage  gefördert,  die  Wichtigkeit 
einer  philologischen  Disciplin  nach  ihrer  näheren  oder  entfern- 
teren Beziehung  zu  der  Kunstfertigkeit  des  Emendierens;  und 
war  man  nur  einmal  selbst  im  Besitze  der  letzteren ,  so  glaubte 
man.  des  Weiteren  ziemlich  entbehren  zu  können  und  sah  halb 
mit  Mitleiden  oder  auch  wohl  mit  Geringschätzung  herab  auf  die- 
jenigen welche  sich  mit  so  unphilologischen  Dingen  abmühten  wie 
die  Ermittlung  der  politischen,  socialen,  religiösen  Zustände  des 
Alterthums,  oder  die  dem  organischen  Zusammenhang  und  Ent- 
wicklungsgang der  alten  Literatur  nachforschten  und  neben  dem 
Buchstaben  auch  noch  nach  dem  Inhalt  und  Geiste  der  antiken 
Schriftwerke  fragten.  Zwar  das  Haupt  dieser  Richtung  für  seine 
Person  war  von  solcher  Beschränktheit  frei.  G.  Hermann  besass 
ein  feines  Gefühl  für  die  Schönheit  und  Eigenthümlichkeit  der 
alten  Schriftsteller ,  und  vor  seinem  Geiste  stand  das  Alterthum 
in  seiner  Totalität  lebendig  da ;  aber  weil  das  bei  ihm  tbeils  na- 
turwüchsig war  tbeils  sich  als  Frucht  seiner  unausgesetzten  Be- 
schäftigung mit  dem  Alterthum  von  selbst  eingestellt  hatte,  so 
sah  er  es  überhaupt  für  etwas  sich  von  selber  Verstehendes  an, 
für  etwas  das  dem  Philologen,  wenn  er  nur  die  Schriftsteller 
fleissig  lese,  von  selbst  zufalle  und  wofür  er  sich  daher  nicht 
eigens  zu  bemühen  brauche,  und  er  verursachte  dadurch  bei 
vielen  seiner  Schüler  eine  Trübung  des  Urteils  und  Ueberschä- 
tzuRg  ihrer  Kräfte.  Je  glänzender  aber  der  Meister  selbst  in 
seiner  Richtung  Uiätig  war,  je  überraschender  ihm  Vieles  gelang, 
um  so  gefährlicher  war  er  für  seine  Schüler.  Denn  nur  von 
einem  geistvollen  Manne  geübt  war  dieses  Verfahren  zu  ertragen, 
nur  beim  Vorhandensein  von  Genialität  besass  dieses  geniale  Trei- 
ben eine  Art  von  Berechtigung;  wenn  nun  aber  nichtgeniale,  ja 
oft  miltelmässige,  kleinliche  und  geschmacklose  Individuen  das 
Gleiche  unternahmen,  so  nahm  sich  das  um  so  greller  aus  je 
grösser  meistens  die  Zuversicht  war  mit  der  sie  dabei  auftraten. 


464  Die  Hauptrichtangen 

Kein  Wunder  daher  wenn  von  einer  so  gehandhabten  Philologie 
das  Publicum  sich  mit  Befremden  abkehrte  und  gegen  die  phi- 
lologische Thätigkeit  als  solche  ein  Vorurteil  fassle.  Begabtere 
freilich  —  wie  unter  der  älteren  Generation  theilweise  Fr.Thiersch 
und  unter  der  jüngeren  besonders  Tb.  Bergk  und  H.  Köchly  — 
überwanden  glücklich  die  Schranken  der  Schule  und  machten  sich 
die  Vorzüge  der  anderen  Richtungen  zu  eigen ;  aber  damit  hatten 
sie  das  Specifische  der  Ilermann'schen  Schule  abgestreift,  sie 
hatten  aufgehört  Hermannianer  zu  sein.  Und  wirklich,  so  gewiss 
es  ein  Glück  und  Gegenstand  gerechten  Stolzes  ist  einen  so 
geistsprudelnden,  anregenden  und  liebenswürdigen  Lehrer  wie  G. 
Hermann  gehabt  zu  haben,  so  gewiss  ist  es  eine  un?erzeihliche 
Beschränktheit  ein  Hermannianer  zu  bleiben  sein  Leben  \^ng. 
Blieb  es  doch  eigentlich  nicht  einmal  Hermann  selbst  bis  an  sein 
Ende,  wie  sein  Aeschylos  beweist.  Nichts  desto  weniger  aber  ist  der 
Hermannianismus  auch  in  der  Gegenwart  nicht  völlig  abgestorben : 
er  lebt  fort  theils  in  einzelnen  Exemplaren  von  unverfälschten 
Hermannianern,  sogar  in  einzelnen  Caricaturen  dieser  Richtung, 
dergleichen  F.  H.  Bothe  einst  war  und  dann  J.  A.  Härtung; 
noch  mehr  aber  in  einzelnen  Symptomen,  wie  der  unmethodiscben 
Handhabung  der  Kritik  und  Ueberschätzung  des  Conjecturierens, 
während  dieselben  Philologen  daneben  auf  anderen  Gebieten  sich 
vielleicht  grosse  Verdienste  erworben  haben.  Ausserdem  aber  ist 
der  Hermannianismus  auch  spontan  wieder  aufgetaucht  in  einer 
ganzen  Philologenschule  des  Auslandes,  in  der  des  Holländers  Co- 
bet,  welcher  mit  G.  Hermann's  feiner  Kenntniss  des  Griechischen 
(insbesondere  des  attischen  Dialekts)  auch  dessen  kritische  Will- 
kür verbindet,  indem  er  nach  einem  selbstgeschaffenen  Ideale  von 
Atticismus  die  attischen  Schriftsteller  abändert,  unbekümmert  um 
die  Handschriften,  welche  Cobet  selbst  zwar  mit  Virtuosität  zu 
handhaben  versteht,  aber  nur  dann  gelten  lässt  wenn  sie  seine 
vorgefasste  Meinung  bestätigen. 

Sehen  wir  aber  ab  von  solchen  Nachzüglern,  so  gehört  in 
der  Gegenwart  innerhalb  der  grammatisch -kritischen  Richtung 
das  Feld  unbestritten  der  Lachmann 'sehen  Schule.  Das  Eigen- 
thümliche  derselben  ist  das  was  als  ein  mehr  oder  weniger  be- 
wusster  Zug  durch  die  ganze  moderne  Wissenschaft,  soweit  sie 
diesen  Namen  verdient,  hindurchgeht,  durch  die  historischen  wie 
die  Naturwissenschaften,  —  das  Streben  nach  objectiver  Wahr- 
heit,  nach   dem  rein    und    unzweifelhaft  Thatsächlichen,    Positi- 


in  der  heutigen  classischen  AlterthumswisBenschaft.  465 

ven,  also  auf  unserem  Gebiete  nach  exacter  Quellenmässigkeit. 
Dieses  Princip  hat  zwar  naturlich  Lachmann  so  wenig  entdeckt 
als  irgend  welcher  andere  Einzelne,  ja  er  hat  es  nicht  einmal 
innerhalb  der  classischen  Philologie  zuerst  befolgt,  er  bekennt 
sich  vielmehr  selbst  in  dieser  Hinsicht  als  Schuler  von  Immanuel 
Bekker;  aber  er  ist  der  Erste  der  es  mit  klarstem  Bewusstsein 
erfasst,  in  sich  verkörpert,  zu  seinem  persönlichen  Pathos  und 
seinem  wissenschaftlichen  Lebensprincip  gemacht  und  der  mit 
energischer  Consequenz  durch  Beispiel,  Lehre  und  Schrift  für 
seine  Verbreitung  gewirkt  hat,  und  nicht  blos  auf  dem  Gebiete 
der  classischen,  sondern  auch  der  germanischen  Philologie,  der 
Geschichtsforschung  und  der  Theologie.  Diese  Losschälung  vom 
individuellen  Belieben,  dieses  Zurückgehen  auf  die  geschichtliche 
Ueberlieferung  setzte  zu  allererst  die  Handschriften  in  ihr  volles 
Becht  ein,  und  die  paläographischen  Studien  nahmen'  im  Zu- 
sammenhange  damit  einen  neuen  Aufschwung.  Aber  Niemand  war 
weiter  als  Lacbmann  entfernt  von  blindem  Glauben  an  Alles  was 
durch  die  Handschriften  überliefert  sei,  Niemand  bat  im  Gegen- 
theil  eine  einschneidendere  Kritik  der  Handschriften  geübt  als 
gerade  er.  Lachmann  unterschied  scharf  und  streng  zwischen 
selbständigen  und  abgeleiteten  Handschriften  und  Hess  nur  die 
ersteren  als  Quelle  gelten;  was  die  abhängigen  Eigenthümliches 
boten  hatte  in  seinen  Augen  nicht  mehr  —  eher  weniger  —  W^rlh 
als  irgend  welche  Conjectur  eines  heutigen  Menschen.  Er  gieng 
in  seiner  Hissachtung  dieser  abhängigen  Handschriften  sogar 
manchmal  zu  weit,  verfuhr  oft  zu  rasch  bei  seiner  Zutheilung  in 
diese  Classe,  und  ignorierte  die  dahin  verwiesenen  allzugründlich, 
ein  Verfahren  das  sich  namentlich  in  der  Nibelungenkritik  schwer 
an  ihm  gerächt  hat.  Die  als  selbständig  erkannten  Handschriften 
bildeten  für  ihn  den  Körper  der  geschichtlichen  Ueberlieferung, 
in  Bezug  auf  dessen  Beschreibung  und  Darlegung  er  die  aus- 
serste  Genauigkeit  sich  und  Anderen  zum  Gesetze  machte;  erst 
wo  diese  Tradition  schwieg  oder  nachweislich  im  Irrthum  war 
durfte  der  Kritiker  in  die  Lücke  treten  und  mit  seinen  Hei« 
lungsvorschlägen  kommen,  die  er  aber  dem  Zustande  der  leiden* 
den  Stelle  genau  anzupassen  hatte  und  nur  als  das  geben  durfte 
was  sie  waren,  seine  individuellen  Rathschläge  und  Vermutun* 
gen.  Diese  scharfe  Abgrenzung  von  äusserem  Thalbestand  und 
persönlicher  Zuthat  und  die  darauf  gebaute  klare  Erkenntniss  der 
Grenzen  der  Gewissbeit  und  der  blosen  Wahrscheinlichkeit,  des 

Teuffßl,  Studien.  30 


466  Die  Hauptrichtungen 

Möglichen  und  des  Erlaubten,  die  wisdenscfaaiUiche  Elirlichkeit» 
welche  da  wo  das  Wissen  aufhört  auch  den  Schein  desselben  ver- 
schmäht und  wo  sie  nicht  zu  helfen  weiss  es  auch  offen  heraus*^ 
sagt ,  —  ist  ein  nicht  hoch  genug  anzuschlagendes  Verdienst  von 
Lachmann.  Dadurch  erst  wurde  die  philologische  Kritik  aus  der 
dumpfen  Lufl  des  Rathens  und  Meinens  in  die  Atmosphäre  der 
Wahrheit  und  Wissenschaftlichkeit  erhoben,  und  es  wurden  da- 
durch Leistungen  geschaffen  bei  welchen  die  Nachfolger  nicht 
jedes  Mal  wieder  von  vorne  anzufangen  hatten,  sondern  welche 
für  alle  weitere  Forschung  als  Grundlage  dienen  konnten,  wo  nicht 
geradezu  abschliessenden  Charakter  hatten.  So  auf  unserem  Gebiete 
Lachmanns  Calull,  TibuU  und  Propertius,  auch  seine  Gromaticf 
und  zum  Theil  sein  Lucretius^  und  aus  seiner  Schule  0.  Jahn's 
Persius  und  Juvenalis,  Kempfs  Valerius  Maximus»  KirchhoflTs 
Euripides,  0.  Schneider's  Nikander  u.  A.  Nicht  bedingt  durch 
individuelle  Genialität  hatten  die  Arbeiten  der  Lachmann'scfaen 
Schule  in  ihrer  Art  sogar  grösseren  Werth  oder  doch  grösser« 
unmittelbare  Brauchbarkeit  als  die  des  Meisters,  sofern  sie  8tcb 
nicht,  wie  dieser  wenigstens  in  seiner  literarisch^i  Präzis  that, 
auf  die  Kritik  beschränkten ,  sondern  —  was  wohl  auf  der  gleich- 
zeitigen Mitwirkung  Böckh'schen  Einflusses  beruhte  —  auch  *  die 
Erklärung  der  Schriftsteller  und  die  Aufhellung  aller  einschll^* 
gen  literarhistorischen  Fragen  in  derselben  gründlichen  und 
methodischen  Weise  sich  zur  Aufgabe  machten.  Durch  0.  Jahn 
hat  die  Lacbmann'sche  Methode  auch  die  Ardiäologie  von  dem 
Wüste  individiteUer  Einfälle  gesäubert  und  sie  auf  eine  echt 
wissenschaftliche  Grundlage  lurückgefuhrt,  ja  sogar  auf  dem  Ge* 
biete  d^  modernen  Kunst-  und  Literatur -Gescbiehte  Triumphe 
gefeiert.  Eben  wegen  dieser  Weite  ihres  Gesichtskreises,  sowie 
unter  dem  gleichmässigen  Einflüsse  Lachmann'scfaer  Ironie  und 
Böckh'scher  Milde,  hat  wenigstens  ein  Theil  von  Lachmanns  di* 
recten  Schülern  sich  auch  frei  erhalten  von  dem  übermi](tig  ab- 
sprechenden Tone  welcher  in  der  G.  Hermann'schen  Schule  ge- 
herrscht zu  haben  scheint  und  wovon  Lsichmann  seU^st  nichts  weni- 
ger als  frei  war.  Dabei  ist  bemerkenswerth  wie  zuletzt  die  bet- 
den  Schulen  in  ihren  Häuptern  sich  gegenseitig  näherten:  wie 
G.  Hermann's  Aeschylos  nach  Lachmann'scher  Quellenmässigkeit 
wenigstens  strebt,  seist  Lachmann's  letsEte  Art>eit,  sein  Lucretius* 
von  G.  Hermann'scher  Emendierlust  erfSllt^  freilich  aitf  einer  echt 
methodischen  Grundlage.    In  L.  Bissen  trat   die  Lachmann'sche 


in  der  heutigen  claesisclieii  AHerthumswissenschafb  467 

Richtung  mit  Götüngischer  Aesthetik  und  Peetoralphilologie  in 
Verbindung,  erfolgreicher  aber  in  Bitscbi  mit  Bentiey'scber  Kühn- 
heit ,  nie  es  denn  in  Lachmann's  letztem  Decennium  unter  seinen 
Schülern  Sitte  wurde  von  Berlin  sich  nach  Bonn  zu  wenden,  um 
Lachmann's  skeptische  Nüchternheit  durch  positivere  Anregungen 
in  sich  ergänzen  zu  lassen. 

In  der  That  stellt  Ritschi  —  ein  Schüler  von  G.  Hermann 
und  dessen  genialstem  Schüler  Reisig«  und  ein  Freund  von  Lach* 
mann  —  in  seiner  Person  die  Vereinigung  von  G,  Hermann  und 
C«  Lachmann  dar.  Ritschi  besitzt  erstens  Lachmann's  Scharf* 
blick  und  Sicherheit  der  Combination,  sein  streng  geschultes 
Denken,  das  vorsichtig  vom  Bekannten  zum  Unbekannten  auf* 
steigt,  sowie  seine  Akribie  und  Strenge  in  Unterscheidung  und 
Ausbeutung  der  Handschriften.  Wie  tief  die  Richtung  auf  das 
Urkundliche  in  Ritschrs  Wesen  begründet  ist  zeigt  sich  darin 
dass  er,  von  dem  Gebiete  weg  wo  wir  auf  die  Vermittlung  der 
Abschreiber  angewiesen  sind,  sich  mit  Vorliebe  demjenigen  zu* 
gewandt  hat  wo  wir  die  Originale  selbst  noch  handhaben  kdn- 
nen,  zur  Epigraphik,  und  hier  abermals  sich,  wenn  irgend  mög- 
lich, nicht  mit  Abschriften  begnügt  —  bei  welchen  die  Individua- 
lität des  Abschrdbenden  immer  noch  Einfluss  üben  konnte  — 
sondern  nur  bei  den  Originalen  selbst  sich  beruhigt  oder  Ab- 
drücken die  auf  mechanischem  Wege  von  ihnen  genommen  sind. 
Auch  seine  Abneigung  gegen  Disdplinen  wo  wenig  fester  Boden 
unter  den  Füssen  ist  und  subjective  Combination  sich  an  die 
Stelle  der  exacten  Forschung  setzt,  wie  Etymologie  u»i  Mytho- 
logie, wird  auf  diese  Quelle  zurückgeben.  Diese  Gewissenhafltg- 
keit  in  Feststellung  des  Thatsäddichen  macht  Ritscbl  auch  sei- 
nen Schülern  zur  Pflicht,  so  dass  manche  derselben  —  ^e  H. 
Keil  —  in  Bezug  auf  Vergleicben  von  Handschriften  und  deren 
Beurteilung  die  höchste  Genauigkeit  und  Zuverlässigkeit  bewäh- 
ren. Mit  dieser  urkundUchen  Strenge  verbindet  aber  Bitscbi 
zugleich  eine  Sicherheit  des  Selbstbewusstseins  der  handschrift- 
lichen Ueberlieferung  gegenüber  und  eine  unternehmende  Kühn- 
heit wie  sie  grösser  kaum  bei  G.  Hermann  war.  In  Folge  dessen 
vermag  es  Ritschi  nicht  immer  am  gehörigen  Orte,  da  wo  Re- 
signation geboten  wäre,  den  Versuchungen  zur  Selbstsehöpfung 
zu  widerstehen.  Dabei  begegnet  es  ihm  nicht  viel  weniger  als 
G.  Hermann  dass  er  eine  aus  einer  Mehrheit  von  Fällen  abstra- 
hierte Beobachtung  allzu   rasch  als  Regel   und  unverbrüchliches 

30* 


468  Die  Hauptrichlungen 

Gesetz  aufstellt  und  alles  Widerstrebende  kurzweg  danach  ab- 
ändert. So  ist  besonders  derjenige  Schriftsteller  um  welchen 
Ritschi  sich  die  grössten  Verdienste  erworben  hat,  Plautus,  von 
ihm  zugleich  in  eine  Anzahl  metrischer  Regeln  eingeschnürt  wor- 
den von  welchen  dieser  sicherlich  keine  Ahnung  halte  *) :  ein 
Verfahren  welches  einem  Volksdichter  und  einem  Römer  gegen- 
über noch  viel  weniger  berechtigt  sein  kann  als  wo  G.  Hermann 
es  geübt  hatte  ^  bei  den  griechischen  Dichtern.  Andererseits  hat 
Ritschi  vor  G.  Hermann  voraus  dass  er  die  verhaltnissmässige 
Enge  von  dessen  grammatischem  Gesichtskreis  erweitert  hat  durch 
Anlehnung  an  die  vergleichende  Sprachforschung  der  Gegenwart, 
und  er  für  seine  Person  ist,  wie  seine  Schrift  über  das  alexan- 
drinische  Museum  und  seine  Parerga  zu  Plautus  bewiesen  haben, 
auch  weit  entfernt  von  der  beschränkten  Anschauungsweise  welche 
die  philologische  Wissenschaft  in  der  Ausübung  der  Textkritik 
aufgehen  lässt.  tJeberdiess  besitzt  Ritschi  eine  reichliche  Dosis 
von  Lachmann's  wissenschaftlichem  Wahrheitssinn.  Willig  lässt 
er  sich  von  Freunden  und  Schülern  wie  von  Fernerstehenden  be- 
lehren und  wird  nicht  müde  eigene  Angaben,  Rehauptungen  und 
Vermutungen  zu  berichtigen  oder  zurückzunehmen,  selten  um 
einen  neuen  Einfall  an  die  Stelle  eines  alten  zu  setzen,  gewöhn- 
lich vielmehr  weil  inzwischen  der  urkundliche  Thatbestand  eine 
Rereicherung,  die  Forschung  einen  Fortschritt  erfahren  hat.  In 
dieser  Selbstkritik  gipfelt  die  kritische  Richtung  und  liegt  etwas 
Versöhnendes  für  die  Gewohnheit  des  Polemisierens,  welche,  auch 
Schwachen  und  Unbedeutenden  gegenüber  und  mit  schneidender 
Schärfe,  oft  Ritterkeit  und  Hohn  geübt,  leicht  den  Eindruck  des 
Zänkischen  machen  und  abstossen  könnte.  Noch  grösser  aber 
ist  die  Gefahr  dass  diese  Manier,  von  Schülern  ohne  die  Ver- 
dienste des  Meisters  nachgeahmt,  in  die  wissenschaftlichen  Ver- 
handlungen einen  verdammenswerthen  Ton  einführt,  zumal  wo 
das  Rewusstsein  stark  ausgeprägt  ist  einer  Schule  anzugehören 
welche  die  richtige  Methode  zu  ihren  Resitzthümern  zählt.  Frei- 
lich ist  diese  Methode  nichts  einer  einzelnen  Schule  Eigenthüm- 
liches  und  nur  in  ihr  zu  Erwerbendes,  sondern  die  gemeinsame 
Errungenschaft  der  gesammten  neueren  Entwicklung  der  classischen 
Philologie,  aufgebaut  auf  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Denkens 

*)  Für  Sachverständige  wird  es  kaum  einer  Bemerkung  bedürfen 
dass  dieses  Urteil  dem  von  Ritschi  seitdem  selbst  überwundenen  Stande 
punkte  der  Prolegomena  galt. 


in  der  heutigen  classischen  Alterthumswissenscbaft.  469 

uud  aller  Geschichtsforschung.  Aber  es  ist  das  Schicksal  aller 
Schulen ,  indem  sie  in  ihrer  Mitte  eine  Tradition  bilden  die  den  in 
sie  Eintretenden  fuhrt  und  fördert,  zugleich  eine  gewisse  Enge 
des  Gesichtskreises  zu  begünstigen,  eine  Selbstgenügsamkeit  und 
Unduldsamkeit,  einen  Geist  der  Kameraderie  welcher  nur  das  was 
die  eigene  Livree  trägt  anerkennt  und  für  das  was  ausserhalb 
des  geweihten  Kreises  steht  entweder  gar  kein  Auge  hat  oder 
nur  Vorurteil  und  vornehmes  Herabsehen. 

Wir  haben  gesehen  wie  von  G.  Hermann's  grammatisch- 
kritischer Richtung  und  Thäligkeit  der  kritische  Theil  in  seiner 
wesentlichen  Grundlage  durch  Lachmann  und  Ritschi  berichtigt 
wurde.  Ausserdem  ward  er  von  diesen  auch  ergänzt,  dadurch 
dass  sie  ihre  kritische  Thätigkeit  mit  derselben  Bevorzugung  den 
lateinischen  Schriftstellern  zuwandten  wie  G.  Hermann  die  grie- 
chischen begünstigt  hatte;  und  es  hat  in  Folge  davon  in  der 
Gegenwart  die  ohnehin  einfachere  und  leichter  zu  überblickende 
und  auch  manchfach  praktischere  lateinische  Literatur  sogar  ein 
augenblickliches  Uebergewicht  über  die  hellenische  erlangt.  Ferner 
hat  auch  die  grammatische  Seite  wesentliche  Fortschritte 
über  G.  Hermann  hinaus  gethan,  nicht  blos  durch  Lobeck, 
welcher  seinen  Lehrer  an  Schärfe  und  Fülle  der  Beobachtung 
weit  übertroffen  hat,  sondern  besonders  dadurch  dass  die  classi- 
sche  Philologie  sich  dem  Impulse  nicht  verschloss  welcher  ihr  von 
Seiten  der  allgemeinen  Linguistik  wurde  und  ihr  specielles  Object, 
die  Sprachen  der  beiden  classischen  Völker,  als  Glieder  der  grossen 
Familie  der  indogermanischen  oder  arischen  Sprachen  erkennen 
und  behandeln  lernte,  wodurch  namentlich  auch  das  Verhältnis» 
der  beiden  classischen  Sprachen  zu  einander  erst  auf  seinen  rich- 
tigen Ausdruck  gebracht  worden  ist  und  der  Anstoss  gegeben  zu 
euier  historischen  Behandlung  der  alten  Sprachen.  Es  war  keine 
bestimmte  Schule  welche  diese  Erkenntniss  in  sich  aufnahm  und 
nährte:  es  ist  ins  allgemeine  Bewusstsein  der  classischen  Philo- 
logie übergegangen  dass  es  principiell  so  sein  sollte ,  und  nur  die 
grosse  Schwierigkeit  der  Ausführung,  das  Missverhältniss  in  welcher 
die  Aufgabe  —  den  ganzen  Kreis  jener  Spracbenfamilie  zu  um- 
spannen und  dabei  mit  Sprache ,  Literatur  und  Leben  der  beiden 
classischen  Völker  ins  Einzelste  hinein  vertraut  zu  sein  —  mit 
den  Kräften  des  menschlichen  Individuums  steht  trägt  daran 
Schuld  wenn  jene  Verwerthung  der  Sprachvergleichung  für  die 
classische  Philologie  nicht  schon  in  ausgedehnterem  Masse  statt- 


470  l^ie  Haupirichtongen 

gefunden  hat  und  es  immer  noch  Mos  einzelne  Mitglieder  der 
verschiedenen  Schulen  sind  (wie  G.  Curtius,  A.  KirchhofT,  L.  A. 
Ahrens,  L.  Lange,  W.  Corssen  u.  A.,  in  ihrer  Weise  auch  Ritscbl 
und  Fleckeisen)  in  welchen  jene  beiden  wissenschaftlichen  Gebiete 
sich  berühren  oder  durchdringen.  Manchen  der  an  Sauberkeit 
und  Klarheit  der  Untersuchung  gewöhnt  ist  mag  auch  diess  ab- 
schrecken dass  bis  jetzt  die  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Sprachvergleichung  in  Methode  und  Resultat  oft  recht  ungeniess- 
bar  sind,  wie  namentlich  die  Leistungen  in  der  vergleichenden 
Mythologie  vorerst  noch  den  Eindruck  von  Hexenkesseln  machen, 
worin  die  Göttergestalten  aller  Völker  und  Zeiten  zu  einem  schaalen 
Brei  zusammengeruhrt  werden.  Aber  dass  hier  noch  Vieles  der 
Abklärung  bedarf,  dass  allmählich  zu  der  Methode  bin  auch  etwas 
mehr  Unterscheidung  und  Urteil  im  Vergleichen  und  Combinieren 
aufgeboten  werden  muss,  wird  von  den  Linguisten  selber  schwerlich 
bestritten  werden,  und  darf  jedenfalls  uns  nicht  abhalten  anzu- 
erkennen dass  der  Fortschritt  in  Behandlung  der  beiden  classt- 
schen  Sprachen  nur  auf  diesem  Wege,  durch  Anschluss  an  die 
vergleichende  Grammatik,  geschehen  kann. 

Endlich  die  G.  Hermanu'sche  Metrik  ist  in  der  neuesten 
Zeit  (besonders  durch  R.  Westphal)  auf  wesentlich  neue  Grundlagen 
gestellt  worden,  nachdem  schon  Böckh  sie  tiefer  Iiegrundet  und 
in  erheblichen  Punkten  berichtigt  und  vervollständigt  hatte. 

Und  damit  haben  wir  den  Namen  genannt  welcher  eine  un* 
erlässliche  Ergänzung  der  grammatisch -kritischen  Richtung  ver- 
tritt. Die  Ergröndüng  der  classischen  Sprachen  und  die  metho- 
dische Feststellung  der  Texte  der  classischen  Schriftsteller  wird 
zwar  allezeit  die  Basis  der  classischen  Philologie  bleiben  müssen; 
aber  die  Basis  ist  nicht  das  Gebäude,  und  die  Form  nicht  die 
ganze  Sache.  Wäre  mit  der  Grammatik  und  Kritik  die  Aufgabe 
der  classischen  Philologie  erschöpft,  so  Hesse  sich  ihre  weitere 
Lebensdauer  nach  Jahren  schätzen  oder  doch  Jahrzehnten.  Dem 
ist  aber  nicht  so.  Haben  wir,  so  gut  als  die  erhaltenen  Hölfs- 
mittel  es  gestatten,  die  unverfälschten  Worte  jedes  Schriftstellers 
festgestellt,  so  muss  die  Erörterung^  des  Inhaltes  ihren  Anfang 
nehmen,  sowohl  nach  der  individuellen  wie  nach  der  allgemei- 
nen Seite:  einmal  die  Betrachtung  des  Schriftwerkes  als  eines 
Ganzen,  seiner  Oekonomie,  der  Art  wie  es  seine  Aufgabe  gelöst, 
was  für  ein  Bild  des  Verfassers  sich  aus  ihm  ergebe,  welche 
Stellung  dieser  hiernach  innerhalb  des  betreffenden  Kreises  und 


in  der  heutigen  classischen  Alterthumswissenschaft  471 

innerhalb  seiner  Zeit  einnehme  —  die  literarhistorische  und  äs- 
ihetische  Seite;  anderntheils  musS  aus  dem  Inhalte  der  alten  Schrift- 
steller, ergänzt  durch  die  übrigen  auf  uns  gekommenen  Denk- 
mäler,  nunmehr  das  Altertbum  selbst  reproduciert  werden  nach 
seinen  ethnographischen  und  politischen  Verhältnissen,  nach  Kunst, 
Religion  und  Sitte.  Diese  Erweiterung  der  Philologie  zur  Alter- 
thumswissenschaft, im  Princip  schon  ausgesprochen  durch  F.  A. 
Wolf,  ist  zuerst  von  A.  Böckh  vornehmlich  für  die  Gebiete  des 
Staatslebens  und  der  Literatur  der  Griechen  in  grossartigem  Mass* 
Stabe  und  in  ebenso  methodisch  grundlicher  wie  geistvoller  Weise 
durchgeführt  worden'*'),  und  bald  nach  ihm  hat  F.  G.  Welcker 
angefangen  die  Literatur,  Kunst  und  Mythologie  des  Alterthums 
mit  genialer,  weitumfassender,  anregungsreicher  Combination,  wie- 
wohl nicht  immer  mitBöckh's  methodischer  Besonnenheit,  zu  be- 
arbeiten, während  Niebuhrs  Beispiel  und  Lehre  innerhalb  des 
römischen  Alterthums  neue  Bahnen  brach.  Seitdem  hat  die  Thätig- 
keit  auf  diesem  Gebiete  nicht  geruht.  Es  ist  vielleicht  weniger 
Geräusch  auf  dieser  Seite,  aber  desto  mehr  intensives  Leben  und 
desto  mehr  Wolle.  Kaum  ist  irgend  ein  Zweig  der  Realphilo* 
logie  welcher  nicht  glänzende  oder  doch  tüchtige  Vertreter  und 
mustergültige  Leistungen  aufzuweisen  hätte.  Ich  brauche  hier 
nur  Namen  zu  nennen  wie  0.,  Müller,  K.  F.  Hermann,  W.  A. 
Becker,  G.  Bernhardy,  Scliömann,  E.  Gerhard,  Göttling,  dann 
weiter  hinab  in  den  Jahren  L.  Boss,  L.  Preller,  £.  Curtius,  auf 
römischem  Gebiete  Tb.  Mommsen,  und  ganz  besonders  wieder,  für 
Römisches  wie  Griechisches,  O.Jahn,  um  noch  jüngere  Lebende 


*)  Als  besonders  bezeichnend  sei  hier  nachträglich  angeführt  eine 
Aeusseruug  Böckh's  in  einem  Briefe  an  Fr.  v.  Raumer,  Berlin  22.  März 
1818  (Fr.  y.  Räumer,  Lebenserinnerungen  und  Briefwechsel,  Leipzig 
1861,  IL  S.  90):  ...  ,,Ich  werde  mich  leicht  trösten  können  ttber 
den  Halbwitz  der  Philologen  von  gemeinem  Schlage,  die  sich  darüber 
ärgern  dass  Einer  den  sie  auch  für  einen  erträglichen  ABC  Schützen 
hielten  sich  erdreistet  zu  behaupten  die  ABC  Wissenschaft  sei  nicht  der 
Gipfel  der  Weisheit;  und  ich  sehe  schon  im  Geiste  wie  die  sächsische 
Schule,  für  welche  es  ausser  Grammatik  und  Metrik  keine  Philologie 
oder  Alterthumskunde  gibt,  sich  gegen  mich  als  einen  Realisten  ins  Zeug 
werfen  wird.  Fr.  Passow  schrieb  mir  neulich  gelegentlich,  ich  sei  über 
das  Gebiet  der  Philologen  hinausgeschritten  [mit  dem  Staatshaushalt  der 
Athener]  und  habe  mich  in  das  geschichtliche  verloren;  für  mich  gibt 
es  aber  keine  Philologie  die  nicht  Geschichte  wäre,  und  als  einen 
Theil  dieser  Geschichte  sehe  ich  die  Geschichte  der  Sprache  an,  welche 
in  einseitig  gebildeten  Köpfen  zum  Ganzen  wird.*' 


472    Die  Hauptrichtungen  in  der  heutigen  class,  Alterthumswisfi. 

hier  unerwähnt  zu  lassen.  Ueberhaupt  müssen  wir  es  uns  ver- 
sagen im  Einzelnen  die  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  zu  schildern 
und  die  Mitarbeiter  an  dem  grossen  Werke  der  Wiederbelebung 
des  dassischen  Alterthums  mit  einiger  Vollständigkeit  namhaft  zu 
machen;  wir  beschränken  uns  vielmehr  in  dieser  Hinsicht  zum 
Schlüsse  auf  wenige  Bemerkungen. 

Erstens:  wie  keiner  der  genannten  Männer  eher  zur  Erfor- 
schung der  realen  Seite  des  Alterthums  weiter  geschritten  ist  als 
bis  er  im  sicheren  Besitze  aller  der  Mittel  war  welche  die  gram- 
matisch-kritische Richtung  bietet  und  fordert,  und  wie  sie  bei  ihren 
Forschungen  fortwährend  sich  dieser  Grundlage  bewiisst  bleiben 
und  sie  für  ihre  Methode  massgebend  sein  lassen,  —  so  werden  wir 
überhaupt  die  vollste  Herrschaft  über  die  dassischen  Sprachen  und 
Sicherheit  in  methodischer  Handhabung  der  Kritik  von  Jedem  for- 
dern müssen  welcher  wirklich  Philolog  sein  und  bleiben  will,  und 
werden  eben  darein.den  Markstein  und  das  Unterscheidungsmerkmal 
gegenüber  vom  Historiker  oder  Aesthetiker  setzen  müssen. 

Zweitens:  wie  wir  uns  bei  Betrachtung  der  formalen»  gram- 
maiischen  Seite  unserer  Wissenschaft  schliesslich  hinausgewiesen 
sahen  auf  das  unermessene  Gebiet  der  Linguistik,  so  führt  der 
Weg  der  Realphilologie  in  seinem  Verfolge  zu  der  noch  kolossa- 
leren Aufgabe  einer  Culturgeschichte  der  Menschheit,  von  welcher 
die  classische  Alterthumswissenschaft  nur  ein  einziges,  wenn  auch 
besonders  bedeutsames,  Glied  ist. 

Und  endlich  in  Betreff  der  Personen  erregt  es  freiUch  ein 
schmerzliches  Gefühl  und  führt  zu  trüben  Betrachtungen  wenn 
wir  sehen  wie  die  Häupter  unserer  Wissenschaft  grösstentheils 
grau  sind ,  ja  manche  sogar  der  Grenze  alles  menschlichen  Wirkens 
und  Lebens  ganz  nahe  stehen,  andere  schon  in  den  Jahren  männ- 
licher Reife,  in  ihrer  besten  Kraft  und  schönsten  Wirksamkeit,  hin- 
weggerailt  werden,  hoffnungsvolle  Nachstrebende  in  der  Blüte  der 
Jahre  aus  unserer  Mitte  scheiden:  aber  ein  Umblick  unter  den 
Lebenden  zeigt  doch  auch  manchen  tüchtigen  Stamm,  welcher  edle 
Früchte  schon  getragen  hat  und  andere  noch  zu  bringen  verspricht, 
und  über  Allem  steht  die  Ueberzeugung  von  der  Ewigkeit  der 
Wissenschaft  und  der  unvergänglichen  Jugend  des  dassischen  Alter- 
thums ,  welches  trotz  aller  hemmenden  Verhältnisse ,  ja  sogar  trotz 
der  Missgriffe  und  der  Unzulänglichkeit  seiner  Diener,  es  verstehen 
wird  auch  fortan  sich  in  ungeschwächter  Geltung  zu  erhalten,  so  lange 
die  Menschheit  überhaupt  noch  Sinn  hat  für  geistige  Interessen. 


xxm. 

Friedrich  Hölderlin*). 


Ein  reicher  und  tiefer  Dichtergeist,  ein  Leben  voll  einfacher 
gewöhnlicher  Verhältnisse ,  und  doch  von  so'  peinlichem  Verlaufe 
und  so  erschütterndem  Ende  ist  uns  in  diesen  Tagen  wieder  vor 
die  Augen  geführt  worden,  ein  unschätzbares  und  doch  in  dem 
selbstsüchtigen  Drängen ;  der  undankbaren  Vergesslichkeit  der  Ge- 
genwart so  vielfach  übersehenes  Kleinod  ist  durch  treue  Hände 
wieder  ausgegraben  und  würdig  gefasst  worden.  Friedrich  Hol- 
derlin's  sämmüiche  Werke,  herausgegeben  von  G.  Schwab's  Sohn, 
Christoph  Theodor  Schwab,  liegen  vor  uns**).  Sie  enthalten 
ausser  dem  längst  dem  deutschen  Volke  lieb  Gewordenen  auch 
sehr  vieles  Neue;  eine  ganze  Anzahl  der  schönsten  und  bezeich- 
nendsten Gedichte  ist  hier  zum  ersten  Mal  veröfTenÜicht,  ganz 
besonders  aber  zieht  der  im  zweiten  Bande  mitgetheilte  Brief- 
wechsel des  Dichters  mit  seiner  Familie,  mit  Neuffer,  Schiller 
und  Hegel ,  durch  das  Bedeutsame  seines  Inhalts  die  Aufmerksam- 
keit auf  sich.  Zwar  hat  eine  etwas  ängstliche  Pietät  auch  jetzt 
noch  die  VeröiTentlichung  des  ganzen  von  Hölderlin  hinterlassenen 
Briefvorrathes ,  namentlich  der  Briefe  Diotima's,  verhindert;  aber 
auch  so  liegt  der  Stoff  nuitmehr  vollständig  genug  vor  um  eine 
gerechte  Würdigung  von  Hölderlin's  Eigenthümlichkeit  als  Mensch 
und  Dichter,  eine  Darlegung  seines  Entwicklungsganges  und  eine 
Erklärung  seines  tragischen  Endes  möglich  zu  machen. 

,,Es  gibt  zwei  Ideale  unseres  Daseins :  eine  unmittelbare  an- 
geborne  und  eine  durch  Freiheit  vermittelte  Einheit  mit  der  Natur, 


*)  Aus  den  Monatblättern  zur  Ergänzung  der  Allgemeinen  Zeitung 
1847,  Februar,  S.  61—72. 

•*)  Stuttgart  und  Tübingen ,'  J.  6.  Cotta'scher  Verlag.  Zwei  Bande. 
1846. 


474  Fr.  Hölderlin. 

—  einen  Zustand  der  höchsten  Einfalt  und  einen  der  höchsten 
Bildung.  Zwischen  diesen  beiden  Punkten  bewegt  sich  die  Bahn  des 
einzelnen  Menschen  und  der  Menschheit  im  Ganzen"  (II.  S.  231). 
Diese  Aeusserung  des  24jährigen  Hölderlin  enthält  die  Grundan- 
schauung seines  ganzen  Lebens  und  Dichtens:  die  Natur  ist  sein 
oberstes  Princip,  sein  Gott,  und  die  Einheit  mit  ihr  sein  Ideal, 
der  vollkommenste,  seligste  Zustand  den  er  sich  zu  denken  ver- 
mag,  von  welchem  es  aber  zwei  Erscheinungsweisen  gibt:  die 
unmittelbare  naturwüchsige  Einheit,  und  die  selbstbewusste  freie; 
jene  verwirklicht  sich  innerhalb  des  Lebens  des  einzelnen  Men- 
schen —  in  der  Kindheit,  und  ist  innerhalb  der  Geschichte  der 
Menschheit  verwirklicht  gewesen  —  in  der  hellenischen  Welt; 
diese,  die  freie  Einheit  mit  der  Natur,  zu  erreichen  ist  höchste 
Aufgabe  und  letztes  liel  für  das  Individuum  wie  für  die  Gattung. 

Aus  diesen  Gesichtspunkten  betrachtet  Hölderlin  vor  allem 
sein  eigenes  Leben.  Nur  einmal  ist  er  glücklich  gewesen  in 
seinem  Leben,  nur  einmal  war  sein  Zustand  ein  ideaiischer:  in 
seiner  Kindheit;  aber  mit  ihr  ist  ihm  die  unmittelbare  Einheit 
mit  der  Natur  und  dadurch  die  Seligkeit  entschwunden,  und  als 
er  sie  wiederzuerobern  gieng,  brachte  ihn  die  Wahrnehmung  wie 
weit  die  wirkliche  Welt  von  jenem  Ideal  entfernt  sei  zur  Ver- 
zweiflung, bis  ihm  in  Diotima  dasselbe  verkörpert  entgegentrat. 
Wurde  er  auch  an  ihr  sich  erst  recht  schmerzlich  bewusst  wie 
fern  er  selbst  von  seinem  Ideal  sei,  so  lag  doch  andererseits  in 
der  Entfaltung  ihres  Wesens  für  ihn  so  viel  Bestätigendes,  Trö- 
stendes und  Ermutigendes  dass  das  Bekanntwerden  mit  ilir  einen 
neuen  Abschnitt  in  seinem  Leben  begründet.  Aber  gewaltsam  von 
ihrer  Seite  gerissen,  vergass  er  in  seinem  Schmerze  dass  sie 
darum  doch  nicht  aufgehört  habe  die  Verwirklichung  seiner  höch- 
sten Gedanken  zu  sein,  fiel  in  seine  frühere  Verzweiflung  an  der 
Menschheit  und  sich  selbst  zurück,  und  rieb  in  diesem  Kampfe 
seinen  Geist  auf.  Diese  allgemeinen  Umrisse  auszuführen  ist  die 
nächste  Aufgabe  des  Folgenden. 

Im  Jahr  1770  geboren  und  früh  des  Vaters  beraubt,  wuchs 
Fr.  Hölderlin  unter  der  ausschliesslichen  Hut  einer  tiefgemüllichen 
Mutter  auf.  Verständige  Mütter,  das  ihnen  vielfach  Unverständ- 
liche und  Unzugängliche  eines  männlichen  Wesens  begreifend,  be- 
scheiden sich  bald  auf  die  Geistesentwicklung  ihrer  Söhne  direct 
nur  einen  negativen  Einfluss  zu  üben,  und  so  war  dem  heran- 
wachsenden Knaben  ein  freier  Spielraum  gelassen   seine  Eigen* 


Ft.  Hölderlin.  475 

tbümlichkeit  zu  entfalten.  Diess  hatte  einerseits  die  nacbtheilige 
Wirkung  in  ihm  jenen  Eigensinn  zur  Entwicklung  zu  bringen  mit 
dem  er,  statt  sich  nach  der  Welt  und  für  sie  zu  bilden,  von  den 
Verhältnissen  sich  erziehen  zu  lassen,  vielmehr  die  Welt  nach 
sich  gestalten  wollte,  und  sich  darauf  steifte  mit  seinem  Geist 
entweder  die  Welt  zu  beherrschen  oder  unterzugehen.  Anderer- 
seits aber  entfaltete  sich,  immer  nur  genährt  und  nie  gehemmt, 
in  diesen  Jahren  die  ihm  eigenthumliche  Weichheit  seines  Wesens, 
sein  Hang  zu  träumerischer  Hingabe  an  die  unbelebte  Natur,  zu 
idealischer  Betrachtungsweise,  nur  um  so  breiter,  tiefer  und  stärker. 
Klopstock  war  daher  sein  Held,  wie  damals  aller  Welt;  seine 
Gestalten  schienen  ihm  gross  weil  sie  auf  Stelzen  gehen,  seine 
Sprache  erhaben  weil  sie  unnatürlich  ist,  und  begeistert  las  er 
daher  oft  seinem  Halbbruder  Klopstocks  Hermannsschlacht  vor. 
Darin  aber  dass  seine  natürlichen  Neigungen  so  gar  keinen  Wider- 
stand erfuhren  und  so  reiche  Nahrung  erhielten  bestand  die  Selig- 
keit dieser  Jahre,  welche  der  Dichter  selbst,  von  seiner  späteren 
systematisch  entwickelten  Weltanschauung  aus,  einseitig  aus  seiner 
damaligen  unmittelbaren  Einheit  mit  der  Natur  ableitete,  die  er 
wiederholt  in  den  köstlichsten  Worten  uns  schildert.  Es  waren 
„goldne  Tage  da  ich  in  Träumen,  Mir  entlockt  vom  heitern 
Tag,  Unter  meines  Gartens  Bäumen  Ein  zufriedner  Knabe  lag*' 
(I,  14).  „Wenn  ich  oft  dalag  unter  den  Bäumen  und  am  zärt- 
lichen Frühlingslichte  mich  sonnte  und    hinauf   sah    ins   heitere 

Blau  das  die  Erde  umfieng hast  du  mich  lieb,  guter  Vater 

im  Himmel?  fragt'  ich  dann  leise,  und  fühlte  seine  Antwort  so 
sicher  und  selig  am  Herzen "  (Hyperion  S.  9).  Am  schönsten  aber 
ist  dieser  selige  Zustand,  diese  himmlische  Rulie  der  Kindheit  ge- 
schildert in  dem  Fragmente  welches  jetzt  (II.  S.  267)  zum  ersten 
Mal  vollständig  mitgetheilt  ist  und  woraus  wir  nur  die  Worte 
hervorheben;  „Da  ich  ein  Knabe  war  Rettet'  ein  Gott  mich  oft 
Vom  Geschrei  und  der  Ruthe  der  Menschen ;  Da  spielt*  ich  sicher 
und  gut  Mit  den  Blumen  des  Hains,  Und  die  Lüftchen  des  Him- 
mels Spielten  mit  mir.  —  —  0  all  ihr  treuen.  Freundlichen 
Götter!  Dass  ihr  wüsstet  Wie  euch  meine  Seele  geliebt!  Zwar 
damals  rief  ich  noch  nicht  Euch  mit  Namen,  auch  ihr  Nanntet 
mich  nie  wie  die  Menschen  sich  nennen.  Als  kennten  sie  sich; 
Doch  kannt'  ich  euch  besser  Als  ich  je  die  Menschen  gekannt. 
Ich  verstand  die  Stille  des  Aethers,  Der  Menschen  Worte  verstand 
ich  nie*     Mich  erzog  der  Wohllaut  Des  säuselnden  Hains,  Und 


476  Fr.  Hölderlin. 

iiebeu  lernt*  ich  Uuter  den  Blumen,  fm  Arm  der  Götter  wuchs 
ich  gross.*'  Diese  goldenen  Kinderträume  verbargen  ihm  des 
Lebens  Armut  (i,  15);  später,  als  der  Jungling  die  Scbranken- 
losigkeit  des  mütterlichen  Hauses  mit  dem  disciplinarischen  Zwange 
einer  klosterartigen  Unterrichtsanstalt  vertauscht  hatte,  übten  die- 
selbe Wirkung  idealistische  Studien;  so  war  namentlich  Schiller's 
Don  Carlos  „lange  Zeit  die  Zauberwolke  in  die  der  gute  Gott 
meiner  Jugend  mich  hüllte,  dass  ich  nicht  zu  früh  das  Kleinliche 
und  Barbarische  der  Welt  sab  die  mich  umgab"  (II,  150).  Da- 
mals aber  war  der  Frieden  seiner  Seele  bereits  gestört,  das  fromme 
Leben,  vergänglich  wie  die  Rosen  (I,  38),  bereits  geschwunden; 
schmerzliche  Kämpfe  zwischen  seiner  Neigung  und  seiner  ver- 
meintlichen Pflicht  hatten  es  erschüttert;  namentlich  dass  er  sich 
Gewalt  anthat  und  Philosophie  und  Theologie  studierte^  während 
ihn  doch  alle  Fasern  seines  Wesens  vielmehr  zur  Poesie  wiesen, 
wurde  für  ihn  eine  Quelle  tiefen  Unfriedens  und  Missmutes  (II,  60). 
Die  Gedichte  aus  dieser  Zeit  verrathen  an  allen  Enden  den  Idea- 
listen und  Pathetiker,  insbesondere  den  Schüler  von  Klopstock 
und  Schiller,  deren  Worte  sogar  manchmal  heraustönen.  Wenn 
z.  B.  das  Gedicht  „Männerjubel"  (H,  164)  beginnt: 

,, Erhabne  Tochter  Qottes,  Gerechtigkeit, 
Die  du  den  Dreimalheirgen  von  Anbeginn 
Umstrahltest  und  umstrahlen  wirst  am 
Tage  der  ernsten  Gerichtsposaune",  — 

so  glauben  wir  eine  Ode  Klopstock 's  vor  uns  zu  haben.  Oder 
wenn  es  I,  8  heisst:  „Ach  wie  der  Geist,  vom  wunderbaren  Siege 
Berauscht,  der  armen  Sterblichkeit  vergass,"  und  II,  173  der 
Hymnus  an  die  Liebe  sich  mit  der  Strophe  eröffnet:  „Froh  der 
süssen  Augenweide  Wallen  wir  auf  Gottes  Flur;  Unser  Priester- 
thum  ist  Freude,  Unser  Tempel  die  Natur;  Heute  soll  kein  Auge 
trübe,  Sorge  nicht  hienieden  sein.  Jedes  Wesen  soll  der  Liebe 
Frei  und  froh  wie  wir  sich  freun "  —  so  erkennen  wir  alsbald 
bekannte  Schiller*sche  Lieder  als  Vorbilder.  Von  Matthisson 
endlich  hat  Hölderlin  den  sentimentalen  elegischen  Ton,  die  ge- 
reimten Strophen,  und  die  Unsitte  Vordersätze  durch  die  rheto- 
rische Figur  der  Wiederholung  zu  mehreren  Strophen  auszu- 
spinnen  und  <lann  den  Nachsatz  in  einer  einzigen  Zeile  nach- 
hinken zu  lassen;  vergl.  I,  6.  13.  14  f.,  wo  die  beiden  ersten 
Stanzen  den  mit  vier  Da  eingeführten  Vordersatz  zu  dem  schlan- 
ken Nachsatze:    „Da    umfiengen   goldne  Tage  mich"  enthalten. 


Fr.  HölderHn.  477 

und  ganz  ebenso  die  zwei  nächsten  Stanzen  vier  Wenn  für  den 
Nachsatz:  „Da  erschienst  du,  Seele  der  Natur." 

Dem  Stoffe  nach  behandeln  diese  Jugendgedichte  überle- 
gend ganz  abstracte  Themata,  wie  die  Stille,  Ruhe,  Menschheit, 
Freiheit,  Freundschaft,  Liebe,  Schönheit,  Jugend,  Kühnheit,  und 
zwar  in  der  damals  namentlich  durch  Klopstock  in  die  Mode  ge- 
kommenen Form  von  Oden  und  Hymnen,  wobei  es  natürlich  zu 
einer  eigentlichen  Entfaltung  und  Veranschaulichung  des  Gegen- 
standes nicht  kommen  kann,  und  der  Eifer  und  die  Erhitzung 
des  Dichters  die  Hauptsache  bleibt.  Mit  der  idealischen  Betrach- 
tungsweise welche  solchen  Dichtungen  als  Voraussetzung  zu  Grunde 
liegt  scheiterte  aber  nun  der  junge  Dichter  sobald  er,  die  en- 
gen Klostermauern  die  ihn  bisher  umschlossen  hatten  verlassend, 
in  die  Welt  selbst  hinaustrat.  Zu  den  idealen  Anforderungen 
welche  er  an  die  Welt  im  Ganzen  machte  kamen  auch  noch 
ziemlich  bedeutende  persönliche.  Er  war  in  Folge  seiner  kör- 
perlichen Schönheit,  seiner  hohen  musikalischen  Begabung,  sei- 
nes dichterischen  Talentes  und  seiner  wissenschaftlichen  Fähig- 
keiten schon  Gegenstand  vielfacher  Anerkennung  und  Huldigung 
geworden;  Schilter,  der  allverehrte  Schiller,  hatte  ihn  durch 
Aufnahme  eines  Stücks  vom  Hyperion  in  die  Thalia,  und  dann 
dadurch  dass  er  ihm  eine  Hauslehrerstelle  in  seiner  Nähe  ver- 
schaffte, ausgezeichnet;  und  es  hätte  daher  Hölderlin  glänzend 
ergehen  müssen  wenn  er  sich  hätte  vollständig  befriedigt  fühlen 
können.  Andererseits  aber  hatte  die  Feinheit  seiner  geistigen  Or- 
ganisation die  unselige  Wirkung  dass  er  von  Jugend  auf  alles 
was  ihn  Störendes  traf  empfindlicher  aufnahm  als  Andere  (H, 
123).  Noch  im  Jahre  1799  klagt  er  dass  ihn  harte  Behauptun- 
gen die  er  zu  lesen  bekommen  halbkrank  gemacht  haben,  und 
fügt  hinzu:  „Es  ist  freilich  nicht  gut  dass  ich  so  zerstörbar 
bin,  und  ein  fester  getreuer  Sinn  ist  auch  mein  täglichster 
Wunsch,  und  nichts  erhält  mich  mehr  in  Demut  als  dass  ich  bei 
allen  meinen  ehrlichen  Bemühungen  und  Einsicht  des  Besseren 
und  Glücklicheren  doch  noch  immer  der  alte  Empfindliche  bin. 
Ich  habe  die  Hälfte  meiner  Jugend  in  Leiden  und  Irren  verloren 
die  nur  aus  dieser  Quelle  entsprangen"  (II,  57  f.).  Jene  An- 
sprüche und  diese  Empfindlichkeit  waren  wohl  der  eigentliche 
Grund  warum  er  seine  im  Ganzen  angenehme  Stellung  im  Hause 
der  Frau  v.  Kalb  aufgab,  im  Januar  1795  nach  Jena  zog  um 
hier  sich   ausschliesslich  dem  Studium  der  Philosophie  und  der 


478  Fr.  Hdlderlin. 

poetischen  Praiis  zu  widmeo,  und  sicher  waren  sie  der  Grund 
warum  er,  als  ihn  das  Unzureichende  seiner  YermögensTerhäU- 
nisse  nöthigte  Jena  zu  verlassen  und  in  die  Heimat  zurückzu- 
kehren, sich  unsäglich  ungläcUich  fühlte.  In  der  einförmigen 
Stille  des  mutterlichen  Hauses,  unter  so  vielen  Zeugen  seines 
einstigen  Rinderglückes,  niedei^edräckt  von  dem  beschämenden 
Gefühle  getauschter  Hoffnungen,  gepeinigt  von  dem  Andringen 
materieller  Rücksiditen  und  Sorgen,  verfiel  Hölderlin  in  eine 
Stinunung  die  er  nicht  trüb  und  düster  genug  schildern  kann. 
„Todt  und  dürftig  wie  ein  Stoppelfeld  ist,"  klagt  er  (I,  15), 
„diese  Brust  die  einst  ein  Himmel  fällte;  —  Ach,  es  singt  der 
Frühling  meinen  Sorgen  Nodi  wie  sonst  ein  freundlich  tröstend 
lied.  Aber  hin  ist  meines  Lebens  Morgen,  Meines  Herzens  Früh- 
ling ist  verblüht"  Nacht  war  es  in  seiner  Seele  (Hyp.  S.  38), 
jeder  frohe  Gott  war  aus  ihr  geschwunden  (I,  17),  und  dnem 
zerrissenen  Saitenspiele  glich  sie:  „ein  wenig  tönt'  ich  noch, 
aber  es  waren  Todesiöne"  (Hyp.  S.  47).  Er  hatte  Stunden  wo 
es  ihm  war  als  ob  die  Oede  in  seiner  eigenen  Brust  die  der 
Welt  wäre,  wo  er  den  Menschen  zurief:  „Noth  und  Angst  und 
Nacht  sind  eure  Herr«i,  den  Hunger  nennt  ihr  Liebe,  und 
wo  ihr  Nichts  mehr  seht  da  wohnen  eure  Götter"  (Hyp.  S.  42). 
Heimatlos  sehnte  sich  seine  Seele  über  das  Leben  hinweg  (I,  39) 
in  der  Todten  stummes  Reich  (1,  17).  Da  im  tiefsten  Dunkel 
der  Nacht  erschien  ihm  Diothna's  leuchtendes  Gestirn:  durc^ 
Sinclair 's  Vermittlung  wurde  er  zu  Anfang  des  Jahrs  1796  Hans- 
lehrer des  Bankier  Gontard  in  Frankfurt,  dessen  Gemahlin  Höl- 
derlin unter  dem  Namen  Diotima  besang.  Der  beseligende  Strahl 
ihrer  Schönheit  und  ihres  Geistes  brachte  sein  Leben  und  Didi* 
ten  neu  in  Fluss.  „Ich  bin  in  einer  neuen  Welt.  Ich  konnte 
wohl  sonst  glauben  ich  wisse  was  schön  und  gut  sei,  aber  seit- 
dem ich's  sehe  möcht'  ich  lachen  über  all  mein  Wissen.  Lieber 
Freund !  es  gibt  ein  Wesen  auf  der  Welt  worin  mein  Geist  Jahr- 
tausende verweilen  kann  und  wird,  und  dann  noch  seilen  wie 
schülerhaft  all  unser  Denken  und  Verstehen  vor  der  Natur  sich 
gegenüber  findet.  Lieblichkeit  und  Hoheit  und  Ruh'  und  Leben 
und  Geist  und  Gemüt  und  Gestalt  ist  ein  seiiges  Eins  in  diesem 
Wesen.  —  Du  weisst  wie  ich  war,  wie  mir  Gewöhnliches  entlei- 
det war,  weisst  wie  ich  (Arne  Glauben  lebte,  wie  ich  so  karg 
geworden  war  mit  meinem  Uerzen,  und  darum  so  elend;  könnt' 
ich  werden  wie   ich  jetzt  bin,    froh   wie  ein  Adler,   wenn   mir 


Fr.  Hölderlin.  479 

nicht  dieds,  diess  Eine  erschienen  wäre,  und  mir  das  Leben, 
das  mir  nichts  mehr  werth  war,  verjüngt,  gestärkt,  erheitert, 
verherrlicht  hätte  mit  seinem  Fruhlingslichte?  —  Dass  ich  jetzt 
lieber  dichte  als  je,  kannst  Du  Dir  denken."  So  schreibt  er  an 
Neuffer  am  10«  Junius  1796  (II,  116),  und  ein  halbes  Jahr  dar* 
auf  (II,  117):  „Ich  habe  eine  Welt  von  Freude  umschiiTt  seit  wir 
uns  nicht  mehr  schrieben.  —  Und  noch  ist  es  so,  noch  bin  ich 
immer  glücklich  wie  im  ersten  Moment.  £s  ist  eine  ewige  fröh- 
liche heilige  Freundschaft  mit  einem  Wesen  das  sich  recht  in 
diess  arme  geist-  und  ordnungslose  Jahrhundert  verirrt  hat 
Mein  Schönheitssinn  ist  nun  vor  Störung  sicher.  Er  orientiert 
sich  ewig  an  diesem  Madonnenkopfe.  Mein  Verstand  geht  in  die 
Schule  bei  ihr,  und  mein  uneinig  Gemüt  besänftigt,  erheitert 
sich  täglich  an  ihrem  genügsamen  Frieden.  Ich  sage  Dir,  lieber 
Neuffer!  ich  bin  auf  dem  Wege  ein  recht  guter  Knabe  zu  werden. 
Und  was  mich  sonst  betrifft,  so  bin  ich  auch  ein  wenig  mit  mir 
Eufrieden.  Ich  dichte  wenig  und  philosophiere  beinahe  gar  nicht 
mehr.  Aber  was  ich  dichte  hat  mehr  Leben  und  Form,  meine 
Phantasie  ist  williger  die  Gestalten  der  Welt  in  sich  aufzuneh- 
men, mein  Herz  ist  voll  von  Lust,  und  wenn  das  heilige  Schick** 
sal  mir  mein  glücklich  Leben  erhält,  so  hoff*  ich  künftig  mehr 
zu  thun  als  bislier.*'  Und  ganz  ebenso  spricht  er  sich  in  seinen 
Gedichten  aus,  besonders  in  demjenigen  welches  in  jedem  Be« 
tracht  die  erste  Stelle  unter  denselben  einnimmt,  dem  wunder- 
schönen Gedichte  „Diotima**  (1, 16  ff.).  Sie  war  für  ihn  die 
Htmmelsbotin  welche  seinen  kranken  Sinn  heilte,  sein  düster  in 
sich  gekehrtes  Auge  wieder  öffnete  für  die  Reize  d^  Natur  und 
ihr  stilles  Weben  (I,  43),  sein  tobendes  Herz  besänftigte  mit  Ruhe 
der  Himmlischen  (1,-64^;  sie  hat  ihn  verjüngt,  sonst  wäre  er  in 
der  Hälfte  seiner  Tage  zum  alten  Mann  geworden  (II,  25);  die 
Liebe  war  es  welche  ihü  ans  Leben  fesselte,  in  die  GeseUscfaaff 
fttkrte  (I,  101);  am  Frieden  der  Schönheit  hat  er  das  tobende 
Herz  und  den  zweifelnden  Geist  besänftigt  (Hyp.  42).  Aus  die- 
ser Zeit  sind  Hdlderlui's  beste,  Arbeiten:  das  •erwähnte  Gedicht 
Diotiaia,  dessen  erste  Gestalt  (II,  218  f.)  kein  Ende  findet  wie 
ein  Verliebter,  der  erste  Theil  des  Hyperion,  die  Gedichte  4er 
Wanderer«  der  Aether  (I,  99  f.  102  f.),  deren  idyllisch  glückli- 
cher» Billder  Ton  Goetben  wehlgeflel  (II,  290),  viele  der  im  al- 
käischen Masse  verfassten,  welche  sich  fast  alle  durcli  schöne 
Masshaltigkeit  und  sanfte  Stille  auszeichnen.     Nur  aber  trug  die- 


480  Fr.  Hölderlin. 

ses  Glück  von  Anfang  an  den  Reim  des  Todes  und  Verderbens 
in  sich ;  denn  die  er  anbetete  war  die  Frau  eines  Andern.  Diess 
fährte  schmerzliche  Verwicklungen  und  Kämpfe  herbei.  „Es 
fordert  die  SeeJe  Tag  für  Tag  der  Gebrauch  uns  ab,"  klagt  er 
I,  52,  und  an  Neuffer  schreibt  er  am  16.  Febr.  1797  (II,  117): 
„Ich  denke  mir  wohl,  lieber  Bruder,  dass  Du  begierig  sein 
wirst  umständlicher  von  meinem  Glücke  mich  sprechen  zu  hören. 
Aber  ich  darf  nicht!  Ich  habe  schon  oft  genug  geweint  und  ge- 
zürnt über  unsere  Welt,  wo  das  Beste  nicht  einmal  in  einem 
Papiere  das  man  einem  Freunde  schickt  sich  nennen  darf/' 
Von  Diotima  sagt  er  (1^53):  „Du  schweigst  und  duldest,  denn 
sie  verstehn  dich  nicht,"  und  schon  im  Julius  1797  hat  er  an 
Neufifer  zu  schreiben  (II,  119):  „Ich  habe  fast  ganz  verlernt  so 
ganz  vertrauend  einem  Freunde  mich  zu  öffnen.  Ich  schweige 
und  schweige^  und  so  häuft  sich  eine  Last  auf  mir  die  mich  am 
Ende  fast  erdrücken,  die  wenigstens  den  Sinn  unwiderstehlich 
mir  verfinstern  muss.  Und  das  ist  eben  mein  Unheil  dass  mein 
Auge  nimmer  klar  ist  wie  sonst.  Ich  will  es  Dir  gestehen  dass 
ich  glaube  ich  sei  besonnener  gewesen  als  jetzt,  habe  richtiger 
als  jetzt  geurteilt  von  Andern  und  mir  in  meinem  zweiundzwan- 
zigsten Jahre.  0  gib  mir  meine  Jugend  wieder!  Ich  bin  zer- 
rissen von  Liebe  und  Hass."  Und  wirklich  sah  er,  als  er  sechs 
Wochen  darauf,  am  22.  August  1797,  Goethe  in  Frankfurt  be- 
suchte, „etwas  gedrückt  und  kränklich  aus"  (II,  292  f.).  Ein 
Jahr  darauf  kam  es  endlich  zum  Bruche;  im  September  1798 
musste  er  Gontard's  Haus  verlassen.  '^)  Für  Hölderlin  war  dieser 
Verlust  unersetzlich,  diese  Wunde  unheilbar.  „Ich  weiss,  ich 
weiss,  der  Liebe  Leid,  diess  heilet  so  bald  mir  nicht,  dies?  singt 
kein  Wiegensang,  den  tröstend  Sterbliche  singen,  mir  aus  dem 
Busen '^  (I»50).  Zwar  blieb  er  auch  ferner  noch  in  brieflicher 
Verbindung  mit  Diotima  (II,  297),  und  er  wusSte  dass  sie  seiner 
mit  Thränen  gedenke  (I,  90);  aber  mit  der  Trennung  von  ihr 
war  sein  Glück  für  immer  zerstört,  sein  Leben  in  seinem  in- 
nersten Marke  verletzt.  „Hin  ist  Jugend  und  Lieb'  und  Glück!" 
klagt  er  (1,54),  und  dass  nach  kurzem  Sonnenschein  ein  kalter 
Abend  über  ihn  hereingebrochen  sei  (1,37.43).  „Von  dir,  o 
Schutzgeist,  ferne  spielen  zerreissend  bald  alle  Geister  des  To- 
des auf  den  Saiten  des  Herzens  mir"  (I,  63).     Wie  ein  ange- 


*)  Vgl.  Varnhagen'8  Tagebücher  IV.  S.  34. 


Fr.  Hölderlin.  481 

schossenes  Wild  sucht  er  Ruhe  und  Heilung  im  stillen  Walde 
(T,  91);  aber  wie  fremd  erscheint  ihm  die  Erde,  die  früher  ihm 
so  freundlich  gelächelt;  *  und  wehmutig  ruft  er  aus:  „0  lebe 
wohl,  es  scheidet  und  kehrt  zurück  Die  Seele  jeden  Tag^  und 
es  weint  um  dich  Das  Auge,  dass  es  helle  wieder  Dort  wo  du 
säumest  hinüberblicke"  (I,  64,  vergl.  52  f.  63).  „0  sänftiget  mir" 
—  betet  er  I,  90  zu  seinen  Göttern,  zum  Vater  Aether  und  zur 
Mutter  Erde  —  „sänftiget  mir,  ihr  Guten,  mein  Leiden,  dass  die 
Seele  mir  nicht  früh,  ach  zu  frühe  verstummt."  „Das  Haus  ist 
öde  mir  nun^  und  sie  haben' mein  Auge  Mir  genommen,  auch 
mich  hab'  ich  verloren  mit  ihr"  (1,92).  „Nichtig  und  leer, 
wie  Gefängnisswände,  der  Himmel,  Eine  beugende  Last, 'über 
dem  Haupte  mir  hängt"  (l,  93).  Vom  Himmel  der  Liebe  herab* 
gestürzt,  flüchtete  er  sich  in  Freundesarme,  nach  Homburg  zu 
Sinclair,  der  Allem  aufbot  ihn  zu  zerstreuen,  zu  trösten  und  zu 
heilen,  aber  mit  wenig  Erfolg.  Auch  seine  Gesundheit  litt  schwer 
unter  den  inneren  Qualen;  so  schreibt  er  im  Januar  1799  (H, 
58):  „Ich  bin  zwar  gesund  und  jetzt  gesunder  als  sonst,  und 
leide  am  Kopf  und  in  den  Eingeweiden  nimmer  wie  gewöhn- 
lich, aber  ich  finde  doch  dass  meine  Nerven  zu  reizbar  sind." 
Dazu  kam  dass  er  auch  in  andern  Beziehungen  hitter  enttäuscht 
wurde,  und  vergebens  sich  eine  geachtete  und  selbständige  Stel- 
lung in  der  Welt  zu  gewinnen  bemühte.  Er  beabsichtigte  zu- 
erst, noch  von  Homburg  aus,  eine  Zdtschrift  in  der  Art  der 
SchiUer'schen  Thalia  und  Hören  zu  begründen;  aber  da  der  Be- 
gründer ein  ziemlich  unbekannter  junger  Mann  ohne  ausreichende 
Verbindungen  war,  und  das  Programm  auch  in  jener  Zeit  un- 
praktisch und  unklar  erscheinen  musste,  so  scheiterte  der  Plan 
natürlich  ehe  es  noch  zu  einem  Anfang  von  Ausführung  gekom- 
men war.  Als  inzwischen  sein  kleiner  Vorrath  an  Erspartem 
ausgegangen  war,  so  musste  er  von  Neuem  zu  seiner  tiefsten  Be- 
schämung hülflos  in  die  Heimat  zurückkehren.  Nicht  froh  wie 
ein  Schiffer  „von  fernen  Inseln,  wo  er  geerntet  hat,"  kehrte  er 
heim  —  denn  „was  hab'  ich  denn  Leid  geerntet?"  (ü,  298.  I, 
50)  —  und  auch  äusserlich  schien  er  nur  der  Schatten  des  ein- 
stigen Hölderlin  zu  sein  (II,  306).  In  der  Heimat  stärkte  sich 
seine  Gesundheit  (II,  74);  aber  in  Folge  seiner  Seelenleiden  war 
sein  Nervensystem  völlig  zerrüttet  (II,  80),  sein  Benehmen  war 
krankhaft  reizbar,  und  die  Briefe  aus  dieser  Zeit  (II,  76  ff.)  ha- 
ben etwas  Gedrücktes,  Süssliches  und  Weinerliches.     Ein  Aufent- 

Teuffel,  Studien.  31 


482  Fr.  HölderUn. 

halt  in  der  Schweiz  —  er  bekleidete  bei  Constanz  eine  Hausleb- 
rerstelle  —  war  von  kurzer  Dauer  und  wenig  nachhaltiger  Wir- 
kung. Wiederum  kehrte  er  ins  mutterliche  Haus  zurück  und 
suchte  von  da  aus  im  Sommer  1801  durch  Schiller's  Vermittlung 
die  Erlaubniss  zu  erlangen  an  der  Jenaer  Universität  Vorlesungen 
zu  halten;  allein  die  Nachweisungen  die  er  in  dieser  Beziehung 
gab,  und  die  Absichten  die  er  aussprach,  mussten  Jedermann  un- 
genügend erscheinen  (s.  II,  152),  und  so  scheiterte  auch  dieser 
Versuch  in  eine  seinen  Ansprüchen  einigermassen  entsprechende 
Stellung  zu  kommen  und  ward  für  ihn  nur  eine  Ursache  noch 
tieferer  Verstimmung.  Mangel  äusserer  Subsistenzmittel  nöthigte 
ihn  die  erste  Stelle  die  sich  ihm  bot  anzunehmen,  und  so  zog 
der  31jährige  körperlich  und  geistig  schwer  erschütterte  und 
heruntergekommene  Mann  mitten  im  tiefsten  Winter  von  Stutt- 
gart nach  Bordeaux,  wo  er  die  Kinder  des  Hamburger  Consuls 
zu  unterrichten  üI>ernommen  hatte.  Mit  seinem  jetzigen  Wahl- 
spruch „Nichts  furchten  und  sich  viel  gefallen  lassen"  (If ,  85) 
fühlte  er  sich  bald  in  seiner  Lage  glücklich;  aber  schon  im  fol- 
genden Sommer  wurde  sein  nervüser  Zustand  durch  die  Glut  der 
südlichen  Sonne  aufs  Höchste  gesteigert.  „Das  Feuer  des  Him- 
mels hat  mich  beständig  ergriffen,  und  wie  man  Helden  nach- 
spricht, kann  ich  wohl  sagen  dass  mich  Apollo  geschlagen/' 
schreibt  er  selbst  in  einem  Briefe  aus  dem  Jahr  1802  (II,  87), 
in  welchem  die  alte  geistreiche  Anschauungs-  und  Darstellungs- 
weise ringt  mit  dem  einbrechenden  Dunkel.  Auf  die  Nachricht 
von  der  lebensgeßbrlichen  Erkrankung  seiner  Diotima  war  er 
nämlich  plötzlich  von  Bordeaux  aufgebrochen,  hatte  Frankreich 
in  den  beissesten  Sommertagen  von  einer  Grenze  zur  andern  zu 
Fuss  diu'chzogen,  und  kam  nun  im  erklärtesten  Irrsinn  und  in 
einem  Zustand  äusserster  Verwahrlosung  zu  Hause  an.  Zwar 
besserte  es  sich  allmählich  mit  ihm  etwas,  so  dass  man  ihn  im 
Sommer  1804  nach  Homburg  reisen  lassen  konnte,  wohin  ihn 
der  edle  Landgraf  auf  des  treuen  Sinclair  Verwendung  berufen 
hatte ;  aber  hier  verschlimmerte  sich  sein  Zustand  in  dem  Grade 
dass  er  endlich  im  Herbste  1806  nach  Tübingen  gebracht  wurde, 
in  dessen  Hauern  er,  nach  vergeblichen  Versuchen  von  der  Heil- 
kunst nicht  weiter  behelligt;  sein  körperliches  Leben  bis  in  den 
Sommer  des  Jahres  1843  fortsetzte,  wo  er  73.  Jahre  alt  an  der 
Brustwassersucht  starb.  Wie  er  sich  in  dieser  Zeit  seines  vollen- 
deten Irrsinns  gebarte,   darüber  haben  W.  Waiirfinger  und  Chr. 


Fr.  Hölderlin.  483 

Schwab  (II,  314  ff.)  aus  eigener  längerer  Beobachtung  sehr  inter- 
essante Mittheilungen  gemacht.  Die  Frage,  wodurch  diese  Wen- 
dung seines  Schicksals  herbeigeführt  wurde,  ist  zum  grössten 
Theiie  schon  durch  die  bisherige  Entwicklung  beantwortet  und 
auf  eine  ToUkommen  befriedigende  Weise  durch  Hrn.  Schwab  im 
Leben  Hölderlin's  (11,  S.  319 — 323  dieser  Ausgabe);  wir  beschrän- 
ken uns  daher  hier  auf  eine  kurze  Zusammenfassung  der  hieher 
gehörigen  Momente.  Die  Grundursache  von  Hölderlm's  Unglück 
ist  dass  sein  geistiges  Wesen  zu  fein  besaitet,  zu  zerstörbar  gebaut 
war  für  die  Verhältnisse  in  die  er  eintrat,  für  die  Erlebnisse 
welche  über  ihn  kamen.  Dass  er  neben  Goethes  und  Schiller's 
Glanz  und  Grösse  zu  keiner  durchgreifenden  Anerkennung,  ja 
nicht  einmal  zu  einer  unabhängigen  und  sorgenfreien  Lage  ge- 
langen konnte,  dass  er  bei  seinen  hochgespannten  Erwartungen 
und  Ansprüchen  an  die  Welt,  die  Menschen  und  sich  selbst  überall 
nur  Enttäuschung  und  Hemmungen  zu  erfahren  hatte,  dass  er 
am  höchsten  Ziele  seiner  Gedanken  und  Wünsche  sich  mit  der 
sittlichen  Weltordnung  in  Widerstreit  gebracht  sah,  das  hat  seine 
Gesundheit  untergraben,  sein  Bewusstsein  gemordet,  hat  ihn  in 
den  Abgrund  unheilbaren  Irrsinns  gestürzt,  wo  Leiden  und  Freu- 
den der  Vergangenheit  für  ihn  verklungen  waren  und  die  dröh- 
nenden Schritte  einer  ereignissreichen  Zeit  unvernommen  und 
unverstanden  über  seinem  Haupte  hinzogen.  Was  ihn  traf  war 
zwar  keineswegs  von  so  gewaltiger  Schwere  dass  ein  jedes  Gemüt 
von  dieser  Last  erdrückt  werden  musste;  mit  einem  kleinen 
Theiie  Leichtsinn  oder  Humor  hätte  er  vielmehr  sein  geistiges 
Gleichgewicht  und  seine  Heiterkeit  unversehrt  erhalten  können; 
ab^  wie  allen  Pathetikern  waren  ihm  jene  Güter  versagt:  wie 
es  ihm  selbst  immer  heiliger  Ernst  war,  so  nahm  er  auch  von 
den  Menschen  und  vom  Schicksal  alles  mit  tiefstem  Ernste  auf; 
er  verstand  keinen  Scherz,  wie  er  selbst  auch  keinen  übte. 
Ein  Anderer,  mit  Hölderlin's  Empfindlichkeit,  aber  ohne  seine 
sittliche  Strenge,  hätte  wohl  auch  seinen  Qualen  selbst  ein  Ziel 
gesetzt,  und  Andeutungen  dieser  Art  finden  sich  wirklich  bei 
Hölderlin,  wenn  es  z.  B.  im  Hyperion  S.  62  heisst:  „Ich  fürchte 
für  dich  du  hältst  das  Schicksal  dieser  Zeiten  nicht  aus,  du  wirst 
noch  mancherlei  versuchen,  wirst  —  0  Gott!  und  deine  letzte 
Zufluchtsstätte  wird  ein  Grab  sein  \"  Aber  ein  solches  Ende  schien 
ihm  selber  feig  und  schmachvoll  (1,63),  und  die  Natur,  die  er 
immer  so  treu  und  warm  geliebt,   hat  es  zu  diesem  Aeussersten 

31* 


484  Pr.  Hölderlin. 

nicht  kommen  lassen,  indem  sie  selbst  mit  weicher  Hand  ihm  die 
Binde  des  Wahnsinns  um  die  Augen  legte,  und  die  vielen  Jahre 
hindurch  welche  sie  ihm  noch  vergönnte  zu  sein  auch  nicht 
einen  Augenblick  mehr  sie  abnahm,  dass  er  schaudernd  und  nun 
erst  bis  ins  tiefste  Mark  hinein  unglücklich  in  die  unheimliche 
Tiefe  hinabgeblickt  hätte  in  der  er  wandelte. 

Betrachten  wir  nun  den  Gedankenkreis  und  die  eigen- 
thümliche  Richtung  Hölderlin's  näher,  so  haben  wir  schon  ge- 
sehen dass  der  Mittelpunkt  und  die  Spitze  seiner  Weltanschauung 
die  Natur  ist;  sie  ist  seine  erste  und  seine  letzte  Liebe,  die 
Gottheit  in  deren  Anbetung  er  sich  selig  fühlt.  „0  selige  Natur! 
Ich  weiss  nicht  wie  mir  geschieht  wenn  ich  mein  Auge  erhebe 
vor  deiner  Schöne,  aber  alle  Lust  des  Himmels  ist  in  den  Thränen 
die  ich  weine  vor  dir,  der  Geliebte  vor  der  Geliebten"  (Hyp.  6). 
Die  Natur  ist  ihm  zugleich  die  absolute,  die  ewige  Schönheit 
(Hyp.  53);  alles  was  Natur  ist  ist  schön,  und  schön  ist  nur  was 
Natur  ist.  Die  igchöne  Natur  oder  die  Naturschönbeit  lässt  sich 
daher  als  Grundgedanke  von  Hölderlin  bezeichnen.  „0  ihr"  — 
ruft  er  aus  —  „die  ihr  das  Höchste  und  Beste  sucht  in  der  Tiefe 
des  Wissens,  im  Getümmel  des  Handelns,  im  Dunkel  der  Ver- 
gangenheit, im  Labyrinthe  der  Zukunft,  in  den  Gräbern  oder  über 
den  Sternen  —  wisst  ihr  seinen  Namen?  den  Namen  dess  das  Eins 
ist  und  Alles?  Sein  Name  ist  Schönheit"  (Hyp.  48}.  Das  Schönste 
ist  ihm  auch  das  Helligste  (Hyp.  51),  und  Liebe  der  Schönheit 
ist  seine  Religion  (Hyp.  74).  Schön  ist  was  mit  der  Natur  eins 
ist  (Hyp.  146  f.);  wer  schön  ist  ist  daher  auch  fromm,  ja  gött- 
lich, ein  Gott,  und  nur  wer  schön  ist  ist  ein  Mensch.  „Schöne 
Wesen  oder  —  was  dasselbe  ist  —  Menschen,"  sagt  er  Hyp. 
S.  12,  und  S.  73  folgert  er:  „Der  Mensch  ist  ein  Gott  sobald 
er  Mensch  ist^  und  ist  er  ein  Gott^  so  ist  er  schön."  Eins  mit 
der  Natur,  fromm,  schön,  Gott,  wahrer  Mensch  sind  daher  bei 
Hölderlin  Wechselbegriffe,  nur  verschiedene  Benennungen  desselben 
Ideales.  Diess  zu  erreichen  ist  Ziel  und  Aufgabe  des  einzelnen 
Menschen.  „  Eins  zu  sein  mit  Allem ,  mehr  zu  sein  als  das  Grösste, 
und  doch  ganz  zu  sein  im  Kleinsten^  das  ist  Leben  der  Gottheit, 
das  ist  der  Himmel  des  Menschen"  (Hyp.  6).  Die  Natur  aber, 
in  der  doch  auch  Kampf  ist  und  Sturm,  fasst  Hölderlin  einzig 
von  der  Seite  dass  sie  mühelos  wurkt  und  still  und  geräuschlos 
bei  aller  ihrer  Grösse,  und  darin  eben  findet  er  ihre  Schönheit. 
„Sei  wie  dieser!"  ruft  daher  Adamas  seinem  Hyperion  zu  (S,  13) 


Fr.  Hölderlin.  485 

als  er  ,,lieraurkam  in  seiner  ewigen  Jugend,  der  alte  Sonnengott, 
zufrieden  und  mühelos  wie  immer."  Es  ist  ein  überwiegend 
weiblicher  Charakter  den  er  in  die  Natur  hineinlegt,  wie  es  sich 
z.  B.  ausspricht  in  dem  lieblichen  Bilde  für  das  drängende  Leben 
des  Frühlings:  ,»wie  wenn  die  Mutter  schmeichelnd  fragt  wo  um 
sie  her  ihr  Liebstes  sei,  und  alle  Kinder  in  den  Schooss  ihr 
stürzen,  so  flog  und  sprang  und  strebte  jedes  Leben  in  die 
göttliche  Luft  hinaus"  (Hyp.  S.  45  f.).  Dieser  weiblichen  Stimmung 
der  Ergebung,  des  friedlichen  Seins  entspricht  auch  die  immer 
vorzugsweise  an  der  Natur  hervorgehobene  Eigenschaft  der  Stille. 
Süll  zu  werden  wie  die  Natur  (I,  59.  103.  Hyp.  68}  und  friedlich 
und  froh  (1, 101),  und  froh  ergeben  in  alles  was  da  kommt,  in  das 
Walten  der  Nothwendigkeit  (1,55),  und  das  schöne  Gleichgewicht 
nie  zu  verlieren  (Hyp.  82),  das  ist  unserem  Dichter  das  höchste 
Ziel  des  Menschen,  das  was  ihn  erst  zum  wahrhaften  Menschen 
und  damit  zum  Gotte  macht.  Das  in  sich  Gesammelte,  Stille  ist 
ihm  das  Schöne  und  Göttliche.  „0  ich  bin  ein  Laie  in  der 
Freude  —  ich  will  sprechen!  Wohnt  doch  die  Stille  im  Lande 
der  Seligen ,  und  über  den  Sternen  vergisst  das  Herz  seine  Noth 
und  seine  Sprache"  (Hyp.  46).  Und  weil  die  Stille  eben  der 
Charakter  der  Natur  ist,  so  wirkt  Hingabe  an  die  Natur  Frieden 
und  Ruhe  im  tobenden  Busen  des  Menschen:  „du  stiller  Aether! 
immer  bewahrst  du  schön  die  Seele  mir  im  Schmerz"  (1,  44. 
31) ;  und  auch  noch  an  dem  irren  Dichter  hat  sie  diese  Heilkraft 
oft  bewährt.  Was  aber  von  dem  einzelnen  Menschen  gilt,  das- 
selbe gilt  auch  von  den  Völkern,  von  der  Menschheit,  dieselbe 
Aufgabe  ist  auch  ihr  gestellt.  Gelöst  ist  sie  in  der  Gegenwart 
und  unter  unserem  Volke  nicht;  bitter  wird  im  Hyp.  S.  142  ge- 
klagt dass  es  unter  den  Deutschen  so  wenige  Menschen  gebe: 
„Ich  kann  kein  Volk  mir  denken  das  zerrissener  wäre  wie  die 
Deutschen.  Handwerker  siehst  du,  —  aber  keine  Menschen,  Denker, 
—  aber  keine  Menschen,  Priester,  —  aber  keine  Menschen,  Herren 
und  Knechte,  Jungen  und  gesetzte  Leute,  —  aber  keine  Menschen; 
ist  das  nicht  wie  ein  Schlachtfeld,  wo  Hände  und  Arme  und  alle 
Glieder  zerstückelt  untereinanderliegen,  indessen  das  vergossene 
Lebensblut  im  Sande  zerrinnt?"  In  ihrer  Vereinsamung  können 
die  wenigen  wahren  Menschen  hier  nicht  zu  voller  Entwicklung 
kommen:  „  Du  wirst  durchaus  finden  dass  jetzt  die  menschlicheren 
Organisationen,  Gemüter  welche  die]  Natur  zur  Humanität  am 
bestimmtesten  gebildet  zu  haben  scheint^  dass  diese  jetzt  überall 


486  Fr.  Hölderlin. 

die  unglücklicheren  sind,  eben  weil  sie  seltener  sind  als  sonst 
in  andern  Zeiten  und  Gegenden.  Die  Barbaren  um  uns  her  zer- 
reissen  unsere  besten  Kräfte  ehe  sie  zur  Bildung  kommen  können" 
(U,  64  f.).  Aber  die  Hoffnung  dass  jene  Aufgabe  doch  noch  er- 
reicht werden  werde  ist  darum  nicht  aufzugeben,  vielmehr  liegt 
eine  Gewähr  für  ihre  Erreichbarkeit  darin  dass  sie  schon  von 
einem  ganzen  Volke  erreicht  worden  ist,  von  dem  hellenischen 
(oder  vielmehr  attischen).  Hellas  ist  unserem  Dichter  die  Heimat 
der  schönen  Natur  und  der  schönen  Menschheit,  der  Menschen 
welche  in  ihrem  Sein,  Leben,  Denken  und  EmpGnden  volle,  ganze, 
reine  Menschen  sind,  wie  er  besonders  in  dem  schönen  Gedichte 
„Griechenland*'  S.  6  f.  und  in  dem  lyrisch -epischen  „Archipe- 
lagus*'  S.  103  ff.  ausführt.  „Es  waren  goldne  Tage  (heisst  es 
in  der  ersten  Bearbeitung  des  Hyperion,  U.  S.  237)  wi>  man  die 
Waffen  tauschte  und  sich  liebte  bis  zum  Tode,  wo  man  unsterb- 
liche Kinder  zeugte  in  der  Begeisterung  der  Liebe  und  Schönheit, 
Thaten  fürs  Vaterland  und  himmlische  Gesänge  und  ewige  Worte 
der  Weisheit,  ach!  wo  der  ägyptische  Priester  dem  Selon  noch 
vorwarf:  ihr  Griechen  seid  allezeit  Jünglinge!"  Beispiele  solcher 
idealischer  oder  hellenischer  Menschen  sind  Hyperion  und  Diotima, 
die  seiner  Dichtung  wie  die  der  Wirklichkeit.  Letztere  nennt  er 
(I,  89.  94)  geradezu  eine  Athenerin,  „Athenäa"'  war  auch  ur- 
sprünglich das  Gedicht  Diotima  überschrieben,  und  als  ihn  einst 
Neuffer  in  Frankfurt  besuchte,  sandte  er  der  sorglich  Hin-  und 
Herwandelnden  das  höchste  Lob  nach  das  sein  Mund  erthellen 
konnte,  indem  er  jenem  zuflüsterte;  „nicht  wahr,  eine  Griechin?" 
(U,  290).  In  ihr  hat  er  „die  Vollendung,  die  wir  über  die 
Sterne  hinauf  entfernen,  die  wir  hinausschieben  bis  ans  Ende 
der  Zeit,  die  hab'  ich  gegenwärtig  gefühlt.  Es  war  da,  das 
Höchste ,  in  diesem  Kreise  der  Menschennatur  und  der  Dinge  war 
es  da!"  (Hyp.  48).  Diesem  Hellas  ist  Hölderlin's  Denken  und 
Dichten  geweiht;  sich  hineinzuleben  in  hellenisches  Sein,  um  es 
Wiederzugebären  in  unsterblichem  Liede,  die  Grazien  Griechen- 
lands herüberzuholen  in  das  ihrer  so  bedürftige .  Deutschland  (I, 
116),  und  selbst  ein  Leuchtthurm  zu  sein  in  der  Oede  der 
Gegenwart,  das  war  sein  höchstes  Streben,  so  schmerzlich  er 
auch  oft  die  Schwierigkeit  es  zu  erreichen  fühlte.  „  0  Griechen- 
land" —  seufzt  er  in  einem  Briefe,  H,  56  —  „o  Griechenland 
mit  deiner  Genialität  und  deiner  Frömmigkeit^  wo  bist  du  hin- 
gekommen? Auch  ich,  mit  allem  guten  Willen ,  tappe  mit  meinem 


Fr.  Hölderlin.  487 

4 

Thun  und  Denken  diesen  einzigen  Menschen  in  der  Welt  nur 
nach,  und  bin  in  dem  was  ich  treibe  und  sage  oft  nur  um  so 
ungeschickter  und  ungereimter,  weil  ich,  wie  die  Gänse,  mit 
platten  Füssen  im  modernen  Wasser  stehe  und  unmächtig  zum 
griechischen  Himmel  emporflugle".  Diesen  grossen  Todten  gehört 
sein  Herz  an  (I,  7);  um  mit  ihnen  zusammenzusein  wünscht  er 
sich  den  Tod  (I,  7.  33),  bei  ihnen  schwört  er  seinen  höchsten 
Eid  (ir,  279  f.).  Aber  so  tief  es  ihn  schmerzt  dass  die  Welt  die 
er  liebt  untergegangen  ist,  dass  die  (innerlich)  Todten  oben  über 
die  Erde  gehen,  während  die  Lebendigen,  die  Göttermenschen, 
drunten  sind  (Hyp.  S.  119.  I,  110),  so  verzweifelt  er  doch  nicht 
an  der  Möglichkeit  sie  wiederzuerwecken ,  ja  sogar  schöner  zurück- 
zuführen. „Solche  grosse  Töne  müssen  wiederkehren  in  der  Sym- 
phonie des  Weltlaufs"  (Hyp.  58);  es  wird  kommen  der  Tag  wo, 
„  erwacht  vom  ängstigen  Traum  die  Seele  den  Menschen  Aufgeht, 
jugendlich  froh,  und  der  Liebe  segnender  Odem  Wieder,  wie 
vormals  oft,  bei  Hellas'  blühenden  Kindern  Wehet  in  neuer  Zeit" 
(I,  110  f.  Hyp.  S.  29).  Wenn  die  Auflösung  und  Zersplitterung 
ihren  höchsten  Grad  erreicht  haben  wird,  dann  wird  die  Mensch- 
heit wieder  einlenken  auf  die  Pfade  der  Natur,  das  Pflanzenglück 
womit  die  Geschichte  der  Menschheit  beginnt  wird  auch  ihr  Ziel 
sein,  nur  dass  dann  freie  Schöpfung  des  Geistes  auf  dem  Boden 
des  Geistes,  Ideal  ist  was  damals  unmittelbare  vorgefundene  Natur 
war  (Hyp.  58  f.) ;  dann  wird  auch  ein  neuer  Staat  sich  erheben, 
gebaut  auf  die  Grundsätze  brüderlicher  Gleichheit,  und  ein  Cultus 
dessen  einziger  Gegenstand  die  Natur  ist  (I,  180  f.).  Das  deutsche 
Volk  vor  allen  ist  berufen  diese  Träume  von  einer  schöneren 
Zukunft  zu  verwirklichen  (I,  61),  und  schon  ist  das  Morgenroth 
dieser  neuen  Zeit  im  Anbrechen:  in  Deutschlands  Junglingen  und 
Frauen,  Dichtern  und  Weisen  sieht  Hölderlin  Keime  und  Boten 
derselben  (I,  34),  und  meint  dass  das  Vaterland  den  grossen  Ge- 
danken nur  noch  nicht  ausgedacht  habe,  aber  fortwährend  mit  den 
Vorbereitungen  dazu  beschäftigt  sei  (I,  35).  In  dieser  freundlichen 
Annahme  spricht  es  sich  schon  aus  wie  warm  sein  Herz  hängt 
an  dem  Vaterlande,  wie  gross  er  denkt  von  den  in  ihm  schlum- 
mernden Kräften  und  seiner  Bestimmung.  Und  in  jler  That  vergisst 
er  seines  Vaterlandes  auch  in  der  trunkensten  Begeisterung  für 
Hellas  und  Hellenisches  nicht;  auch  neben  dem  llissos  bleibt  ihm 
sein  Neckar  und  sein  Main  immer  lieb  und  unvergesslich  (1, 45  f.  48) ; 
seine  specielle  Heimat  besonders,  unser  Schwabenland,  blieb  seinem 


488  Fr.  HölderUn. 

Herzen  auch  in  allen  Fernen  nahe  und  ergriff  ihn  mit  der  zau- 
berischen Gewalt  einer  Jugendliebe  so  oft  er  dahin  zurückkehrte 
(1,  98.  100.  114).  Als  Dichter  ist  er  «»gerne  wo  Lebendes  Um 
ihn  athmet  und  wallt''  (I,  22)^  gern  in  der  Mitte  seines  Volks; 
er  preist  den  Tod  fürs  Vaterland  als  den  edelsten,  und  ruft: 
^,0  nehmt  mich,  nehmt  mich  mit  in  die  Reihen  auf.  Damit  ich 
einst  nicht  sterbe  gemeinen  Tods!  Umsonst  zu  sterben  lieb'  ich 
nicht.  Doch  lieb'  ich  zu  fallen  am  Opferhugel  Fürs  Vaterland, 
zu  bluten  des  Herzens  Blut  Fürs  Vaterland"  (l,  32  f.).  Ein  be- 
geistertes Loblied  singt  er  I,  33 — 35  den  Fluren  des  Vaterlandes, 
seiner  Grösse  und  herrlichen  Aufgabe.  Zwar  beklagt  er  es  dass 
das  deutsche  Volk  wie  ein  Rind  „thatenarm  und  gedankenvoll'' 
sei  (I,  42  f.  60),  und  mit  einem  wehmütigen  Leider!  bekennt  er 
dass  „die  Erde,  die  freie,  statt  Vaterlands  ihm  dienen  muss" 
(I,  48),  weil  nämlich  sein  angebornes  Vaterland  nicht  frei  ist; 
aber  nichts  wünscht  er  sehnlicher  als  dass  seine  Kleingläubigkeit 
beschämt  würde,  dass  das  Vaterland  in  seiner  ganzen  Grösse  sich 
aufrichtete  und  vor  ihn  hinträte,  „Dass  ich  tiefer  mich  beuge,  Dass 
die  leiseste  Saite  selbst  Mir  verstumme  vor  dir,  Dass  ich  beschämt 
und  still.  Eine  Blume  der  Nacht,  himmlischer  Tag  vor  dir,  Enden 
möge  mit  Freuden"  (1, 61).  Durch  alles  dieses  werden  erst  die  Worte 
bitteren  Grolls  welche  er  in  der.  berühmten  Stelle  am  Schlüsse 
des  Hyperion  (S.  142 — 145)  über  unser  Volk  ausgeschüttet  hat 
in  ihr  rechtes  Licht  gestellt.  Er  nennt  uns  da  z.  B.  ,>  Barbaren 
von  Altersher,  durch  Fleiss  und  Wissenschaft  und  selbst  durch 
Religion  barbarischer  geworden,  tiefunfähig  jedes  göttlichen  Ge- 
fühls, verdorben  bis  ins  Mark  zum  Glück  der  heiligen  Grazien, 
in  jedem  Grad  der  Uebertreibung  und  der  Aermlichkeit  beleidigend 
für  jede  giitgeartete  Seele,  dumpf  und  harmonienlos  wie  die 
Scherben  eines  weggeworfenen  Gefässes".  So  feindselig  das  auch 
klingt,  so  spricht  daraus  doch  nur  der  Schmerz  unerwiederter 
Liebe;  es  ist  ein  Zürnen  und  ein  Schelten  wobei  dem  Scheltenden 
die  hellen  Thränen  im  Auge  standen.  „Bin  ich  der  Deine  schon 
—  Oft  zürnt'  ich  weinend  dass  du  immer  Blöde  die  eigene  Seele 
leugnest,"  sagt  er  selbst  (I,  33)  zum  Vaterlande.  Auch  wollen 
wir  nicht  vergessen  dass  Hölderlin  Deutschland  nur  im  Stande 
der  Erniedrigung  zu  sehen  vergönnt  war,  indem  sich  das  Auge 
seines  Geistes  schon  im  Jahr  1806  schloss,  und  die  folgenden 
Geschicke  der  Zeit  und  des  Volkes,  seine  glänzende  Erhebung 
und    sein    klägliches  Zurücksinken,    ungehört   an   ihm    vorüber- 


Fr.  Hölderlin.  489 

rauschten.  Und  sehen  wir  näher  zu,  so  trifTl  diese  herhe  An- 
klage unser  Volk  gar  nicht,  so  widerlegt  der  Ankläger  sich  selbst. 
Denn  wer  ist  es  denn  der  so  bitter  dem  deutschen  Volke  allen 
Sinn  fürs  Grosse  und  Schöne  abspricht?  Es  ist  ein  Deutscher, 
gezeugt  von  einem  deutschen  Vater,  geboren  von  einer  deutschen 
Mutter,  grossgewachsen  in  deutscher  Luft,  genährt  von  deutschem 
Geiste.  Und  woher  hat  er  sein  tiefes  Gefühl  für  die  Natur  und 
ihre  Schönheit?  Aus  Hellas?  Aber  der  poetische  Sinn  für  die 
Natur  ist  etwas  gerade  den  altclassischen  Völkern  wie  den  ro- 
manischen der  Neuzeit  fast  gänzlich  Fehlendes,  er  Ist  vielmehr 
eine  charakteristische  Eigenthümlichkeit  deutscher  Anschauung, 
ein  specifisches  Erzeugniss  deutschen  Gemütes.  Diese  Diotima 
z.  B.  und  dieser  Hyperion  sind  Gestalten  wie  sie  auf  hellenischem 
Boden  schlechterdings  niemals  existiert  haben,  elegische,  senti- 
mentale Wesen  wie  sie  in  der  gesunden  frischen  Luft  des  alten 
Hellas  schlechthin  unmöglich  waren,  während  sie  auf  deutschem 
Boden  nicht  nur  nicht  unmöglich  sind,  sondern  sogar  wirklich 
darauf  gewandelt  haben;  denn  seine  Diotima  war  ja  aus  Hamburg 
gebürtig,  und  Hyperion  hat  zu  Lauffen  am  Neckar  das  Licht  der 
Welt  erblickt.  Und  so  haben  wir  hier  das  Beispiel  einer  selt- 
samen Verwechslung  der  Subjecte,  einer  wunderbaren  Verleugnung 
des  eigenen  Blutes.  Das  Naturgefühl  das  ihn  beseelt  legt  der 
deutsche  Dichter  einem  Hellenen  ins  Herz,  als  wäre  es  dessen 
rechtmässiges  Eigenthum  und  er  selbst  nur  lehnweise  im  Besitze 
desselben;  er  nimmt  die  besten  Schätze  seines  Volkes,  schenkt 
sie  an  ein  fremdes,  und  erhebt  nun  laute  kränkende  Klage  über 
die  Bettlerarmut  seines  eignen.  Unser  Dichter  ist  überhaupt  in 
einer  argen  Selbsttäuschung  befangen :  sein  Griechenland  und  seine 
Griechen  sind  nicht  die  historischen,  es  sind  Erzeugnisse  seiner 
Phantasie,  es  sind  Projectionen  seines  eignen  Ich,  es  ist  ein 
ideales  Bild  von  einem  Volke  und  einem  Lande,  welchem  man 
beinahe  jeden  andern  Namen  mit  demselben  Rechte  geben  könnte 
wie  den  hellenischen.  Von  spinozistischer  Auffassung  der  Welt, 
von  sentimentaler  Betrachtung  der  Natur,  von  schwärmerischer 
Phantasie  und  schwüler  Gemütstiefe  war  das  nüchterne,  durch- 
sichtige, bewegliche  Volk  der  Athener,  das  sein  Herz  auf  der 
Zunge  zu  tragen  pflegte,  so  weit  entfernt  als  irgend  eines;  und 
Non  einer  ätherisch  reinen,  himmlisch  hohen,  unendlichen,  zarten 
und  tiefen  Liebe  wie  zwischen  Hyperion  und  Diotima  hatten  sie 
auch  nicht  die  leiseste  Ahnung.   Und  so  ist  auch  sein  Empedokles 


490  Fr.  Hölderlin. 

nichts  weniger  als  ein  antiker  Charakter.  Es  war  demnach  eine 
blose  optisclie  Täuschung  wenn  unser  Dichter  das  was  ihm  so 
nahe  lag,  was  in  seiner  eignen  Brust  entstanden  war  und  lebte, 
für  das  Erzeugniss  eines  fremden  Himmels,  einer  fernen  Zeit  hielt. 
In  seiner  Art  die  Natur  zu  betrachten  ist  übrigens  Hölderlin  der 
antiken  Auffassungsweise  zugleich  am  nächsten  und  am  fernsten. 
Am  fernsten,  weil  seine  Jugendträume  von  einer  Seele,  einem 
Gemüt  der  Natur  (I,  14  ff.)  dem  echten  realistischen  Bewusstsein 
der  Hellenen  durchaus  widerstreiten.  Dagegen  ist  es  eine  echt 
hellenische  Betrachtungsweise  wenn  unser  Dichter  fast  regelmässig 
die  Gestalten  der  Natur  als  Personen  auffasst  und  mit  ihnen  als 
solchen  verkehrt  So  ist  ihm  (I,  36)  der  Tag  ein.  schöner  Jüng- 
ling, ein  göttlicher  Wanderer,  den  er  gerne  begleitete,  der  aber 
lächelt  ob  dieses  vermessenen  Wunsches;  und  im  Sonnenuntergang 
sieht  er  wie,  „müde  seiner  Fahrt,  der  entzückende  Götterjüngling 
die  jungen  Liocken  badet  im  Goldgewölk*',  oder  „sein  Abendlied 
auf  himmlischer  Leier  spielt"  (I,  27);  so  erblickt  er  auch  im 
Strome  den  JöngHng  der  bald  schläfrig  und  träumerisch  am  Ufer 
dahinschleicht,  bald  seine  Fesseln  zerbricht,  weit  ausschreitet, 
unaufhaltsam  dahinfliegt,  und  mit  seiner  gewaltigen  Stimme  die 
Wälder  aus  dem  Schlafe  weckt,  —  den  Sohn  des  Okeanos,  der 
nirgends  bleiben  darf,  „als  wo  Ihn  in  die  Arme  der  Vater  auf- 
nimmt" (I,  26).  Das  ist  ganz  im  antiken  Sinn  und  zugleich 
poetisch  angeschaut  Zweifelhaft  ist  m  dieser  Beziehung  bereits 
wenn  er  den  Helios  seinen  und  Diotima's  Vater  nennt  (I,  18.  57  f. 
141.  Hyp.  13)  und  die  Erde  seine  Mutter  (I,  57),  ein  ander 
Mal  auch  die  Sonue  seine  Mutter  (l,  83)  und  den  Aether  seinen 
Vater  (l,  102  f.).  Denn  den  Helios  fassten  die  Griechen  nicht 
so  als  allgemeine  Potenz  auf,  sondern  als  einen  concreten,  localen 
Gott,  der  an  einem  bestimmten  Orte  (Rhodos)  seine  Wirksamkeit 
in  besonderem  Masse  geäussert  hat  und  der  Stammvater  eines 
wieder  concret  bestimmten  Geschlechtes,  der  Heliaden,  geworden 
ist;  die  allgemeinere  Bedeutung  erhielt  er  erst  in  der  Zeit  des 
Verfalls,  als  die  Philosophie  und  Theologie  den  morsch  und 
wankend  gewordenen  Volksglauben  zu  stützen  sich  angelegen  sein 
Hessen,  in  der  Zeit  der  Neuplatoniker,  unter  welchen  besonders 
der  Kaiser  Julian  dem  Vater  Helios  eine  schwärmerische  Verehrung 
weihte.  Aber  daneben  findet  sich  noch  ein  tiefer  greifender 
Unterschied.  Der  Hellene  Yerwanddt,  übersetzt  die  Gestallen' 
der  leblosen  Natur  in  menschliche;  auch  Hölderlin  thut  dieses. 


Fr.  Hölderlin.  491 

aber  er  will  auch  umgekehrt  die  Menschen  in  leblos  stille  Natur- 
wesenverwandeln;  für  d^n  Hellenen  ist  der  Mittelpunkt  der  Welt 
und  das  Ideal  des  Schönen  der  Mensch,  die  menschliche  Gestalt, 
—  Hölderlin's  Ideal  ist  die  Naturschönheit,  und  nur  wo  er  diese 
in  der  Menschheit  wiederfindet  erkennt  er  schöne  Menschen;  bei 
Hölderlin  sind  die  Götter  vollendete  Naturwesen,  Wesen  deren 
Idealitat  eben  darin  besteht  dass  sie  ganz  Natur,  in  unbedingter 
Einheit  mit  ihr  sind,  ja  seine  Götter  sind  sogar  Stücke  der  Natur 
selbst,  wie  der  Aether  (I,  90.  102  f.),  die  Sonne  (I,  44)  u.  s.  w„ 
wogegen  die  Hellenen  nur  auf  ihrer  frühesten  Entwicklungsstufe 
in  ihren  Göttern  Naturwesen  oder  in  der  Natur  ihre  Götter  sahen, 
auf  ihrem  Höhenpunkte  aber  in  den  Göttern  sittliche  Mächte  ver- 
ehrten, d.  h«  das  Sittliche  als  das  Göttliche,  Absolute  erkannten. 
Auch  in  dem  Punkte  worin  Hölderlin  noch  die  unmittelbarste 
Aehnlichkeit  mit  den  Hellenen  zu  haben  scheint,  in  seinem  Mass- 
halten, seiner  Stille  und  Gefasstheit,  ergibt  sich  bei  näherer  Be- 
trachtung eine  wesentliche  Verschiedenheit.  Allerdings  übernimmt 
sich  der  Grieche  nicht,  weder  in  Freude  noch  in  Schmerz,  und 
setzt  seinen  gehobensten  Stimmungen  einen  Dämpfer  auf;  aber 
er  tbut  es  aus  angeborenem  Schönheitsinstinct,  welcher  ihn  aus 
dem  Gleichgewicht  nicht  kommen,  die  Schranken  des  Normalen 
nicht  überspringen  lässt,  und  wenn  er  sich  Rechenschaft  geben 
will  über  diesen  Instinct,  so  bezeichnet  er  ihn  als  die  Furcht 
vor  dem  nivellierenden  Schicksal,  vor  der  Nemesis.  Hölderlin 
dagegen  ist  stille  weil  die  Natur  es  ist,  ihr  geräuschloses,  be- 
scheidenes —  weil  verdienstloses  —  Leben  und  Wirken  ist  sein 
Muster,  nach  ihr  will  er  auch  das  Menschenleben  stimmen;  seine 
Stille  ist  ein  Erzeugniss  der  Furcht  vor  sich  selbst,  vor  dem 
„  schlafenden  Leuen "  in  seiner  Brust,  er  geht  auf  den  Zehen  um 
sich  selbst  nicht  aufzuwecken,  weil  er  seine  Zerrissenheit  und 
Friedenlosigkeit  kennt,  und  weiss  welche  Mühe  es  ihn  gekostet 
hat  die  tobenden  Streiter  in  seinem  Innern  für  einen  Augenblick 
in  Schlummer  einzuwiegen,  das  wild  Verworrene  glatt  und  eben 
hinzulegen.  Hölderlin  gleicht  einem  Nachtwandler  der  geschlossenen 
Auges  auf  dem  Giebel  des  Hauses  umhergeht  und  welchen  ein  Laut 
der  ihn  erweckt  dem  Tode  in  die  Arme  liefert.  Er  hat  sich  sein 
Ziel  zu  hoch  gesteckt  und  für  die  Erreichung  desselben  seine  ganze 
Existenz  darangegeben;  er  hat  zu  gross  gedacht,  zu  viel  begehrt,  zu 
Hohes  erstrebt,  er  hat  sich  zu  weit  entfernt  von  dem  Pfade  der  Ge- 
wöhnlichkeil, als  dass  er  sich  nicht  zuletzt  nothwendig  einsam,  ver-. 


492  Fr.  HdlderliiL 

lassen  und  unglücklich  gefühlt  hätte.  Es  war  ein  schöner  Traum 
den  er  träumte  Yon  der  Möglichkeit  der  Rückkehr  der  ursprünglichen 
Natureinfalt,  des  goldnen  Zeitalters,  der  Verwirklichung  seines 
Ideals;  aber  es  war  ein  Traum  aus  dem  er  bitter  enttäuscht  er- 
wachen musste.  Er  hatte  sein  ganzes  geistiges  Sein  auf  eine  Karte 
gesetzt:  diese  verlor  —  und  es  war  aus  mit  ihm.  Er  lebte  in  einer 
idealischen  Welt;  so  konnte  ihm  das  wirkliche  Leben  nur  ewige 
Kränkung  und  Enttäuschung  bieten;  mit  den  Lieblingskindern  seines 
Geistes  musste  er  hundertfach  den  Tod  erfahren,  und  „wer  so  den 
Tod  erfuhr  erholt  sich  nur  unter  den  Göttern"  (Hyp.  119). 

In  welches  Verhältniss  er  durch  seine  Denkart  und  Rich- 
tung zu  seiner  Zeit  trete,  darüber  ist  Hölderlin  sich  ziemlich 
klar  bewussl.  „Ich  bin  mit  dem  gegenwärtig  herrschenden  Ge- 
schmack so  ziemlich  in  Opposition,  aber  ich  lasse  auch  künftig 
wenig  von  meinem  Eigensinne  nach,  und  hoffe  mich  durchzu- 
kämpfen," schreibt  er  im  J.  1797  (II,  41).  Er  fühlte  sich  von 
den  Richtungen  und  Gegensätzen  der  Zeit  unabhängig  und 
folgte  „der  heiligen,  unerschütterlichen  Maxime  sein  Gewissen 
nie  von.  eigener  oder  fremder  Afterphilosophie,  von  der  stock- 
finstern  Aufklärung,  von  dem  liochwohlweisen  Unsinne  beschwatzen 
zu  lassen,  der  so  manche  heilige  Pflicht  mit  dem  Namen  Vorurteil 
schändet,  aber  ebensowenig  sich  von  den  Thoren  oder  Bösewich- 
tern irre  machen  zu  lassen  die  unter  dem  Namen  der  Freigeisterei 
und  des  Freiheitsschwindels  einen  denkenden  Geist,  ein  Wesen 
das  seine  Würde  und  seine  Rechte  in  der  Person  der  Mensch- 
heit fühlt,  verdammen  möchten  oder  lächerlich  machen"  (II,  12 
aus  dem  Jahr  1794).  »Das  sind  so  ziemlich  alle  Elemente  des 
damaligen  Zeitgeistes:  die  Aufklärung,  die  keimende  Romantik,  und 
die  französierende  Freigeisterei  in  Politik  und  Religion.  Hit  diesen 
allen  im  Gegensatz,  war  er  mit  dem  ganzen  Zeitgeist  in  Oppo- 
sition. So  stellt  er  sich  auch  vielfach  an  in  seinen  Gedichten. 
Er  beschuldigt  (Hyp.  38j  seine  Zeil  dass  sie  den  Glauben  an 
alles  Grosse  verloren  habe,  dass  sie  wie  ein  Fluch  über  ihm 
laste  und  wie  ein  heulender  Nordwind  über  die  Blüten  seines 
Geistes  dahinfahre  und  sie  versenge  im  Entstehen  (Hyp.  13); 
er  nennt  sie  ein  Prokrustesbett  (Hyp.  140),  und  wendet  sich 
mit  Zorn  gegen  „die  Natter,  das  kriechende  Jahrhundert,  das 
alle  schöne  Natur  im  Keime  vergiftet"  (Hyp.  89).  Insbesondere 
verdriesst  ibii  die  sogenannte  cultivierte  Welt,  die  er  Stein  und 
Holz    nennt    (Hyp.  11),   die    Gebildeten,    bei    denen    er  nichts 


Fr.  Hölderlin.  493 

als  trostlose  Nüchternheit»  Leerheit  und  Holilheit  ßnden  kann; 
,, gewisse  Thiere  heulen  wenn  sie  Musik  anhören.  Meine  Gebildeten 
hingegen  lachten  wenn  von  Geistesschönheit  die  Rede  war  und 
von  Tugend  des  Herzens"  u.  s.  w.  (Hyp.  19  f.).  Platt  und  ge- 
mein erscheint  ihm  die  Welt  (Hyp.  102  f.).  Er  möchte  von  sich 
schütteln  was  sein  Jahrhundert  ihm  gab^  und  aufbrechen  ins 
freiere  Schattenreich  zu  den  herrlichen  Todten  (Hyp.  16).  Er 
verwünscht  die  Wissenschaft  und  das  Denken:  »»ach,''  seufzt  er, 
,,ach!  war'  ich  nie  in  eure  Schulen  gegangen!  die  Wissenschaft, 
der  ich  in  den  Schacht  hinunterfolgte»  von  der  ich  jugendlich 
thöricht  die  Bestätigung  meiner  reinen  Freuden  erwartete,  die 
hat  mir  Alles  verdorben.  Ein  Gott  ist  der  Mensch  wenn  er 
träumt,  ein  Bettler  wenn  er  nachdenkt"  (Hyp.  7).  In  diesen 
A«usserungen  allen,  so  polternd  sie  zum  Theil  sind»  spiegelt  sich 
eine  unverkennbare  Schwäche  dem  Geiste  der  Zeit  gegenüber, 
Ueberdruss  an  ihm»  neben  Unfähigkeit  mit  ihm  fertig  zu  werden» 
vor  ihm  Stand  zu  halten»  seiner  sich  zu  erwehren.  Er  gesteht 
auch  selbst  dass  er  sich  die  Kraft  nicht  zutraue  zum  mächtigen 
Zeitengott  sich  emporzuschwingen  (I»  25)»  er^  flüchtet  sich  vor 
den  brausenden  Wellen  der  Zeit  in  die  Stille  der  Natur  (I»  39). 
Auch  bekennt  er  dass  er  nicht  bloss  Hemmungen  erfahren  habe 
vom  Geiste  der  Zeit»  dass  vielmehr  durch  dessen  Strahl  sein  eigener 
Geist  geweckt  worden  sei  (I,  32).  Es  wäre  aber  auch  vergeblich 
wenn  er  diess  leugnen  wollte;  denn  wenn  seine  Jugend  hin- 
gegeben  ist  an  die  Schule  der  Pathctiker»  an  Ossian»  Klopstock 
und  Schiller  in  seiner  ersten  Gestalt,  so  zeigt  seine  spätere  Ent- 
wicklung in  vielen  Zügen  eine  grosse  Familienähnlichkeit  mit 
den  Romantikern.  Hier  wie  dort  derselbe  Hass  wider  die 
Aufklärung»  dieselbe  Flucht  aus  der  Gegenwart  in  eine  seibstge- 
schaffene  ideale  Welt»  dieselbe  schwärmerische  Bewunderung  für 
die  Zustände,  unmittelbarer  Natürlichkeit»  wie  Kindheit  und  Traum- 
leben, dieselbe  Weichheit  und  Sentimentalität»  dasselbe  chiliastische 
Visionswesen.  Auch  das  Genialitätsbewusstsein »  das  Herabsehen 
auf  die  Geviöhnlichkeit^  das  Stolzthun  mit  seinem  Unglück,  das 
Kokettieren  mit  seinen  Schmerzen  hat  Hölderlin  mit  den  Ro- 
mantikern gemein.  So  meint  er  (H,  116):  „Grosser  Schmerz 
und  grosse  Lust  bildet  den  Menschen  am  besten.  Aber  das 
Schusterleben»  wo  man  Tag  für  Tag  auf  seinem  Stuhle  sitzt  und 
treibt  was  sich  im  Schlafe  treiben  lässt,  das  bringt  den  Geist  vor 
der  Zeit  ins  Grab»''  und  im   Hyperion   ruft  er  aus:   „Glücklich 


494  Fr.  H51derlm. 

sein  hdasi  schlifiig  sein  im  Mimde  der  Knechte.  Glücklich  sein ! 
mir  ist  als  hätt'  ich  Brei  und  laues  Wasser  auf  der  Zunge,  wenn 
ihr  mir  sprecht  von  Giucklichsein.  So  albern  und  so  heillos  ist 
das  Alles  wofür  ihr  hingebt  eure  Lorbewkronen,  eure  Unsterb- 
lichkeit" (S.  26).  ,»Ja,  ja!  es  ist  recht  sehr  leicht,  glöcklich,  ruhig 
lu  sein  mit  seichtem  Herzen  und  eingeschränktem  Geiste''  (S.  36). 
Hier  wie  dort  also  dasselbe  Bewusstsdn  von  der  qualitativen 
Verschiedenheit  des  genialen  Subjects  von  der  übrigen  Welt,  das- 
selbe Gefühl  von  sdner  absoluten  Barechtigung,  seiner  unver- 
gleichlichen Vorzöglichkeit;  und  ebenso  auch  dieselbe  Tendenz 
der  angeblichen  Versöhnung  des  Wirklichen  mit  dem  Idealischen, 
d.  h.  der  gute  Wille  das  Wirkliche  todtzuschlagen  zu  Gunsten 
eines  angeblich  höheren  Idealischen.  Das  Journal  welches  Höl- 
derlin im  Jahre  1799  gründen  wollte  sollte  einen  „huma- 
nistisdien''  Zweck  verfolgen,  den  „der  Vereinigung  und  Versöh- 
nung der  Wissenschaft  mit  dem  Leben,  der  Kunst  und  des  Ge- 
schmacks mit  dem  Genie,  des  Herzens  mit  dem  Verstände,  des 
Wirklichen  mit  dem  Idealischen,  des  Gebildeten  mit  der  Natur*' 
—  ein  Programn^  das  eben  so  gut  jeder  Romantiker  hätte  ver- 
fassen und  unterzeichnen  können.  Und  doch  stand  Hölderlin  mit 
den  Romantikern  in  keiner  unmittelbaren  und  persönlichen  Be- 
rührung, sondern  war  nur  mitergriffen  von  dem  in  der  geistigen 
Atmosphäre  der  Zeit  liegenden  Elemente,  das  er,  der  Freund 
und  Studiengenosse  Schelling's,  aus  der  ersten  Quelle  schöpfte. 
Andererseits  aber:  wie  ganz  anders  ist  Hölderlin  als  alle  Roman- 
tiker! Wohl  missachtet  er  innerlich  die  Wirklichkeit,  aber  er 
setzt  sich  nicht  im  Kitzel  genialen  Uebermutes  über  diese  Schranke 
hinweg,  er  kämpft  sich  vielmehr  an  ihr  wund  und  todesmüde; 
wohl  sehnt  er  sich  nach  einer  bessern  Welt,  aber  er  glaubt  nicht 
dass  sie  mit  ihm  selbst  gekommen  sei,  er  hält  sich  nicht  für 
ihren  Messias,  wie  die  Romantiker;  wohl  zieht  auch  er  dch  zurück 
aus  der  Gegenwart,  aber  nicht  aus  vornehmer  Geringschätzung 
und  Selbstgenügsamkeit,  sondern  weil  sie  ihm  tiefe  Wunden  ge- 
schlagen hat  und  die  zarte  Beschaffenheit  seines  Gemüths  die  in 
ihr  webenden  scharfen  Winde  nicht  ertragen  kann,  weil  er  fürchtet 
das  warme  Leben  in  sich  zu  erkälten  an  der  eiskalten  Geschichte 
des  Tages  (II.  123).  Hölderlin  ist  ferner  Pathetiker,  den  Ro- 
mantikern ist  die  Ironie  eigenthümlich;  jenem  ist  es  tiefster 
heiiigster  Ernst  mit  seinen  Ideen,  sie  sind  ihm  Herzenssache, 
sein    ganzes  Gemüt  hängt  daran,   sein  ganzes  geistiges   Wesen 


Fr.  Hölderlin.  495 

ist  darin  festgewurzelt;  jene  spielen  damit,  und  gebärden  sich 
als  wären  sie  über  das  woran  sie  sich  hängen  zugleich  hin- 
aus; Hölderlin  ist  Schwärmer»  die  Romantiker  sind  Phan- 
tasten ;  die  ideale  Welt  der  Romantiker  unterscheidet  sieh  von 
der  wirklichen  qualitativ,  die  Hölderlin's  quantitativ.  Hölder- 
lin's  Cultus  gilt  der  Natur,  der  der  Romantiker  der  Unnatur,  der 
ungezogenen  Phantasie;  jener  verhält  sich  zur  Natur  kindlich, 
diese  kindisch ;  jener  hat  ein  scharfes  Auge  und  ein  warmes  Herz 
für  die  Natur,  seine  Vorstellung  von  ihr  ist  lebendig,  anschau- 
lich und  rein,  er  thut  nichts  hinzu  als  Seele ;  bei  den  Romantikern 
aber  ist  die  Natur  phantastisch  umrankt  und  durch  woben,  statt 
der  natürlichen  walten  magische  Kräfte  in  ihr,  und  anstatt  von 
edlen  schönen  Wesen  wimmelt  sie  bei  ihnen  von  Elfen,  Kobolden 
und  Zwergen;  Hölderlin  erblickt  in  der  Natur  überall  Geist,  die 
Romantiker  Geister.  Jener  sah  die  höchste  und  schönste  Auf- 
gabe darin  still  zu  werden  wie  die  Natur,  diesen  konnte  es  nicht 
bunt,  ausgelassen  und  lärmend  genug  hergehen;  Hölderlin  fügte 
sich  mit  frommer  Ergebung  in  das  Walten  des  Schicksals,  auch 
wo  es  ihn  zerfleischte;  die  Romantiker  wollten  die  ganze  Welt 
nach  ihrer  Laune  und  Willkür  bestimmen;  es  fehlte  ihnen  was 
jener  in  hohem  Grade  ^besitzt,  Mass,  Adel,  sittliche  Reinheit; 
bei  ihnen  drehte  sich  alles  um  das  liebe  Ich  als  seinen  Hittel- 
punkt, für  Hölderlin  ist  das  Höchste  sein  ideales  Ich,  die  Welt 
die  er  innerlich  sich  aufgebaut  hat,  die  er  sich  objecti viert  und 
der  er  sich  opfert.  So  schreibt  er  im  Jahre  1794  an  Neuifer: 
„Was  ist's  wenn  auch  wir  armen  Schelme  vergessen  werden  oder 
nie  ganz  ins  Andenken  kommen,  wenn's  nur  mit  den  Menschen 
überhaupt  besser  wird,  wenn  die  heiligen  Grundsätze  des -Rechts 
und  der  reinem  Erkenntniss  ganz  ins  Andenken  kommen  und 
ewig  nimmer  vergessen  werden!"  (II,  97  f.)  Hölderlin  ist  der 
Classiker  unter  den  Romantikern,  noch  in  weiterem  Sinne  als 
man  diess  von  Uhland  ausgesagt  hat:  sein  Ideal  ist  das  Hellenen- 
thum,  während  die  Romantiker  für  das  Ritterthum  und  über- 
haupt das  Mittelalter  schwärmten. 

Hölderlin's  Eigenthümlichkeit  als  Dichter  kann  man 
nicht  treffender  bezeichnen  als  er  selbst  es  in  einem  Briefe  an 
Neuifer  aus  dem  Jahre  1798  thut:  „Es  fehlt  mir  weniger  an 
Kraft  als  an  Leichtigkeit,  weniger  an  Ideen  als  an  Nuancen, 
weniger  an  einem  Hauptton  als  an  manchfaltig  geordneten  Tönen, 
'weniger  an  Licht   wie   an  Schatten,    und    das   Alles  aus  Einem 


496  Fr.  Hölderlin. 

Grunde:  ich  scheue  das  Gemeine  und  Gewöhnliche  im  wiriilichen 
Leben  zu  sehr"  (II,  123).  Seine  idealistische  Anschauungsweise  hin- 
derte ihn  an  freier  unbefangener  Auffassung  des  wirklichen  Lebens, 
gab  allen  seinen  Charakteren  einen  transcendenten  unlebendigen 
Zuschnitt  und  yeranlasste  eine  gewisse  Einförmigkeit  des  Tons, 
eine  gehaltene  Vornehmheit,  eine  glockenartige  Feierlichkeit  und 
Fülle  des  Ausdrucks,  die  ihn  sogar  zum  Theil  in  seine  Briefe 
hineinbegleitet.  Dem  Adel  und  der  Tiefe  der  Gedanken  ent- 
spricht die  Pracht  der  Worte.  Hölderlin  redet  immer  nur  in 
den  vollsten  und  höchsten  Tönen,  im  grossen  Stile  des  Pathos, 
und  setzt  alle  Figuren  der  Rhetorik  und  Poetik  für  sich  in  Be- 
wegung. Daher  ergeht  er  sich  auch  am  liebsten  in  Hymnen ,  Di- 
thyramben und  im  gemessenen  Schwünge  antiker  Versmasse.  Es 
ist  diess  eine  Einseitigkeit  welche  Schiller  zu  dem  freund- 
schaftlichen Rathe  veranlasste:  „Fliehen  Sie  wo  möglich  die  phi- 
losophischen Stoffe;  sie  sind  die  undankbarsten,  und  in  frucht- 
losem Ringen  mit  denselben  verzehrt  sich  oft  die  beste  Kraft; 
bleiben  Sie  der  Sinnenwelt  näher ,  so  werden  Sie  weniger  in 
Gefahr  sein  die  Nüchternheit  in  der  Begeisterung  zu  verlieren 
oder  in  einen  gekünstelten  Ausdruck  sich  zu  verirren"  (II,  140  aus 
dem  November  1796).  Ebenso  redete  Goethe  mündlich  ihm  zu: 
„kleine  Gedichte  zu  machen  und  sich  zu  jedem  einen  menseh- 
lich  interessanten  Gegenstand  zu  wählen''  (II,  293).  Wir  sehen 
aus  jenen  Worten  Schiiler's  wie  dieser  gegen  sich  selbst  polemi- 
siert, wie  er  unsern  Dichter  warnt  nicht  den  jugendlich  idea- 
listischen Schiller,  sondern  den  durch  Studium  und  Goethe's  Ein- 
fluss  realistischer  gewordenen  gereiften  Schiller  zum  Muster  zu 
nehmen;  weil  er  fühlte  dass  er  durch  sein  Beispiel  gleichsam 
Mitschuldiger  geworden  sei  an  Hölderlin's  Entwicklung  und  sich 
und  seinen  Einfluss  aus  der  Richtung  und  dem  Tone  desselben 
überall  hervorblicken  sah,  so  war  er  um  so  eifriger  bemüht  den 
Schaden  den  er  angerichtet  zu  haben  glaubte  wieder  gut  zu 
machen  und  seinem  Schüler  und  geistigen  Sohne  die  Irrgänge 
zu  ersparen  die  er  selbst  auf  dem  Wege  zum  Ziel  gemacht,  den 
Schatz  der  theuer  erkauften  Erfahrungen  zu  dessen  Bestem  zu 
verwenden.  Schiller  durchschaute  Hölderlin  und  beurteilte  ihn 
vollkommen  richtig:  ,»er  hat  eine  heftige  Subjectivität,  und  ver- 
bindet damit  einen  gewissen  philosophischen  Geist  und  Tiefsinn" 
(II,  291);  er  erkannte  dass  es  die  Opposition  der  empirischen 
Welt  gegen  seinen  idealischen  Hang  gewesen  sei   welche  ihn  so* 


Fr.  HölderHn.  497 

subjectivisch.  so  überspannt,  so  einsilbig  gemacht  habe  (11,  292), 
dass  sein  Zustand  gefährlich  sei  und  dass  es  nichts  Dringenderes 
gebe  als  ihn  aus  seiner  eigenen  Gesellschaft  zu  bringen  und  einem 
wohlthätigen  und  dauernden  Einflüsse  zu  öffnen  (11,  291).  ObwohF 
er  wusste  dass  solchen  Naturen  besonders  schwer  beizukommen 
sei,  so  war  er  doch  entschlossen  „diesen  Hölderlin  so  spät  als 
möglich  aufzugeben/'  und  gibt  ihm  daher  wiederholt  den  Ralh 
sich  ruhig  utid  unabhängig  auf  einen  bestimmten  Kreis  des  Wirkens 
zu  concentrieren  (II,  148).  Und  Hölderlin  war  für  keinen  Rath 
und  Einfluss  empfänglicher  als  den  von  Schiller  ausgehenden; 
an  ihm  war  er  aufgewachsen,  ihm  war  er  mit  unbedingter  Be- 
wunderung und  Ergebung  zugethan,  zu  ihm  fohlte  er  auch  um 
der  Landsmannschaft  willen  am  ehesten  Vertrauen.  So  schreibt 
er  an  ihn  im  Jahr  1797:  „ich  habe  Mut  und  eigenes  Urteil  genug 
um  mich  von  andern  Kunstrichtern  und  Meistern  unabhängig  zu 
machen,  aber  von  Ihnen  dependier'  ich  unüberwindlich"  (II,  143); 
und  im  Jahr  1798:  „ich  darf  Ihnen  wohl  gestehen  dass  ich 
zuweilen  in  geheimem  Kampfe  mit  Ihrem  Genius  bin,  und  dass 
die  Furcht  von  Ihnen  durch  und  durch  beherrscht  zu  werden 
mich  schon  oft  verhindert  hat  mit  Heiterkeit  mich  Ihnen  zu 
nähern.  Aber  nie  kann  ich  mich  ganz  aus  Ihrer  Sphäre  ent- 
fernen ,  ich  würde  mir  solch  einen  Abfall  schwerlich  vergeben " 
(II,  145).  Diese  Zugänglichkeit  für  Schiller  bewies  Hölderlin 
auch  durch  wirkliche  Folgsamkeit  gegen  seine  Rathschläge.  So 
hatte  ihm  Schiller  geschrieben :  „Auch,  vor  einem  Erbfehler  deut- 
scher Dichter^)  möchte  ich  Sie  warnen,  der  Weitschweifigkeit 
nämlich,  die  in  einer  endlosen  Ausführung  und  unter  einer  Flut 
von  Strophen  oft  den  glücklichsten  Gedanken  erdrückt.  Dieses 
thut  Ihrem  Gedicht  an  Diotima  nicht  wenig  Schaden.  Wenige 
bedeutende  Züge,  in  ein  einfaches  Ganzes  verbunden,  würden  es 
zu  einem  schönen  Gedichte  gemacht  haben.  Daher  empfehle  ich 
Ihnen  vor  Allem  eine  weise  Sparsamkeit,  eine  sorgfältige  Wahl 
des  Bedeutenden  und  einen  klaren  einfachen  Ausdruck  desselben" 
(II,  140  f.).  Hölderlin  folgte  diesem  Rathe,  arbeitete  sein  Ge- 
dicht noch  einmal  um  und  hat  es   dadurch  wirklich  zu   einem 


*}  Schiller  denkt  hiebei  wohl  wieder  zunächst  an  sich  selbst;  denn 
etwas  specifisch  Deutsches  ist  dieser  Fehler  nicht,  da  vielmehr  uns  die 
meisten  Erzeugnisse  romanischer  Dichter  durch  ihre  Weitschweifigkeit 
idai  nngeniessbar  sind.  Aber  eine  Eigenthümlichkeit  der  rhetorischen 
Dichter  ist  es  allerdings. 

Teuffei,  Studien.  32  * 


498  Fr.  Hölderlin. 

ToUendeten  gemachL  Wie  sehr  aber  Schiller  überhaupt  hierio 
Recht  hatte  zeigen  Hölderlin  s  Gedichte.  Besond<Nrs  bei  Lieblings- 
gedanken  kommt  er  in  einen  Fluss,  eine  Beredtsamkeit  hineio 
die  von  Redseligkeit  und  pomphafter  Weitschweifigkeit  oft  nicht 
zu  unterscheiden  ist;  daher  er  auch  selbst  sich  s^en  lässt:  „fandst 
du  als  Jüngling  doch.  In  den  Tagen  der  Hoffnung,  Wenn  du  sangest, 
das  Ende  nie"  (I,  43).  Für  Häderlin  war  ein  solcher  Wegweiser 
um  so  willkommener  weil  er  seine  Schwächen  selbst  schmerzlich 
genug  fühlte.  So  schreibt  er  Im  Jahr  1798  an  Neuffer:  „das 
Lebendige  in  der  Poesie  ist  jetzt  dasjenige  was  am  meisten 
meine  Gedanken  und  Sinne  beschäftigt.  Ich  fühle  so  tief  wie 
weit  ich  noch  davon  bin  es  zu  treffen,  und  dennoch  ringt  meine 
ganze  Seele  darnach,  und  es  ergreift  mich  oft  dass  ich  weinen 
muss  wie  ein  Kind,  wenn  ich  um  und  um  (uhle  wie  es  meinen 
Darstellungen  an  einem  und  dem  andern  fehlt,  und  ich  doch  aus 
den  poetischen  irren  in  denen  ich  herumwandle  mich  nicht  her- 
ausfinden kann.  Ach,  die  Weit  hat  meinen  Geist  von  früher 
Jugend  an  in  sich  zurückgescheucht,  und  daran  leid'  ich  noch 
immer.  Es  gibt  zwar  ein  Hospital  wohin  sich  jeder  auf  meine 
Art  verunglückte  Poet  mit  Ehren  flücliten  kann,  —  die  Philo- 
sophie. Aber  Ich  kann  von  mdner  ersten  Liebe,  von  den  Hoff- 
nungen meiner  Jugend  nicht  lassen,  und  ich  will  lieber  verdienst- 
los untergehen  als  mich  trennen  von  der  süssen  Heimat  der  Musen, 
aus  der  mich  blos  der  Zufall  verschlagen  hat*'  (II,  122).  Und  im 
Jahr  1799  an  Schiller:  „Ich  würde  es  lieber  abwarten  ob  mir 
nicht  endlich  ein  Product  gelänge,  von  dessen  Werth  und  Glück 
ich  gewisser  sein  könnte,  wenn  mir  die  Umstände  die  ruhige  In- 
dependenz  Hessen  die  dazu  erforderlich  wäre.  So  muss  ich  Prolien 
geben,  die  vielleicht  mehr  etwas  versprechen  als  Idsten''  (H,  146). 
So  wünscht  er  auch  in  einem  Briefe  an  seinen  Bruder,  er  mochte 
etwas  schreiben  können  wie  Shakspeare,  „um  in  der  Erzeugung 
eines  so  grossen  Kunstwerks  meine  nach  Vollendung  dürstende 
Seele  zu  sättigen"  (II,  43);  er  findet  dass  das  Zeitalter  eine  so 
grosse  Last  von  Eindrücken  auf  die  Dichter  werfe  „dass  wh*  nur, 
wie  ich  täglich  mehr  fühle,  durch  eine  lange,  bis  ins  Alter  fort- 
gesetzte Thätigkeit  und  ernste  immer  neue  Versuche  vielleicht 
dasjenige  am  Ende  producieren  können  wozu  uns  die  Natur  zu- 
nächst bestimmt  hat  und  was  vielleicht  unter  andern  Umständen 
frülier,  aber  schwerlich  so  vollkommen  gereift  wäre"  (II,  127). 
Wenn  er   einmal    dieses  Ziel  erreicht  bat,    dann   will  er  gerne 


Fr.  HölderHn.  499 

sterben:  ,,nur  Einen  Sommer  gönnt,  ihr  Gewaltigen,  Und  einen 
Herbst  zu  reifem  Gesänge  mir,  Dass  williger  mein  Herz,  vom 
süssen  Spiele  gesättiget,  dann  mir  sterbe"  (1,55).  Dabei  fühlt  er 
aber  schmerzlich  den  hemmenden  Einfluss  seiner  Gemutsleiden : 
„Ach,  vormals  rauschte  leicht  des  Gesanges  Well*  Auch  mir  im 
Busen,  da  noch  die  Freude  mir.  Die  himmlische,  vom  Auge 
glänzte"  (I,  62);  jetzt  aber  „schon  gesanglos  Schlummert  das 
schauernde  Herz  im  Busen"  (I,  37);  er  muss  es  sich  sauer  wer- 
den lassen  um  etwas  zu  Stande  zu  bringen,  er  arbeitet  langsam 
und  mit  bewusster  Beflexion,  wie  besonders  der  „Grund  zum  Em- 
pedokies"  beweist;  er  Hess  es  sich  nicht  verdriessen  ein  Gedicht 
mehrere  Male  umzuarbeiten,  bis  es  ihm  auf  den  relativ  befriedigend- 
sten Ausdruck  gebracht  schien ;  erst  die  spätesten  seiner  Gedichte 
verrathen  ein  entschiedenes  Nachlassen  der  poetischen  Kraft,  das 
allmählich  völligem  Irrsinn  Platz  macht. 

lieber  das  Verhältniss  seiner  Gedichte  zu  seinem  Leben  findet 
sich  in  dem  Briefwechsel  eine  interessante  Aeusserung.  Holder- 
lin'^s  Mutter  hatte  ein  Gedicht  trüben  Inhalts  rein  'stoffartig  auf 
sich  wirken  lassen  und  in  Folge  dessen  zärtliche  Besorgnisse  über 
seine  Gesundheit  und  Stimmung  geäussert.  Darauf  antwortet  nun 
der  Sohn:  „ —  Ueberhaupt,  liebste  Mutter,  muss  ich  Sie  bitten 
nicht  alles  für  strengen  Ernst  zu  nehmen  was  Sie  von  mir  lesen. 
Der  Dichter  muss,  wenn  er  seine  kleine  Welt  darstellen  will,  die 
Schöpfung  nachahmen,  wo  nicht  jedes  Einzelne  vollkommen  ist; 
er  muss  oft  etwas  Unwahres  und  Widersprechendes  sagen,  das 
sich  aber  naturlich  im  Ganzen ,  worin  es  als  etwas  Vergängliches 
gesagt  ist,  in  Wahrheit  und  Harmonie  auflösen  muss;  und  wie 
der  Begenbogen  nur  schön  ist  nach  dem  Gewitter,  so  tritt  auch 
im  Gedichte  das  Wahre  und  Harmonische  aus  dem  Falschen  und 
aus  dem  Irrthum  und  Leiden  nur  desto  schöner  und  erfreulicher 
hervor"  (II,  69  aus  dem  Jahre  1799).  Mit  einem  Worte  also: 
der  Dichter  gibt  immer  nur  Bruchtheile  seines  Ich,  nicht  das 
Ganze,  nur  Stimmungen ,  nicht  seine  Persönlichkeit  selbst,  und  ein 
Theil  findet  in  dem  andern  seine  Ergänzung,  Berichtigung  und  Ver- 
söhnung. Bei  Hölderlin  ist  übrigens  der  Erguss  der  unmittelbaren 
Stimmung  mit  bewusster  Absiebt  gedämpft  und  herabgestimmt, 
und  dadurch  erhalten  seine  Gedichte  jene  „Lieblichkeit,  Innig- 
keit und  Massigkeit"  welche  auch  Goethe  an  ihnen  anerkannt  hat. 

Hölderlin  ist  seinem  innersten  Wesen  nach  Lyriker.  Wenn 
er  gleich  durch  seine  ganze  Geistesrichtung  mit  der  wirklichen 

32* 


500  Fr.  Hölderlin. 

Welt  in  tiefem  Gegensatze  stand,  so  kam  es  doch  zu  keinen 
äusseren  tragischen  Conflicten;  der  ganze  Kampf  ward  auf  dem 
Boden  des  Gemütes  geführt,  wenn  da  von  einem  Kampfe  die  Rede 
sein  kann  wo  der  eine  Theil  immer  nur  schlägt,  der  andere  Theil 
geschlagen  wird  oder  wenigstens  sich  geschlagen  fühlt.  Ausser- 
dem mangelte  unserem  Dichter  die  Fähigkeit  aus  sich  herauszu- 
gehen, die  Kraft  In  fremde  Welsen  des  Seins  und  Denkens»  ohne 
Schaden  Tür  die  eigene  Persönlichkeit,  lebendig  sich  hinein  zu  ver- 
setzen; aus  Allem  strahlt  ihm  nur  das  eigene  Bild  zurück,  in 
Alles  legt  er  seine  eigenen  Slimmungen  und  Gefühle  hinein.  Da- 
her wäre  das  Trauerspiel  Empedokles,  von  welchem  in  dieser 
neuen  Ausgabe  sehr  beträchtliche  Bruchstücke  zum  ersten  Male 
vcröifentlicht  sind,  mehr  ein  lyrisches  Kunstwerk  geworden  als 
eine  Tragödie;  die  Handlung  darin  ist  dürftig  und  unklar,  die 
Reden  aber  voll  Schönheit  des  Gedankens  und  Ausdrucks.  Sein 
Inhalt  ist  der  Sturz  eines  Götterlieblings,  der  sich  selbst  ver- 
messen ein  Gott  zu  sein,  seine  äussere  und  noch  schmerzlichere 
innere  Bestrafung.  Ebenso  wesentlich  lyrisch  ist  Hölderlin^s  be- 
rühmtestes Werk,  der  Hyperion.  Von  diesem  liegen  jetzt  beide 
Bearbeitungen  vor,  die  ursprüngliche  vx)m  Jahre  1793  und  die 
spätere  Umarbeitung  vom  Jahre  1797.  lieber  das  Verhältniss  beider 
zu  einander  schreibt  Hölderlin  selbst  an  Schiller:  „In  der  ersten 
Gestalt  war  er  durch  den  Einfluss  einer  widrigen  Gemütsstim- 
mung und  fast  unverdienter  Kränkungen  gänzlich  entstellt  und 
so  dürr  und  ärmlich  dass  ich  nicht  daran  denken  mag.  Ich  hab' 
es  mit  freierer  Ueberlegung  und  glücklicherm  Gemüte  von  Neuem 
angefangen"  (II,  144).  Ausser  dieser  verhältnissmässigen  Mager- 
keit hat  die  erste  Bearbeitung  namentlich  auch  den  Fehler  dass 
ihr  Held  Hyperion  mit  dem  historischen  Hölderlin  gar  zu  sehr 
zusammenfällt,  wie  auch  jener  Name  ohne  Zweifel  wegen  der 
Gleichheit  seiner  äussersten  Umgrenzungen  mit  denen  am  Namen 
des  Dichters  selbst  gewählt  ist.  Auch  in  der  zweiten  Bearbeitung 
ist  Hyperion's  Charakter  nach  dem  Bilde  Hölderlin's  gezeichnet,  aber 
nicht  des  empirischen,  sondern  des  idealen ;  dort  ist  es  der  iiirk- 
liche  Hölderlin  mit  seiner  krankhaften  Leidenschaftlichkeit,  seiner 
kränklichen  Empfindlichkeit,  seinen  hypochondrischen  Einbildungen 
und  selbstgeschaifenen  Qualen,  hier  der  veredelte,  durch  Diotima 
wiedergeborene,  von  den  gröbsten  Schlacken  zufälliger  Erscheinung 
befreite.  Bei  der  ersten  Bearbeitung  muss  man  sich  nur  wundern 
über  die  Naivetät  der  Selbstpreisgebung  und  des  Wahnes  als  ob 


Fr.  Hölderlin.  501 

dieses  künstlerisch  unverklärte  Ich  schön  sei  uder  auch  nur  ge- 
niessbar ;  auch  ist  das  Verhältniss  zur  Natur  hier  noch  nicht  das 
freier  selbstbewusster  Liebe,  sondern  mystische  Versenkung,  Däm- 
merung statt  Licht,  Ahnung  statt  Erkenntniss.  Eben  darin  dass 
er  ein  grosses  Selbstbekenntniss  des  Dichters  ist  liegt  der  lyrische 
Charakter  des  Hyperion,  \^ eichen  das  epische  Element  desselben 
nicht  zu  neutralisieren  vermag;  denn  so  lebendig  auch  die  Schil- 
derungen in  der  zweiten  Bearbeitung  sind,  so  werden  sie  doch 
immer  nur  um  Ihrer  Beziehung  auf  das  Subject  willen,  als  Än- 
stoss  zu  Gemütsvorgängen,  aufgefasst  und  bebandelt.  Als  Gedicht 
aber,  oder  vielmehr  eine  Sammlung  von  (lyrischen)  Gedichten,  gibt 
sich  der  Hyperion  zu  erkennen  durch  seine  dichterische  Form. 
Ein  fester  edler  Rhythmus  durchzieht  das  Ganze,  und  unzählige 
Male  wird  durch  die  Zusammenstellung  einer  Reihe  gleichartiger 
Rhythmen  die  poetische  Prosa  in  vernehmliche  Poesie  verwandelt, 
z.  B.  S. '37:  „Des  Herzens  Woge  schäumte  nicht  so  hoch  empor 
Und  wurde  Geist;  wenn  nicht  der  alte  stumme  Fels,  Das  Schick- 
sal, ihr  entgegenstände.'*  S.  47:  „Weint  nicht,  wenn  das  Treff- 
lichste verblüht:  bald  wird  es  sich  verjüngen.  Trauert  nicht 
wenn  eures  Herzens  Melodie  verstummt:  bald  ßndet  eine  Hand 
sich  wieder  es  zu  stimmen."  S.  56:  „Wir  waren  Eine  Blume 
nur,  und  unsere  Seelen  lebten  in  einander,  wie  die  Blume  wenn 
sie  liebt  und  ihre  zarten  Freuden  im  verschlossnen  Kelche  ver- 
birgt." Und  so  ganze  Seiten  hindurch,  z.  B.  S.  57,  110,  121,  122, 
126,  141  f.  143  f.  Diese  metrische  ^'orm  ist  häufig  genug  durch 
ungewöhnliche  Wortstellung  absichtlich  herbeigeführt,  z.  B.  S.  46: 
„mählich  verengte  sich  und  ward  zum  Bogengänge  das  Thal;" 
S.  74:  „er  will  sich  selber  fühlen,  darum  stellt  er  seine  Schön- 
heil gegenüber  sich;"  S.  81:  „ihre  Stimme  erhub  mit  Grösse 
sich;"  S.  82:  „Viele  die  nur  Theile  sind  des  Menschen ;"  S.  120: 
„den  Ernst  der  Allen  gewann  in  deiner  Schule  der  Genius  unserer 
Jünglinge  bald ;"  S.  148 :  „ich  hab'  ihn  ausgeträumt  von  Menschen- 
dingen den  Traum."  Durch  dieses  Alles  bekommt  die  Sprache 
eine  stolze,  fast  dithyrambische  Haltung,  entsprechend  der  Ge- 
wähltheit und  dem  Schwünge  der  Gedanken,  Anschauungen  und 
Bilder.  Auch  die  Charaktere  sind  ätherisch  zart  und  idealisch 
rein  gezeichnet  und  durchgeführt;  so  der  Hellene  Hyperion  und 
der  Römer  (S.  21.  116)  Alabanda,  ganz  besonders  aber  Diotima. 
Die  Melite  der  ersten  Bearbeitung  ist  ganz  nur  aus  Sehnsucht 
gewoben,  Diotima  hat  zwar  Fleisch  und  Blut,  erinnert  aber  doch 


502  Fr.  HölderUn.« 

lebhaft  an  die  Jean  Paul'schen  Mädchen,  an  seine  Lianen  und 
Kiotilden.  Wie  sie,  vergeht  Diotima,  zehrt  sich  von  innen  heraus 
auf.  Nur  sind  Jean  Paul's  Mädchen  zuerst  und  wesentlich  kränk- 
lich, ihre  Aetherhafligkeit  ist  erst  das  Abgeleitete,  während  Dio- 
tima,  ursprunglich  gesund,  erst  dem  Uebermasse  des  innern 
Feuers  erliegt.  Auch  das  unterscheidet  den  Hyperion  wesentlich 
von  Jean  Paurschen  Romanen,  dass  in  jenem  das  elegische  und 
sentimentale  Element  ohne  die  Begleitung  eines  humoristischen 
ist,  und  dass  diese  unförmliche  Körper  sind,  aber  über  und  über 
behangen  mit  funkelndem  Golde  und  kostbaren  Diamanten,  wäh- 
rend der  Hyperion  ein  aus  reinem  Golde  mit  Sorgfalt  und  Ge- 
schmack gearbeitetes  Kunstwerk  bildet.  Die  Briefform  und  das 
Selbsterzählen  des  Betheiligten  ist  dabei  für  den  lyrischen  Cha- 
rakter günstig  und  bezeichnend;  aber  ein  Briefwechsel  ist  es 
nicht:  es  sind  nur  Briefe  Hyperion 's  an  Bellarmin,  nicht  auch 
Bellarmin's  an  Hyperion;  denn  nicht  um  Austausch  der  Ansichten 
ist  es  zu  thun,  sondern  dass  der  Eine  sich  ganz  aussprechen, 
seine  innere  Entwicklung  ununterbrochen  darstellen  könne.  BelJar- 
min  gewinnt  daher,  wohl  absichtlich,  um  nicht  das  Interesse  zu 
zertheilen,  oder  unbewusst  in  Folge  des  lyrischen  Charakters  der 
Dichtung,  durchaus  keine  Gestalt,  und  sein  Name  dient  nur  zur 
Capiteleintheilung.  Uebrigens  kann  von  einer  inneren  Entwick- 
lung des  Charakters  von  Hyperion  nur  uneigentlich  gesprochen 
werden,  indem  ein  Fortgang,  ein  Weiterkommen  hier  nicht  statt 
flndet;  den  Schritt  welchen  Hyperion  vorwärts  thut  geht  er  bald 
wieder  zurück  und  befindet  sich  wieder  an  derselben  Stelle  wie 
Anfangs.  Das  Resultat  seines  Lebens  ist  dass  er,  gescheitert  in 
seinen  Versuchen  zu  handeln,  wiederkehrt  in  die  Arme  der  Natur, 
der  wandellosen,  schönen  und  stillen  (S.  6),  also  sich  zurückzieht 
auf  das  blose  pflanzenartige  Sein  von  dem  er  ausgegangen  ist. 
Das  Ende  fällt  so  mit  dem  Anfange  zusammen,  es  ist  ein  Kreislauf, 
er  durchläuft  „des  Lebens  Bogen  und  kehret  woher  er  kam" 
(H,  298).  Der  Gewinn  des  langen  Weges  ist  das  Einzige  dass 
Hyperion  das  was  er  von  Anfang  unmittelbar  hatte  nun  als 
das  Beste  erkennen  gelernt  bat,  mit  Bewusstsein  und  Freiheit 
es  aufsucht  und  sich  wieder  zu  eigen  macht.  Wer  aber  von 
weiter  Reise  nur  die  eine  Weisheit  zurückbringt  dass  er  besser 
gethan  hätte  zu  Hause  zu  bleiben,  dessen  Reise  ist  vergeblich  ge- 
wesen. 


XXIV. 


A.    Seh  wegler*). 


£s  war  am  fünften  Morgen  des  Jahrs  1857  dass  eine  erschüt- 
ternde RtNHie  die  Stadt  Tübingen  durchflog:  Professor  Schwegler  ist 
vom  Sclilag  gerMu*t  worden  und  liegt  im  Stei^ben !  Wen  sie  erreichte, 
den  machte  sie  erstarren.  „Wie?  der  Mann  in  den  besten  Jahren, 
mit  der  unverwüstlichen  ^«sundheit,  den  eisernen  Nerven?  mit 
dem  wir  erst  gestern  Abend  ivsammengesessen ,  dem  wir  erst 
diesen  Morgen  auf  der  Strasse  begegnM  sind?"  Und  doch  war 
es  so.  Nachdem  er  von  8  — 9  Uhr  seine  Vortesung  über  die  Ge- 
schichte der  griechischen  Philosophie  ganz  in  gewtiiuater  Weise 
gehalten,  sich  nach  Hause  begeben,  zur  Arbeit  umgeiileidteC,  am 
Schreibtische  Platz  genommen  hatte,  war  er  um  OVj  Uhr  von  dem 
eintretenden  Barbier  bewusstlos  zu  Boden  gestreckt  angetroffen 
worden ,  und  Spuren  an  den  zum  Theil  herabgeworfenen ,  zum 
Theil  zerknitterten  Büchern  zeigten  wie  er  sich  krampfhaft  daran 
zu  halten  gesucht  hatte.  Trotz  der  sogleich  angewandten  ärzt- 
lichen Hülfe  wiederholten  sich  die  Anfälle  rasch  in  grosser  Zahl 
und  theil  weise  mit  furchtbarer  Intensität;  25  Stunden  lang  leistete 
die  kerngesunde  Natur  Widerstand.  Diese  ganze  Zeit  über  lag 
er  röchelnd  und  vom  Bewusstsein  verlassen,  welches  keinen  Augen- 
blick wiederkehrte.  Endlich  wurde  das  Röcheln  immer  leiser 
und  leiser,  bis  es  zuletzt  ganz  aufhörte.  Noch  einige  tiefe  Athem- 
züge,  und  ein  reichausgestaltetes  Leben  war  zu  Ende.  Es  war 
der  Morgen  des  Erscheinungsfestes,  Vormittags  lO'/j  Uhr. 

Die  Leichenöffnung  ergab  keine  dem  Anatomen  erkennbare 
Todesursache.    Zwar  war  der  Schädelknochen  ungewöhnlich  dick. 


/ 


*)  Aus  der  Beilage  zu  Nr.  331  der  Allgemeinen  Zeitung,  27.  Novem- 
ber 1858,  8.  5346—5347. 


504  A.  Schwegler. 

aber  der  Verstorbene  war  überhaupt  von  kräftigem  Knochenbau; 
zwar  zeigte  das  Gehirn  einigen  Bhitreichthum,  aber  weitaus  nicht 
in  dem  Grade  um  eine  solche  Wirkung  zu  erklären.  Die  eigent- 
liche Todesursache  lag  nicht  ferne  vom  Sterbelager  auf  einem 
kleinen  Tische;  es  waren  die  beiden  Bände  von  Schwegler's  Römi- 
scher Geschichte.  Denn  die  Tag  und  Nacht  hindurch  fortgesetzte, 
keine  Ruhe,  keine  Erholung  sich  gönnende;  auf  Alles  was  davon 
abziehen,  was  irgend  Zeit  kosten  konnte,  mit  starrer  Consequenz 
Verzicht  leistende  Arbeit  an  diesem  Werke  hat  seine  scheinbar 
unzerstörbare  Natur  zuerst  innerlich  aufgerieben  und  dann  mit 
einem  Male  zertrümmert.  Nur  ein  schwacher  Trost  ist  es  dabei 
dass  es  ihm  doch  noch  vergönnt  war  sein  Werk  bis  zu  einem 
gewissen  Abschlüsse  fortzuführen.  Denn  es  war  des  Verstorbenen 
Absicht  nach  Vollendung  des  dritten  Bandes  sich  auf  längere  Zeit 
andern  Studien  zuzuwenden,  da  er  das  Aussaugende  der  unaus- 
gesetzten Beschäftigung  mit  einem  einzigen  Gegenstande  Sehr  wohl 
fühlte.  Aber  auch  dieses  Ziel  sollte  er  nicht  vollständig  erreichen. 
Sein  titanenhaftes  Anstürmen  gegen  die  Schranken  welche  der 
menschlichen  Individualität  gesetzt  sind,  und  welche  Keiner  un- 
gestraft verletzt,  hat  seinen  Lebensfaden  zerrissen  noch  ehe  er 
an  diesen  dritten  Band  die  letzte  Feile  anlegen  konnte  ^  und  dieser 
erscheint  jetzt  durch  fremde  Hand^),  zwar  äusserlich  .lückenlos 
und  innerlich  befriedigend,  überhaupt  seines  Verfassers  vollkom- 
men würdig,  aber  doch  nicht  in  derjenigen  Gestalt  welche  dieser 
bei  längerem  Leben  demselben  schliesslich  selbst  gegeben  haben 
würde.  Dieser  dritte  Band  führt  in  sieben  Büchern  von  zusam- 
men 306  Seiten  die  römische  Geschichte  vom  ersten  Decemvirat 
bis  zu  den  Licinischen  Gesetzen,  durch  welche  die  Plebejer  die 
vollständige  politische  Gleichstellung  mit  den  Patriciern  erlangten , 
er  umfassl  also  kaum  acht  Decennien  (J.  300 — 376  d.  St.).  Der 
ganze  eigentliche  Inhalt  ist  fast  ohne  Ausnahme  das  Werk  von 
Schwegler;  vom  Herausgeber  rührt  das  verdienstliche  Register 
über  die  drei  Bände  (S.  307  —  380)  her,  der  vorausgeschickte 
Lebensabriss  Schwegler's  aber  (S.  VII — XXXVI)  von  E.  Zeiler. 
Der  Schluss  desselben ,  eine  Schilderung  von  Schwegler's  äusserer 
Persönlichkeit,    soll    Fr.   Vischer   zum   Verfasser    iiaben.      Zeller 


*)  Römische  Geschichte  im  Zeitalter  des  Kampfs  der  Stände,  von 
Dr.  A.  Schwegler.  Zweite  Hälfte.  Vom  ersten  Decemvirat  bis  zu 
den  Licinischen  Gesetzen.  Nach  des  Verfassers  Tod  herausgegeben 
Ton  Dr.  F.  F.  Baur,  Professor  am  Gymnasium  in  Tübingen.     1868. 


A.  Schwegler.  505 

konnte  für  seine  Schildefung  die  Tagebücher  und  sonstigen  hin- 
terlassenen  Papiere  Schwegler's  benützen,  und  hat  auch  eine 
treffliche  Arbeit  geliefert,  die  wir  nur  etwas  zu  geradlinig  ange- 
legt finden,  sofern  die  inanchfachen  Absätze  und  Wandlungen 
in  Schwegler's  Wesen  und  Denkart  wohl  mehr  Berücksichtigung 
verdient  hätten,  wobei  nicht  zu  verschweigen  war  dass  Schwegler 
im  Verlaufe  seiner  historischen  Studien  dem  specifischen  Hegel- 
thum  immer  gründlicher  entfremdet  wurde.  Auch  im  Einzelnen 
lässt  sich  mancher  nicht  unwesentliche  Zug  nachtragen.  Versuchen 
wir  es,  nach  Zeller 's  Mittheilungen  und  eigener  Erinnerung,  ein 
Bild  des  Verstorbenen  zu  entwerfen. 

Friedrich  Karl  Albert  Schwegler  war  geboren  am  10.  Febr. 
1819  zu  Michelbach  an  der  Blitz,  einem  Dorfe  in  der  Nähe  der 
ehemaligen  Reichsstadt  Hall,  in  welchem  sein  Vater  Pfarrer  war, 
so  dass  also  die  römische  Geschichte  ihre  beiden  bedeutendsten 
Bearbeiter  in  der  Gegenwart,  A.  Schwegler  und  Th,  Mommsen, 
Pfarrhäusern  zu  danken  hat.  Schwegler's  Vater,  der  noch  in  der 
ersten  Hälfte  der  Zwanziger  stand  als  ihm  dieser  erste  Sohn  ge- 
boren wurde,  war  ein  in  seinem  Wirkungskreise  vollkommen  ach- 
tungswerther  Mann,  der  sich  aber  über  das  Mittelmass  mensch- 
licher Fähigkeit  nicht  erhob;  dagegen'  soll  die  Mutter  eine  geistig 
und  gemütlich  ausgezeichnete  Frau  gewesen  sein.  Da  die  Familie 
allmählich  auf  fünf  Kinder  anwuchs  und  wenig  bemittelt  war,  so 
verstand  es  sich  nach  würtembergischen  Verhältnissen  fast  von 
selbst  dass  der  von  jeher  reiche  Gaben  bekundende  älteste  Sohn 
zum  Studium  der  Theologie  bestimmt  wurde.  So  durchlief  er 
das  niedere  Seminar  zu  Schönthal  (1832 — 1836)  und  das  höhere 
zu  Tübingen  (1836 — 1840)^  in  allen  Lehrgegenständen ,  mit  Aus- 
nahme der  mathematischen,  jederzeit  seine  Altersgenossen  über- 
ragend und  die  höchsten  Erwartungen  erregend.  Diesem  ent- 
sprach denn  auch  gleich  sein  erstes  literarisches  Auftreten  im 
Jahre  1841 ,  mit  seiner  Monographie  über  den  Montanismus ,  die 
ihm  alsbald  einen  Platz  in  der  vordersten  Reihe  der  Tübinger 
Schule  sicherte.  Nach  einer  wissenschaftlichen  Reise  und  längerem 
Aufenthalte  zu  Berlin  im  Herbst  1842  in  die  Heimat  zurückge- 
kommen, hoffte  Schwegler  an  einem  der  vier  niedern  Seminarien 
Würtembergs  als  Repetent  verwendet  zu  werden,  eine  Stellung 
welche  neben  anregenden  amtlichen  Verhältnissen  viel  Müsse  zu 
wissenschaftlicher  Beschäftigung  zu  bieten  pflegt.  Als  diese  Hoff- 
nung sich  nicht  erfüllte,   entschloss  er  sich  seinen  Aufenthalt  in 


506  A.  Seh  wegler. 

Tubingen  zu  nehmen ,  trotzdem  dass  er  sich  als  einzige  Subsistenz- 
quelle  auf  seine  Feder  angewiesen  wusste.  Aber  er  vertraute  seiner 
Bedurfnisslosigkek  und  seiner  Arbeitskraft,  sah  sich  jedoch  durch 
seine  Lage  theilweisc  zu  Verwendungen  seiner  Zelt  {j[enöthigt  die 
seinem  Talente  keinen  Raum  Hessen. 

Einige  Besserung  brachte  der  Anfang  des  Jahres  i84S»  wo 
sich  in  Tübingen  eine  Anzahl  jüngerer  Talente,  deren  Gemein- 
sames die  Richtung  auf  Autonomie  und  Fortschritt  in  allen  Gebie- 
ten des  Geistes  war,  dazu  vereinigte  eine  Zeitschrift  von  der  un- 
gefähren Tendenz  der  Hallischen,  nachher  Deutschen  Jahrbücher, 
aber  unter  Vermeidung  ihrer  Fehler  und  Ausschreitungen,  zu 
gründen.  Drei  von  den  Gründern  dieser  Zeitschrift,  welche  auf 
Vischer's  Vorschlag  den  Titel  „Jahrbücher  der  Gegenwart"  an- 
nahm, haben  ein  frühes  Grab  gefunden:  J.  Fallati,  C.  R.  Köstlio, 
A.  Schwegler;  die  beiden  andern,  Fr.  Vischer  und  E.  Zeller,  sind 
von  dem  Herde  ihrer  ursprünglichen  Wirksamkeit  weggezogen. 
Zum  geschäflsführenden  Redacteur  wählten  sie  Schwegler^  der, 
obwohl  der  jüngste,  durch  seine  geistige  Reife,  Vielseitigkeit  und 
Gewandtheit,  so  wie  seine  amtlose  Stellung,  dazu  besolders  ge- 
eignet schien  und  in  seiner  Beurteilung  von  Ruge's  Anekdota 
eine  Art  Programm  der  neuen  Zeitschrift  verfasste,  wenigstens 
nach  der  Seite  hin  wo  sie  von  ihrer  Vorgängerin  sich  unterscheiden 
wollte.  Schwegler  führte  auch  die  Redaction  fort  bis  zum  Aufhören 
der  Jahrbücher  im  Jahr  1848,  ohne  jedoch  selbst  ihnen  viele 
umfangreiche  Beiträge  zu  widmen,  theils  weil  er  die  zerbröckelte 
Art  literarischer  Thätigkeit  nicht  liebte  und  bald  durch  seine  neue 
akademische  Stellung  sich  einigermassen  in  Anspruch  genommen 
sah  (er  habilitierte  sich  am  12.  Sept.  1843  durch  öfTentliche  Ver- 
tbeidigung  einer  Abhandlung  „über  die  Composition  des  Platoni- 
schen Symposion"  als  Privatdocent  der  Philosophie  und  Philologie), 
theils  wohl  auch  aus  absichtlicher  Zurückhaltung,  um  sich  nicht 
unmöglich  zn  machen.  Schwegler  rechnete  nämlich  darauf  dass 
er  in  seiner  Reihe  in  das  Repetentencollegium  des  evangelischen 
Seminars  (des  bekannten  „Stift")  werde  eintreten  können,  und  die 
scfaliessliche  Vorenthaltung  dieser  Stelle,  welche  doch  wahrlich  nicht 
zu  den  höchsten  Zielen  des  Menschenlebens  zählt,  erfüllte  ihn  mit 
einer  Bitterkeit  die  man  verwunderlich ,  ja  krankhaft  finden  müsste, 
wenn  man  nicht  bedächte  dass  ihm  dieselbe  als  Gelegenheit  einige 
Jahre  frei  von  äussern  Sorgen  der  Wissenschaft  zu  leben,  so  wie 
als  Sprungstein  für  Weiteres  erwünscht  sein  musste,  und  dass  er. 


A.  Schwegler.  *  507 

um  sie  nicht  zu  gefährden ,  zwar  niemals  seine  Ueberzeugung  ver* 
leugnet,  aber  doch  sich  manchen  Zwang  auferlegt  und  immer 
nur  seine  friedlichsten  Seiten  bervorgekehct  hatte.  Um  so  tiefer 
schmerzte  ihn  nun  diese  alle  seine  Pläne  durchkreuzende  und 
ihm  völlig  unverdient  scheinende  Verkürzung,  und  bei  seiner  un- 
glücklichen Art  unangenehme  Erfahrungen  immer  tiefer  in  sich 
hineinzuarbeiten  und  darin  fortzuwühlen,  statt  sie  entweder  mit 
einem  raschen  Entschlüsse  auszustossen  oder  allmählich  auf  die 
Oberfläche  treten  zu  lassen  und  dann  sachte  abzulegen,  kann  man 
vielleicht  sagen  dass  er  sein  Leben  lang  sie  nie  ganz  verwunden 
hat.  Zunächst  verfasste  er,  halb  im  Unmut  über  diese  Kränkung, 
in  unglaublich  kurzer  Zeit  seine  Geschichte  des  nachapostoUschen 
Zeitalters  (Tübingen  1845.  2  Bde.) ,  in  welcher  er  nunmehr  mit 
rückhaltsloser  Offenheit  seine  Anschauung  von  den  Anfängen  der 
christlichen  Kirche  darlegte,  ein  Werk  das  selbst  bei  Solchen  welche 
die  Ausgangspunkte  und  Ergebnisse  entschieden  missbilligten  um 
seiner  theologischen  Gelehrsamkeit  und  seines  glänzenden  Scharf- 
sinns willen,  so  wie  wegen  der  meisterhaften,  durchsichtigen  und 
oft  hmreissenden  Darstellung,  aufrichtige  Anerkennung  fand. 

Damit  schloss  Schwegler  für  seine  Person  seine  theologische 
Laufbahn  ab ,  und  vermittelte  sich  den  Uebergang  zu  einer  neuen 
durch  eine  Reise  nach  Italien  welche  er  im  Frühjahr  1846  unter- 
nahm. Was  eine  Erholung  sein  sollte,  das  machte  seine  Energie 
zu  einer  Quelle  neuer  Anstrengungen.  In  fünf  kurzen  Monaten 
durchreiste  er  Italien  und  Sicilien  unter  grossen  Entbehrungen 
und  verweilte  namentlich  längere  Zeit  in  Rom ,  wo  der  Plan  eine 
römische  Geschichte  zu  schreiben  vollends  in  ihm  zur  Reife  gedieh. 
Zuvor  aber  räumte  er,  zurückgekehrt,  mit  älteren  Studien  auf, 
indem  er  auf  buchbändlerische  Veranlassung  im  J,  1847  eine  kurze 
Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  herausgab,  welche 
ihren  Stoff  mit  geistreicher  Leichtigkeit  beherrscht  und  bei  aller 
Kürze  doch  das  Wissenswerthe  in  so  genügender  und  lichtvoller 
Weise  bietet  dass  die  Schrift  mehrere  starke  Auflagen  erlebte  und 
in  fremde  Sprachen  übersetzt  wurde.  Dann  Hess  er  von  1847 
bis  1848  eine  Bearbeitung  der  Metaphysik  des  Aristoteles  („Grund- 
text, Uebersetzung  und  Commentar,  nebst  erläuternden  Abhand- 
lungen" in  vier  Bänden ,  Tübingen), erscheinen,  welche  zwar,  wie 
der  competenteste  Richter,  H.  Bonitz,  nachgewiesen  hat,  in  phi- 
lologischer Hinsicht  Manches  zu  wünschen  übrig  Hess,  aber  durch 
die  Schärfe  der  philosophischen  Auffassung  und  Entwicklung  im 


508  '  A.  Schwegler. 

Ganzen  und  in  vielen  Einzelheiten  sich  wesentliche  Verdienste  er- 
worben hat.  Auch  veröffentlichte  er  1847  eine  Ausgabe  der  Cle- 
mentinischen  Homilien,  sowie  1852  eine  solche  von  der  Kirchen- 
geschichte des  Eusebius,  welche  letztere  die  einzige  Unterbrechung 
war  die  er  in  seinen  Arbeiten  für  die  römische  Geschichte  ein- 
treten Hess.  Denn  auf  diesQ  concentrierte  er  seit  Ende  1847 
seine  ganze  grossartige  Arbeitskraft. 

Inzwischen  aber  war  seine  äussere  Stellung  fort  wahrend  eine 
seinen  Fähigkeiten  und  literarischen  Leistungen  wenig  entsprechende. 
Schwegler  hatte  längere  Zeit  unter  dem  zu  leiden  was  man  schon 
das  akademische  Hungersystem  genannt  hat,  und  was  auch  in 
Tubingen  lange  Zeit  in  Blüte  gewesen  ist.  Nichts  liegt  uns  zwar 
ferner  als  die  Ansicht  dass  Jeder  welcher  sich  einer  Universität 
als  Lehrer  zu  octroyieren  für  gut  findet  eben  damit  ohne  Weiteres 
sich  einen  Anspruch  auf  Aufmunterung  und  Unterstützung  erwerbe. 
Die  Stellung  eines  akademischen  Lehrers  hat  manches  Verlockende, 
auch  die  eines  Privatdocenten  hat  einige  zum  Theil  kostbare  Rechte 
und  ein  Minimum  von  Pfliditen.  Es  wäre  daher  bei  allzu  grosser 
Liberalität  ein  Zudrang  zu  befürchten  welcher  allen  Theilen  schäd- 
lich wäre,  und  es  könnte  auch  die  Mittelmässigkeit,  welche  den 
knapperen  Anforderungen  anderer  Laufbahnen  aus  dem  Wege 
gehen  möchte^  auf  diese  Weise  ohne  Anstrengung,  durch  blose 
hartnäckige  Ausdauer,  sich  ein  Unterkommen  ersitzen  zu  können 
glauben.  Aber  es  ist  doch  wohl  nicht  schwer  im  einzelnen  Falle 
zu  unterscheiden  zwischen  solcher  Bequemlichkeit  und  dem  wirk- 
lich begabten  und  strebsamen  jungen  Manne.  Bei  Schwegler 
wenigstens  konnte  es  keinen  Augenblick  lang  zweifelhaft  sein  zu 
welcher  von  beiden  Kategorien  er  gehöre.  Aber  statt  ihm  kräftig 
unter  die  Arme  zu  greifen,  verbitterte  man  ihn  zuerst  durch 
Verweigerung  aller  Unterstützung,  und  schob  ihn  zuletzt  in  eine 
Stellung  hinein  für  die  er  nicht  vorbereitet  war,  die  ihn  daher 
nicht  befriedigte,  und  deren  Anforderungen  mit  tlazu  beitrugen 
ihn  zu  erdrücken.  Im  Juli  1848  ernannte  das  würlembergische 
Märzministerium  Schwegler  zum  ausserordentlichen  Professor  für 
römische  Literatur  und  Alterthümer.  Für  diese  Fächer  hatte  er 
bis  zum  Augenblicke  seiner  Ernennung  lediglich  nichts  geleistet. 
Seine  Reise  nach  Rallen  und  sein  Vorhaben  eine  römische  Ge- 
schichte zu  schreiben  war  Alles  was  er  in  dieser  Hinsicht  aufzu- 
weisen hatte.  Man  hat  sich  in  Würtemberg  immer  auf  die  Kunst 
verstanden  einen  gegebenen  Theologen  in  einen  beliebigen  Fach- 


A.  Schwegler.  509 

mann  zu  verwandeln;  aber  selten  ist  der  Versuch  in  dem  Masse 
gelungen  wie  im  vorliegenden  Falle,  wo  man  es  freilich  mit  einem 
ganz  ungewöhnlichen  Talent  und  einer  geistigen  Energie  sonder 
Gleichen  zu  tbun  hatte. 

Auf  zweierlei  Weise  konnte  Schwegler  von  dem  neuüber- 
tragenen Wissenschaftsgebiete  Besitz  ergreifen  und  seine  Wahl 
rechtfertigen:  er  konnte  entweder  allmählich  und  in  der  Stille  sich 
in  immer  mehrere  Zweige  desselben  einarbeiten,  und  als  akade- 
mischer Lehrer  desselben  eine  immer  ausgedehntere  und  tiefer- 
gehende Wirksamkeit  entfalten;  oder  aber  die  ganze  Wucht  seines 
Talentes  auf  einen  einzigen  Theil  desselben  concentrieren  und 
dadurch  eine  imponierende  literarische  Leistung  zu  Stande  bringen. 
Schwegler  schlug  den  schwierigeren  und  glänzenderen  zweiten 
Weg  ein.  In  der  Wahl  de&  bestimmten  Stoffes  auf  den  er  sich 
warf  hat  er  entschieden  richtige  Selbstkenntniss  bewiesen. 
Schwegler  besass  in  seltenem  Masse  die  Fähigkeit  einen  weit  aus- 
gedehnten wissenschaftlichen  Stoff  gleichzeitig  zu  umspannen  und 
sich  geistig  gegenwärtig  zu  halten,  ihn  lichtvoll  zu  ordnen^  scharf- 
sinnig zu  combinieren  und  meisterhaft  darzustellen.  Musste  er 
vermöge  dieser  Eigenschaften  als  vorzuglich  berufen  für  die  Ge- 
schichtschreibung erscheinen,  so  war  er  andererseits  mit  keinem 
Volke  geistig  näher  verwandt  als  mit  dem  römischen.  Die  Art 
der  Römer,  mit  unverwandtem  Auge  und  mit  Anspannung  aller 
Kräfte  dem  selbstgewählten  Ziele  nachzustreben  und  alles  Andere 
darüber  für  Nichts  zu  achten,  war  auch  seine  Art;  auch  seine 
Natur  war  durch  und  durch  pathetisch  angelegt,  und  auch  seine 
Darstellungsweise  bekam  daher  immer  unwillkürlich  einen  rheto- 
rischen Charakter.  Und  dann  die  unübersetzbare  und  doch  so 
einzig  charakteristische  Eigenschaft  der  Römer,  ihre  ferocia,  die 
Steigerung  der  virtus  über  ihr  Mass  und  Ziel  hinaus,  er  besass 
sie  von  Anfang  bis  zu  Ende,  nur  dass  sie  allmählich  immer  aus- 
schliesslicher in  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  sich  bethätigte. 
War  so  Schwegler  wie  geschaffen  zum  Geschichtschreiber  der  Römer, 
so  möchte  man  freilich  wünschen  er  hätte  sich  sogleich  der  Kaiser-- 
zeit  zugewandt,  für  welche  er  eine  Complication  von  Eigenschaften, 
Kenntnissen  und  Studien  besass  wie  sie  sich  vielleicht  nie  wieder 
beisammen  finden,  und  welche  einer  gründlichen  und  geistvollen 
Bearbeitung  noch  in  weit  höherem  Grade  bedürftig  ist  als  die 
ältere  Zeit,  wo  nach  allem  seit  Niebuhr  Geleisteten  nur  noch  eine 
Nachlese,  eine  kritische  Sichtung  und  Zusammenfassung  möglich 


510  A.  Sehwegler. 

war.  Aber  wer  will  mit  dem  Vollendeten  rechten  dass  er  liebo* 
einem  Zeitaller  sich  zuwandte  das  für  ihn  den  Reiz  der  Neidieit 
hatte,  und  wo  er  von  der  ihm  peinlich  gewordenen  Theologie 
gründlich  loskam?  Freuen  wir  uns  vielmehr  dessen  was  er  für 
die  von  ihm  erwählte  Aufgabe  geleistet  hat. 

Das  Jahr  1848,  welches  für  Sehwegler  die  endliche  feste 
Stellung  und  damit  die  Erfüllung  seines  sehnlichsten  Wunsches 
brachte,  gab  ihm  auch  Gelegenheit  seine  politischen  Ansichten 
thatsächlich  zu  erproben.  Sehwegler  hat  sein  politisches  Glau- 
bensbekenntniss  niedergelegt  in  der  Beurteilung  des  Kampfes 
zwischen  den  Patriciern  und  Plebejern,  welche  an  der  Spitze 
seines  zweiten  Bandes  steht.    Eine  der  bezeichnendsten   Stellen 

lautet  hier  (S.  39) : „eine  Bestätigung  des  Erfahrungssatzes 

dass  was  mühsam  und  stetig  und  auf  tüchtigem  Grund  auferbaut 
wird  Stand  hält  und  der  Zeit  trotzt,  während  Erschwindeltes  und 
eilfertig  Aufgebautes  keine  Dauer  hat  und  leicht  Tom  nächsten 
Windstoss  wieder  umgeworfen  wird."  Bei  solcher  Anschauungs- 
weise und  bei  seiner  ganzen  geistigen  Reife,  Klarheit  und  Nuch* 
ternheit  musste  Sehwegler  von  yornherein  gegen  die  neue  Be- 
wegung misstraulsch  sein;  indessen  wenn  er  auch  nicht  viel 
hoffte,  so  wünschte  er  doch  die  Herstellung  einer  Einheit,  und 
wäre  es  vorläufig  um  den  Preis  der  Freiheit  Er  schloss  sich 
daher  an  die  später  nach  Gotha  benannte  Partei  an,  und  unter- 
zeichnete noch  im  Januar  1850  die  sogenannte  Plocbinger  Er- 
klärung. Aber  von  Anfang  an  liess  er  sich  durch  manche  Aus- 
wüchse und  Ungelegenheiten,  welche  sich  von  einer  solchen  Zeit 
der  Aufregung  und  Lockerung  aller  Bande  nicht  leicht  trennen 
lassen,  gründlicher  abstossen  als  eigentlich  rationell  war. 

Insbesondere  war  es  das  Institut  der  Bärgerwehr  das  seinen 
tiefsten  Widerwillen  erregte.  Wie  Sehwegler  schon  im  Allge- 
meinen einer  Denkweise  welche  den  Leib  nicht  als  Organ,  son- 
dern als  Diener  des  Geistes  betrachtet,  oder  doch  behandelt, 
nicht  fern  stand  und  eine  grosse  Abneigung  gegen  Körperübun- 
gen hatte,  so  machte  die  durch  diese  Dinge  verursachte  Zeitver- 
geudung ihm  dieselben  vollends  unausstehlich.  Dass  er  diess  un- 
verhohlen an  den  Tag  legte  war  in  der  damaligen  Zeit  weit  ent- 
fernt ihm  Freunde  oder  gar  eine  Erleichterung  zu  verschaffen. 
Im  Gegentheil,  wenn  zu  jener  Zeit  in  ofifentlichen  Blättern  von 
einem  akadenuschen  Lehrer  zu  lesen  war  welcher  durch  eine 
Escorte  der  Bürgerwehr  aus  seinem  Hause  weg  zum  Exercieren 


A.  Schwegler.  511 

geboh  worden  sei»  so  woUeA  wir  nicht  verschweigen  dass  dieser 
Lehrer  unser  Schwegler  war.  Nun  woUle  sein  Unstern  gar  noch 
das&  diese  leidige  Soldalenspielerei  nirgends  hartnäckiger  fort^e- 
triehen  wurde  als  gerade  in  seinem  Wohnort.  Diese  ewigen 
Qualereien  versetzten  Schwegler  in  eüien  wahren  Ingrimm»  und 
er  hol  Allem  auf  um  dem  Institut  den  Garaus  zu  machen  und 
dadurch  Ruhe  zu  bekommen.  Er  verfertigte  eine  förmliche 
Anklageacte  gegen  die  Tübinger  Bürgerwehr,  und  diese  seine 
Zeitungsartikel»  wie  sie  alte  Freunde  ihm  entfremdeten,  machten 
auf  anderer  Seite  so  entschieden  den  Eindruck  geistiger  Bedeu- 
tung,  politischer  Entscliiedenheit  und  stilistischer  Vollendung,  dass 
kurz  darauf  durch  einen  Abgesandten  des  Ministeriums  an  ihn 
die  Aufforderung  ergieng  die  Redaction  des  Würtembergischen 
Staatsanzeigers  zu  übernehmen.  Die  Bedingungen  waren  lockend» 
und  der  Wirkungskreis  eines  Redacteurs  bei  einer  politischen 
Zeitung  manchen  Seiten  von  Schwegler's  Wesen  so  zusagend  dass 
er  einen  Augenblick  schwankte;  aber  manches  Unbefriedigende 
in  dea  eoncrelen  Verhältnissen»  und  vor  Allem  wohl  das  Gefühl 
der  Unmöglichkeit  von  seinen  begonnenen  wissenschaftlichen  Ar- 
beiten sich  zu  trennen»  bestimmte  ihn  zuletzt  den  Antrag  doch 
abzulehnen.  Und  auf  die  Dauer  hätte  sich  Schwegler's  Art  zu 
arbeiten  mit  einer  solchen  Stellung  nicht  vertragen,  ^war  konnte  er 
sehr  rasch  und  leicht  arbeiten»  und  was  er  so»  in  voller  Herrschaft 
über  den  Stoff»  in  Folge  äussern  Drängens  schnell  hingeworfen 
hat»  wie  sein  »»Nachapostolisches  Zeitalter''  und  seine  »»Geschichte 
der  Philosophie"»  gehört  sogar  zu  seinen  gelungensten  Leistun- 
gen; in  der  Regel  aber  rückte  er  nur  langsam  von  der  Stelle» 
indem  er  sich  schwer  Genüge  that  und  mit  dem  Wägen  und 
FeUen  und  Aendern  kaum  zu  Ende  kam.  So  verschob  er  auch 
die  Herausgabe  seiner  »»Römischen  Geschichte"  inuner  von 
Neuem»  und  hatte  Alles  was  jetzt  gedruckt  vorliegt  der  Vollen- 
dung schon  nahe  gebracht  als  er  im  Jahr  1853  die  erste  Hälfte 
des  ersten  Bandes  erscheinen  Hess»  daher  die  einzelnen  Abthei- 
lungen in  verhältnissmässig  so  kurzen  Zwischenräumen  auf  ein- 
ander folgen  konnten.  Und  bedenkt  man  dass  sechs  bis  sieben 
Jahre  vorher  rein  nichts  vorhanden  war  als  der  abstracte  Vorsatz 
ein  solches  Werk  zu  schreiben»  dass  der  Verfasser  überdiess 
seine  Zeit  mit  Vorlesungen  theilen  musste  und  zwischenhinein  den 
Eusebius  edierte»  so  wird  man  staunen  über  seme  riesenmääsige 
Arbeitskraft»  aber  auch  sein  frühes  Ende  begreiflich  finden. 


i>12  A.  Schwegler. 

Schwegler  hatte  sich  zur  Aufgabe  gemacht  die  römische  Ge- 
schichte in  der  Weise  zu  behandeln  dass  er  „  neben  einer  m^- 
liehst   voUstindigen  Zusammenstellung  des  geschichtlichen  Stoffes 
und  einer  selbständigen ,  das  historisclie  VerstSnduiss  weiter  töT- 
dernden  Bearbeitung  desselben,  zugleich  eine  beurteilende  Ueber- 
sicht  über  die  gelehrten  Forschungen  gebe  die  in  den  letzten 
zwaniig  Jahren ,  seit  Niebuhr ,  auf  diesem  Felde  angestellt  worden 
sind."    Sein  Werk  bat   daher  ausser  dem  historisch -kriüsclien 
zugleich  einen  gelehrten  Charakter,  und  unterscheidet  sich  hier- 
durch wesentlich  Tom  Plane  Niebuhr 's,    hat  aber  einen  grossen 
Theil  seines  Erfolgs  unzweifeJhaA  dieser  seiner  Eigenschaft  als 
ReperCorium  zu  danken.     Keine  Frage  die  mit  seinem  Gegenstand 
auch  nur  entfernt  zusammenhängt  lässt  er  vorüber  ohne  ihr  auf 
den  Grund  zu   gehen,  die  verschiedenen  Ansichten  darüber  ger- 
siclitef  und  geordnet  darzulegen,  die  Gründe  für  und  wider  um- 
sichtig abzuwägen   und    schliesslich   entweder  sich  für  eine  der 
aufgezählten    zu  entscheiden  oder  eine  neue  aufzustellen,   oder 
auch,  w*o   ein   festes  Ergebniss  nicht  zu  erzielen  war,    oder  wo 
er  sich   zu  einem    bestimmten   Urteil  nicht  beraten  fühlte,    ein 
Non  Uquet  auszusprechen. 

Die  Reichhaltigkeit  des  mit  unendlichem  Fleisse  zusammen- 
getragenen Materials,  die  lichtvolle  Gruppierung  und  besonnene 
Prüfung  aller  entscheidenden  Momente,  die  Zuverlässigkeit  und 
annähernde  Vollständigkeit  der  literarischen  Nachweisungen,  die 
Durchsichtigkeit  der  Darstellung  hat  Schwegler's  Arbeit  auch  in 
solchen  Kreisen  Freunde  verschafft  welche  vielleicht  durch  den 
kritischen  Standpunkt  des  Verfassers  sich  eher  hätten  abstossen 
lassen.  In  letzterer  Beziehung  steht  Schwegler  ganz  auf  den 
Schultern  Niebuhr's;  aber  er  kommt  bereichert  durch  die  Errun- 
genschaften der  theologischen  Kritik  und  mit  einem  auf  jenem 
Gebiete  eben  so  geschärften  wie  erweiterten  Blick;  und  wenn 
der  berühmte  Verfasser  des  Lehens  Jesu  zu  seiner  kritischen 
Bearbeitung  neben  0.  MüUer*s  Prolegomena  zur  Mythologie  ganz 
bes4Miders  durch  Niebuhr's  Behandlung  der  römischen  Geschichte 
angeregt  worden  war,  so  hat  Schwegler  die  hierdurch  erwach* 
sene  Schuld  an  die  römische  Geschichte  mit  reichen  Zinsen  ab- 
getragen. Ausserdem  war  er  mit  Erfolg  bemuht  von  den  Schwä- 
chen Niebuhr's  sich  frei  zu  erhalten,  insbesondere  von  seinem 
Mangel  an  unbefangener  Auslegung  der  Quellen,  seiner  parteii* 
sehen  Vorliebe  für  einzelne  Schriftsteller  und  seiner  unbegrön- 


1. 


A.  Schwegler.  513 

deten  Abneigung  gegen  andere  und  gegen  bestimmte  geschicht- 
liche Erscheinungen,  seiner  Hypothesensucht,  überhaupt  von  der 
subjectiven  Willkür,  die  bei  dem  ersten  genialen  Wurfe  verzeih- 
lich war,  von  dem  Epigonen  aber  desto  strenger  vermieden  wer- 
den musste.  Auch  hat  Seh  wegler  seinen  Vorgänger  vielfach  er- 
gänzt in  dem  positiven  Theile  seiner  Arbeit,  in  der  Nachweisilhg 
wie  die  überlieferte  Erzählung  entstanden  sei.  Nachgeahmt  aber 
hat  er  Niebuhr  in  dem  Bestreben  dunkle  Verhältnisse  der  römi- 
schen Geschichte  durch  Vergleichung  verwandter  Zustände  in  be- 
kannteren Zeiträumen  aufzuhellen,  was  besonders  im  zweiten  Theile 
stark  hervortritt,  wogegen  im  ersten  Bande  eine  gewisse  Neigung 
zum  Systematisieren  und  Formulieren  bemerklich  ist,  die  wir 
wohl  als  eine  Frucht  des  philosophisch  -  theologischen  Bildungs- 
ganges von  Schwegler  werden  betrachten  dürfen.  Wo  der  Ver- 
fasser sich  auf  das  Etymologisieren  einlässt  zeigt  er  weder  rechte 
Sicherheit  noch  auch  immer  eine  glückliche  Hand,  so  dass  es 
wohl  mehr  das  Gefühl  des  Bedürfnisses  weiterer  Selbstbelehrung 
auf  diesem  Gebiete  als  wirkliche  innere  Neigung  war  was  ihn  auf 
den  Gedanken  brachte  nach  Vollendung  der  drei  Bände  seines 
Geschichtswerkes  sich  der  Bearbeitung  eines  Wurzelwörterbuchs 
zuzuwenden.  Eine  Glanzseite  seiner  Leistung  ist  dagegen  sein 
Stil ,  der  zwar  nicht  die  polternde  Lebendigkeit  und  Buntscheckig- 
keit einer  andern  römischen  Geschichte  hat,  im  Gegentheil  oft 
etwas  Doctrinäres  und  in  den  späteren  Partien  auch  nicht  selten 
etwas  Weitschweifiges  an  sich  trägt,  dafür  aber  durch  edle  Hal- 
tung, reinen  Geschmack,  Klarheit,  Anschaulichkeit  und  sehr 
häufig  auch  durch  wohlthuende  Wärme  fesselt ,  wie  sie  die  Folge 
ist  von  liebevollem  Versenken  in  die  geschichtliehen  Gestalten, 
die  der  Verfasser  aus  sich  selbst  zu  verstehen  und  zu  beurteilen, 
nicht  aber  zu  meistern  oder  gar  zu  schelten  bemüht*  ist. 

Zu  diesen  Vorzügen  des  Schwegler'schen  Werkes  kam  noch 
der  Umstand  hinzu  dass  sein  Erscheinen  in  eine  Zeit  fiel  wo  durch 
manche  literarische  Producte  das  öfTenÜiche  Urteil  über  dieses 
Gebiet  der  Geschichte  eher  verwirrt  und  daher  das  Bedürfniss 
einer  Orientierung  weit  verbreitet  war ,  wo  überdiess  grosse 
Theile  Deutschlands  eben  erst  angefangen  hatten  sich  mit  neuem 
Eifer  an  den  wissenschafUichen  Bestrebungen  der  Gegenwart  zu 
betheiligen,  und  nun  in  diesem  Werke  einen  verlässigen  Führer 
und  kenntnissvollen  Erklärer  auf  einer  der  Höhen  der  Forschung 
begrüssten.     Daher  hatte  Schwegler's  „Römische  Geschichte"  von 

Teuf  fei,  Stadien.  33 


514  A.  Schwüler. 

Anfang  an  einen  entschiedenen  äussern  Erfolg,  welchem  weder 
die  bedenklichen  Dimensionen  des  Werkes  Eintrag  zu  thun  Yer- 
mochten,  noch  auch  —  und  noch  viel  weniger  —  tobsüchtige 
Kritiken  principieller  Gegner  des  ganzen  Standpunktes,  auf  wdche 
Schwegler  sich  nie  zu  einer  Erwiederung  herbeigelassen  hat; 
und  wenn  auf  der  Stuttgarter  Philologenversammlung  im  Jahre 
1856  nicht  sogar  eine  persönliche  Annäherung  zwischen  den  bei- 
den Gegenfusslern  stattfand,  so  lag  die  Schuld  nicht  an  Schwegler. 
Ueberhaupt,  je  tiefer  er  sich  hineinlebte  in  seine  Studien, 
desto  mehr  wurde  er  persönlich  milde,  und  je  mehr  er  selbst 
sich  allmählich  von  den  Menschen  zurückzog,  desto  dankbarer 
wurde  er  wenn  man  ihn '  aufsuchte  und  ihm  entgegenkam.  So 
sehr  er  mit  seiner  Zeit  geizte,  so  bekam  diess  doch  Niemand  zu 
fühlen  der  über  seine  Schwelle  trat ,  im  Gegentheil  hatte  man  den 
Eindruck  als  wolle  er  den  Besucher  festhalten,  als  möchte  er  sein 
sonst  unterdrücktes  Bedürfniss  nach  Umgang  und  Mittheilung  nun 
in  vollen  Zügen  befriedigen.  Mag  auch  diese  Milde  schon  mit 
einer  krankhaften  Stimmung  sjeines  Nervensystems  zusammenge- 
hängt haben,  zumal  da  sie  mit  übergrosser  Verwundbarkeit  und 
Schwarzsichtigkeit  gepaart  war,  so  war  sie  doch  jedenfalls  noch 
weit  mehr  ein  Ausfluss  der  Selbstlosigkeit  zu  der  sich  Schwegler 
immer  mehr  hindurcharbeitete.  Alle  Leidenschaften  die  sonst 
das  Menschenherz  bewegen  hat  er  verzehren  lassen  von  der 
Flamme  idealen  Strebens,  und  eine  Gleichgültigkeit  gegen  alles 
Materielle  und  eine  Reinheit  sich  zu  eigen  gemacht  wie  wir  sie 
sonst  nur  etwa  bei  Kindern  finden.  Nur  eine  Leidenschaft  hat 
ihn  bis  an  sein  Ende  beherrscht,  —  die  Leidenschaft  des  Arbei- 
tens.  Im  ausschliesslichen  Umgange  mit  seinen  Römern  hat  er 
sie  vollends  ganz  verlernt  die  hellenische  Kunst  des  Masshaltens, 
des  Gleichgewichts  zwischen  Leib  und  Seele,  zwischen  Arbeit 
und  Erholung.  Aber  seine  Masslosigkeit  in  der  Arbeit  —  wie  viel 
reiner,  achtungswerther,  grösser  steht  sie  da  als  die  Masslosigkeiten 
von  hunderttausend  Andern!  Und  wer  wollte  behaupten  dass  es 
nur  Ruhmbegierde  gewesen  sei  was  ihn  stachelte,  und  nicht  viel- 
mehr der  Gedanke  dass  hierin  seine  Lebensaufgabe  liege,  der  er 
nachstreben  müsse  mit  Aufgebot  aller  seiner  Kräfte,  für  die  er 
wirken  müsse  ehe  die  Nacht  des  Todes  einbreche?  Wenn  er  da- 
bei über  das  Mass  des  Erlaubten  und  Möglidien  sich  getäuscht 
bat,  so  lag  die  Ursache  zum  grossen  Theile  an  seiner  ungewöhn- 
lich kräftigen  und  gesunden  Natur.    Ein  Anderer  hätte  das  was 


A.  Schwegler.  515 

er  that  einfach  nicht  vermocht,  oder  wäre  von  einem  Heere  klei- 
ner Uebel  befallen  worden  das  ihn  gewarnt  und  Pausen  zu  ma- 
chen genötbigt  hätte:  für  Schwegler  wurde  die  rüstige  Gesund- 
heit seines  Leibes,  die  allzeit  frische  Klarheit  seines  Geistes  und 
die  staunenswerthe  Energie  seines  Willens  zum  Fallstrick  und 
zum  Verderben.  So  ist  er  denn  hingegangen  ohne  zuvor  Stö- 
rungen und  Hemmnisse  erfahren  zu  haben,  ohne  dass  Krankheit 
seine  Kraft  geschwächt,  sein  Auge  getrübt  hätte:  als  ein  Ganzer, 
wie  er  unter  uns  geweilt,  ist  er  auch  von  uns  geschieden.  Und 
wenn  Leben  Thätigsein  heisst,  so  hat  er  lange  gelebt. 


33' 


Register. 


Acharner  des  Aristophanes  S.  99. 
actio  popularis  S.  272  f. 
Adeimantos  S.  135.  138  ff. 
Adeli)hi  des  Terenz  S.  284  ff. 
Adoniazusen  des  Theokrit  S.  54  f. 
aedificiis  (de)  von  Prokop  S.  206  ff. 
Aedilengerichtsbarkeit  S.  272  f. 
Aeschylos  S.  64  f. 
Agathias  S.  237  ff. 
Agathon  S.  107.  144  ff. 
dyoQa  S.  24. 
Aides  S.  40  ff. 
alaa  S.  26  ff. 

alexandrinische  Elegie  S.  52  f.  93. 
Alkäos  S.  61.  85.  90.  92. 
Alkestis  des  Euripides  S.  124. 
Alkman  S.  60.  81. 
Alterthumswissenschaft  S.  460  ff. 
Ambrosia  S.  5  f. 

Ammianus  Marcellinus  S.  153  f.  169. 
Amor  und  Psyche  S.  451  f. 
Amphitruo  des  Plautus  S.  255  f. 
Anakreon  S.  86.  93. 
Anakreontika  S.  84. 
Andria  des  Terenz  S.  280  f. 
Anecdota  des  Procopius  S.  209  ff. 
Antigone  bei  Aescnylos  S.  65;  bei 

Sophokles  S.  66  f. 
Antiochus  S.  275  f. 
Antonius  Hybrida  S.  300  f. 
Antonius  (M.)  S.  326.  331  ff. 
Aper  S.  438. 

Apulejus  Metamorph.  S.  446  ff.  450  f. 
Archilochos  S.  56?.  84.  86.  90. 
Arete  S.  48  f. 
Aristophanes  S.  71  f.     Stellung  zu 

seiner  Zeit  S.  94  ff. 
Aristoteles  S.  131  f.  142. 
Aristyllos  S.  133. 
Arpinum  S.  290. 
ätri^  S.  30.  32  f. 
d^dvatoi  S.  5. 

Bacchanalien  S.  274. 
Bacchides  des  Plautus  S.  256  f. 


Bassus  S.  398  f. 
Bekker  (Imm.)  S.  465. 
Bella  des  Prokop  S.  193  ff.  209. 
Bendisfest  S.  137.  139. 
Beredtsamkeit  in  Born  S.  435  ff. 
Böckh  (A.)  S.  470  ff. 
Briefe  Tibull's  S.  372;  von  Lygda- 
mus  S.  376;  der  Sulpicia  S.  366  ff. 
ßovliq  S.  24. 

Caesar  S.  307  f.  311  ff.  315  ff.  323  ff. 
Gaesarmörder  S.  330  ff. 
Caesius  Bassus  S.  398  f. 
Casina  des  Plautus  S.  257  ff. 
Catilina  S.  298.  299  ff.  304  ff. 
catilinarische  Reden  S.  305  ff. 
catilinarische  Verschwörung  S.  299. 

304  ff. 
Cato  Cicero's  S.  328.  332. 
Cerinthus  bei  Tibull  S.  365  ff. 
Chrysothemis  bei  Sophokles  S.  68. 
Cicero ,  Leben  S.  289  ff.    Selbstbe- 

räucherung    S.   308.     Charakter 

S.  338  ff. 
CisteUaria  des  Plautus  S.  260  ff. 
clanculum  S.  268. 
Clodius  S.  310  ff.  318. 
Communismus  im  Alterthum  S.  133  f. 
coniux  S.  373. 
Constantius    S.  148.    150  f.    153  f. 

158  f.  161  f.  175. 
Contamination  S.  256  f. 
coquus  S.  263. 

Comutus  bei  Tibull  S.  365  ff. 
Curculio  des  Plautus  S.  262. 
Curtius'  Zeitalter  S.  387  ff. 

Danae  des  Simonides  S.  60  f. 

Deiotarus  S.  330. 

Delia  des  Tibull  S.  348.    Gedichte 

auf  sie  S.  360  ff. 
deterior  S.  433  f. 
Dialogus  des  Tacitus  S.  435  ff. 
Diotima  bei  Hölderlin  S.  473.  478  ff. 

486.  489.  500.  501  f. 


Register. 


517 


DiphiloB  S.  257  ff.  274.  284  f. 
DonatuB  zu  Terenz  S.  280.  282  f. 

284  f. 
Doppelte   Recension    bei   Juvenal 

S.  424  ff. 


Ekklesiazusen  des  Aristophanes 
S.  133  f. 

Elegie  (griechische)  S.  50  ff.  55. 
89  f. 

Elegiker,  römische,  S.  93. 

EleStra  bei  Sophokles  S.  67. 

Em^edokles  yon  Hölderlin  S.  500. 

EpriuB  Marcellas  S.  438,  Anm. 

Erebos  S.  41  f. 

Erinna  S.  64. 

Eschatologie  ^homerische)  S.  35  ff. 

Ethik  (homerische)  S.  30  ff. 

Eunapius  S.  156  f.  161.  169. 

Eunuchus  des  Terenz  S.  281  ff. 

Euripides  S.  68  ff.  94;  bei  Aristopha- 
nes S.  106  ff.;  zur  Alkestis  S.  124. 

Eusebia  S.  158  f.  161. 

Eutropius  S.  169. 

Fatalismus  S.  234  ff. ;  des  Herodot 
S.  226  f.;  des  Prokop  S.  227  ff.; 
des  Agathias  S.  252  n. 

finire  controversiani ,  litem  S.  271, 

'   Anm. 

Frauen  in  der  griech.  Poesie  S.  45  ff. 

Friede  (Stück)  des  Aristoph.  S.  99  ff. 

Frösche  des  Aristoph.  S.  108. 

GabiniuB  S.  317. 
Gallus  S.  148  ff.  157  f. 
Gebet  bei  Homer  S.  19  ff. 
Gellius  über  Probus  S.  443  ff. 
Gewissen  bei  Homer  S.  31  f. 
Glaukon  S.  135.  138  ff. 
Glycera  des  TibuU  S.  348  ff. 
Goethe  S.  68.  74.  76. 
Götter  Homer's  S.  3  ff.  31. 
Gregor  von  Nazianz  S.  172  ff. 

Hadrian  S.  411  g.  E. 
Heimat  in  der  Lyrik  S.  82  f.  86  f. 
Helena  S.  46  f.  48. 
Helios  S.  490. 

Hellas  bei  HölderHn  S.  486  ff. 
Hermann  (Gottfried)  S.  461  ff. 
Herodot's  Fatalismus  S.  226  f. 
hesiodisches  Epos  S.  49  f. 
Hippolytos  des  Euripides  S.  69  f. 
Hipponax  S.  58  f.  90. 
Hölderlin  S.  91  f.  473  ff. 
Homer  S.  3  ff.  46  ff. 


Horaz  als  Erotiker  S.  93,  Anm.  3. 

0.  I,  33  S.  349  ff.    als  Satiriker 

S    419.  420.  423. 
Hyperion  von  Höiderlin  S.  500  ff. 

Jahn  (Otto)  S.  466.  471. 

lambik  S.  55  ff.  89  f. 

Ibykos  S.  60.  86.  93. 

Idyll  S.  53  f. 

Jean  Paul  S.  502. 

nias  S.  10.  29.  40  f.    Schluss  S.  42. 

Ismene  bei  Sophokles  S.  67. 

Ismenias  S.  132. 

Isokrates  S.  96.  130. 

iudicium  coci  S.  458  f. 

Julianus  (Kaiser)  S.  147  ff.   Jugend- 

Seschichte  S.  147  ff.  Briefe  S.  162  ff. 
leurteiler  S.  168  ff.  Charakter 
S.  178  ff.  Stellung  zum  Christen- 
thum  S.  182  ff. 

Justinian  bei  Prokop  S.  201  f.  21 2  ff. 
235. 

Juvenalis  Verbannung  S.  410  ff.  Sa- 
tiren S.  413  ff. 

Eephalos  S.  136  f. 

kilikische  Verwaltung  Cicero's  S. 
320  ff. 

Kinkel  S.  88. 

Kleitophon  S.  137  f. 

Klopstock  S.  475  f. 

Klyiämnestra  bei  Aeschylos  S.  66. 

Komödie,  alte  attische,  .S.  71  ff.; 
neue ,  S.  73  f. 

Korinna  S.  64. 

Lachmann  S.  464  ff. 

Lebensanschauung  bei  den  Lyri- 
kern S.  84  ff. 

legationes  liberae  S.  303. 

lex  Plaetoria  (quinavicenaria)  S. 
276  f. 

lex  Tullia  S.  304. 

Libanius  S.  149  ff.  169  ff. 

Liebeslied  S.  91  ff. 

Li^rius  S.  329. 

LuKian^s  dovniog  S.  446  ff. 

Lukios  S.  446.  448.  452  ff. 

Lygdamus  S.  372  ff. 

lykurgische  Verfassung  S.  129.  134. 

Lyrik  (griechische)  S.  59  ff. ;  antike 
und  moderne,  S.  75  ff. 

Lysias  S.  136  ff. 

Lysistrata  des  Aristoph.  S.  99. 

udysigog  S.  263. 
Makellum  S.  150  ff. 
Manilius  S.  297  f. 

ÖdvTBis  bei  Homer  S.  22  f. 
[arathus  bei  Tibull  S.  355  ff. 


518 


Register. 


MarcelluB  S.  328  f. 

MardoniuB  S.  148  f. 

Marias  S.  289  f. 

Markus  S.  174. 

Martialis  über  Probup  S.  442  f. 

MatemuB  S.  438.  440. 

Mattbisson  S.  476. 

Maximns  S.  156. 

Megara*8  Kämpfe  mit  Athen  S.  138. 

Menaechmi  des  Plantus  S.  263  ff. 

Menander   S.  273  f.    277  ff.    284  f. 

286. 
Menschheitsbegriff  S.  129  f. 
Messala  S.  371.  382.  438. 
Messalinus  S.  371. 
Metellas  Nepos  S.  309. 
Miles  ffloriosas  des  Plantus  S.  273  f. 
Milo  S.  312.  316  f.  318  f. 
Miloniana  S.  319. 
Mimnermos  S.  51  f.  84  f.  92. 
Moira  bei  Homer  S.  26  ff. 
Mnnatius  Plancus  S.  319. 
Marena  S.  304. 

National^efuhl  der  Hellenen  S.  87. 
Natur  (die  leblose)  in  der  Lyrik 

S.  79  ff.   bei  den  Griechen  S.  489. 

490  f. 
N^usikaa  S.  47  f. 
Neaera  S.  372  ff.  379. 
Neid  der  homerischen  Götter  S.  15. 
Nektar  8.  5  f. 
Nekyia  8.  39  ff.  42.  44. 
Nemesis  8.  491 ;  des  TibuU  S.  348  ff. 

370  ff. 
Niebuhr  8.  512  f. 

Octavianus  8.  334  ff. 

Odyssee  8.  10.  12.  19.  24.  29.  39.  41. 

Oedipus  Tyrannos  des  8oph.  8. 1 14  ff. 

olympische  Götter  8.  23  f. 

Opfer  bei  Homer  8.   19.    Todten- 

opfer  8.  43  f. 
Orakel  8.  22.  29. 
Ovid  8.  378  ff.  382. 


Pindar  8.  86  t. 

Piso  8.  303.  312.  316. 

Plaetoria  lex  8.  276  f. 

Plancias  S.  312. 

Piaton  8.  93;  zur  Politeia  8.  125  ff. : 

zum  8ympo8ion  8.  143  ff. 
Plantus  8.  255  ff. 

Pins  minos  8.  270. 
oenolus  des  Plantus  8.  274  ff. 
Politeia  des  Piaton  8.  125  ff. 
politische  Lyrik  8.  87  ff. 
Pompeius  8.  310  ff.  317.  319  f.  323  ff. 
Popularactionen  8.  272  f. 
Popularinterdicte  8.  273. 
praedem  dare  8.  271  f. 

?rae8  und  praeves  8.  269. 
riapeia  8.  383  f. 
Probos  recentior  8.  442,  A.  2. 
Prokopios  (Geschichtschreiber)   8. 

191  ff.  vgl  242  f.    Charakteristik 

8.200ff.  Weltanschauung  8. 221  ff. 

Bella  8.  193  ff.     de  aedificiis  8. 

206  ff.  Geheimgeschichte  8. 209  ff. 
Prologe  (plautinische)  8.  256.  260  f. 

263  ff.  273. 
Protagoras  8.  133  E. 
^tirn  oei  Homer  8.  36  ff. 
Publilia  8.  329. 

quinavicenaria  lex  8.  276  f. 
Quintio  (pro)  8.  292. 

Rabirius  8.  302. 
Bhinthonica  8.  255  f. 
rhythmische   Prosa    bei   Hölderlm 

8.  501  f. 
Ritschi  8.  467  ff. 
Ritter  (hellenische)  8.  46.  49  f.  92. 

Stück  des  Aristophanes  8.  102  f. 
Romantiker  8.  75.  97.  493  ff. 
RoBcius    von  Ameria    (Rede   für) 

8.  292  f. 
Roscius,  Volkstribun  8.  302  f. 
Rudens  des  Plautus  8.  276  f. 


PanegyricuB  auf  Messala  8.  352  ff. 

Perserkriege  8.  87.  96. 

Persius  8.  396  ff.;    Verhältniss  zu 

Horaz  8.  401.  404.  406;    zu  Ju- 

yenal  8.  424. 
Personen  bei  Persius  8.  404  f. ;  bei 

Juvenal  8.  416  f. 
Petronius  8.  391  ff. 
q>iX£a  bei  Piaton  8.  144. 
Philippeum    aumm    8.    262.     vgl. 

8.  274.  276.  276.  279. 
Philippicae  des  Cicero  8.  333  ff. 
Pholoe  bei  TibuU  8.  358  f. 


Sappho  8.  62  f.  81  f.  92. 

Satire  S.  402. 

Satuminus  8.  302  f. 

Scaurus  8.  318. 

Schicksal  bei  Homer  8.  26  ff". 

Schiller  8.  476.  477.  496  ff. 

Schwegler  8.  503  ff. 

Scipionenkreis  8.  286. 

Seligkeit  der   homerischen  Götter 

8.  12. 
ai^fi ata  bei  Homer  8.  21  f. 
Sergius  8.  248. 
Servilius  RuUus  8.  301  f. 


Register.  519 

Simonides  aus  Amorgos    S.  57  ff.;  Todienopfer  bei  Homer  S.  43  f. 

aus  Eeos  S.  60  f.  86.  Todtenreich  bei  Homer  S.  40  ff. 

Skepticismus  S.  224  f.  248  f.  287.  Tragödie  (attische)  S.  64  ff. 

Sokrates   S.   105  f.    128.     Kirchen-  Truculentus  des  Plautus  S.  279. 

historiker  S.  148  ff.  158.  177.  Tu  bei  Persius  S.  408. 
Selon  S.  89. 

Sophisten  in  Athen  S.  104  f.  Uhland  S.  88.  495. 

Sophokles  S.  66  ff.  83.  85.  86.  94 ;  Umbricius  S.  422.  426  f. 

zuSoph.Oed.R.v.224ff.  S.lUff.;  ünsterbHchkeitsglaube  bei  Homer 

zu  V.  1304  S.  118  f.;   zu  v.  1424 ff.       S   36  ff. 

S.  119  ff.;  zu  V.  1516  ff.  S.  122  f.  Unterwelt  bei  Homer  S.  40  ff. 
Sozomenus  S.  148  ff.  176  f. 

Sparta  erobert  S.  275.  yg^^^us  Probus  S.  442  ff 

sponsio  S.  269.  270  f.  273.  Valcrin«  S   qR9 

gaat.antiker,mdmodeiner,S.127f.  ^^Jf^^S' Tder  Lyrik  S.  86  ff. 
Stefflchoros  8^  60.  ^^  Hölderlin  S.  487  ff. 

Sbchus  des  Plautus  S.  277  ff.  y^y^j^g  g    315   g^ 

Strafen  m  der  Unterwelt  8.  39  f.  vergleichende  Mythologie  S.  470. 

ÄÄS'S   m.""'  ^-  Verlleichende  Sp^rachff«chnng  S. 

Symposion  des  Piaton  S.  143  ff.  Verres  8.  295  f. 

Tacitus  und  Juvenal  8.  423.  "^I^'s'^7"^  ^^' homerischen Göt- 

llrÄÄ^ff.'-  ""'■  '''■  ""'■  Vögei  S  Aristophanes  8.  109. 

^ipnatss  S.  30.  1 1-  u      r   j.  •     o    ««- 

Theodoret  S.  175  f.  S^'l^^^^^^rf'*^®"^.®-  ^^^• 

Theokrit  S.  52  ff  Welcker  (F.  G.)  S.  471. 

&mKos  S   24  Wespen  des  Anstophanes  S.  112. 

Thrafiym'achos  S.  138.  Wolken  des  Aristophanes  S.  106  f. 

Tibull  S.  93.    Leben  S.  344  ff    Ge-  Wuchergesetze  in  Rom  S.  262. 

dichte  S.  162  ff.  Nachahmung  des  Wunder  bei  Homer  S.  10  f. ;    bei 

Horaz  S.  356  f.    alexandrin&che       Prokop  S.  226  f. 

Neigungen  S.  372.     Kunstart  S. 

384  ff.  vßQiQ  bei  Homer  S.  13.  15.  32. 

Tod  bei  Homer  S.  34  ff.  viiongitai  S.  145  f. 
Todten  (die)  bei  Homer  S.  37  ff. 

Todtencitaüon  S.  44.  Zosimus  S.  169. 


UNIV.  OF  MICHIGAN, 

OCT  22  1912